Nemesis 2: Vom Sturm geküsst - Asuka Lionera - E-Book

Nemesis 2: Vom Sturm geküsst E-Book

Asuka Lionera

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Beschreibung

**Gefangen in der Welt der Götter** Eigentlich wollte Eve nur ein aufregendes Abenteuer erleben. Doch jetzt ist sie gefangen in einer fremden Welt und muss sich Feinden stellen, die wie sie selbst eine göttliche Aufgabe zu erfüllen haben. Erst wenn sie den Wettstreit der Götter gewinnt, kann sie diesen gefährlichen Ort endlich verlassen. Weg von den Kriegern der Luft und des Wassers. Weg von Lucian, ihrem Wächter, der sich mit seinen sturmgrauen Augen in ihr Herz gestohlen hat, nur um es zu brechen. Aber Lucian kann Eve nicht loslassen. Immer wieder sucht er ihre Nähe und plötzlich weiß sie nicht mehr, wofür sie kämpfen soll. Dafür zu bleiben oder dafür, in ihre Welt zurückzukehren … Spannend und wundervoll berührend! Diese Buchserie wartet auf mit überraschenden Twists und einer phänomenal fantastischen Welt. Eine weitere Glanzleistung aus der Feder der Bestsellerautorin Asuka Lionera! Leserstimmen zur Reihe: »Geniale Idee« »Hat mehr als nur eine Überraschung im Gepäck.« »Eine Meisterleistung! Muss man gelesen haben.« »Ich bin absolut verliebt in dieses Buch.« //Dies ist der zweite Band der magisch-fantastischen Buchreihe »Nemesis« von Asuka Lionera. Alle Bände der Fantasy-Liebesgeschichte bei Impress: -- Nemesis 1: Von Flammen berührt -- Nemesis 2: Vom Sturm geküsst -- Nemesis 3: Von der Erde erwählt -- Nemesis 4: Vom Wasser beschützt// Diese Reihe ist abgeschlossen.

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Asuka Lionera

Nemesis 2: Vom Sturm geküsst

**Gefangen in der Welt der Götter**Eigentlich wollte Eve nur ein aufregendes Abenteuer erleben. Doch jetzt ist sie gefangen in einer fremden Welt und muss sich Feinden stellen, die wie sie selbst eine göttliche Aufgabe zu erfüllen haben. Erst wenn sie den Wettstreit der Götter gewinnt, kann sie diesen gefährlichen Ort endlich verlassen. Weg von den Kriegern der Luft und des Wassers. Weg von Lucian, ihrem Wächter, der sich mit seinen sturmgrauen Augen in ihr Herz gestohlen hat, nur um es zu brechen. Aber Lucian kann Eve nicht loslassen. Immer wieder sucht er ihre Nähe und plötzlich weiß sie nicht mehr, wofür sie kämpfen soll. Dafür zu bleiben oder dafür, in ihre Welt zurückzukehren …

Wohin soll es gehen?

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Vita

© rini

Asuka Lionera wurde 1987 in einer thüringischen Kleinstadt geboren und begann als Jugendliche nicht nur Fan-Fiction zu ihren Lieblingsserien zu schreiben, sondern entwickelte auch kleine RPG-Spiele für den PC. Ihre Leidenschaft machte sie nach ein paar Umwegen zu ihrem Beruf und ist heute eine erfolgreiche Autorin, die mit ihrem Mann und ihren vierbeinigen Kindern in einem kleinen Dorf in Hessen wohnt, das mehr Kühe als Einwohner hat.

Kapitel 1

Lucian

»Habt ihr das auch gespürt?«, frage ich, als ich wie angewurzelt stehen bleibe.

»Was meinst du?« Mein Bruder Vincent ist sofort an meiner Seite und sieht mich mit einer Mischung aus Mitleid und Zweifel an.

Ab liebsten würde ich ihn wegen dieses Blickes anschreien, doch ich kann mich gerade noch zügeln. Es gibt keinen Grund für seinen Zweifel oder – noch schlimmer! – sein Mitleid. Aber bereits seit Tagen behandeln er und Narissa mich wie ein rohes Ei.

Seit dem Tag, an dem sie verschwunden ist. Seitdem ist alles anders und ich fühle mich nur noch wie ein Schatten meiner selbst. Ich gebe mir Mühe es zu überspielen und mir nichts anmerken zu lassen, doch jeder, der mich kennt, merkt, dass mit mir etwas nicht stimmt.

Unsere Kräfte als Wächter sind versiegt. Während in Evelyns Gegenwart das Feuer durch uns geflossen ist und uns bestärkt hat, auch wenn sie uns gerade nicht direkt berührt hat, ist da nun nichts mehr außer einer kalten Leere, als wäre ein großes, wichtiges Stück aus meinem Inneren herausgerissen worden. Etwas Wichtiges, was mich ausgemacht hat. Nun klafft ein Loch darin, wo vorher eine feurige Stärke war.

Und ein Gefühl, das sich in den letzten Tagen immer wieder in den Vordergrund gedrängt hat. Ein Gefühl, das ebenfalls von Wärme erfüllt war, jedoch nichts mit Eves Feuerkraft zu tun hatte. Es war stets da, wenn ich zu ihr schaute und sie dabei ertappte, wie sie mich beobachtete. Besonders stark wurde es, wenn sie mir ein vorsichtiges Lächeln schenkte oder mit mir sprach.

Ich war nicht gut darin, mich mit ihr zu unterhalten. Ständig hatte ich Angst etwas Falsches zu sagen oder eine Grenze zu überschreiten, die klar umrissen zwischen uns verlief.

Sie ist die Hüterin und ich bin ihr Wächter. Nicht mehr und nicht weniger.

Ich verziehe den Mund und reibe mir mit der Hand über die Brust, in der Hoffnung, dadurch das dumpfe Gefühl darin vertreiben zu können, doch es will nicht verschwinden.

Ich habe so viele Jahre ohne dieses Mädchen und den seltsamen Kräften gelebt und es ging mir nicht wirklich schlecht dabei. Aber nun, da sie weg ist und ich nicht weiß, wann ich sie wiedersehen werde, scheint es, als wäre die Sonne meiner Welt erloschen und ich müsste allein in einer eisigen Kälte leben – immer mit dem Wissen vor Augen, dass ich wieder Wärme spüren werde.

»Ich habe es auch gespürt!«

Narissas Stimme hinter mir reißt mich aus den furchtbaren Grübeleien. Ich habe mich bisher von der ehemaligen Leibwächterin des Königs fern- und mich aus den Streitigkeiten zwischen ihr und Eve rausgehalten, aber ich kann nicht sagen, dass ich die hochgewachsene Kriegerin mit den fast schwarzen Augen sonderlich mag. Jetzt ihre Zustimmung zu hören – und zu wissen, dass ich es mir nicht bloß eingebildet habe –, freut mich jedoch.

»Das Feuer …« Narissa schaut auf ihre Hände, ehe sie sie zu Fäusten ballt. »Für einen kurzen Moment konnte ich es spüren.«

»Meint ihr, Eve ist in der Nähe?«, fragt Vincent und sieht sich um.

Doch ich schüttele den Kopf. »Nein«, knurre ich frustriert.

Diese Frustration richtet sich gegen mich selbst und meinen Bruder gleichermaßen. Er als Hohepriester der Göttin Gaia müsste ein herausragender Wächter sein, doch das Gegenteil ist der Fall. Er konnte vor Kurzem schon nicht Eves Fußverletzung spüren und nun bildet er sich ihre Nähe ein.

Ich hingegen scheine ein sehr viel feineres Gespür für die Kraft und Bedürfnisse unserer Hüterin zu haben als die beiden anderen Wächter zusammen.

Und ich kann nicht sagen, dass ich froh darüber bin … Ich könnte mich besser auf den dringend benötigten Sieg des Erdvolkes konzentrieren, wenn meine Hüterin mir nicht ständig den Kopf verdrehen würde …

Narissa boxt mir gegen den Oberarm und ich reibe kurz mit der Hand darüber. Für eine Frau hat sie einen verdammt harten Schlag.

»Wir finden sie«, murmelt sie leise genug, dass nur ich sie hören kann.

Ich gebe nur ein abfälliges Schnauben von mir und stapfe weiter. Warum denken alle plötzlich, mich aufmuntern zu müssen? Ich habe endlich meine Ruhe und muss nicht mehr befürchten, dass unsere Hüterin sich jede Sekunde wieder in Schwierigkeiten bringen könnte.

Wir brauchen Eve, um die Göttin erwecken zu können, damit unser Volk in Frieden und Wohlstand leben kann, aber mehr ist da nicht!

Zumindest versuche ich mir das schon seit Tagen einzureden – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Und heute ist ein Tag ohne nennenswerten Erfolg …

Ich vermisse ihre vorlauten Sprüche, ihr Lachen und das kribbelnde Gefühl, das ihre verstohlenen Blicke bei mir ausgelöst hat. Ich vermisse sogar ihre haarsträubenden Ideen, die uns stets in nur noch größere Schwierigkeiten gebracht haben.

»Willst du darüber reden?«

Knurrend fahre ich zu Narissa herum, doch sie zeigt sich wenig beeindruckt. Wie gern würde ich dieser neugierigen Kriegerin den Mund stopfen! Seit Eve verschwunden ist, meint sie, mit mir darüber reden zu müssen, wie ich mich fühle. Wahrscheinlich, weil Eve schon in der Höhle der Göttin aufgewühlt war, was selbst Narissa und Vincent nicht verborgen blieb. Eve stand völlig neben sich. Sie hat mir ihre Gefühle gestanden und ich habe sie zurückgewiesen, weil ich die klare Grenze zwischen uns keinesfalls überschreiten will. Oder wollte. Oder was auch immer. Ich wollte es ihr erklären, doch ehe ich ihr hinausfolgen konnte, war sie wie vom Erdboden verschluckt.

»Die Antwort ist dieselbe wie jeden Tag«, grolle ich nur und gebe mein Bestes, Narissa zu ignorieren, während wir durch den Wald laufen.

Die ersten Tage haben wir damit verbracht, wieder und wieder die Wiese nahe der Höhle und das nicht weit entfernte Ufer abzusuchen, doch nirgends konnten wir eine Spur von Eve finden. Es ist, als hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst. Ohne Hinweis und ohne Ziel durchstreifen wir seitdem die angrenzenden Wälder, in der Hoffnung, sie wie durch ein Wunder wiederzufinden.

Als wir aus der Höhle kamen, war es mir, als hätte ich sie meinen Namen rufen hören, doch wahrscheinlich war es nur Einbildung, denn danach hörte ich nur noch das Rauschen der Wellen. Ein endloses, immer gleich bleibendes Geräusch, das mich über die Zeit, die wir das Ufer absuchten, fast in den Wahnsinn trieb.

»Wir sollten eine Pause machen«, sagt Vincent hinter mir und ich muss mich zwingen, nicht mit den Augen zu rollen.

Ja, ich weiß, er ist nicht wie ich. Er ist behütet in seinem Tempel aufgewachsen, während ich mich all die Jahre um unsere Eltern kümmern musste und dadurch abgehärtet bin – sowohl was die körperliche Kraft als auch die Ausdauer angeht.

Auch Narissa hebt fragend die Augenbraue und sieht kein bisschen erschöpft aus. Wahrscheinlich denkt sie genau dasselbe wie ich – dass Vincent uns bei der Suche nach Eve aufhält. Aber wir können ihn nicht zurücklassen, schließlich ist auch er ein Wächter, und wenn er Eves Kräfte hat, ist er ein sehr mächtiger. Vielleicht sogar ein noch stärkerer als ich.

Doch ohne Eve, die ihn allein durch ihre Nähe mit Feuerenergie versorgen konnte, ist er zu einer Last geworden. Sie ist unser wandelnder Quell der Kraft; ohne sie sind wir nichts weiter als normale Menschen. Während Narissa und ich geschult im Umgang mit Waffen sind, ist Vincent … ein Priester durch und durch.

Ich sollte nicht so über den Mann denken, mit dem ich aufgewachsen bin. Der beinahe mein Bruder ist, auch wenn wir nicht dasselbe Blut teilen. Mutter würde mich dafür ausschimpfen.

»Lasst uns hier rasten«, gebe ich schließlich nach und lasse mich auf einen Baumstumpf sinken.

Im Stillen grübele ich über das Gefühl nach, das ich vorhin hatte und das auch Narissa glaubte gespürt zu haben. Es war ein kurzes Aufflackern der Feuerkraft, ähnlich wie wenn Eve mich flüchtig berührt hat und doch wieder nicht. Eher passiv, als würde ich diese Energie durch einen anderen spüren.

Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Wahrscheinlich habe ich es mir nur eingebildet, weil ich mich nach all den Tagen so danach sehne, dieses heiße Kraftrauschen wieder in meinen Adern fühlen zu können. Langsam bekomme ich schon Entzugserscheinungen …

Am meisten belastet mich jedoch, dass ich nicht mit Eve über das, was ich zuletzt zu ihr gesagt habe, reden kann. Sie ist einfach verschwunden nach unserem … Streit. Obwohl es ja gar kein Streit war, denn ich habe nur meinen Standpunkt klargemacht, bevor die Sache mit ihr aus dem Ruder laufen kann.

Die Sache … Wie blöd das klingt! Eve ist keine Sache und meine Gefühle für sie ebenso wenig. Aber ich hatte einfach keine andere Wahl, als ein für alle Mal einen Schlussstrich zu ziehen.

Narissa tritt neben mich und schaut gedankenverloren in den Wald hinein. »Ob sie wohl wieder in ihre Welt zurückgekehrt ist?«, fragt sie nach einer Weile und ich zucke nur mit den Schultern. »Sonst hätten wir doch schon längst eine Spur von ihr gefunden. Eine junge Frau mit feuerroten Haaren, die allen erzählt, dass sie die Hüterin ist, würde bestimmt auffallen.«

Sie hat recht und ich weiß das. Nach tagelanger Suche ohne auch nur den kleinsten Hinweis über Eves Verbleib gibt es nicht mehr viele Möglichkeiten. Der einzig logische Schluss ist, dass Eve nicht mehr hier ist. Dass sie genauso plötzlich, wie sie hergekommen ist, wieder aus unserer Welt verschwunden ist.

Doch das will ich mir nicht vorstellen.

Sie ist hier. Sie muss hier sein.

Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe Vincent, wie er müde an einem Baumstamm gelehnt auf dem Waldboden sitzt.

Narissa folgt meinem Blick. »Wir werden alle schwächer. Ich spüre es auch.« Sie schaut auf ihre Hände, die leicht zittern. »Es ist seltsam. Vor ein paar Wochen wusste ich nicht einmal, dass ich eine Wächterin bin, und trotzdem war ich stärker als die meisten Männer. Und nun schwinden meine Kräfte von Tag zu Tag.«

Ich nicke. Genauso empfinde ich es auch. Ohne dass wir es bewusst wahrgenommen haben, war es Eve, die uns Kraft gespendet hat. Sie war unsere Sonne, die uns stetig mit Energie versorgt hat. Von einem Moment auf den anderen wurden wir von dieser Energie abgeschnitten und darben nun in völliger Dunkelheit und eisiger Kälte.

Ich weiß nicht, wie lange wir das noch aushalten, ohne ernsthafte Schäden davonzutragen. Vielleicht ist das Zittern von Narissas Händen erst der Anfang …

Wir müssen alles daransetzen, Eve wiederzufinden. Es ist egal, in welcher Welt sie ist. Ob in dieser oder einer anderen.

Wir brauchen sie.

Und ich werde sie finden. Selbst wenn es das Letzte ist, was ich tue.

Kapitel 2

Lucian

Zurück in der Hauptstadt ist meine erste Anlaufstelle das gut besuchte Gasthaus. Hier muss doch jemand von einer rothaarigen jungen Frau gehört haben!

Doch meine Hoffnung sinkt erneut, als der Gastwirt den Kopf schüttelt. Zähneknirschend gehe ich nach draußen zu Vincent und Narissa, die an einer Hauswand lehnen und die vorbeiziehenden Menschenmassen aufmerksam beobachten.

Nachdem wir die ganze Umgebung des Schreins zweimal durchkämmt und dennoch nicht den kleinsten Hinweis über Eves Verbleib gefunden haben, sind wir zurück in die Hauptstadt gegangen. Doch bereits jetzt spüre ich, dass wir auch hier keinen Erfolg haben werden.

»Wieder nichts?«, fragt mich Narissa mit gerunzelter Stirn.

Ich schüttele den Kopf und presse die Lippen fest zusammen. Ich will es nicht laut aussprechen – nicht schon wieder. Ich habe das Gefühl, nur noch zu versagen. Wie schwer kann es denn sein, eine auffällige Person zu finden?

»Als wäre sie nicht mehr im Reich der Erdgöttin«, murmelt Vincent.

Er ist genauso niedergeschlagen wie wir, doch bei ihm scheinen noch nicht so viele Entzugserscheinungen eingesetzt zu haben wie bei Narissa und mir. Wir sind kraftlos, antriebslos und gereizt. Es vergeht mittlerweile kein Tag, an dem wir uns nicht fast an die Gurgel gehen, jedes Mal wegen Nichtigkeiten. Es ist zermürbend, doch ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann.

»Was hast du gesagt?«, fragt Narissa und sieht Vincent mit großen Augen an.

Gerade als ich dazwischengehen will – aus Angst, dass Narissa wieder einen Streit vom Zaun brechen könnte –, hebt sie die Hand und hält mich zurück, während sie sich ganz nah zu Vincent beugt. »Wiederhole, was du eben gesagt hast«, fordert sie ihn auf.

»Dass sie … nicht mehr im Reich der Erdgöttin ist?«, stammelt Vincent, der Narissas Reaktion genauso wenig deuten kann wie ich.

»Das ist es!«, ruft sie und klatscht dabei in die Hände. »Versteht ihr denn nicht?« Mit großen Augen sieht sie abwechselnd zu mir und Vincent. »Wir finden sie nicht, weil sie nicht hier ist!«

»Was meinst du mit nicht hier? Soll das heißen, sie ist zurück in ihre Welt gegangen?«, fragt Vincent.

»Nicht doch!« Narissa wedelt mit der Hand und hebt den Zeigefinger. »Ich meine damit, dass sie nicht hier in unserem Einflussgebiet ist. Als sie im Kerker saß, hatte sie Besuch von einem Mann des Luftvolkes. Was ist, wenn sie Eve entführt haben? Das wäre der einzige Grund, warum wir sie nirgends finden können. Weil sie nicht hier ist.«

»Du meinst, sie wird vom Luftvolk gefangen gehalten?«, frage ich und muss ein Knurren unterdrücken.

»Aber warum sollte das Luftvolk sie gefangen halten? Wäre es für sie nicht viel effizienter, wenn sie den feindlichen Hüter einfach töten?«, fragt Vincent und tippt sich mit dem Zeigefinger ans Kinn, während er nachdenkt.

»Ich habe euch doch erzählt, dass Evelyn Besuch von einem Mann des Luftvolks hatte, während sie im Kerker saß, und dass sie seinen Vorschlag zurückgewiesen hat. Und dass sie ihn kannte.«

Ich habe bisher nicht mehr an diese Unterhaltung gedacht, die wir auf dem Weg zum Schrein der Göttin geführt haben. Jetzt kommt mir etwas seltsam daran vor, je länger meine Gedanken darum kreisen.

»Woher soll Eve denn einen vom Luftvolk kennen? Sie war die ganze Zeit bei mir. Außer bei dem Angriff auf den Tempel und bei der Sache am See hat sie niemals jemanden von einem der anderen Völker getroffen«, sage ich.

»Sie sagte, er wäre auch aus ihrer Welt.«

Ich starre Narissa an. Wenn dieser Kerl vom Luftvolk, den sie im Kerker getroffen hat, auch aus ihrer Welt ist, bedeutet das …

»Einer der anderen Hüter?«, raunt Vincent, bevor es mir gelingt, den Mund zu öffnen. »Nicht nur irgendwer vom Luftvolk, sondern ihr … Hüter?«

Narissa wiegt den Kopf hin und her. »Möglich. Aber die beiden konnten sich nicht ausstehen. Evelyn hat ihn ausgelacht und weggeschickt, obwohl er ihr angeboten hat, sie aus dem Kerker zu holen und mit ihr eine Allianz gegen den anderen Hüter zu schmieden.«

»Das war dumm«, sagt Vincent. »Das haben wir ihr schon damals gesagt. Eine Allianz hätte …«

»Darum geht es jetzt nicht!«, gehe ich dazwischen, ehe mein Bruder beginnen kann, über Sinnloses zu philosophieren. »Einer vom Luftvolk muss doch auffallen wie ein bunter Hund, aber wir sind – abgesehen von dem Angriff auf den Tempel – nirgends auf unserer Reise durchs Land einem Flügelmann begegnet. Der Schrein unserer Göttin … Er befindet sich fast direkt am Meer. Wäre es nicht viel wahrscheinlicher, dass Eve vom Wasservolk entführt wurde?«

Vincent berührt mich an der Schulter. »Keine voreiligen Schlüsse, Bruder! Noch mal: Welchen Sinn sollte es haben, einen feindlichen Hüter am Leben zu lassen? Ich bezweifele, dass sie irgendwo gefangen gehalten wird.«

»Was willst du damit sagen?« Mit einem Ruck schüttele ich seine Hand ab, weil ich seine Berührung gerade nicht ertragen kann. »Dass sie tot ist?«

Begütigend hebt er die Hände. »Beruhige dich, Luc! Niemand sagt, dass sie tot ist. Das hätten wir gespürt, oder nicht? Oder wären selbst tot … So ganz genau wissen wir nicht, wie die Hüter-Wächter-Beziehung funktioniert, weil wir keine Aufzeichnungen darüber haben. Sicherlich lebt Eve noch. Wir können sie nur nicht finden.«

»Aber wie sollen wir in den Ländern des Luft- und Wasservolkes nach ihr suchen?«, wirft Narissa ein. »Vorausgesetzt, sie befindet sich wirklich in einem fremden Reich. Es ist für uns praktisch unmöglich, dorthin zu gelangen. Selbst wenn wir einen Fuß auf feindliches Gebiet setzen könnten, würden wir sofort angegriffen werden.«

Ich schlage mit der Faust gegen die Hauswand und ignoriere den Schmerz, der sich ausgehend vom Handgelenk den Arm hinauffrisst.

Doch mit dem Schmerz schießt mir eine Idee in den Sinn. »Kommst du noch in den Palast, Narissa?«

Sie zögert einen Augenblick und mustert mich mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Schon möglich. Es gibt ein paar Leute, die mir einen Gefallen schulden, selbst wenn ich mittlerweile meinen Posten als Kommandantin verloren haben sollte. Worauf willst du hinaus?«

»Wir müssen mit diesem Lufthüter sprechen«, erkläre ich knapp. »Wenn unser König tatsächlich Beziehungen zum Luftvolk unterhält, wird er wissen, ob sie Eve dort gefangen halten und uns vielleicht ermöglichen, mit dem Lufthüter zu reden. Ansonsten nehmen wir uns das Wasservolk vor.«

»Und wie sollen wir das machen?«, geht Vincent dazwischen, kaum dass ich den Satz beendet habe.

Ich wirbele zu ihm herum, packe ihn am Hemd und beuge mich ganz nah zu ihm herab. »Ich habe keine verdammte Ahnung, wie wir es machen sollen! Ich weiß nur, dass wir es machen müssen! Selbst du musst es auch spüren! Jeden Tag werden wir schwächer. Wir können nicht weiterhin dasitzen und nichts tun.«

Vincent sinkt bei jedem meiner Worte weiter in sich zusammen. »Ja, schon, aber …«

»Wenn ich noch einmal ein Aber aus deinem Mund höre«, unterbreche ich ihn knurrend, »schlage ich dir die Zähne ein, ist das klar? Wir können uns kein Zögern mehr leisten!«

Vincent schluckt sichtbar und nickt schließlich. Ich entlasse ihn aus meinem Klammergriff, woraufhin er ein paar Schritte zurückstolpert. Es tut mir in der Seele weh, dass ich meinen Bruder so hart rannehmen muss, aber ich kann nicht erlauben, dass er uns weiterhin aufhält. In ihm steckt so viel mehr, das weiß ich, doch momentan scheint die Suche nach Eve und das bloße Dasein als Wächter zu viel für ihn zu sein.

Es muss etwas passieren. Sofort.

Oder wir werden alle die Konsequenzen zu spüren bekommen.

Kapitel 3

Lucian

In den Palast zu gelangen, ist viel einfacher, als ich befürchtet habe.

Narissa kommt spielend leicht an den Wachen vorbei, indem sie Vincent und mich als gefangene Diebe ausgibt. Im Inneren des Palastes lotst sie uns durch die verwinkelten Gänge. Immer wieder bleibe ich stehen und muss mich daran hindern, irgendwelche dieser funkelnden Schätze tatsächlich einzustecken. Nur einer dieser goldenen Kelche, deren Griffe mit riesigen Edelsteinen besetzt sind, würde meine Eltern für mehrere Jahre ernähren können! Und hier steht so einer auf einer Kommode herum und setzt Staub an.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, die wir bereits durch immer gleich aussehende Gänge laufen, bleibt Narissa vor einer großen Doppeltür stehen und dreht sich zu uns herum.

»Egal, was passiert: Überlasst mir das Reden«, fordert sie uns auf und reckt das Kinn, als ich gerade protestieren will.

Mir ist nicht wohl dabei, alles ihr zu überlassen. Sie mag zwar ein Wächter sein, aber im Grunde weiß ich nichts über sie. In der Vergangenheit ist sie einige Male sehr unschön mit Eve aneinandergeraten und ich mache mir insgeheim Sorgen, ob für sie die Suche nach Eve genauso wichtig ist wie für mich.

Doch ich nicke knapp zum Zeichen, dass ich sie verstanden habe, während ich mir im Kopf bereits einen Notfallplan zurechtlege. Hoffentlich habe ich mir den Weg hierher durch diesen Gängeirrgarten richtig gemerkt, sodass ich mit Vinc so schnell wie möglich verschwinden kann, sollte sie uns wirklich in den Rücken fallen.

Schwungvoll stößt Narissa die große Doppeltür vor uns auf. Unter gesenkten Lidern schaue ich nach links und rechts. Wir befinden uns in einem großen Saal, doch ich kann niemanden entdecken – wir sind völlig allein.

Wie von selbst fahren meine Hände an die Seite, wo meine beiden gebogenen Dolche hängen. Ich musste sie dank Eves Kräften schon lange nicht mehr verwenden und hoffe, dass meine Fertigkeiten nicht allzu eingerostet sind.

Dann sehe ich den König, der auf einem ausladenden Thron auf dem Podest direkt vor uns sitzt und unsere Ankunft mit einer Mischung aus Interesse und Abscheu beobachtet.

Ich bedeute Vincent mit einer kleinen Handbewegung, weiter hinten zu bleiben, damit er im Falle eines Falles seine Wurfkarten einsetzen kann. Er nickt und bleibt neben einer der Säulen stehen; eine Hand schwebt über der Tasche an seinem Gürtel, in der er die Karten verstaut hat.

»Majestät«, sagt Narissa mit lauter Stimme, die im leeren Saal widerhallt, und fällt beinahe anmutig auf ein Knie.

Ich denke nicht einmal im Traum daran, es ihr gleichzutun, und fixiere den Mann auf dem Thron.

Bisher habe ich mich nie für den König interessiert, der sich kaum um sein Volk kümmerte, deshalb bin ich überrascht darüber, wie jung er ist. Er ist vielleicht so alt wie ich und ich wette, er hat nicht einmal die Hälfte von dem erlebt, was ich bereits durchmachen musste.

»Was willst du hier, Narissa?«, fragt er, nachdem sein Vorhaben, mich mit bloßen Blicken zu erdolchen, fehlgeschlagen ist. Nicht eine Sekunde habe ich die Augen gesenkt, wie es sich eigentlich gehört hätte. »Hast du nicht dieser Hochstaplerin zur Flucht verholfen?«

Hochstaplerin? Von wem redet der Kerl da? Mein Blick schweift zu Narissa, die den Kopf gesenkt hält.

»Es stellte sich heraus, dass sie keine Hochstaplerin ist, mein König«, antwortet sie.

Langsam dämmert es mir. Sie sprechen von Eve. Haben sie sie damals eingesperrt, weil sie dachten, sie würde sich als falsche Hüterin ausgeben? Das ist doch lächerlich! Ein tiefes Grollen braut sich in meiner Kehle zusammen, ohne dass ich es aufhalten kann.

»Wie kamst du zu der Annahme, dass es sich nicht um eine Betrügerin handelte?«, fragt der König.

Narissa schluckt angestrengt. Ich frage mich, ob der König ahnt, dass seine einstige Kommandantin eine Wächterin ist – und ich bin gespannt auf seine Reaktion darauf, falls er es noch nicht wusste.

»Hast du etwas mit der Flucht der Hochstaplerin zu tun?«, hakt der König nach, als Narissa ihm eine Antwort auf die letzte Frage schuldig bleibt. Seine Stimme ist schneidend und lauernd, so als kenne er die Antwort bereits, und mir stellen sich die Härchen im Nacken auf. Ich greife möglichst unauffällig nach den Dolchen. Narissa kann ich zwar nicht einschätzen – dafür kenne ich sie noch nicht lange genug –, aber sie ist eine Wächterin. Wenn der König sie bedroht, bedroht er uns alle, und das werde ich nicht zulassen.

»Ich bin nicht wegen der Hüterin hier, Majestät«, versucht Narissa, die Situation zu retten. Auch sie spürt sicherlich die Feindseligkeit in der Stimme und der Haltung des Königs.

»Nicht? Nun, was hat dich dann wieder zu mir geführt, nachdem du deinen Posten schändlich vernachlässigt hast und einfach verschwunden bist?«

Narissa sinkt immer weiter in sich zusammen. Warum unternimmt sie nichts und steht endlich auf? Schließlich sind wir nicht wegen eines netten Pläuschchens hier, sondern um Informationen über Eves Aufenthaltsort zu bekommen. Ich muss mich sehr beherrschen, um nicht das Wort an mich zu reißen. Wir drehen uns im Kreis. Ich will endlich Antworten auf die Fragen, wegen denen wir hier sind!

»Es tut mir leid, dass Ihr dachtet, ich sei abtrünnig geworden, doch das Gegenteil ist der Fall.« Endlich steht Narissa auf und deutet auf uns. Sofort bildet sich ein eisiger Knoten in meinem Magen. Was hat sie vor, verdammt noch mal? »Ich habe tatsächlich dem Mädchen, das sich für die Hüterin ausgegeben hat, zur Flucht verholfen und bin ihr gefolgt. Nun kann ich euch zwei der Wächter aushändigen.«

Ich bin unfähig zu reagieren. Alles, was ich zustande bringe, ist, sie mit offenem Mund anzustarren, und ich bin mir sicher, dass es Vincent genauso ergeht. Sie will uns ausliefern? Ist sie von allen Göttern verlassen?

In ihrem Gesicht suche ich nach irgendeinem Hinweis darauf, dass es sich dabei um einen dummen Scherz handelt, doch ich kann nichts entdecken. Ihre dunklen Augen sind kalt wie Granit und ihre Miene ist versteinert.

Sie meint das wirklich ernst, schießt es mir durch den Kopf, und endlich schaffe ich es, meinen Mund wieder zu schließen. Narissa ist eine Wächterin! Ich habe ihre verwandelte Gestalt gesehen, als Eves Fuß verletzt war. Sie hat doch die letzten Wochen genauso unter der Abwesenheit unserer Hüterin gelitten wie ich. Warum stellt sie sich plötzlich gegen uns?

»Wachen!«, höre ich den König rufen und sofort strömen Dutzende Soldaten in den Saal, als hätten sie nur auf den Befehl gewartet.

Eine Falle! Das war von Anfang an geplant!

»Wie kannst du es wagen?«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während ich mir Mühe gebe, Narissa mit bloßen Blicken zu töten.

Wie konnte ich mich nur so von ihr täuschen lassen? Ein Blick über die Schulter bestätigt mir, dass zwar auch Vincent in Kampfposition gegangen ist, aber hinter ihm noch weitere Wachen Aufstellung genommen haben. Wir sind umzingelt. Die Ausgänge hinter und vor uns werden von mehreren Soldaten gesichert. Selbst wenn wir es schaffen sollten, uns den Weg zu einem Ausgang freizukämpfen, kommen wir niemals heil aus dem Palast heraus. Da draußen in den Irrgängen warten sicher noch weitere Wachen nur darauf, dass wir uns zeigen.

Wir sind erledigt. Verraten von einer von uns.

»Ergebt euch und sie werden euch kein Haar krümmen.« Narissas Stimme ist das Letzte, was ich gerade hören will. Ich wirbele zu ihr herum und starre in ihre reglose Miene. Eiskalt und berechnend.

Wütend und mit bebenden Muskeln werfe ich beide Dolche zu Boden, wo sie klirrend einen Meter von mir wegrutschen. Zwei Soldaten schieben sie mit den Füßen noch weiter aus meiner Reichweite. Hinter mir höre ich auch Vincents Stahlkarten scheppernd zu Boden fallen.

Ohne auch nur eine Sekunde den Blick von Narissa zu nehmen, werden mir die Arme schmerzhaft auf den Rücken verdreht und ich werde an den Händen gefesselt.

Soldaten stoßen uns vorwärts und ich habe Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wie in Trance wanke ich aus dem Saal und werde zusammen mit Vincent eine enge Steintreppe hinuntergetrieben.

Der eiskalte Blick aus Narissas Onyx-Augen, mit dem sie uns von oben herab gemustert hat, als wir gefesselt aus dem Saal geführt wurden, brennt sich mir ins Gedächtnis. Als der Schlüssel zu unseren Zellen herumgedreht wird, schwöre ich bei der Göttin, dass Narissa dafür bezahlen wird, wenn sie es jemals wieder wagen sollte, mir gegenüberzutreten.

Kapitel 4

Lucian

Ich weiß nicht, wie lange ich schon in dieser Zelle auf dem kalten, feuchten Steinboden hocke und mir alle erdenklichen Todesarten für Narissa ausmale. Mein knurrender Magen erinnert mich daran, dass es schon eine ganze Weile sein muss.

Noch immer kann ich nicht wirklich begreifen, was in diesem Saal geschehen ist. Egal, wie oft ich darüber nachdenke, es ergibt einfach keinen Sinn. Nicht nur, dass Narissa uns ausgeliefert hat, sondern auch unsere Gefangennahme. Was will der König mit uns? Sollte er nicht froh sein, dass es uns gibt? Durch uns kann nach Jahrhunderten endlich die Göttin Gaia wiedererweckt und unser Volk zu Wohlstand geführt werden.

Wenn er uns als Bedrohung betrachtet – warum auch immer! –, wäre es doch viel einfacher gewesen, uns in diesem Saal zu töten. Stattdessen steckt er uns in diese Zellen.

Und Narissa … Sosehr ich auch darüber nachdenke, erkenne ich keinen Sinn in ihrem Handeln.

Ich gebe ein unwirsches Schnauben von mir, weil mir der Kopf vor lauter Fragen qualmt. Auf keine davon werde ich hier unten in diesem feuchten Loch eine Antwort erhalten, also sollte ich endlich damit aufhören mich zu quälen.

»Hast du schon einen Plan, wie wir von hier verschwinden können?«, fragt Vincent aus der Zelle neben meiner. Wir können uns durch die Gitterstäbe sehen, zumindest schemenhaft, denn eine wirkliche Lichtquelle haben wir hier unten nicht.

Ich überschlage die Beine zu einem Schneidersitz und seufze. Schon immer hat Vincent sich auf mich verlassen, wenn wir bis zum Hals in Ärger steckten. Und das taten wir oft, als wir jünger waren und er noch nicht im Tempel lebte. Aber diesmal kann ich mit keinem grandiosen Plan auftrumpfen, der uns rettet. Wir sitzen hier fest, verraten von einer von uns, und ich weiß nicht, was ich daran ändern kann.

»Diesmal nicht, kleiner Bruder«, antworte ich leise.

Kurz nachdem wir hier heruntergeführt wurden, habe ich sämtliche Scharniere, Schlösser und Haltevorrichtungen überprüft: Alle sitzen fest, nichts ließe sich aushebeln oder herausbrechen.

»Narissa wird uns rausholen«, sagt Vincent in die Stille.

Im ersten Moment denke ich, dass er einen Witz gemacht hat und fange beinahe an, laut zu lachen, doch als er nichts weiter sagt, dämmert mir, dass er es wirklich ernst gemeint hat. Langsam beginne ich, an seiner Intelligenz zu zweifeln – Bruder hin oder her.

»Falls du es nicht mitbekommen hast«, knurre ich, »sie hat uns ans Messer geliefert. Sie ist daran schuld, dass wir in diesem Loch sitzen und uns wahrscheinlich den Tod in dieser Eiseskälte holen!«

»Das glaube ich nicht«, entgegnet er mit ruhiger Stimme. »Ich denke, sie hat einen Plan. Schließlich ist sie eine Wächterin, eine von uns. Ich bin mir sicher, dass sie uns absichtlich hat einsperren lassen und dass etwas Größeres dahintersteckt.«

Der Drang, meinen Kopf gegen die Steinmauer zu schlagen, damit ich mir diesen Blödsinn nicht mehr länger anhören muss, wird beinahe übermächtig. War er geistig nicht anwesend, als Narissa uns hat gefangen nehmen lassen? Da gibt es nichts schönzureden! Sie ist eine Verräterin, war es wahrscheinlich von Anfang an. Wie kann er sie angesichts dieser Tatsachen noch in Schutz nehmen?

Der Lichtschein einer Fackel erscheint am Treppenaufgang. Wie von selbst gleiten meine Hände an die Seite, greifen jedoch ins Leere. Natürlich, sie haben uns die Waffen abgenommen, bevor sie uns eingesperrt haben. Im Notfall kann ich mich auf meine Fäuste verlassen, aber Vincent … Ich werfe schnell einen Blick zur Seite, bevor ich mich wieder auf den näher kommenden Lichtkegel konzentriere.

Ich kneife meine Augen zu Schlitzen zusammen und hebe schützend eine Hand, denn das helle Licht brennt darin.

Klirrend fällt etwas auf den Steinboden und ich zucke zusammen. Vorsichtig taste ich danach und bin verwirrt, als ich die Finger um den bekannten Ledergriff eines meiner Dolche lege. Mit gerunzelter Stirn schaue ich wieder zu der Gestalt, die im Schein der Fackel steht. Beinahe zeitgleich scheppert es auch in Vincents Zelle und ich sehe durch die Gitterstäbe, dass er seine Stahlkarten vom Boden aufsammelt.

Was um alles in der Welt geht hier vor?

»Versteckt die Waffen!«, sagt Narissa leise.

Beim Klang ihrer Stimme muss ich ein Knurren unterdrücken. Am liebsten würde ich jetzt an die Gitterstäbe springen, meine Arme ausstrecken und meine Hände fest um ihren Hals legen. Sie ist schuld, dass wir hier festsitzen!

»Was willst du hier?«, frage ich schneidend und kann gerade noch das Verräterin, das eigentlich noch in der Frage mit aus meinem Mund schlüpfen wollte, zurückhalten.

»Er kommt gleich. Seid bereit.« Mit diesen Worten dreht sie sich um und eilt die Treppe wieder hinauf. Ihre Schritte hallen blechern durch den kleinen Raum.

»Wer kommt?«, fragt Vincent verwirrt von der Zelle neben meiner, doch ich kann nur mit den Schultern zucken.

Immer noch ratlos schaue ich nach unten auf die beiden Dolche. Vielleicht könnte ich damit das Zellenschloss …

Ein weiteres Geräusch lässt mich zusammenfahren. Wieder wird die dicke Holztür am oberen Treppenabsatz geöffnet, nur kurz nachdem Narissa verschwunden ist. Auch wenn ich ihr kein Stück traue, befolge ich ihre Anweisung und stecke die beiden Dolche hinter dem Rücken in den Gürtel, sodass sie von vorn nicht zu sehen sind. Vincent folgt meinem Beispiel, klaubt die letzten Karten vom Boden auf und lässt sie in den Ärmeln seines Gewandes verschwinden.

Wie gebannt starren wir auf die Treppe, von der sich Schritte nähern – kratzend und schleifend, als würde man Metall über Stein ziehen. Das Geräusch schickt mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken.

Als Erstes sehe ich verformte Füße, die in Krallen enden und dadurch dieses schauderhafte Geräusch auf dem Steinboden verursachen. Ich halte den Atem an und lasse den Blick höher wandern. Schwarze ledrige Schwingen ragen aus dem Rücken des Ankömmlings und schlucken einen Großteil des spärlichen Fackellichts.

Zischend lasse ich die Luft entweichen. Einer vom Luftvolk! Das ist der Feind! Wie kann er …?

Er kommt ganz nah an meine Zelle und hängt lässig einen Arm zwischen den Gitterstäben hindurch, während er mich stumm mustert. Meine Hände zucken bereits, so gern möchte ich nach hinten greifen, die Dolche ziehen und sie ihm in den Leib rammen.

»Bist du … ein Hüter?«, frage ich vorsichtig, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Narissa hat davon erzählt, dass Eve, als sie ebenfalls in dieser Zelle saß, Besuch vom Hüter des Luftvolkes bekommen hat. Ich gehe jede Wette ein, dass es sich hierbei um denselben Kerl handelt. Wenn das wahr ist, ist er aus Eves Welt.

»Ein ganz Schlauer, was?«, antwortet er, während er mich von oben herab betrachtet, doch ich denke gar nicht daran aufzustehen. Mühelos halte ich seinem Blick stand, denn es liegt keinerlei Autorität darin, nur Überheblichkeit, und ich bin mir sicher, dass da nicht viel dahintersteckt.

»Was willst du?«, frage ich, als mir das Anstarr-Spielchen zu langweilig wird. Seine lässige Fassade bröckelt für einen kurzen Augenblick und ich kann mir ein flüchtiges Grinsen nicht verkneifen. Ja, ich habe ihn richtig eingeschätzt: Er hält sich für etwas Besonderes, aber das ist nichts als heiße Luft. Und so jemand hat meiner Eve Angst eingejagt?

Moment … meine Eve?

»Ihr seid zwei ihrer Wächter, nicht wahr?« Er schlendert nach drüben zu Vincents Zelle. Vielleicht denkt er, dass er ihn eher einschüchtern kann als mich. Soll er es doch versuchen! Vincent mag zwar kein körperlicher Kämpfer sein, aber gegen die Stärke seines Willens kommt niemand so schnell an. Während ich gern gleich an die Decke gehe, bleibt Vincent ruhig und gelassen. An ihm wird sich dieser Flügelmann die Zähne ausbeißen.

Vincent hebt das Kinn. »Und wenn es so wäre?«

Der fremde Hüter fletscht die Zähne und ich grinse wieder. Seine Geduld mit uns scheint erschöpft zu sein.

»Ihr werdet mir jetzt auf der Stelle antworten!«, donnert er und ich breche nun vollends in schallendes Gelächter aus. Der Kerl ist nicht ernst zu nehmen! Und so was hat das gefürchtete Luftvolk zu seinem Hüter gemacht? Wütend stapft er zurück zu meiner Zelle und stemmt sich gegen die Gitterstäbe. »Warum lachst du so blöd?«

Seine Stimme klingt schneidend, doch anstatt damit aufzuhören, muss ich nur noch lauter lachen. Ich stütze mich mit den Händen ab und komme auf die Beine. Bevor ich näher auf ihn zugehe, klopfe ich mir in aller Seelenruhe den Staub von der Hose, immer darauf bedacht, ihm nicht den Rücken zuzuwenden, damit er die Waffen nicht sehen kann.

Als ich vor ihm stehe, bemerke ich erst, wie klein er ist. Fast eine ganze Kopflänge muss ich nach unten blicken und ich sehe mit Genugtuung, dass sich seine Augen kurz verengen. Anscheinend hat er mich unterschätzt, während ich im Schneidersitz auf dem Boden saß. Seine ganze Gestalt ist unscheinbar, schmächtig und nichtssagend. Ich habe irgendwie erwartet, dass alle Hüter, die aus einer anderen Welt kommen, eine Erscheinung sind wie Eve mit ihren feuerroten Haaren und ihrem unerschöpflichen Temperament, doch dieser Kerl scheint gar nichts Besonderes an sich zu haben. Seine Haare sind kurz geschoren und dunkel, ebenso wie die Augen. Doch anders als in Narissas schwarzen Onyx-Augen liegt keinerlei Glanz in seinen. Stumpf blicken sie mir entgegen und mustern mich ebenfalls. Abgesehen von den ausladenden Schwingen und den gekrümmten Beinen, die in Krallen enden, wäre er von einem normalen, langweiligen Menschen nicht zu unterscheiden.

Und so jemand soll aus einer anderen Welt kommen und ein Hüter sein?

Gerade als er einen Schritt zurückweichen will, lasse ich die rechte Hand nach vorn schnellen und packe ihn am Kragen seines Hemdes, um ihn wieder näher ans Gitter zu ziehen. Damit hat er nicht gerechnet, denn er öffnet und schließt hektisch den Mund, ohne dass auch nur ein einziger Ton herauskommt.

Vincent ist mittlerweile auch aufgestanden und mit jeweils einer seiner Karten an das Trenngitter zu meiner Zelle getreten. Betont langsam greife ich hinter mich und ziehe einen der Dolche aus dem Gürtel.

Der Kerl schluckt angestrengt, als ich die Waffe direkt vor ihn halte und mich zu ihm herunterbeuge. »Nun, Hüter«, ich lege so viel Missachtung wie möglich in dieses eine Wort, »du warst es also, der Evelyn in dieser Zelle bedroht hat.« Blanke Panik hat Besitz von seinen Zügen ergriffen, während sein Blick zwischen Vincent und mir hin und her schnellt.

»W–Wer ist Evelyn?«, stammelt er.

Für einen Augenblick halte ich inne. Stellt er sich dumm? Oder weiß er wirklich nicht, von wem ich rede? Ich verstärke den Griff um seinen Kragen. »Ich rede von unserer Hüterin!«

Erkenntnis huscht über seine Miene. Also war er es. Ich ziehe den Arm nach hinten, wodurch er mit seinem Gesicht gegen die Gitterstäbe gepresst wird. Als er ein leises Wimmern von sich gibt, halte ich ihm die Spitze des Dolches gegen die Wange.

»Wo ist sie?«, will ich knurrend wissen.

»W–Wo ist wer?«

Schon wieder dieses dämliche Frage-Antwort-Spielchen, für das ich keinen Nerv habe! »Unsere Hüterin!«, schreie ich ihn an, woraufhin er zusammenzuckt.

»Woher soll ich das wissen?«, nuschelt er undeutlich, da sein Mund gegen den kalten Stahl der Stäbe drückt.

Mit der Spitze des Dolches ritze ich in seine Wange, woraufhin ein kleines Rinnsal roten Blutes herausläuft. Ich ziehe scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Rotes Blut! Also ist er tatsächlich aus Eves Welt und ein Hüter. Ich werfe einen schnellen Blick zu Vincent, der kaum merklich nickt. Wir stehen nun vor einem ziemlichen Dilemma.

Ich bedrohe hier gerade den Hüter – ich wollte es ihm ja nicht glauben – eines anderen Volkes, in der Hoffnung, dass er etwas über Eves Aufenthaltsort preisgibt. Mir ist durchaus bewusst, dass meine Handlungen einen Vergeltungsangriff zur Folge haben könnten, aber das kümmert mich gerade nicht im Geringsten. Er ist meine einzige Chance zu erfahren, ob Eve in der Gewalt des Luftvolkes ist oder nicht. Das Einzige, was ich will, ist Eve wiederzusehen, koste es, was es wolle.

»Du wirst mir jetzt auf der Stelle sagen, wo sie ist, oder ich schwöre dir, dass du nie wieder hier rauskommen wirst«, knurre ich. Meine Hände zittern vor Anspannung. Was, wenn er wirklich nichts weiß?

»Ich hab keine Ahnung, wo Nemesis ist!«, stammelt er und versucht sich aus meinem Klammergriff zu winden, wobei er immer wieder mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe stößt. »Bitte, du musst mir glauben! Ich habe sie zum letzten Mal hier in dieser Zelle gesehen. Danach nicht wieder. Das ist die Wahrheit!«

Verdammter Mist! So wie er lamentiert, weiß er wirklich nicht, wo Eve steckt. Ich habe so sehr gehofft, dass wir einen Hüter-Austausch hätten vornehmen können, doch nun ist diese Hoffnung zerstört. Und nun stehe ich auch noch vor der Entscheidung, was ich mit diesem Jammerlappen machen soll.