Neon Birds - Marie Graßhoff - E-Book
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Neon Birds E-Book

Marie Graßhoff

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Beschreibung

Ein Supersoldat, der seine glorreichen Tage hinter sich hat.
Ein Träumer mit einem düsteren Geheimnis.
Ein Untergrundkämpfer mit Todeswunsch.
Eine Jägerin mit Verbindung zu einer dunklen Macht.

Es ist das Jahr 2101. Ein außer Kontrolle geratener technischer Virus verwandelt Menschen in hyperfunktionale Cyborgs, die dem Willen der künstlichen Intelligenz KAMI gehorchen. In Sperrzonen eingepfercht, werden sie von Supersoldaten bekämpft, die man weltweit als Stars feiert. Doch die Mauern beginnen zu bröckeln. Sekten beten KAMI als Maschinengott an. Und während der Kampf zwischen Menschlichkeit und Technologie hin und her wogt, versuchen vier junge Erwachsene, den Untergang ihrer Zivilisation zu verhindern.




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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG: DARKENING

KAPITEL 1: STARTING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 2: SPREADING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 3: STRUGGLING

KAPITEL 4: SURRENDERING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 5: FLEEING

KAPITEL 6: CLOSING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 7: LOSING

KAPITEL 8: WAKING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 9: REMEMBERING

KAPITEL 10: FOREBODING

Flover

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 11: COMFORTING

Andra

KAPITEL 12: EXPLORING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 13: ABDUCTING

KAPITEL 14: DISCOVERING

KAPITEL 15: FALLING

Luke

UNITED NATIONS MILITARY

INTERLOG: WHISPERING

KAPITEL 16: CARING

KAPITEL 17: SHIMMERING

KAPITEL 18: VEILING

Okijen

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 19: DESPAIRING

KAPITEL 20: ARMING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 21: SINGING

KAPITEL 22: PLANNING

KAPITEL 23: HATING

KAPITEL 24: FIGHTING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 25: INVESTIGATING

KAPITEL 26: WANDERING

KAPITEL 27: TALKING

KAPITEL 28: RECOVERING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 29: PROMISING

KAPITEL 30: ASKING

KAPITEL 31: OBSERVING

KAPITEL 32: RECOGNISING

KAPITEL 33: DECIDING

UNITED NATIONS MILITARY

KAPITEL 34: REALISING

KAPITEL 35: DYING

KAPITEL 36: ENDING

EPILOG: WALKING

DANKSAGUNG

Über das Buch

Ein Supersoldat, der seine glorreichen Tage hinter sich hat. Ein Träumer mit einem düsteren Geheimnis. Ein Untergrundkämpfer mit Todeswunsch. Eine Jägerin mit Verbindung zu einer dunklen Macht. Es ist das Jahr 2101. Ein außer Kontrolle geratener technischer Virus verwandelt Menschen in hyperfunktionale Cyborgs, die dem Willen der künstlichen Intelligenz KAMI gehorchen. In Sperrzonen eingepfercht, werden sie von Supersoldaten bekämpft, die man weltweit als Stars feiert. Doch die Mauern beginnen zu bröckeln. Sekten beten KAMI als Maschinengott an. Und während der Kampf zwischen Menschlichkeit und Technologie hin und her wogt, versuchen vier junge Erwachsene, den Untergang ihrer Zivilisation zu verhindern.

Über die Autorin

Marie Graßhoff, geboren 1990 in Halberstadt/Harz, studierte in Mainz Buchwissenschaft und Linguistik. Anschließend arbeitete sie einige Jahre als Social-Media-Managerin bei einer großen Agentur, mittlerweile ist sie als freiberufliche Autorin und Grafikdesignerin tätig und lebt in Leipzig. Mit ihrem Fantasy-Epos Kernstaub stand sie auf der Shortlist des SERAPH Literaturpreises 2016 in der Kategorie »Bester Independent-Autor«.

MARIE GRASSHOFF

NEON BIRDS

ROMAN

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Ava Reed, FriedbergIllustration: Mona FindenUmschlaggestaltung: Massimo Peter-BilleUnter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Triff | Bachkova Natalia | Nikelser | wacomkaE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-7838-2

www.luebbe.dewww.lesejury.de

Für den freundlichen Mannaus dem Shanghai People’s Park,der mir mit seinen Robotergeschichten die Inspiration für ein neues Universum gab.

PROLOG: DARKENING

Außerhalb der Mauern erzählen die Menschen einander eine Geschichte. Am Anfang unseres Sonnensystems stand ein Stern. Als er starb und seine Hülle in Milliarden Teile zerbarst, erwuchsen seinem Staub neue Welten. Sonne und Erde, Mond und Meere, Wälder und Lebewesen formten sich aus seinen Überresten. So uneins der Planet und das Universum beizeiten scheinen, am Ende ist alles verbunden durch Partikel und Atome, die den ganzen Kosmos sahen.

Die Welt entstand aus Sternenstaub.

Und ich?

Ich bin nicht das Kind einer Sonne.

Ich bin geboren aus einem Gedanken. Dem Gedanken Perfektion. Dem Gedanken Was wäre, wenn …? Nur deswegen bin ich hier.

Diese Stadt ist menschenleer. Ich spüre es in jeder Faser meines Seins. Ihr fehlen das Rauschen der Luft in den Lungenflügeln, das Klingen der Stimmbänder und das Neonlicht, das sich dem Gewucher der Nacht in Milliarden Farben entgegenstellt.

Vor den Fenstern geht die Sonne schon lange nicht mehr auf. Die Mauer um uns herum ist zu hoch, und die Schutzwälle sind zu dick. Die Menschen denken also, sie hätten mich eingesperrt.

Die Menschen. Diese Narren, die sich für intelligent halten, weil sie einen Daumen und ein hochtheoretisches Konzept von Moral besitzen.

Ich habe sie gesehen, die Untergründe ihrer Megametropolen. Die Gassen, in denen sich die Lichter der flackernden Neonröhren in Rinnsalen aus Blut und Erbrochenem spiegeln. Die alten Tunnel, so dunkel, dass sich nicht einmal die Ratten dorthin verirren. Die Mülldeponien von der Größe ganzer Kontinente an den Rändern der Wüsten.

Eine Zivilisation, erbaut auf Plastik und Leichen.

Bin ich hier, um diese Welt zu heilen?

In den Straßen höre ich kein Atmen, aber ich vernehme Schritte. Das Wimmeln Tausender Körper. Keine Menschen und keine Maschinen. Wie ich.

Diese Stadt ist menschenleer und gleichzeitig voll von Existenzen. Voll von mir: einem Gedanken, zu groß für den Verstand.

KAPITEL 1: STARTING

»Was steht an, Chef?« Das Surren der Maschinen übertönte die Worte des Praktikanten beinahe, selbst nachdem er seine Stimme gehoben hatte, damit sie bis zu Luke durchdrang. »Machen wir einen Rundgang, oder geht’s sofort an die Arbeit?«

Der schlaksige Junge mit den Abermillionen Sommersprossen, den sie ihm für die Einarbeitung zugeteilt hatten, konnte höchstens fünfzehn Jahre alt sein. Bis gestern hatte Luke nicht einmal gewusst, dass Minderjährige in die Forschungsstationen hineingelassen wurden – jetzt hatte er einen am Rockzipfel hängen.

»Ich sag doch, du sollst mich nicht Chef nennen«, grummelte Luke, während er sich und dem Neuen einen Kaffee aus der halb leeren Kanne einschenkte. Der herbe Geruch des bereits ausgekühlten Getränks beruhigte seine angespannten Nerven. Mit einem großen Schluck spülte er die Übelkeit hinunter, die der letzte Cyber-Trip in seinem Magen ausgelöst hatte.

»Sorry«, nuschelte der Praktikant. »Ist einfach so drin bei mir.« Er nahm seine Tasse, schnupperte an der schwarzen Flüssigkeit und kräuselte die Nase. »Also, was steht an?«

Das bläuliche Licht der Deckenlampen, die steril weißen Wände und das Dröhnen der Energiefeldgeneratoren aus dem angrenzenden Maschinenraum ließen auf die intelligente Idee des Vorstands schließen, den Aufenthalt in diesem winzigen Pausenzimmer möglichst unangenehm und kurz zu gestalten. Luke ergab sich diesem nicht sonderlich subtilen Manipulationsversuch und schob sich mit der Tasse in der Hand zügig auf den Ausgang zu.

Was würde er darum geben, jetzt still vor dem Screen seine Schicht absitzen und seine Kopfschmerzen kurieren zu können?

»Heute steht nichts weiter an«, entgegnete er mit sämtlicher Motivation, die er erübrigen konnte. »Ich zeig dir deinen Platz, und wir beobachten die Tore.«

»Das hab ich die letzten Tage schon ein paar Mal gemacht.«

»Hat man mir gesagt. Mit mir wirst du leider nicht viel Spannenderes erleben.« Er setzte nicht nach, dass es morgen eventuell etwas anderes zu tun geben könnte, weil er keine falschen Hoffnungen wecken wollte.

Die Arbeit in der Überwachungszentrale war eine der wichtigsten und zugleich langweiligsten. Das war so gewesen, als Luke mit dem Studium begonnen hatte, und würde sich auch nicht ändern.

Die Köpfe einiger Wartungsmitarbeiter hoben sich, als Luke, gefolgt von seinem Schützling, in die nur spärlich beleuchtete Maschinenhalle trat. Nur wenige der uniformierten Arbeiter brachten die Energie auf, zum Gruß zu nicken. Den meisten sah man an, dass sie zu müde für irgendeine Form der Interaktion waren. Die Schicht hatte erst vor einer halben Stunde begonnen, die Sonne war vermutlich noch nicht aufgegangen. Nicht, dass man sie hier drin jemals zu Gesicht bekam.

Ein schmaler Weg führte an dem Wartungsteam vorbei und zwischen den bis zur Decke reichenden Generatoren hindurch. Die Kühlanlage verwandelte den Atem der Anwesenden in weiße Wölkchen, die sich im Schein der Notbeleuchtung langsam auflösten. Das Surren der Maschinen intensivierte das Drücken und Zerren in seinem Kopf. Gleichzeitig beruhigte es ihn. Das Surren war gut. Es bedeutete, die Schilde um die Sperrzone funktionierten, und das, was hinter den Mauern lag, blieb dort.

»Geht’s dir gut, Che… ähm, Luke?«

»Alles gut.« War es so auffällig, wie mies es ihm ging? Die letzten drei Wochen waren der Horror gewesen. Das frühe Aufstehen, das ständige Cyber-Reisen und die Arbeit hier parallel zum Studium waren auf Dauer einfach zu viel. Und ja, Luke sah es täglich in seinem Spiegelbild. In den dunklen Ringen unter seinen hellen Augen und in seinem Haar, das inzwischen mehr grau als blond anmutete. Er hatte nur gehofft, es zumindest halbwegs überspielen zu können.

Im Gehen wandte er sich halb dem Jungen zu. Verdammt, der Praktikant erinnerte ihn ein wenig an sich selbst. Übermotiviert, freundlich zu Vorgesetzten, irgendwie ein Mitläufer. Luke sollte sich anstrengen, netter zu ihm zu sein.

»Mir ist nur schwindelig vom Cyber-Reisen.«

»Ich dachte immer, das wäre cool.«

Offenbar kein Kind einer Oberschichtfamilie. Luke würde gern mehr über seinen Praktikanten erfahren, dabei hatte er sogar seinen Namen schon wieder vergessen. Jonas? Noah?

»Glaub mir«, sagte Luke und lachte unterdrückt, »ich würde mich lieber zweimal am Tag in einen Flashtrain setzen, als mir diese Sprünge anzutun.«

»Du kommst aus der Antarktis, richtig?«

Luke verlangsamte sein Tempo. Hatte er ihm das erzählt?

»Du bist der Mitbewohner von Flover Nakamura, oder?«, bohrte der Junge weiter, und Luke blieb stehen, um sich mit leicht zusammengekniffenen Augen umzudrehen.

»Dafür bin ich also bekannt?« Nicht sonderlich schmeichelhaft.

»Mein … mein Vater interessiert sich sehr für Politik. Er hat es mir gesagt, als ich gestern erwähnt habe, dass du mich als Nächstes einarbeitest.«

Luke nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse und ließ Jonas oder Noah währenddessen nicht aus den Augen. Himmel, wenn er mit dem Jungen sprach, fühlte er sich so überlegen, dabei war er selbst nur Praktikant in dieser Einrichtung. Er hatte das hier, im Gegensatz zu dem Neuen, nur schon etwa hundertmal gemacht.

Luke holte tief Luft. Freundlich sein. Nicht zu müde wirken. »Ja, ich bin der Mitbewohner von Flover. Wir studieren zusammen an der Akademie in Byrd-Land.«

»Er ist ein Jahr über dir, oder?«

»Wow, dein Vater ist ein ziemlich effizienter Stalker«, meinte Luke lachend und setzte seinen Weg fort. »Was hat er dir denn außerdem von mir erzählt? Wo ich zur Schule gegangen bin? Was meine ersten Worte waren?«

»Ähm … er hat eigentlich mehr über Flover geredet.«

War klar.

»Der ist auch spannender als ich.« Er. Der ewige Praktikant.

Mit dem Fuß stieß Luke die schwere Tür zum Kontrollzentrum auf. Der Mitarbeiter, der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in der Mitte des Raums saß, zuckte leicht zusammen.

»Morgen«, grüßte Luke und ignorierte den gereizten Ausdruck seines Kollegen. Vielleicht hatten sie ihn beim Schlafen gestört.

»Na endlich«, maulte dieser und erhob sich sehr gemächlich aus seiner Drehschale. Sein weißer Kittel war vollkommen zerknittert.

Seit drei Wochen wechselten sie einander bei der Morgenschicht ab. Seinen Namen konnte Luke sich trotzdem nicht merken. Vielleicht sollte er mal eine Liste anfertigen.

»Viel Erfolg«, brummte der wissenschaftliche Mitarbeiter. Er war gerade an ihnen vorbei, als Luke fragte: »Irgendwelche Auffälligkeiten?«

Der Mann schnaubte abfällig, und sein Lachen schallte durch die Halle, bis die Tür unsanft ins Schloss fiel und die altbekannte Stille eintrat.

»Na dann. Schnapp dir einen Stuhl.«

Die schwebenden Bildschirme, die den kreisrunden Raum als einzige Lichtquelle erhellten, zeigten diverse Aufnahmen der Sperrzone, neben der sich ihre Einrichtung befand. Die bläulich schimmernden Screens hätten genauso gut Standbilder sein können. Nur ab und an vorbeifliegende Vögel zeigten, dass sie sich hier Stunde um Stunde Liveaufnahmen und keine Fotos ansahen.

»Los geht’s«, freute sich der Junge und warf sich in seine Sitzschale. Hoffentlich würde er nicht viel reden. Luke fragte sich, wie lange er wohl warten musste, bis er ihm anbieten konnte, ihre gemeinsame Acht-Stunden-Schicht zu halbieren und einander beim Schlafen abzuwechseln.

»Auf … auf was muss ich nochmal genau achten?«

So viel zur erfolgreichen Einarbeitung.

»Sag einfach Bescheid, wenn sich was bewegt.«

»Okay.« Hibbelig rutschte er auf seinem Stuhl umher, dabei sollte ihm längst klar sein, dass hier nichts Weltbewegendes passierte. »Ich … ich bin nicht sicher, ob man mir einen wichtigen Job wie diesen anvertrauen sollte.«

Luke bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen, auch wenn sein Gegenüber es in dem gedimmten Licht vermutlich nicht sehen würde. »Kein Stress, die haben an jeder Ecke Bewegungsmelder. Du kannst praktisch nichts falsch machen.«

»Aber sie setzen am Ende auf die Einschätzung von Menschen, was die Situation betrifft. Also … auf uns beide.«

»Hey«, setzte Luke ruhiger an, nahm auf seinem Stuhl Platz, rollte durch den Raum und stellte seine Tasse auf einem der kleinen Tische ab, auf dem er danach seine Füße platzierte. »Ich lass dich hier nicht allein, klar? Und wie dir gestern sicher schon jemand gesagt hat: Hier hat sich seit dreißig Jahren nichts bewegt.«

»Trotzdem ist der Job hier wichtig, oder?«

Angestrengt ließ Luke seinen Blick über vierzig Meter hohe, mit Scheinwerfern bestrahlte Mauern gleiten, die auf den Bildschirmen gezeigt wurden. Nur selten sah er das Bauwerk mal mit eigenen Augen. »Klar.«

»Warum lassen sie ihn dann von Praktikanten erledigen?«

Seufzend wandte sich Luke ein letztes Mal zu seinem Schützling um. »Pass auf. Es braucht die besten Wissenschaftler der Welt, um diese Schilde aufrechtzuerhalten. Die besten Architekten, um die Tore und Mauern konstant zu optimieren, und die besten Soldaten, um das zu töten, was da drin lauert.« Er atmete tief durch. »Aber jeder Idiot erkennt, ob da etwas aus der Sperrzone dringt oder nicht. Es ist ein wichtiger Job. Trotzdem kann ihn jeder machen.« Das auszusprechen war ein ziemliches Armutszeugnis für ihn und seine Arbeit der letzten Wochen.

Der Junge blinzelte in seine Kaffeetasse, und nach und nach wich die Euphorie aus seinen Zügen. Die herabgezogenen Mundwinkel verrieten viel über die Enttäuschung, die er empfinden musste. »Verstehe.«

»Mach dir keine Gedanken«, ruderte Luke schnell zurück, bevor ihn ein schlechtes Gewissen ereilte. »Es gibt viele Abteilungen, und du wirst in alle reinschnuppern können. Die Moja-Forscher sind ganz interessant, und wenn du Glück hast, lassen sie dich sogar einen Blick in AGAIN werfen.«

»AGAIN? Das ist die Abteilung mit den Tieren, richtig?«

»Genau.«

»Cool.«

Luke widerstand dem Drang, die Augen zu schließen, und stellte sich, wie schon in den letzten Wochen, darauf ein, in einen absoluten Leerlauf zu verfallen, bis die Schicht vorbei wäre. Einzig und allein der Gedanke, dass sich dieses Praktikum gut in seinem Lebenslauf machen würde, ließ ihn das hier durchstehen. Und dass er vielleicht einen Blick auf …

»Luke?«

Es fiel ihm schwer, das Stöhnen zu unterdrücken. Würde das den ganzen Tag so weitergehen?

»Ja?«

»Das … das hier ist normal, oder?«

Es brauchte eine Weile, bis Luke erkannte, auf welchen der vielen Bildschirme der Junge deutete. Er blinzelte einige Male, bevor er das Bild mit seinen noch immer müden Augen anvisierte.

»Das … das ist ein Moja, oder?«

Der Screen zeigte eins der Tore in Vogelperspektive, mit Sicht auf das, was dahinter lag: Hinter dem Tor, auf der anderen Seite der Mauer, war ein Mensch zu sehen. Zumindest etwas, das einmal menschlich gewesen war. Ein leicht blauer Schimmer funkelte auf der blassen Haut des Mannes, der absolut regungslos dort stand.

Luke räusperte sich. »Ja, das ist einer. Zoom mal ran.«

»Ähm.« Der Praktikant suchte auf einem der Tische nach dem Steuerboard. Seine Finger zitterten.

»Keine Sorge, die laufen da manchmal einfach rum«, sagte Luke aufmunternd. »Ist doch spannend, dann kannst du mal einen …«

»Hätten die Bewegungsmelder nicht anspringen sollen?«

»Was?«

Synchron wandten sie sich zu der Tafel hinter ihnen um, die für gewöhnlich mit einem intensiven Piepen meldete, wenn sich etwas tat. Auf dem schwarzen Display erschien allerdings keine Nachricht, und kein Geräusch durchdrang den Raum.

»Vielleicht ist er nicht nah genug …« Für den Bruchteil eines Moments flackerten die Bildschirme. Daraufhin berichtigte sich das Bild.

Der Junge erstarrte vor Schreck, und Luke spannte sich an. Hinter dem ersten Moja drängten sich mindestens zwanzig weitere in das Sichtfeld der Kamera, die Augen regungslos auf das Tor gerichtet.

»Sieht fast aus, als würden sie … sprechen?«

Das Schimmern ihrer Haut drang so hell durch die Bildschirme, dass es den Raum erhellte. Tatsächlich, sie bewegten ihre Münder.

Aber Moja sprachen nicht. Niemals.

»Da auch!«, rief der Praktikant. Weitere Moja tauchten am Nordtor auf, sammelten sich und schauten mit ausdruckslosen Gesichtern zum Zugang ihrer Sperrzone.

»Scheiße«, stieß Luke aus und sprang auf, als die Wesen ebenfalls am West- und Osttor Stellung bezogen – und die Bewegungsmelder weiterhin stumm blieben. Sein Stiefel riss seine Kaffeetasse von der Tischplatte. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sie mit einem Klirren auf dem Boden aufschlug und in tausend Teile zersprang.

Der rote Alarmknopf an der Steuerkonsole der gegenüberliegenden Seite des Raums sah wie neu aus. Es hatte ihn nie jemand benutzt, und Luke hatte nicht erwartet, dass er derjenige sein würde, der ihn einweihen musste. Er holte aus.

Ehe es ihm jedoch gelang, mit voller Wucht darauf zu schlagen, ging ein Beben durch die Station, das ihm das Gleichgewicht unter den Füßen fortriss. Die Screens flackerten, bevor sie endgültig erloschen und das Zimmer in vollkommener Schwärze zurückließen.

»Sollte das passieren?«, durchbrach die Stimme des Jungen die Dunkelheit. Erst nach einigen Sekunden setzte die Notfallbeleuchtung ein und mit ihr das markerschütternde Dröhnen einer Sirene. Fiebrig sahen sie sich um.

»War das ein Erdbeben?«, schrie der Praktikant, und Luke gelang es endlich, den Druckschalter zu betätigen.

Nichts. Es geschah nichts, dabei sollte er eine direkte Verbindung zur Zentrale herstellen und die Sicherheitskräfte alarmieren!

»Irgendwas scheint das Sicherheitssystem zu blockieren«, rief Luke. Erst jetzt spürte er das Pochen seines Herzens deutlich und schnell in seiner Brust – als hätte es erst jetzt begriffen, dass er in Gefahr schwebte.

»Scheiße, komm mit!« Gerade hatte er den Jungen am Arm gepackt, um ihn aus dem Raum zu zerren, da ließ ein weiterer Ruck die Station erbeben. Das Notfalllicht flackerte, und Luke krallte, auf die Tür zustürzend, seine Finger tiefer in die Jacke seines Schützlings.

»Das ist kein Erdbeben«, grollte er, während sie sich ihren Weg in die Maschinenhalle bahnten. Die Techniker waren bereits dabei, mit raschen, bedachten Bewegungen ihre Geräte von den Generatoren zu trennen. Vom anderen Ende der Halle kam ihnen eine Gruppe Wissenschaftler mit wedelnden Armen entgegen. Luke erkannte den alten Kerl, der ihn eingewiesen hatte.

»Keine Zeit zum Reden, RAUS HIER!«, schrie Luke ihm entgegen und gab den Anwesenden im Laufen und über das lärmende Geräusch hinweg das Zeichen, sofort zu verschwinden.

»Was sagt die Überwachung?« Der Wissenschaftler, in seinem knittrigen Kittel und mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn, stellte sich ihnen in den Weg. Luke drängte ihn grob beiseite, rannte weiter. »Ist das …«

»Das sind die Moja! Irgendwas hat das Sicherheitssystem lahmgelegt. Wir müssen hier weg!«

»Was? Das kann …«

»Keine Zeit, raus hier!«

»Sicherheitshinweis.« Eine blecherne Frauenstimme, so laut, dass sie durch Mark und Bein fuhr, drang aus den Lautsprechern. »Dies ist eine Evakuierung. Bitte verlassen Sie unverzüglich das Gebäude über die gekennzeichneten Fluchtwege.«

»Was ist passiert?«, schrie einer der Wissenschaftler über die Ansage hinweg. Luke verlangsamte sein Tempo nicht, ließ seinen Griff nicht locker und rannte mit den Forschern und Mechanikern in Richtung des Hauptflurs. Stimmengewirr und Rufe drangen ihnen von dort aus entgegen.

»Die Moja haben sich vor dem Tor versammelt!«, rief der Praktikant dem Wissenschaftler zu, der ihnen direkt folgte. Wenn sie hier raus waren, musste Luke endlich nach ihren Namen fragen.

»Was?« Panik trat in die sonst so ruhigen Augen des Mannes.

Ein weiteres Beben erfasste sie, dieses Mal stärker als alle zuvor. Es schleuderte sie gegen die Maschinen, erst links, dann rechts von ihnen. Der Arm, mit dem Luke den Sturz abfing, prallte gegen ein Steuerpult. Bereits bevor er sich des Schmerzes bewusst werden konnte, wurde er mit dem Kopf voran in die Bauteile des gegenüberliegenden Generators geworfen. Die Hand nach wie vor in der Jacke seines Schützlings vergraben, konnte er sich nicht rechtzeitig abfangen.

Als die Erschütterung sich legte und er dazu ansetzte, sich aufzustemmen, sah er nichts als Schwärze, schmeckte Blut in seinem Mund. Verdammt, lief da etwas Warmes an seiner Schläfe hinab?

»Chef?«

Der Praktikant zog an ihm, bis Luke es schaffte, sich in eine aufrechte Position zu bringen. Der Wissenschaftler legte seinen Arm um ihn und zerrte ihn mit in Richtung des Ausgangs. Die Frauenstimme setzte wieder ein. Alles leuchtete rot und verschwommen, als es Luke endlich gelang zu blinzeln und zumindest ein wenig von seinem Sehvermögen zurückzugewinnen.

Die Sirene dröhnte mit einer Intensität in Lukes Kopf, dass er glaubte, er würde zerspringen.

»Das ist kein Erdbeben«, knurrte er und ließ sich von seinen beiden Begleitern blind in irgendeine Richtung steuern. »Das ist KAMI.«

»Bist du dir …?«, setzte einer der Wissenschaftler an.

»JA!«, unterbrach Luke ihn harsch. Verdammt, warum konnte er jetzt nicht klar im Kopf sein? Das waren keine Beben, das waren Explosionen! »Die sollen MaKE alarmieren.«

»Was? Das … das kann nicht sein. Wir hatten nie …«

»Ich mach das«, presste Luke hervor und tastete in seiner Hosentasche nach seinem TransPhone. Er musste ein weiteres Mal das Blut aus seinen Augen fortblinzeln, um zu erkennen, dass es zerbrochen war. »Scheiße!«

»Die anderen Überwachungsstationen oder … oder die Grenzwachen hätten Alarm geschlagen, wenn etwas mit den Moja nicht stimmen würde«, rief ein anderer Wissenschaftler fahrig. Luke machte sich nicht mal die Mühe, aufzusehen, um zu schauen, wer sprach.

»Wurde anscheinend alles ausgehebelt«, dachte er laut und schob sich mit letzter Kraft an den Rand des Ganges, um all die umherirrenden Menschen durchzulassen. »Bei uns haben nicht einmal die Bewegungsmelder funktioniert.« Dass noch kein Ausnahmezustand ausgerufen wurde, sondern nur das übliche Evakuationsprozedere lief, bewies, dass etwas nicht stimmte.

Ohne gefragt worden zu sein, drückte der Praktikant Luke sein eigenes Phone in die Hand. Mit zitternden Fingern wählte er Flovers Nummer. Blut tropfte aus der Wunde an seinem Kopf auf das Tastenfeld. Sein rechter Arm fühlte sich vollkommen taub an.

»Was machst du?«, wollte der Wissenschaftler wissen und wollte ihn hektisch weiterziehen.

Luke schloss die Augen, als er sich an die Wand lehnte und das Freizeichen an einem Ohr ertönte. »Verschwindet. Ich aktiviere die Special Units.«

Archiv: Militärische Aufzeichnungen

Vorschlag zur Einführung neuer Special Forces

zur Vorlage bei General Alaska Pershing

11.10.2074Ort: Moskau

Unit 1: GREAT

General Recruiting and Equipment Administration Team

Zuständigkeit: Organisation innerhalb der Units, Verwaltung, Ausstattung, Ausrüstung und Einstellung neuer Einheiten

Departments: Recruiting, Equipment & Entwicklung, Koordination, Öffentlichkeitsarbeit

Mindestrang: Captain

Unit 2: AGAIN

Advanced Global Animal Inspection Navigation

Zuständigkeit: Entwicklung neuer Technologien zum effizienten Aufspüren und Einfangen befallener Tiere

Departments: Entwicklung & Forschung, AGAIN Ausbildungslager, AGAIN (Einsatztruppe), Animal-Department zur Ausbildung von Tiereinheiten

Mindestrang: Nach Ermessen

Unit 3: KAGE

KAMI Assimilation Ground Enforcement

Zuständigkeit: Eliminierung sämtlicher außerhalb von Sperrzonen auftretender Moja bei gleichzeitiger Wahrung der Geheimhaltung. Enorme Spezialisierung der Einheiten

Departments: Koordination, SEARCH & IT, KAGE (Einsatztruppe),

KAGE-Agenten werden von MaKE-Soldaten ausgebildet.

Mindestrang: Captain

Wichtig! Geheimhaltungsstufe: GEN Core Secrets!

Unit 4: MaKE

Moja and KAMI Elimination Unit

Zuständigkeit: Bekämpfung von Moja in Sperrzonen. Hohe kampftechnische Spezialisierung und Ausrüstung mit schwersten Geschützen. Wir schlagen die Begleitung der Kampfeinsätze mit großem medialem Aufgebot vor.

Departments: Ausbildung (Mindestrang: Colonel), Strategie (Mindestrang: Major General), Einsatz (Mindestrang: Auszubildender oder Student der Akademie)

Mindestrang: Auszubildende oder Studenten an der Akademie mit einem Mindestalter von 18 Jahren

Pers. Anmerkung Alaska Pershing: Namensgebung d. Units überdenken?!

KAPITEL 2: SPREADING

Musik erfüllte die Wohnung, und die dicht am Horizont stehende Sonne blinzelte warm hinein, als Flover aus dem Badezimmer trat und sich die Haare grob mit einem alten Handtuch abrieb. Wasserdampf beschlug die Fenster im Wohnzimmer und gab erst nach und nach die Aussicht auf die Eislandschaften dahinter frei.

Im Takt der Musik tänzelte er durch die Wohnung, kickte seine Arbeitstasche tiefer in eine Ecke hinein und drehte sich schwungvoll zur Küche herum. Frisches Gemüse lag auf dem Tresen des kleinen Raumes und war bereit, bearbeitet zu werden.

Flover hielt in seiner Bewegung inne und musterte die Mohrrüben, Zucchini, Zwiebeln und alles, was Luke ihm vor seiner Schicht bereitgelegt hatte. Er wusste, dass er heute mit Kochen dran war. Außerdem hatte er Luke versprochen, die Abermillionen Pflanzen in der Wohnung zu gießen. Bei dem verdammten Garten hier drin würde ihn das ebenfalls eine halbe Stunde Zeit kosten.

Flovers Blick glitt weiter in Richtung des von Kräutern zugestellten Esstischs, auf dem sein unfertiger Comic lag. Seine Finger begannen zu kribbeln, so lange war er nicht mehr zum Zeichnen gekommen. Die ganze Nacht hatte er gearbeitet, war durch die Untergründe der Städte gestreift, bis ihn der Anruf seines Bosses vor einer Stunde von der Schicht erlöst hatte.

Vermutlich hatte er sich ein wenig Zeit für sein Hobby verdient, bevor er zur Uni aufbrechen musste. Luke würde das verstehen.

Hoffentlich.

Erst als Flover einen weiteren Schritt auf den Tisch zugegangen war, bemerkte er das lautlos blinkende Phone neben seinen Zeichnungen. Er wollte seine Finger danach ausstrecken und stolperte im nächsten Moment fast über das Huhn, das sich anscheinend dazu entschieden hatte, aus seinem Nest zu flattern.

»Mann, Gerta, pass auf«, rief er erschrocken und stemmte lächelnd die Hände in die Hüften. Zufrieden glucksend umkreiste die Henne seine Füße. »Ich hab dich doch erst gefüttert«, murmelte er, als er nach seinem TransPhone tastete. Ein verpasster Anruf von Luke. Seine Schicht begann gerade, bestimmt wollte er nur quatschen.

Gerta gluckte vor sich hin, bis Flover sie anschaute und sich schließlich zu ihr hockte. Er schürzte die Lippen. »Wann hast du denn vor, mal wieder ein Ei zu legen, hm?«

Für ihn klangen ihre Geräusche manchmal, als würde sie ihn auslachen.

»Verstehe«, stöhnte er, rappelte sich auf und griff eine Handvoll Körner aus dem Futterkorb, die er in ihren kleinen Napf gab. Skeptisch näherte Gerta sich dem Futter, bevor sie einige Male zaghaft pickte und abermals zu ihm aufsah. Erst mit dem einen Auge, bevor sie den Kopf schieflegte, um ihn mit dem anderen Auge zu mustern.

»Du willst Kuchen«, stellte Flover kopfschüttelnd fest und wandte ihr den Rücken zu. »Luke hat dich zu sehr verwöhnt.«

Sein Schlafzimmer war der einzige Raum, den Luke nicht mit Tausenden Pflanzen zugestellt hatte. Wenn er allerdings noch ein paar Mal stundenlang über Luft und Sauerstoff philosophierte, würde Flover sich bald erweichen lassen.

Er schlüpfte in eine Hose und in ein lockeres Shirt, dann schlitterte er auf den rutschigen Socken zur Wohnungssteuerung an der Wand, um die Temperatur etwas hochzudrehen. Noch hing die Sonne über dem Horizont, doch Tag für Tag kam sie ihm in ihrem Kreisen näher. Bald wäre der Sommer vorbei, und sie würde für ein halbes Jahr verschwinden. Wahrscheinlich sehr zum Missfallen von Luke und seinen Gewächsen.

Als Flover auf dem Weg zum Esstisch war, um sich sein Zeichenzeug zu schnappen, begann sein Phone erneut zu vibrieren. Dieses Mal war er schnell genug.

»Hey«, meldete er sich und vernahm sofort den Tumult im Hintergrund. »Was ist los?«

»Flover?« Luke klang ganz außer Atem. »Verdammt, ich versuche dich seit zehn Minuten zu erreichen!« Eine Frauenstimme sprach eine Sicherheitswarnung, die Flover wegen einer laut heulenden Sirene kaum verstehen konnte. Schreie ertönten.

»Was ist bei euch los?« Er bemühte sich, ruhig und fokussiert zu bleiben, dabei krallten sich seine Finger wie von selbst in das Gerät an seinem Ohr.

»Wir brauchen sofort Hilfe! Die …« Ein Dröhnen und Krachen übertönte seine Stimme, und Luke keuchte auf.

»Luke?« Keine Antwort. Ein Rascheln am anderen Ende. Hatte er sein Phone fallen lassen? »Luke?«, wiederholte Flover lauter, während er sich in Bewegung setzte, ohne nachzudenken die wenigen Schritte zu seinem Zimmer überwand und seine Tasche aus der Ecke zerrte. »Luke, sag was!«, rief er so laut in den Hörer, dass Gerta empört aufflatterte.

»Ihr müsst sofort MaKE-Units hierherschicken!« Flovers Herz machte einen erleichterten Satz, als sein Mitbewohner sich wieder meldete. »Die Moja sind ausgebrochen. Die ganze Station fliegt in die Luft!«

Flover erstarrte und blinzelte ungläubig. »Warte … was?! Wie … wie ist das möglich?«

»Keine Ahnung – und keine Zeit!«, schrie Luke. »Wir brauchen sofort Hilfe!«

»Okay, bleib, wo du bist, ich informiere die Zentrale und die …«

Ein raues Husten erklang am anderen Ende, danach ein unterdrücktes Stöhnen. »Schick jeden her, den du erreichen kannst!«

»Mache ich!«, versicherte Flover, aber die Leitung war schon in der nächsten Sekunde tot. Schwer atmend ließ er den Hörer von seinem Ohr gleiten. Scheiße, er war für Krisensituationen ausgebildet, warum traf ihn das so sehr?

Ruhig. Was hatte er bei KAGE gelernt? Bis fünf zählen.

Eins.

Luke hätte gar nicht anrufen dürfen. Die Leitung war offen, und wenn sie Pech hatten, würde die Zentrale herausfinden, dass Flover nicht dichtgehalten hatte. Vielleicht warfen sie ihn raus.

Zwei.

Wenn jedoch Moja in Nordchina ausgebrochen waren, hätte die Geheimhaltung irgendwelcher Units vorerst keine hohe Priorität.

Drei.

Warum hatten die Sicherheitsmaßnahmen der Station nicht längst Alarm geschlagen? Bei einem Zentralalarm wäre auch Flover benachrichtigt worden.

Vier.

Das Chaos in seinem Kopf war besiegt.

Fünf.

Er hob das Phone in seiner Hand und sammelte sich. Ein Knopfdruck verband ihn mit der Zentraldurchwahl für die Units, und nach dem ersten Freizeichen erklang eine Stimme.

»Militärische Zentralverwaltung Moskau, mit wem spreche ich?« Der Mann klang angespannt. Wussten sie es schon?

»KAGE-Agent 19 hier«, meldete sich Flover. »Ich brauche umgehend einen Transport in die Zentrale.«

Wenige Minuten später schlugen Flover das Klingeln dutzender Telefonanlagen und gehetztes Stimmengewirr entgegen. Die Zentrale in Moskau befand sich in der größten Hektik, die er jemals erlebt hatte.

Nach dem Cyber-Reisen dauerte es stets eine Weile, bis die Welt sich wieder sammelte und setzte. Manchmal fühlte es sich an, als wäre nicht er derjenige, der sich in tausend Teilchen aufspaltete und zusammenfügte, sondern das Universum um ihn herum. Flover brauchte deswegen einige Sekunden, bis es ihm taumelnd gelang, sich von dem Cyber-Field zu schieben, auf der nächsten Konsole abzustützen und einige Male heftig zu schlucken.

Sein Haar war an den Spitzen noch nass. Kleine Wassertröpfchen purzelten aus den schwarzen Strähnen in seinem Gesicht auf das Pult. Er nutzte sie als Fixpunkt, um sein Gleichgewicht zurückzuerlangen. Doch das Durcheinander im anliegenden Zimmer verschärfte die Übelkeit nur.

Er musste sich beeilen.

»19!«, schallte es ihm entgegen. Flover rang mit dem Schwindel, als er in den Raum voll heller Aufregung trat. Alle Konferenztische waren besetzt, auf den an die Glaswände projizierten Aufnahmen flimmerten Bilder der Sperrzone Nordchinas, und dieser grellbunte Trubel, in dem sonst so dunklen, ruhigen Stützpunkt, steigerte Flovers Desorientierung.

»19!«, wurde er erneut gerufen. Jetzt erkannte er die Stimme seines Vorgesetzten und schaute sich um Konzentration bemüht um.

»Godwin.« Flover steuerte auf seinen Abteilungsleiter zu, der sich rasch aus etwas, das ein Briefing zu sein schien, herausmanövrierte. Die Männer und Frauen, die er stehen ließ, schauten skeptisch zu ihnen herüber. Flover grüßte sie mit einem vorsichtigen Kopfnicken.

»Nakamura«, grüßte sein Vorgesetzter rasch. Er wirkte um zwanzig Jahre gealtert, seitdem sie sich vor einer Stunde gesehen hatten. Die ganze verdammte Nacht hatten sie gemeinsam in den Untergründen der Städte gekämpft. Auf Godwins Gesicht spiegelte sich Flovers Erschöpfung.

»Ihr habt die Info schon?«

»Seit zehn Minuten.« Der Mann strich sich durch das schwarz gefärbte Haar und ließ seinen Blick ziellos umherwandern. »Von mehreren privaten Stellen. Eine offizielle Meldung gab es nicht, aber wir arbeiten trotzdem daran. Ich wollte gerade den Anruf an dich absetzen.« Das war vermutlich gelogen, doch Flover entschied sich, nichts zu sagen. »Wir haben keinen Zugriff auf Sicherheitsprotokolle oder sonstige Aufzeichnungen.«

»Fuck. Ist schon eine Einsatztruppe raus?«

»MaKE ist informiert, die sind noch dabei, ihre Leute zu sammeln. Die ersten Soldaten sind raus, aber alle vier Tore stehen nach unseren Informationen offen. Wir müssen die Einheiten schneller sammeln.« Godwin vermied es wie üblich, für länger als wenige Sekunden Augenkontakt zu Flover aufzunehmen. »Priorität hat das Südtor direkt an der Station, darum kümmern sich gerade mehrere Einheiten. Nicht unweit des Nordtors gibt es eine Siedlung der Yuna, deren Evakuierung müssen wir ebenfalls zeitnah abdecken. Wir haben keine Anweisungen vom Zentralrat, allerdings …« Er atmete durch, als wäre dieses Gespräch eine gute Gelegenheit, seine Gedanken zu sammeln. »… tun wir trotzdem, was wir können.« Die leichten Lachfalten um seine Augen, die seine düsteren Züge sonst aufhellten, ließen ihn in diesem Moment unglaublich alt wirken.

»Was kann ich tun?« Flover festigte den Griff um die Schnalle seiner Arbeitstasche, als könnte sie ihm ein wenig Halt geben. Er bemühte sich um eine kontrollierte Atmung, einerseits um die in seinem Rachen kribbelnde Übelkeit zu vertreiben, andererseits um nicht darüber in Panik auszubrechen, dass Luke tatsächlich irgendwo in diesem Chaos steckte.

»Wir holen jeden verfügbaren Agenten rein und organisieren uns mit der MaKE-Einheit. Die sind bisher heillos unterbesetzt. AGAIN ist dran, sich um die Tiere zu kümmern, die zusammen mit den Moja aus der Sperrzone ausgebrochen sind. Vorrangig um die Vögel.«

»Chef, kann ich dich kurz …«

»Siehst du nicht, dass ich gerade rede?«, fauchte Godwin den ankommenden Agenten an, der sich sofort wieder rückwärts entfernte. Flovers Abteilungsleiter stöhnte laut auf und fuhr sich hektisch über die Stirn. »Sobald wir einen Plan haben, gehen wir selbst da raus, nach Ulan Bator, schätze ich, das ist am nächsten dran. In die Stadt rein, um alle Infizierten einzufangen. Bis MaKE allerdings nicht komplett organisiert vor Ort ist, um die Mannschaften anzuführen und die Moja an der Quelle abzufangen, bleiben wir hier und managen. Klar?«

»Klar.« Flover presste die Lippen aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Er wollte da raus. Etwas tun. Luke helfen.

»Die Medien sind auf dem Vormarsch«, erklärte Godwin mit einer Geste zu den Luftaufnahmen von der Station, die aufsteigenden Rauchfahnen und die meterhohen Flammen, die in den Himmel loderten. Personen liefen panisch durch den Wüstensand vor den Toren. Aus dieser Entfernung war es unmöglich zu erkennen, ob es Moja oder Menschen waren. »Wir brauchen Präsenz da draußen.«

»Was? Ich soll …«

»Okijen Van Dire«, fiel Godwin ihm lauter werdend ins Wort. »Der treibt sich irgendwo in Ulan Bator rum – ganz in der Nähe.«

Flover zog die Augenbrauen zusammen. »Ich dachte, der hätte den Dienst quittiert.«

»Hat er, aber das Militär hat ihn nicht in den Ruhestand versetzt. Er steht immer noch auf der Gehaltsliste, und wenn wir den bekommen, am besten auf einem Podest, wie er ein paar Yuna rettet, zeigen wir der Öffentlichkeit, wie wichtig uns die Angelegenheit ist.«

Es dauerte einen Moment, bis Flover realisierte, was seine Aufgabe sein sollte. Im Ernst? Jeder kämpfte und organisierte, und er wurde zum Telefondienst verdonnert? »Denkst du echt, dass wir damit unsere …«

»Spreche ich Mandarin, Mann?« Godwin baute sich vor Flover auf, eine Zornesfalte auf der Stirn, das Kreuz durchgestreckt. »Hol uns den Supersoldaten aufs Schlachtfeld!«

Dachte er wirklich, dass es Flover einschüchterte, dass er zehn Zentimeter größer war als er? »Bei allem Respekt, Brigadier General Godwin«, erwiderte er förmlich in betonter Ruhe, »doch ich würde lieber vor Ort helfen, als diesen eingebildeten Schnösel nur für die Medien an Land zu ziehen.«

Godwin funkelte Flover aufgebracht an, und ihre Blicke verhakten sich für eine Weile ineinander.

»Na gut, folgender Deal«, räumte sein Vorgesetzter überraschend ein. »Hol uns den Soldaten in die Schlacht, und danach kannst du dir meinetwegen ’ne MaKE-Uniform schnappen und dich ins Getümmel stürzen.«

Flover wog sämtliche Optionen ab und nickte, wissend, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Weiter zu protestieren würde ihm nichts nützen.

Okijen Van Dire war seit über einem Jahr an keinem Ort mehr aufgetaucht, an den ein Journalist auch nur denken könnte. Er hätte kommen sehen müssen, dass Godwin ihm so einen Auftrag geben würde. Der Kerl hasste ihn und ließ es ihn nicht selten spüren.

»Fragen, Nakamura?«, wollte Godwin wissen, wandte ihm allerdings schon den Rücken zu.

»Nein. Ich setz mich dran«, erwiderte Flover um Fassung bemüht.

»Beeil dich, verdammt noch mal!«

Ein dramatisches Stöhnen erklang am anderen Ende der Leitung. Flover hatte seine bestiefelten Füße auf den Schreibtisch vor sich gelegt, die Arme vor der Brust verschränkt und lauschte auf die Geräusche aus seinen Ohrimplantaten. Sie unterdrückten die Geräuschkulisse um ihn herum, und die Stimme des Mannes, den er seit einer halben Stunde zu erreichen versuchte, verpasste ihm den Anflug eines Erfolgsgefühls.

»Ja?«

»Colonel Okijen Van Dire? Hier spricht Captain Flover Nakamura, KAGE-Agent 19.« Flover musste sich zusammenreißen, die Genervtheit in seiner Stimme zu unterdrücken. Godwin wusste, dass er einer der besten Agenten der Einheit war. Sich jetzt mit Okijen herumschlagen zu müssen, war ein schlechter Scherz, und mit jeder Minute war seine Laune weiter abgesunken.

»Ah, ich hab das Rängegelaber vermisst«, sagte der Soldat. Flover sah sein selbstgefälliges Schmunzeln praktisch vor sich. Es klimperte und klirrte bei ihm im Hintergrund. »Du bist der Sohn von Liza Moore, richtig?«

Flover biss die Zähne aufeinander und rang um Beherrschung in seiner Stimme. »Das dürftest du überhaupt nicht wissen.«

»Ich weiß alles, 007. Warum nervst du mich?«

Wenn du alles weißt, warum sitzt du dann zu Hause herum?, wollte er fragen. Stattdessen antwortete er: »Es gab einen Ausbruch in der Sperrzone Nordchina. Die Tore sind offen, und wir brauchen deine Unterstützung am Nordtor. Eine Yuna-Kolonie ist in äußerster Gefahr und muss sofort in Sicherheit gebracht werden.«

»Und wie kommst du auf die Idee, dass gerade ich das tun sollte, Junge? Die halbe Welt gehört dem Militär an. Sollen die das machen.«

In der Zeit, in der er darauf gewartet hatte, dass der Kerl an sein Phone ging, hatte Flover sämtliche Gesprächsverläufe durchgespielt. Dieser gehörte auch dazu. »Der Vorfall war unvorhergesehen«, erklärte er. »Die Informationen dazu erreichen uns nur nach und nach. Solange wir nicht wissen, wie die genaue Lage ist, brauchen wir jeden Mann, den wir bekommen können.«

»Vergiss es«, ächzte Okijen theatralisch. »Ich hab zu tun.«

Rumsitzen und Däumchen drehen, oder was?

»Die Lage ist dringlich. Ich befürchte, das ist ein direkter Befehl.«

»Kleine KAGE-Agenten wie du erteilen also jetzt Befehle?«, fragte der Soldat lachend, und Flover ballte die Hände zu Fäusten. »Du hast das vorhin so schön runtergebetet. Sag mir, wer hier drei Ränge über wem steht, Captain.« Er spuckte das letzte Wort aus wie etwas Widerwärtiges, und in der nächsten Sekunde saß Flover aufrecht in seinem Stuhl.

»Ist das dein Ernst, Mann? Da draußen sterben Menschen!«

»Na dann geh sie doch retten!«

Wie gern er das würde! Er hätte hundertmal mehr erreichen können als dieser Kerl, der seit zwei Jahren auf seinem faulen Hintern saß.

Einige Sekunden nahm er sich Zeit, um sich zu beruhigen, bevor er mit wütend rasendem Puls antwortete: »Sobald ich dich überzeugt habe, mache ich mich auf den Weg. Tu uns beiden den Gefallen und nimm dir ’ne Stunde Zeit, um diese Kolonie zu retten, ja?«

Die Bilder des Angriffs schwirrten weiterhin über die Wände. Godwin lief auf der anderen Seite des großen Raumes auf und ab. Vielleicht hatten sie endlich die Befehle vom zentralen Weltrat bekommen.

»Und um diese Menschen zu retten, soll ich weitere Menschen töten, ja?« Jetzt klang Okijen nicht mehr nur genervt, sondern schnippisch.

»Das sind keine Menschen mehr!«, konnte Flover nicht an sich halten. Einige der anderen Agenten sahen verwundert und interessiert zu ihm auf. Er ignorierte ihre Blicke. »Und falls ich dich erinnern darf: Du hast mehr von denen getötet als jeder andere auf diesem beschissenen Planeten. Wie viele waren es? Zehntausend? Zwanzig? Auf die paar kommt es jetzt auch nicht mehr an.«

»Ich hab keine Lust mehr, mit dir zu reden, Kleiner.«

»Nenn mich nicht so«, fauchte Flover. »Hör zu, ich schicke dir jetzt die Daten auf dein Phone. Wenn du die angegebene Nummer wählst, holen sie dich direkt in die Zentrale. Da kannst du deine Ausrüstung holen und …«

»Ich werde nicht …«

»Lass mich ausreden, klar? Du gehst in die Zentrale, holst dir deine Ausrüstung, und wenn du in dreißig Minuten nicht auf dem beschissenen Schlachtfeld bist, transportiere ich mich persönlich zu dir und trete dir in deinen ignoranten Arsch!«

Kurz herrschte Stille am anderen Ende. Einige der Agenten um Flover herum hatten innegehalten, um seinem Gespräch zu lauschen. Erst dachte er, Okijen hätte aufgelegt und bräuchte Zeit zum Nachdenken.

Dann vernahm er ein leises Glucksen. »MaKE gegen KAGE«, raunte der Soldat. »Das wäre ein Kampf, über den sich die Journalisten freuen würden.«

»Ich mich auch«, knurrte Flover.

KAPITEL 3: STRUGGLING

Nachdem der Agent die Verbindung abgebrochen hatte, legte Okijen sein Phone zur Seite, lehnte sich in seinen Küchenstuhl zurück und ließ ein Stöhnen entweichen. Die Müdigkeit drückte hinter seiner Stirn, und vor den Fenstern brannten die Neonlichter in das Dunkel der Nacht hinein. In der Gasse, fünf Stockwerke unter ihm, unterhielten sich Jugendliche lautstark über Cyber-Trips. Sie hatten keinen blassen Schimmer, was kaum sechshundert Kilometer von ihnen entfernt für ein Chaos tobte. Und das war vielleicht auch besser so.

Okijen fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, unterdrückte ein Gähnen und wollte zu den Jungs hinunterrufen, dass sie sich endlich ins Bett verziehen sollten. In Sicherheit. Aber wem machte er etwas vor? Die nächtlichen Straßen waren warm und hell erleuchtet. Die Menschen fühlten sich dort sicher. Wer war er, ihnen diese Illusion zu nehmen?

Wenn sie wüssten, was um sie herum vonstattenging, würde keiner von ihnen mehr in Ruhe schlafen.

Sein Phone vibrierte kurz. Die Nachricht des KAGE-Agenten mit seinen Missionsdaten blinkte auf. Das grelle Licht des Geräts schmerzte in seinen übermüdeten Augen und seinem Kopf, der vor wenigen Minuten noch so friedlich auf sein Kissen gebettet gewesen war. Nun wirbelten Bilder und Gedanken durch seinen Verstand, die er unmöglich wieder abstellen konnte.

Eine seiner Katzen, zusammengebaut aus rohem Metall und gerettet aus dem Müll, reagierte auf das Leuchten und sprang mit einem Klappern auf den Tisch. Okijen streckte seine Finger aus, um in Kreisen die Holzmaserung nachzufahren und zuzusehen, wie das kleine Wesen ihm unbeholfen hinterherstolperte.

Sein Phone vibrierte ein weiteres Mal.

»23 Minuten«, zählte der KAGE-Agent die Zeit herunter, und Okijen lächelte darüber, wie eifrig der Junge bemüht war, ihn zu motivieren. Was er wohl angestellt hatte, um diesen Scheißjob abzubekommen? Den Job, ihn – gerade ihn – zurück in den Dienst zu rufen. Fast könnte man Mitleid haben.

»Was meinst du, Kätzchen?«, raunte er. »Soll ich gehen?« Sollte er wieder kämpfen? Menschen retten und zu dem zurückkehren, was die Welt als seine Bestimmung ansah? Der Gedanke fühlte sich falsch an.

Die Katze hielt in ihren Bewegungen inne und blinzelte zu ihm auf, als hätte sie seine Worte verstanden. Wenn sie ihm doch nur antworten könnte – sicherlich hätte sie eine grandiose Lösung parat.

Die kleine Küche, in der er den Großteil seines Lebens verbrachte, wurde von dem pastellpinken Banner am Wolkenkratzer gegenüber erleuchtet. Die Pflanzen und Kräuter auf dem Tisch reckten müde ihre Köpfe in Richtung des Lichts, das tagsüber von mattem Sonnenschein ersetzt wurde. In diese tiefgelegenen Ebenen der Metropole schien die Sonne allerdings nur selten.

»22 Minuten.«

Flover Nakamura, Sohn der höchsten Politikerin aus Sektor 3. Wie alt der Kerl wohl war? Achtzehn, vielleicht neunzehn. Ziemlich früh, um dem Ground Enforcement Team beizutreten. So junge Leute nahmen sie normalerweise nicht bei KAGE auf.

Okijen schaute aus dem Fenster und erinnerte sich an die Zeit vor wenigen Jahren, als er selbst noch frisch beim Militär gewesen war. Als er noch unheimlich motiviert gewesen war, Moja in Sperrzonen abzuschlachten.

Dorthin wollte er nie zurückkehren. Auch jetzt nicht.

»21 Minuten.«

Er knurrte und begann wieder, mit dem Finger Kreise auf dem Tisch zu ziehen.

Er sollte gehen.

Er sollte wirklich, denn wenn jemand helfen konnte, dann er.

Aber verdammt, er wollte nicht mehr.

Er konnte einfach nicht mehr.

»Eine Minute. Ich sehe dich nicht.«

»Du bist echt eine Nervensäge«, murrte Okijen sein Phone an. Eine heiße Dusche hatte ihm geholfen, seine Gedanken zu ordnen. Seine Haut war noch warm, das kurze Haar trockengerieben, und jetzt stand er dort in der Dunkelheit, mit nichts weiter als dem Blinken seines Trans und dem Flirren der Nachtbeleuchtung im Zimmer.

Wann hatte er sich zuletzt in den Kampf ziehen lassen? 2099? Das war zwei Jahre her. Ein reines Gemetzel, mehr war São Paulo nicht gewesen. Als KAMI in weniger als vierundzwanzig Stunden zweihundert Millionen Menschen in Moja verwandelt hatte, war Okijen sich sicher gewesen, gegen das verdammte Ende der Welt zu kämpfen.

Und die Vögel waren schuld gewesen. Die scheiß Vögel waren an allem schuld.

»Ich hoffe, du bist gerade auf dem Weg zum Nordtor«, schob sich die Nachricht auf sein Phone, und Okijen holte tief Luft, um sie stoßweise aus seiner Lunge entweichen zu lassen. Der kleine Nakamura hatte wohl keine sehr hohe Meinung von ihm. Nicht viele Menschen wagten es, so mit ihm umzuspringen. Erst recht keine, die sich im Rang so weit unter ihm befanden. Aber er musste zugeben, dass ihm das ganz gut gefiel.

»Ich mach ja«, nuschelte er zu sich selbst, klickte in seine Nachrichten und wählte die angegebene Nummer. Er kam nicht einmal in eine Warteschleife, spürte sofort das Kribbeln und Stechen in seinen Gliedern – bevor er blinzelte und das grellweiße Licht der MaKE-Zentrale in seinen Augen brannte.

Leicht desorientiert trat er von der Plattform in die Nordzone der weitläufigen Halle hinein, die er über lange Zeit fast als sein Zuhause bezeichnet hätte. Die MaKE-Zentrale hatte sich seitdem nicht verändert. Kühle Neonröhren erleuchteten die sich schier endlos in die Länge ziehende Halle. Ausrüstungen, Uniformen und schwere Geschütze lagerten an den Seiten, und zwischen der militärischen Ordnung schwärmten Hunderte von Soldaten, Agenten und Organisatoren umher. Die Schritte ihrer schweren Stiefel und die Rufe der Koordinatoren hallten in Echos von den weißen Wänden zurück und sorgten für einen Trubel, der dem großer Innenstädte glich.

»Willkommen in der MaKE-Zentrale, Sir«, begrüßte ihn ein hochgewachsener Junge, der neben dem Cyber-Field Stellung bezogen hatte. Seine dunkelgraue Uniform saß etwas ungelenk an seinem Körper. Der Umstand, dass er selbst in dieser Krisensituation nur als Einweiser dienen durfte, wies entweder auf einen niedrigen Rang oder eine Strafarbeit hin. »Wenn Sie sich kurz von Ihrem Cyber-Trip erholen wollen, können Sie gern …«

»Nein, alles gut«, winkte Okijen ab und wandte dem Einweiser den Rücken zu, um forschen Schrittes auf einen der Koordinatoren zuzusteuern. Cyber-Trips waren unangenehm für Körper und Verstand. Wenn er sich allerdings daran erinnerte, wie es vor zehn Jahren gewesen war, konnte er über die Beschwerden der Menschen heutzutage nur lachen.

»Ähm … Die Koordinatoren des Einsatzes befinden sich an den jeweiligen Zentren A bis Z und …«

»Ist gut, Kleiner«, unterbrach ihn Okijen, bevor er noch mehr Zeit an ihm verschwendete. »Ich muss mit dem General sprechen. Also wenn du mir nicht zufällig sagen kannst, wo er sich aufhält …?«

»M-mit dem …«

»Van Dire?« Ein Soldat, die schwarze Kampfuniform schon am Körper tragend, den wuchtigen Helm auf dem Kopf und die Arme schwer beladen mit Munition, zog Okijens Aufmerksamkeit auf sich. Der Mann, dessen Stimme ihm aus alten Tagen so vertraut war, kam ein paar Schritte auf ihn zugelaufen.

»Stan«, grüßte Okijen mit einem grimmigen Lächeln. Himmel, wie lange hatte er seine ganzen ehemaligen Kollegen nicht mehr gesehen? »Haben sie dir noch immer keine neue Uniform gegeben? Das Ding ist aus dem letzten Jahrtausend!«

»Schön, dass du dich blicken lässt, du fauler Hund«, erwiderte er lachend, klappte jedoch nicht einmal sein Visier hoch. »Dass die dich hier überhaupt reinlassen.«

»Die empfangen mich mit Kusshand.«

»Wirst auch gebraucht. Der General ist in seinem Büro in Sektor B. Tritt dem ruhig die Tür ein, der hat sich seit ’ner halben Stunde nicht mehr blicken lassen.«

»Mache ich.«

»Ich muss weiter, ein paar Moja den Hintern versohlen. Ich hoffe, wir sehen uns da.«

»Lass ein paar für mich übrig!«, rief Okijen ihm hinterher, als Stan bereits in Richtung des Schachts für die Transporter weitereilte.

Rasch setzte Okijen sich erneut in Bewegung. Es war ein seltsames Gefühl, in seiner Alltagskleidung durch die kühle Halle zu laufen. Die bequemen Schuhe und die lockere Hose ließen ihn sich fehl am Platz fühlen. Als würde er einen Schlafanzug auf einer Abendgala tragen.

»Sie … Sie sind Okijen Van Dire?«

Der Einweiser folgte ihm in einigen Schritten Abstand.

»Warum? Enttäuscht?«

»Was? Nein, Sir«, stammelte er, und Okijen lachte innerlich. Eigentlich war das kein geeigneter Moment, sich so über jemanden zu amüsieren, aber ein wenig Auflockerung vor dem Kampf tat ihm vielleicht ganz gut.

»Kann ich etwas für Sie tun, Sir?«

»Nenn mich nicht Sir«, bellte Okijen und drehte sich im Gehen nur halb zu ihm um.

»Ja-jawohl, Colonel.«

»Mach meine Ausrüstung ausfindig, wenn’s geht. Uniform, Waffen, alles. Du weißt sicher, was ich gern habe.« Alle wussten, was er gern hatte. Die Medien hatten jahrelang davon berichtet.

»Jawohl!« Die Schritte des jungen Mannes entfernten sich, und Okijen beschloss, dem Drang, sich weiter umzusehen, nicht nachzugeben. Eine Mischung aus Nostalgie und Übelkeit hatte ihn befallen, und er wusste nicht, ob seine Glieder vor freudiger Aufregung oder Angst kribbelten. Bei dem Gedanken, wieder eine Kampfausrüstung anzulegen, wurde ihm aus so vielen verschiedenen Gründen schlecht.

Kurz bevor er in den Gang zu Sektor B einbiegen konnte, lief Okijen in einen Mann hinein, der ihm aus dem Flur entgegenkam. Eine Entschuldigung auf den Lippen, wollte er seinen Weg schon fortsetzen, da erkannte er den untersetzten Kerl erst als General Leitner.

»Colonel Van Dire!«, stieß er aufgeregt aus. »Ich habe Ihre Eingangssignatur empfangen. Gut, dass Sie zu uns stoßen.« Er schüttelte fahrig Okijens Hand und ruckte mit dem Kopf in Richtung des Flurs, in den er ihm schließlich folgte.

Der Kerl war ihm immer zu unruhig gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen Okijen und Marshall hatte damals auf einem ganz anderen Level stattgefunden. »Schön, hier zu sein, General«, verkündete er trotzdem in aller Ruhe. Was für eine Lüge.

Der Gang war nur spärlich beleuchtet, die Büros, zu denen Dutzende Türen rechts und links abführten, vermutlich nicht besetzt. Das Energiefeld am Ende des Ganges stand offen und legte das Chaos frei, das im Geschäftsraum des Generals herrschte.

»Die Mannschaften formieren sich«, sagte er, als sie eintraten. »Die ersten Einheiten sind auf dem Feld, und wir arbeiten unter Hochdruck daran, die Tore der Sperrzone zu schließen. Ihre Anwesenheit wird ein Motivator für die Truppen sein.«

Und ein gefundenes Fressen für die Medien.

Der ältere Herr in seiner sauber sitzenden dunkelgrauen Uniform schob ein paar Pads und Hologrammdokumente von seinem breiten Arbeitstisch und offenbarte eine digitale Karte der Sperrzone. Er deutete auf rote Punkte in allen vier Himmelsrichtungen des mehrere Quadratkilometer umfassenden Areals.

»Unsere Einheiten sind an den Toren im Einsatz, aber die Situation ist nach wie vor unkontrolliert. Bis wir nicht herausgefunden haben, was die Störung verursacht, können wir die Tore nur provisorisch schließen. Die Moja strömen nach wie vor zu Hunderten heraus.« Sein Finger wanderte zu einer rot umkreisten Einrichtung in einiger Entfernung des Kampfgebietes. »Die GREAT-Einheiten vor Ort richten Cyber-Fields ein, die es uns erlauben, uns direkt von der Zentrale aus an den Stützpunkt zu befördern. Wir schicken schubweise Verstärkung raus. Sie würden wir …«

»… am Nordtor platzieren. Hab ich schon gehört. Gibt es weitere Anweisungen?«

»Eine Siedlung Yuna ist in äußerster Gefahr.« Er deutete auf einige Dutzend Kästen nur wenige Kilometer nordöstlich des Tores. Warum lebten diese Wüstenmenschen überhaupt dermaßen nah an der Zone? »Die Evakuierung ist bereits gestartet. Ihre Aufgabe ist es, der GREAT-Einheit, die die Evakuation leitet, den Rücken freizuhalten. Wir stellen Ihnen umgehend eine Mannschaft und einen Transport zur Verfügung.«

»Gut«, bestätigte Okijen knapp.

»Wir haben außerdem Liveaufnahmen der Siedlung reinbekommen«, fuhr der General fort und wischte die Holokarte mit einer ausladenden Bewegung weg, um sie durch eine Nachtaufnahme zu ersetzen. Aus der Vogelperspektive war die Siedlung zu sehen, kaum mehr als dreißig einfache Hütten im Wüstensand, erleuchtet von den Strahlern, die die Truppen angebracht haben mussten.

»Was ist das?«, fragte Okijen und lehnte sich nach vorn, um mehr erkennen zu können.

»Das ist das Problem«, seufzte der General. »Die Bewohner wehren sich. Sie wollen ihre Häuser nicht …«

»Nein, das«, unterbrach ihn Okijen und deutete auf einen Punkt wenige Meter vor der Siedlung. Die ersten Moja hatten bereits ihren Weg zu den Menschen gefunden. »Kann man da ranzoomen?«

Der ältere Mann folgte seinem Blick angestrengt, bevor er den Bildausschnitt mit den Fingern etwas größer zog.

Die Befallenen hatten das Dorf noch nicht erreicht. Unklar war, ob sie nicht wollten oder nicht konnten.

Okijen fixierte eine Person, die er im ersten Moment für einen von ihnen gehalten hatte. Er selbst vergrößerte den Ausschnitt ein weiteres Mal, um Gewissheit über eine Vermutung zu bekommen.

Der General keuchte erstaunt auf.

»Sieht aus, als wären die Bewohner selbst zum Kampf übergegangen«, mutmaßte Okijen. »Kämpft …« Er kniff die Augen ein Stück zusammen. »Kämpft da eine Frau mit Pfeil und Bogen gegen die Dinger? Wie ist das denn möglich?«

»Hm«, machte der General. »Wenn Sie sich beeilen, Colonel, lebt sie vielleicht lange genug, dass Sie sie danach fragen können.«

Okijen schluckte angespannt und riss seinen Blick vom Screen los, als das Phone in seiner Tasche wie verrückt zu vibrieren begann. Er wandte sich vom General ab und zog das Gerät mit zwei Fingern aus seiner Hose. Ein kurzer Blick auf den Screen.

Nakamura.

»Dann mach ich mich mal auf den Weg«, erklärte er abwesend und hatte das Büro schon fast verlassen, als der General sich räusperte.

»Eine weitere Sache, Van Dire«, setzte er an. »Wem ist es denn zu verdanken, dass Sie uns heute unterstützen?«

Wie passend. Okijen trat ein paar Schritte zurück in das Büro und drückte dem General sein Alarm schlagendes Phone in die Hand. »Einem KAGE-Agenten«, antwortete er, als er sich wieder abwandte. »Verpassen Sie dem ’ne Beförderung oder so.«

KAPITEL 4: SURRENDERING

Ein Vogel flattert in einer Sphäre ewiger Dunkelheit. Sein buntes Leuchten erhellt Ecken und Winkel, die seit dreißig Jahren kein Licht mehr sahen. Die abgestorbenen Äste alter Bäume, auf denen er landet, bieten ihm kein Heim mehr. Aber er kennt nichts anderes als die Kälte der Nacht, also weiß er nicht, dass er den Tag vermissen sollte.

Die Finsternis ist sein Vaterland.

Und in dieser Finsternis ruht etwas. Ein Treiben und Drängen. Ein Wimmeln und Wirren. Ein Schatten aus Milliarden Leibern, die nach der Sonne gieren.

Ein Murmeln in der Einsamkeit, technisch kühl.

Und doch ist da etwas, das sich nicht erklären lässt. Etwas Warmes, fast Vertrautes in seiner Stimme.

Etwas Menschliches.

»Andra?«

»Andra!«

Die junge Frau erwachte schweißgebadet zu dem Geräusch von Helikoptern, Lautsprecherdurchsagen und Stimmengewirr vor ihren Fenstern. Noch bevor sie verstehen konnte, was um sie herum geschah, saß sie aufrecht in ihrem Bett und bemühte sich, eine Orientierung in der Dunkelheit zu finden. Flirrende Lichter drangen durch die zugezogenen Vorhänge des Hüttenfensters, und erst in ihrem Schein erkannte Andra die kleinen Gestalten neben ihrem Bett.

Erschrocken keuchte sie auf, dann streckte sie die Hände zu ihren Geschwistern aus. »Luna, Rom«, hauchte sie die Namen der Zwillinge und schob sich aus dem Bett, um sich zu den beiden vorzulehnen. »Was ist los?«

Luna krallte ihre kleinen Finger in Andras Hemd und zerrte daran.

»Mama sagt, du sollst kommen«, sagte Rom leise. Selbst im schummrigen Licht, an das sich ihre Augen erst nach und nach gewöhnten, erkannte sie die Angst in den Augen der Kleinen.

»Ich komme«, stammelte sie und richtete sich auf, löste die Finger der beiden sacht aus ihrer Kleidung und machte zunächst einen Satz zum Fenster, um die staubigen Vorhänge zur Seite zu schieben und hinauszusehen. Grelle Strahler waren zwischen den Häusern der Siedlung aufgestellt, und neben einigen Männern und Frauen aus dem Dorf waren schwer bewaffnete Soldaten zu erkennen.

Andras Augen weiteten sich, und sie spürte, wie Adrenalin sich kribbelnd in ihren Adern sammelte, um ihren ganzen Körper zu fluten. Hektisch griff sie nach ihrer Kleidung und stürzte auf die Tür zu.

»Kommt mit«, rief sie ihren Geschwistern zu und streifte eilig ihre Kleidung über, während sie die Stufen zur Küche hinabstolperte. »Mama?«, rief sie, drehte sich einige Male zu Luna und Rom um, doch die Kleinen hatten keine Probleme, ihr zu folgen.

Sie stürzte in die von einigen Strahlern erleuchtete Küche und blinzelte aufgeregt, um ihre Augen an das kühle Licht zu gewöhnen, das durch die Fenster hereinfiel. »Was ist los?« Sie befürchtete, die Antwort schon zu kennen.

Ihre Mutter hockte vor der Eingangstür und war dabei, die uralten Tastenfelder des Sicherheitssystems zu aktivieren.

»Die Moja sind ausgebrochen, Schatz«, keuchte sie, ohne sich zu ihrer Tochter umzudrehen.

Andra spürte, wie Übelkeit in ihrer Kehle aufstieg.

Nein, das konnte nicht wahr sein. Tausendmal hatte sie davon geträumt, dass die Tore der Sperrzone versagten, dabei war es in ihrer gesamten Lebzeit nie vorgekommen.

»Wir riegeln die Häuser ab.«

Andra ersparte es sich, sie darauf hinzuweisen, dass das vermutlich nichts bringen würde, wenn die Tore tatsächlich gefallen waren.

Vor den Fenstern herrschte Hektik, wenn auch nicht in dem Ausmaß, das sie erwartet hatte. Einige Soldaten patrouillierten von Haus zu Haus, sprachen über Stimmverstärker Sicherheitswarnungen aus. Die Hubschrauber, die sie gesehen hatte, entfernten sich ins Morgengrauen hinein, und wie auch ihre Mutter blieben die meisten anderen Bewohner des Dorfes in ihren Häusern.

»Das Militär ist eben angekommen«, fuhr Andras Mutter fort, und Andra bückte sich hinab, um ihre Hände nach Luna und Rom auszustrecken, die verunsichert neben der Treppe kauerten. Die Zwillinge zögerten nicht und liefen in ihre Arme, um sich an ihre Weste zu klammern. »Sie wollen uns evakuieren.«

»Keine Sorge«, raunte die junge Frau ihren Geschwistern zu, die genau wie ihre Mutter in ihre Nachtkleidung gehüllt waren. »Wo ist Papa?« Die Finger der Kinder krallten sich tief in ihre Kleidung und ihre Haut. Sie versuchte, ruhig und beherrscht zu bleiben, genau wie die Älteste es ihr beigebracht hatte.

»Wir müssen die Sicherheitssysteme um das Dorf aktivieren«, stöhnte ihre Mutter. »Er ist draußen bei den anderen. Sie fahren den Generator hoch.«

»Das bringt nichts«, sagte Andra leise. Die Technologie war mehr als dreißig Jahre alt. Wenn das Militär zur Evakuierung und nicht zur Verteidigung gekommen war, mussten sie gehen. Jetzt.

»Mama?«

Sie hatte sich während der ganzen Unterhaltung nicht zu ihnen umgedreht, und einem Impuls folgend ließ Andra die Zwillinge los, um sich auf ihre Mutter zuzuschieben und die Hand auf ihren Arm zu legen.

Erst jetzt, als sie sich zu ihr umwandte, sah Andra die Tränen, die sich in ihren Lachfalten sammelten.

»Hey«, flüsterte sie ihrer Mutter zu. »Wenn das Militär hier ist, sind wir sicher.«

»Nein.« Ihre Mutter strich sich fahrig über das Nachthemd, und ihr Blick wanderte zu Luna und Rom, die zitternd zu ihnen aufsahen. Nur langsam raffte sie sich auf und ging auf die Zwillinge zu. »Ist ja gut, meine Kleinen«, wisperte sie und strich sacht über ihre Köpfe. »Geht hoch in Andras Zimmer, ja? Versteckt euch unter dem Bett.«

Die beiden nickten eifrig, und Andra schaute ihnen hinterher, wie sie mit tapsigen, aufgebrachten Schritten die hölzerne Treppe erklommen. »Was ist los?«, fragte sie danach so leise wie möglich, griff nach ihren Stiefeln neben der Tür und streifte sie eilig über ihre nackten Füße.

»Die … die Männer vom Militär sind nur eine Evakuierungseinheit. Es soll wohl Verstärkung kommen, aber … ach.« Mal um Mal lehnte sich ihre Mutter zur Seite, um aus dem staubigen Fenster über der Spüle zu sehen, als würde ihr das helfen, die Gefahr besser einzuschätzen. »Wir können hier nicht weg. Wir haben doch nichts anderes.«

»Wir sollten gehen«, mahnte Andra eindringlicher und fing den Blick ihrer Mutter ein. »Die teleportieren uns hier raus, und wir sind in Sicherheit. Wenn die Moja unter Kontrolle sind, können wir zurückkommen.«