Netzwerk Korallenriff - Heinz Krimmer - E-Book

Netzwerk Korallenriff E-Book

Heinz Krimmer

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Beschreibung

Ein Ökosystem der Superlative – höher und stabiler als ein von Menschenhand geschaffenes Bauwerk, mit Raum für Tausende Arten: Die Riffe der Welt zeigen uns, wie erfolgreiches Zusammenleben funktionieren kann. Zudem liefern sie Stoffe für Medikamente, Hightec-Ausrüstung und Baumaterial und schützen unsere Küsten gegen die Gewalten der Ozeane. Dieses Buch zeigt die Schönheit und Perfektion und den unschätzbaren Wert der Korallenriffe. Aber es zeigt auch ihre Gefährdung und nennt Mittel und Wege, dieses unersetzliche Ökosystem zu schützen und zu erhalten. Korallenriffe – so funktioniert ein weltweites Netzwerk.

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Eine Reise um die Welt

„Netzwerk Korallenriff“ ist mehr als eine umfassende Bestandsaufnahme unseres aktuellen Wissens über Korallen und die von ihnen geschaffene Ökosysteme. Wir gehen dafür auf eine spannende Reise. Wir besuchen die kalten Pole ebenso wie die farbenprächtigen Riffe in den Tropen. Hier stoßen wir auf das evolutionäre Zentrum unseres Planeten: das Korallendreieck. Es ist mit großem Abstand die artenreichste Region der Ozeane, kongenial ergänzt durch die hohe Biodiversität der tropischen Regenwälder an Land. Wir klettern auf hohe Berge und tauchen in die geheimnisvolle Tiefsee. Überall finden wir atemberaubend schöne Korallenriffe oder gigantische fossile Spuren aus der Vergangenheit. Die aus Kalk geschaffenen Bauwerke der Korallen übertreffen an Masse, Größe, Höhe und Stabilität alles, was jemals von einem Lebewesen – uns eingeschlossen – erschaffen wurde. Korallen bauen traumhafte Inseln und Atolle und schützen unsere Küsten. Sie veränderten die Geologie unserer Erde. In den fossilen Riffen lagern kostbares Öl und Gas. Eine erstaunliche Leistung für Tiere, die nicht einmal ein Gehirn besitzen.

Nur ein Ausflug in das Innere der Korallen kann uns helfen, dieses Geheimnis zu verstehen. Wir lernen ihre Biologie und ihre vielen mikroskopisch kleinen Helfer kennen. Zu ihnen gehören nicht nur einzellige Algen, die sie wie Gärtner pflegen und hegen und die sie mit Energie versorgen. Auch Bakterien und Viren gehören zum Team Koralle. Und wenn wir in ihr Allerinnerstes, das Erbgut in den Zellen, vorgedrungen sind, werden wir überrascht sein. Viele Gene haben sie mit uns gemeinsam. Wir hatten vor 630 Millionen Jahren plus X einen gemeinsamen Vorfahr.

Doch Korallen allein können keine Riffe erschaffen, nicht einmal Milliarden von ihnen wären dazu in der Lage. Wer mit offenen Augen bei Tag oder Nacht im Riff taucht, kann das jeden Moment beobachten: Fische und Seeigel befreien Korallen von konkurrierenden Algen. Haie sorgen für gesunde und ausgeglichene Fischbestände. Rotalgen verfestigen den Untergrund. Ebenso bedeutend sind die für uns unsichtbaren Leistungen der Mikroben und Schwämme. Sym­biotische Beziehungen sind allgegenwärtig. Ein Riff ist Teamarbeit, ein gemeinsames Werk von Lebewesen, die innerhalb der biologischen Systematik zu verschiedenen Reichen gehören. Dies ist das wahre, einzigartige Geheimnis des Ökosystems Korallenriff.

Nicht immer ist unsere Reise schön. Manchmal macht sie uns traurig, frustriert und wütend. Ca. 30 % aller Korallenriffe haben wir schon verloren und wir sind dafür verantwortlich. Außer uns haben sie keinen Feind. Ihren mächtigsten Gegner, den Ozean und die Stürme mit ihren Angriffswellen, haben sie schon lange besiegt. Die meisten Riffe starben durch Überfischung, physische Zerstörung durch Sedimente und Umweltverschmutzung. In der Zukunft könnten die Folgen des CO2-Ausstoßes den geschwächten Riffen den Todesstoß versetzen. Ein totes Riff ist ein deprimierender Anblick. Korallentrümmer überall und außer Algen kaum noch ein anderes Lebewesen. Als hätte ein Krieg zwischen uns und den Lebewesen eines Riffes stattgefunden und wir hätten den Gegner erfolgreich vernichtet.

Dabei sind Korallen und Riffe schon seit Langem unsere allerbesten Freunde.

Sie ernähren direkt und indirekt Hunderte Millionen Menschen. An von ihnen gebauten Traumstränden erholen wir unsere vom Alltag gestresste Seele. Medizinische Wirkstoffe aus Korallenriffen retten schon heute Millionen Kranken das Leben, Fluoreszenzproteine revolutionierten die Zellforschung. Für die Zukunft sind diese Stoffe die größten Hoffnungsträger für die Wissenschaft. Der ökonomische Wert der Riffe ist gigantisch. Auf mindestens 172 Milliarden US-Dollar schätzen Wissenschaftler den jährlichen Profit. Andere gehen von einer Billion US-Dollar pro Jahr aus. Wären Korallenriffe wie eine Aktiengesellschaft bewertet, und würde man auch ihre mit Kalk geschaffenen Immobilien und den Rohstoff selbst in die Bilanz mit einbeziehen, käme man auf über 50 Billionen US-Dollar. Jeder der 7,5 Milliarden Menschen wäre um 6666,66 US-Dollar reicher, würde er nur eine einzige Aktie besitzen. Dagegen ist selbst Apple, der aktuell wertvollste Konzern der Welt, ein Zwerg. Und zu guter Letzt könnten wir von den Korallen lernen, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Sie zeigen uns, wie man in einer Welt knapper Ressourcen durch ein perfektes Recyclingsystem Großes schaffen kann. Sie sind ein lebendes, funktionierendes Musterbeispiel an Nachhaltigkeit.

Unsere Reise endet hoffnungsvoll. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Ca. 70% aller Riffe existieren noch. Darunter Riffe, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Schutzgebiete ermöglichen ihre Unberührtheit und Pracht. Selbst die neuen Bedrohungen durch den Klimawandel konnten ihnen bisher nichts anhaben. An extremen Standorten entdecken wir die Taffsten unter den Taffen. Korallen, die unter widrigsten Umständen Riffe bilden. Und auch ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Korallen besiedeln die Ozeane seit über 500 Millionen Jahren. In dieser Zeit überlebten sie fünf große und zahlreiche kleine Massenaussterbeereignisse, die für unsere Spezies wahrscheinlich das Ende bedeutet hätten. Sie machen Charles Darwins These der „Survival of the Fittest“ als perfekt angepasste Tiere alle Ehre. Doch jetzt brauchen sie unsere Hilfe. Wir müssen die Zerstörung und den CO2-Ausstoss stoppen, und zwar schnell. In unserem ureigensten Interesse, denn wir sind die größten Profiteure dieses aus biologischer wie ökonomischer Sicht bedeutendsten Ökosystems der Erde. Dem deutschen Naturforscher Gottfried Ehrenberg gebührt die Ehre, dies als Erster erkannt zu haben. Er bezeichnete die Korallen 1837 als eines der „einflussreichsten erscheinenden Formen des organischen Lebens“.

Wie Korallen unsere Welt verändern

Koralleninsel Vilamendhoo, Ari-Atoll, Indischer Ozean

In den Tropen kommt die Nacht schnell. Noch vor wenigen Minuten zauberte die untergehende Sonne ein wunderschönes Orange auf die Wasseroberfläche des Indischen Ozeans. Jetzt strahlen die Sterne und das Wasser schwappt dunkel und unheimlich über das Riffdach. Zeit, die Tauchausrüstung anzulegen und endlich ins Wasser zu gehen.

Wenn es dunkel wird, findet im Meer ein Schichtwechsel statt. Die bunten Falter-, Papageifische und Riffbarsche, die am Tag das Auge erfreuen, verstecken sich zwischen den Korallen und schlafen. Die dämmerungs- und nachtaktiven Tiere übernehmen das Riff. Darunter viele skurrile Arten, wie Schwammträger, Bärenkrebse oder Sepias. Nachts ist auch die Zeit vieler Jäger. Muränen verlassen ihre Höhle, hungrige Riffhaie und Rotfeuerfische suchen nach Beute. Sie bevorzugen schlafende Fische, denn wache zu jagen kostet weit mehr Energie, die auch im Leben der Tiere eine der wichtigsten Ressourcen ist. Wer sich nicht gut versteckt oder Pech hatte, wird leider den Sonnenaufgang nicht erleben. Auch aus der Tiefe des Meeres erhält das Riff nachts Besuch: Larven von Fischen, Krebsen, Würmern, Muscheln und Einzeller. Man könnte sagen, das Zooplankton kommt auf seine Weide, um sich den Bauch mit pflanzlichem Plankton vollzuschlagen. Dies gibt es nachts reichlich, hatte es doch den ganzen Tag Zeit, im Licht der Sonne zu wachsen und sich zu vermehren. Doch all diesen Bewohnern des Riffs gilt bei diesem Tauchgang unsere Aufmerksamkeit nicht. Unser Besuch gilt einem der gefürchtetsten Raubtiere der Nacht, zumindest für das Zooplankton: den Steinkorallen. Tagsüber sehen sie harmlos aus und sind es auch. Sie verstecken sich in ihrem Kalkskelett und ernähren sich mithilfe ihrer Fotosynthese betreibenden Zooxanthellen1 wie eine Pflanze.

— Nachts zeigen Korallen ihr anderes Gesicht, das tierische, das des Fleischfressers.

Sie enttäuschen uns nicht. Die Steinkorallen haben alle ihre Polypen ausgefahren. Jeder einzelne sieht aus wie die Miniaturausgabe einer Anemone mit nur 1–2 mm Durchmesser und winzigen Tentakeln, die nach Beute tastet. Und diese gibt es reichlich. Das Plankton schießt geradezu vor unserer Lampe hin und her, und alle, die zu nahe an die Tentakel kommen, verschwinden erstaunlich schnell im Inneren der Korallenpolypen. Wie viel Biomasse an Plankton sich die Korallen wohl diese Nacht einverleiben werden? Es müssen ungeheure Massen sein, denn die Koralle, die wir beobachten, ist nur eine von Millionen um uns herum. Gemeinsam besiedeln sie ein von ihnen selbst geschaffenes, ovales Korallenriff rund um die Insel. Ein wahrhaft gigantisches Bauwerk aus Kalk, dessen Umfang ca. 6 Kilometer beträgt. Es ist durchschnittlich 20 Meter hoch und zwischen 15–30 Meter breit.

Doch nicht nur das Riff schufen die Steinkorallen. Auch die Koralleninsel Vilamendhoo in der Mitte des Korallenovals ist ihr Werk. Mit ca. 900 Meter Länge und einer Breite von 250 Meter ist sie für maledivische Verhältnisse ein Riese. Der Prozess der Entstehung gestaltet sich auf allen Koralleninseln der Welt auf die gleiche Weise. Um ihn besser verstehen zu können, lässt man die Insel am besten vor dem geistigen Auge verschwinden. Zurück bleibt ein typisches Korallenriff im Ozean mit einem Außenriff, das dem tiefen Wasser zugewandt ist, und einem breiten flachen Bereich dahinter, dem Riffdach. Dieses endet nur wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche und fällt bei Ebbe oft vorübergehend trocken. Würde es sich dauerhaft 1–2 Meter über den höchsten Wasserstand bei Flut erheben können, hätte man eine Insel. Und genau das passiert, wenn eine Koralleninsel entsteht. Das Baumaterial liefern die Lebewesen des Riffs, denn wie alle Koralleninseln besteht auch Vilamendhoo aus nichts anderem als Kalkresten. Immer wieder raubt Bioerosion den Korallen einen Teil ihrer Produktion. Generationen von Papagei­fischen nagen Algen vom Riff und erwischen dabei immer ein wenig Kalk, den sie mit ihren kräftigen Zähnen zu Sand zermalmen. Mit bis zu fünf Tonnen pro Jahr und Tier erzeugen die bis zu 1,3 Meter groß werdenden Büffelkopf-Papageifische Bolbometopon muricatum die größten Mengen. Bohrschwämme siedeln sich in Korallenskeletten an und schwächen ihre Stabilität. Orkane und Taifune reißen Korallenteile und selbst ganze Stöcke ab und schleudern sie ebenso wie Sand und Geröll auf das Riffdach. Mit jedem Sturm wächst dieses Riffdach höher und höher, bis es schließlich leicht über dem Meeresspiegel liegt. Regen fällt und die porösen Korallenreste nehmen das Süßwasser auf und schützen es vor Verdunstung und Abfluss ins umgebende Meer. Es ist leichter als Salzwasser und kann daher auch nach unten nicht entfliehen. Mit der Zeit bildet sich eine Süßwasserlinse über dem salzigen Grundwasser. Die Strömung bringt Baumstämme und Blätter, die sich in Humus verwandeln. Kokosnüsse und Mangrovensamen werden angespült. Die ersten Pflanzen wachsen. Ihre Wurzeln halten den Sand und Humus fest und stabilisieren das Bauwerk. Bald spenden sie neuen Bewohnern wie Vögeln oder Flughunden Nahrung, Baustoffe und den in den Tropen lebenswichtigen Schatten. Wind und Wellen spülen weißen, weichen Korallensand an das Ufer und schaffen traumhafte Strände. Als wäre das nicht genug, entsteht oft hinter dem Riff eine Lagune in leuchtendstem Türkis, ein traumhafter Pool.

So entstand auch die Insel Vilamendhoo2. Heute stehen auf der Trauminsel die Bungalows eines Hotels und zu den neuen Bewohnern des Riffdaches gehören jetzt auch zahlungskräftige Touristen.

Die Ehre, als Erster erkannt zu haben, dass Koralleninseln das Werk von Tieren sind, gebührt keinem Naturwissenschaftler, sondern dem britischer Staatsbeamten John Barrow. Als zweiter Sekretär der Admiralität organisierte er Entdeckungsreisen und nahm auch selbst an vielen teil. Zwar hielt er Korallen fälschlicherweise für Würmer, aber das ändert nichts am Grundprinzip: „Unglaublich würde man es finden, dass diese kleinen gallertartigen Würmer tausende von Inseln und Morgen Landes im atlantischen und besonders im stillen und indischen Ocean geschaffen haben.“3 Auch Charles Darwin erkannte den biologischen Ursprung der Inseln und verglich die Bauwerke der Korallen mit denen vergangener menschlicher Kulturen: „Ich bin froh, dass ich diese Inseln besucht habe; solche Bildungen nehmen ohne Zweifel unter den wunderbaren Dingen dieser Welt einen hohen Platz ein ... Wir sind erstaunt, wenn Reisende Nachricht von der großen Ausdehnung gewisser alter Ruinen geben; aber wie ganz unbedeutend sind die größten von diesen, wenn man sie mit dem Steinhaufen vergleicht, der durch die Arbeit von verschiedenen kleinen Tieren angehäuft worden ist. Durch die ganze Inselgruppe trägt jedes einzelne Atom, von dem kleinsten Teilchen bis zu den großen Felsentrümmern, den Stempel, dass es der Kraft organischer Anordnung unterworfen gewesen ist.“4

— Insgesamt 1196 Inseln schufen Steinkorallen allein auf den Malediven.

Ihre weißen, mit Palmen gesäumten Strände wecken in uns Emotionen und sie erscheinen uns wie Paradiese. Wüsste man es nicht besser, könnte man geneigt sein, den tierischen Baumeistern ästhetisches Empfinden und Handeln zu unterstellen. Hätten menschliche Architekten dieses Werk vollbracht, wären sie sicher mit Bewunderung, Preisen und neuen Aufträgen überhäuft worden, und jeder würde ihre Namen kennen.

Doch Koralleninseln sind nur ein kleines Zimmer in einem viel größeren Bauwerk: den Atollen. Fliegt man mit dem Wasserflugzeug über die Insel Vilamendhoo, verwandelt sie sich in einen kleinen Punkt im 90 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Ari-Atoll – eines von 26, die zu den Malediven gehören. Weltweit existieren Hunderte. Wie aber entstehen Atolle und wo sind sie zu finden?

Darwins erster Streich

Versetzen wir uns in die Lage des deutschen Naturforschers Johann Georg Adam Forster. Er begleitete 1772–1775 den legendären Seefahrer und Entdecker James Cook auf seiner zweiten Südseereise. Nach der ergebnislosen Suche nach einem Südkontinent, der die Expedition bis zum 71. Breitengrad nach Süden vordringen ließ, kehrte die Expedition wieder in die tropischen Gewässer des Pazifik zurück. Seit vielen Tagen segelten sie in den endlosen Weiten des Ozeans. Plötzlich tauchten wie aus dem Nichts kleine Inseln auf. Manche fast kreisrund, andere oval, manche wie ein Halbmond, die meisten ganz flach, aber einzelne mit hohen Bergen in der Mitte. Ihnen allen gemeinsam war, dass jede ein Korallenriff umschloss. Manchmal existierte sogar nur das Riff und die Insel schien vom Ozean verschluckt. Und noch eine rätselhafte Gemeinsamkeit: Die Tiefe des sie umgebenden Wassers konnte mit damaligen Mitteln nicht gemessen werden. Es schien, als würden die Inseln im Ozean schweben. Wie kamen diese seltsamen Gebilde Tausende von Kilometern vom Festland entfernt in die unendlich tiefe und weite Wasserwüste des Pazifik?

Atolle galten seit den ersten Berichten der Seefahrer als eines der größten Rätsel der Wissenschaft. „Das Korallen-Problem“, wie es genannt wurde, beschäftigte Generationen von Naturwissenschaftlern. Skurrile Ideen entstanden. Manche äußerten die Vermutung, dass Atolle von Fischen mit ihren Zähnen aus bestehender Landmasse herausgenagt wurden. Andere hielten Korallen und Riffe für das Werk von Insekten. Erste ernsthafte Erklärungsversuche stammten von Adelbert von Chamisso, Johann Georg Adam Forster und von Charles Lyell, einem der bedeutendsten Geologen des 19. Jahrhunderts. Letzterer vermutete in seinem Buch „Grundsätze der Geologie“5, dass Korallenriffe auf den Rändern von Vulkankratern wachsen, die unter Wasser liegen und bis kurz unter die Wasseroberfläche reichen. Erst 1842 veröffentlichte ein Mann, den wir aus ganz anderen Zusammenhängen kennen und schätzen, eine neue, bahnbrechende Theorie: Charles Darwin, einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler aller Zeiten und Begründer der Evolutionstheorie. Sein Buch „Über die Entstehung der Arten“ erschütterte die damalige Sicht der Menschen auf die Welt in ihren Grundfesten. Im Schatten dieses großen Werkes steht ein weiteres: „Die Struktur und Verbreitung der Korallenriffe“6. Es begründete seinen Ruf als großer Geologe. Darwin gelang es als Erstem, alle bedeutenden Erscheinungsformen der Korallenriffe zu erklären: Saumriffe, Barriereriffe und die rätselhaften Atolle. Er war es, der in monatelanger Fleißarbeit die erste Weltkarte schuf, in der alle Korallenriffe eingezeichnet waren und die noch heute weitgehend aktuell ist.

— Erstaunlicherweise entstand Darwins Theorie – nach seinen eigenen Worten –, bevor er ein Korallenriff selbst erforschen konnte:

„Keines meiner Werke wurde in so einem kombinatorischen Geist begonnen wie dieses, die ganze Theorie wurde an der Westküste Südamerikas ausgedacht, bevor ich ein wirkliches Korallenriff gesehen hatte.“7 Ein Ausflug in das Hochgebirge der Anden, Tausende Kilometer vom nächsten Korallenriff entfernt, brachte ihn auf die richtige Idee. 1834 und 1835 hielt sich das Team des englischen Vermessungsschiffes „Beagle“, zu dem er als Naturwissenschaftler gehörte, vor der Küste Chiles auf. Charles Darwin nutzte die Gelegenheit zu zwei Expeditionen in das längste Gebirge der Erde. In der Nähe der chilenischen Stadt Valparaiso fand er in ca. 4000 m Höhe fossile Meerestiere und zog daraus zwei wichtige Schlüsse: Durch Aktivitäten der Erdkruste wird durch Auffaltungen in das Gebirge Gestein aus der Tiefe transportiert. Wenn das stimmte, müsste es auch eine Gegenbewegung geben. Eine Subduktionszone, die Gestein in die Tiefe verfrachtet. Als sehr belesener Wissenschaftler kannte Darwin auch alle Schilderungen anderer Forschungsreisender und Kapitäne über bisher entdeckte Korallenriffe. Und nicht zuletzt wusste er, dass Korallen in den Tropen nur im flachen Wasser wachsen können. Am Ende verknüpfte er auf geniale Weise Geologie, Erfahrungsberichte und Biologie zu einem großen Ganzen. Als er danach im November 1835 zuerst im Tuamotus-Archipel, dann auf der Insel Tahiti und den Keelinginseln seine ersten Korallenriffe mit eigenen Augen bewundern und erforschen konnte, dienten sie ihm nicht als Quelle der Inspiration, sondern lediglich als Beweisstück. Er wollte die Gelegenheit nutzen, seine Theorie durch eigene Beobachtungen zu überprüfen.

Wie sah sein Theorie8 im Einzelnen aus? Laut Charles Darwin beginnt jedes Korallenriff sein Leben als Saumriff. Saumriffe entstehen direkt an der Küste einer Landmasse. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Kontinente oder Inseln handelt. Aus Inseln wiederum können in einer geologischen Senkungszone Atolle entstehen. Dies ist hauptsächlich im tropischen Bereich des Indischen Ozeans und des Pazifik fern der großen Kontinente der Fall. Hier erhoben sich vom Meeresboden in der Vergangenheit mächtige Vulkane. Ihre über 4000 Meter hohen Gipfel durchbrachen die Wasseroberfläche und bildeten eine Insel, an deren Küste Saumriffe wuchsen. Über Jahrmillionen sanken diese Vulkane aufgrund ihrer Masse wieder ab. Die Korallen der Saumriffe wuchsen jedoch im gleichen Tempo nach oben. So entfernten sie sich immer weiter von der Küste und wurden zu Barriereriffen. Verschwindet der ehemalige Vulkan ganz unter Wasser, bleibt nur die Form der ursprünglichen Küste durch Korallenriffe erhalten. Dies ist zum Beispiel auf den Malediven der Fall. Die Stelle, an der sich der Vulkan befand, wird zu einer großen Lagune.

In Darwins Theorie fehlt jedoch jeglicher Bezug zu den Auswirkungen von Klimaveränderungen. Diese haben ebenfalls großen Einfluss auf Korallenriffe. Vereisen die Pole, sinkt der Meeresspiegel und ein Massensterben der Korallen ist die Folge. Schmilzt das Eis in einer warmen Klimaphase, steigt der Meeresspiegel. Das hat für die Korallen den gleichen Effekt wie sinkendes Land in Darwins Theorie. Er wirkt sich jedoch global aus und ist nicht nur auf geologische Senkungszonen beschränkt. Zusätzlich entstehen durch die Überschwemmungen von Küstenbereichen neue Siedlungszonen und führen zu einer Blütezeit der Korallenriffe. In einer solchen Zeit leben wir.

— Wenn wir die Geschichte der Korallenriffe lediglich über die letzten 12.000 Jahre betrachten, so prägte vor allem der steigende Meeresspiegel das heutige Bild.

Wir müssen ca. 2,58 Millionen Jahre zurückblicken: Zu diesem Zeitpunkt begann das Quartäre Eiszeitalter, in dem wir uns trotz Erderwärmung und Klimakatastrophe immer noch befinden. Das Klima des Quartären Eiszeitalters war jedoch nicht die ganze Zeit stabil. Es schwankte sehr stark. Kaltzeiten wurden immer wieder von Warmzeiten abgelöst. Die letzte Warmzeit begann vor ca. 12.000 Jahren. Die riesigen Eismassen, die die Pole und darüber hinaus große Landmassen der Nord- und Südhalbkugel bedeckten, schmolzen. Der Meeresspiegel stieg weltweit über 120 Meter an.

Ein gutes Beispiel für die Auswirkungen des Quartären Eiszeitalters und der aktuellen Warmzeit auf Korallenriffe ist das Great Barrier Reefvor der Ostküste Australiens. „Für die meiste Zeit der letzten ca. zwei Millionen Jahre sah die Region, die wir heute als das Great Barrier Reef kennen, mehr wie ein Känguruland aus oder, mit heutigen Worten, wie eine Rinderfarm, aber nicht wie ein Korallenriff.“9 Der steigende Meeresspiegel in der heutigen Wärmeperiode überschwemmte die flache Küstenregion und schuf die Basis für eines der schönsten Riffgebiete der Welt.

Steht dies nicht in Widerspruch zu Darwins Theorie des sinkenden Landes? Nein, denn in langen, in Abermillionen von Jahren gedachten geologischen Zeiträumen – und in diesen dachte Charles Darwin – spielen die geologischen Veränderungen die entscheidende Rolle für alle Lebensräume unserer Erde. Klimaveränderungen und der dadurch verursachte sinkende oder steigende Meeresspiegel sind eine zusätzliche, sehr wichtige Komponente, die die geologischen Veränderungen überlagert. Zudem sind die geologischen Aktivitäten der Erdkruste je nach Region unterschiedlich und je nach Situation tritt für einen bestimmten geologischen Zeitraum der eine oder andere Faktor in den Vordergrund oder beide wirken zusammen. Je kürzer allerdings unser Betrachtungszeitraum ist, umso wichtiger wird die Berücksichtigung der Klimageschichte.

Neben den Saumriffen, Barriereriffen und Atollen gibt es noch Fleck- und Plattformriffe. Sie haben aber für die Theorie Charles Darwins keine Bedeutung und lassen sich auf geologische Besonderheiten oder wie im Fall der Fleckriffe auch auf Sturmfolgen zurückführen. Fleckriffe entstehen in flachen Sandbereichen in einer Tiefe von maximal 20 Metern. Man findet sie häufig in den Lagunen der Atolle, hinter Barriereriffen oder vor Saumriffen. Die Sandfläche ist gespickt mit Riffblöcken in verschiedenen Größen, aber selten höher und breiter als wenige Meter. Gelegentlich kommt es zu größeren Ansammlungen. Ein ausgeprägtes, großes Fleckriff befindet sich z. B. vor der Küste Hurghadas in Ägypten. Plattformriffe wiederum entstehen an Stellen, an denen eine größere Landmasse nahe an der Meeresoberfläche existiert, diese jedoch nicht durchbricht.

Je nach geologischen Gegebenheiten, Klimageschichte und Größe eines Korallenriffs können auch mehrere Riffformen innerhalb eines größeren Verbundes vorkommen. Auch dafür ist das Great BarrierReef in Australien ein gutes Beispiel. Seine Grundstruktur als Ganzes betrachtet definiert es als ein Barriereriff. Innerhalb dieser Grundstruktur bildeten sich Saumriffe, Fleckriffe und Plattformriffe. Letztere erreichen hier einen Durchmesser von 15 Kilometer und gehören zu den größten der Erde.

Ein Mikroatoll dagegen ist kein Korallenriff, sondern eine Koralle. Manche Steinkorallen der Gattung Porites wachsen direkt auf dem Riffdach im ganz flachen Wasser. Ihre Form ist rund und flach. Erreicht der obere Teil der Koralle die Wasseroberfläche, stirbt er ab und es entsteht eine Vertiefung. Hier sammeln sich Sand, Korallenreste und etwas Wasser und bilden die Mikrolagune. Nur an den Rändern wachsen die Korallen weiter und bilden die Mikroküstenlinie. Der Name Mikroatoll trifft das Aussehen perfekt.

Ebenso wie Charles Darwins Evolutionstheorie fand auch seine Theorie über die Entstehung der Korallenriffe in damaligen Wissenschaftskreisen große Fürsprecher, aber auch erbitterte Gegner. Charles Lyell z. B. verwarf sofort seine eigene Idee mit den Vulkankratern und schloss sich Charles Darwin an. Zu einem der erbittertsten Gegner entwickelte sich der amerikanische Geologe und Ichthyologe mit Schweizer Abstammung, Alexander Agassiz10. Der ganze Streit ist in dem Buch „Reef Madness“, auf Deutsch „Riff-Wahnsinn“, von David Dobbs, ausführlich dokumentiert. Heute kennt Alexander Agassiz fast niemand mehr. Zur damaligen Zeit jedoch verehrte und schätzte man ihn sehr und sein Wort hatte Gewicht. Am meisten störte ihn die Rolle der Korallen in Darwins Theorie.

— Dass diese winzigen Tiere durch ihre Skelette solche Bauwerke erschufen, erschien im einfach zu unglaublich.

Der Streit um das „Korallen-Problem“ konnte erst in den 1950er-Jahren endgültig beigelegt werden.

Das höchste Bauwerk der Welt

Wo steht das höchste von Lebewesen geschaffene Bauwerk der Welt? Genau, auf dem Meeresboden des Eniwetok-Atolls. Es erreicht eine Höhe von 1405 Meter. Es gehört zur Republik Marshallinseln und liegt im westlichen Pazifik. 1951, exakt 109 Jahre nach der Veröffentlichung von Charles Darwins Theorie, taten amerikanische Wissenschaftler genau das, was sich Charles Darwin nach eigenen Worten schon zu Lebzeiten immer gewünscht hatte. Sie stellten sich auf das Riffdach eines Atolls und bohrten so lange, bis der von Korallen geschaffene Kalkstein aufhörte und vulkanisches Gestein begann. Sie erreichten ihr Ziel erst in einer Tiefe von 1405 Meter.

— Damit verwiesen die Steinkorallen den Menschen in Sachen Baukunst auf den zweiten Platz.

Das Empire State Building in New York, von 1951–1972 das höchste Gebäude der Welt, liegt mit 443 Meter fast 1000 Meter hinter der Leistung der Steinkorallen auf den Marshallinseln zurück. Alle Anstrengungen unsererseits, den Rückstand aufzuholen, waren bisher vergebens. Aktuell steht das höchste Gebäude in Dubai, in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Der Burj Khalifa erreicht eine Höhe von 829,8 Meter. Fehlen immer noch 575,2 Meter.

Doch um Rekorde ging es bei den Bohrungen im tropischen Pazifik nicht. Sie waren nur das Ende mehrerer Versuche, Charles Darwins Theorie von der Entstehung der Atolle zu beweisen oder zu widerlegen.11 Ein Beweis für Darwins Senkungstheorie wäre der Nachweis von korallienem Kalk in einer Tiefe, die eine Meeresspiegelschwankung aufgrund von Klimaveränderungen ausschließen würde. Diese Tiefe liegt bei ca. 150 m.12 Würde sich Korallenkalk unterhalb dieser Tiefe finden lassen, würde das bedeuten, dass sich das Land abgesenkt und die Korallen nach oben gewachsen wären. Britische Wissenschaftler versuchten schon 1896 eine Bohrung auf Funafuti, das zum Inselstaat Tuvalu gehört. Sie scheiterten jedoch und mussten bei 34,74 Meter Tiefe aufgeben. Ihnen folgten japanische Wissenschaftler, die 1934–1936 auf der Koralleninsel North Borodino in der Philippinensee in das Riff bohrten. Sie erreichten eine Tiefe von 431,67 Meter. Streng genommen haben sie als Erste die Theorie Darwins bestätigt. Doch erst mit weiteren Bohrungen und der erreichten Tiefe von 1405 Meter auf dem Eniwetok-Atoll verstummten alle Kritiker.

— Charles Darwins Theorie hatte sich in eine wissenschaftliche Tatsache verwandelt.

Doch zurück zum aktuell höchsten vom Menschen errichteten Bauwerk, dem 829,8 Meter hohen Burj Khalifa in Abu Dhabi. Ohne Korallen und andere kalkbildende Organismen würde es nicht existieren, denn es kostete 1,5 Milliarden US-Dollar. Dieses Geld stammt aus dem Verkauf von Öl, und dieses lagert auf der Arabischen Halbinsel in porösem fossilem Riffkalk aus dem Jura und der Kreidezeit. „Speichergesteine“ nennen Geologen diese Lagerstätten, in denen sich im Lauf der Erdgeschichte Erdöl und Erdgas sammeln konnten. Je poröser die Struktur, umso besser. Neben Sandstein entspricht der Kalk riffbildender Lebewesen dieser Anforderung geradezu perfekt. Der Meeresbiologe Reinhold Leinfelder: „Die größten Öllagerstätten überhaupt finden sich in fossilen Riffkomplexen“13, und das betrifft nicht nur die Arabische Halbinsel, sondern unseren gesamten Planeten. Ein Segen für alle Menschen und natürlich auch für uns. Ohne Öl sähe unsere Welt wohl ganz anders aus und unser heutiger Lebensstandard wäre undenkbar. Gut, dass Riffe keine Miete für die Lagerung dieses kostbaren Rohstoffes in Rechnung stellen. Möglicherweise müssten wir sonst für eine Tankfüllung den Preis eines Smartphones hinblättern.

Das größte Bauwerk der Welt

Die erste Begegnung mit dem größten von Lebewesen geschaffenen Bauwerk verlief unerfreulich, aber glimpflich. Das Schiff von James Cook, die HMS Endeavour, lief am 11. Juni 1770 auf Grund und wurde stark beschädigt. Einen Tag hing es am Riff fest. Erst nachdem 50 Tonnen Ladung über Bord geworfen wurden, gaben die Korallen es wieder frei. Der Havarie voraus gingen Navigationsprobleme innerhalb der unbekannten Wasserstraßen im Riff. Zwei Monate dauerte die Reparatur an der Festlandküste im heutigen Cooktown. Es hätte auch das Ende der ersten Südseereise von James Cook und seiner Besatzung sein können. Sein Schiff wäre nicht das erste gewesen, das einem Korallenriff zum Opfer fiel. Der Meeresgrund um die Riffe liegt voller Wracks und viele mahnen und warnen als Geisterschiffe auf dem Riffdach die Seefahrer der Welt. Die Situation erschien umso bedrohlicher, da sich die Besatzung der HMS Endeavour in einer Terra incognita14 bewegte und ausschließlich auf sich selbst gestellt war. Doch alles ging gut, und statt des wahrscheinlich sicheren Todes erlangten alle Überlebenden Ruhm und Ehre. Mit an Bord auf der ersten Südseereise15 des legendären britischen Entdeckers befanden sich zehn hochkarätige Wissenschaftler, darunter Joseph Banks und der schwedische Botaniker Daniel Solander. Sie alle waren Zeugen der Entdeckung des größten Korallenriffs unseres Planeten: dem Great Barrier Reef vor der Ostküste Australiens.

Weder James Cook noch seine Crew hatten damals eine Vorstellung von den gigantischen Ausmaße dieses Riffs. Heute wissen wir, dass es sich vom nördlichsten Punkt – der Torres-Straße vor Papua-Neuguinea – bis zum südlichsten Riff – dem Lady Elliot Island – über sagenhafte 2300 Kilometer Länge erstreckt. Das entspricht in etwa der Entfernung von Hamburg nach Palermo und einer Flugreise von ca. drei Stunden.

— Die gesamte Fläche des Great Barrier Reef ist mit 344,4 Quadratkilometer nur wenig kleiner als Deutschland.

Dieses Riff ist das einzige von Lebewesen geschaffene Bauwerk, das vom All aus gesehen werden kann. Es besteht aus ca. 3000 größeren und kleineren Korallenriffen und 150 Mangroveninseln. Bohrungen im Riff zeigten, dass die ersten Riffbauer ihr Werk im Zeitalter des Miozäns vor 23,7 Millionen Jahren begannen. 1975 wurde das Great Barrier Reef zum Marinepark erklärt, seit 1981 gehört es zum UNESCO-Weltnaturerbe.

Aber ist es wirklich das größte Korallenriff? Zumindest für die Tropen wird dem Great Barrier Riff dieser Titel nicht mehr zu nehmen sein, aber in den kalten und dunklen Tiefen der Ozeane wächst ein gigantischer Konkurrent. Forschungen eines Teams von Professor Dr. André Freiwald ergaben16, dass sich ein lockerer Korallengürtel 3000 Kilometer entlang des Schelfrandes von Nordnorwegen erstreckt. Mit Unterbrechungen reicht dieser Riffgürtel sogar noch ca. weitere 4000 Kilometer bis Marokko. Damit ist dieses Riff fast dreimal so lang wie das Great Barrier Reef.

Das stabilste Bauwerk der Welt

„In der ganzen Erdgeschichte investierte kein anderes Ökosystem nur annähernd so viel Stoffwechselenergie oder fokussierte seine evolutionäre Entwicklung darauf, etwas zu schaffen, was tot ist.“17 Stimmt, Korallen produzieren tote Materie in Form ihrer Kalkskelette und verwenden dafür einen Großteil ihrer Energie. Millionen dieser Steinkorallen formen schließlich das Ökosystem Korallenriff, das sich im Lauf der Zeit durch geologische und chemische Prozesse in riesige zusammenhängende Gesteinsformationen verwandelt. Doch nicht nur eine Gemeinschaft von lebenden Tieren arbeitet an der Konstruktion des Riffs, sondern ganze Generationen. Jede neue Generation siedelt auf dem toten Kalk der vorangegangenen usw. J.E.N. Veron führt weiter aus: „Korallenriffe sind genau wie Regenwälder Ökosysteme – nicht einfach nur eine Ansammlung von Arten, die gegeneinander einen Überlebenskampf führen – sondern Gruppen von Arten, die für ein gemeinsames Überleben zusammenarbeiten. Gewiss, Individuen konkurrieren, aber für Korallenriffe und Regenwälder gilt gleichermaßen, dass ein Level von Selektion existiert, das wichtiger ist als die Selektion von Arten. Aus Darwins Sicht könnte man es ,Selektion des stärksten Ökosystems‘ nennen.“18

Doch wer zwingt das Ökosystem Korallenriff seit Jahrmillionen zu immer neuen Anpassungen und Höchstleistungen über Artgrenzen und Generationen hinweg?

Es ist der Ozean selbst. Ohne Pause schickt er unermüdlich seine Angriffswellen. Mal sanft, mal von einem tropischen Wirbelsturm aufgepeitscht mit einer Wucht und Kraft von bis zu 100 Tonnen pro Quadratmeter.

— Nichts auf unserem Planeten kann auf Dauer diesen Angriffen der Brandung widerstehen, außer den von Lebewesen gebildeten Korallenriffen.

Niemand hat bisher diesen Kampf von David gegen Goliath in schönere Worte gefasst als Charles Darwin: „Wenn der Ozean sein Wasser auf das breite Riff wirft, scheint er ein unbesiegbarer, allgewaltiger Feind, und doch sehen wir, dass ihm widerstanden und er selbst durch Mittel besiegt wird, die auf den ersten Anblick schwach und wirkungslos erscheinen. Der Ozean schont keineswegs den Korallenfelsen; die großen, über das Riff verstreuten und auf dem Ufer angehäuften Trümmer, zwischen denen die großen Kokosbäume wachsen, beweisen deutlich die unaufhörliche Gewalt seiner Wogen. Auch gibt es keine Periode der Ruhe. Die lange Dünung, die von der leisen, aber stetigen Wirkung des beständig in einer Richtung über eine ungeheure Fläche wehenden Passatwindes hervorgerufen wird, verursacht brandende Wogen, die an Heftigkeit selbst die unserer gemäßigten Zone übertreffen und die niemals zu rollen aufhören. Es ist unmöglich, diese Wellen zu sehen, ohne die Überzeugung zu bekommen, dass jede Insel, mag sie nun aus dem härtesten Felsen, aus Porphyr, Granit oder Quarz bestehen, am Ende nachgeben und von solchen unwiderstehlichen Kräften zerstört werden muss. Und doch stehen diese niedrigen, unbedeutenden Koralleninseln und gehen siegreich aus dem Kampf hervor; denn hier nimmt eine andere Kraft, als Gegensatz zu der ersteren, an dem Streite teil. Die organischen Kräfte scheiden die Atome des kohlensauren Kalkes nacheinander von den schäumenden Brechwogen und vereinigen sie zu einem symmetrischen Bau. Mag der Sturm die Masse in tausend große Trümmer zerbrechen, was will das heißen gegen die vereinte Arbeit von Myriaden von Architekten, die Tag und Nacht, Jahr ein Jahr aus, arbeiten. Ein weicher und gelatinöser Körper eines Polypen besiegt durch die Wirkung der Lebensgesetze die große, mechanische Kraft der Wogen eines Ozeans, denen weder die Kunst der Menschen, noch die leblosen Werke der Natur mit Erfolg widerstehen könnten.“19

Das stabilste Kalkgerüst baut übrigens die Koralle Tubastrea micranthus. „... im Riff überstehen ihre fast meterhohen Kolonien oft als einzige die Druckwellen bei Dynamitfischerei.“20 Diese beeindruckende Leistung vollbringt sie ohne die Hilfe einzelliger Algen. Sie gehört zu den wenigen riffbildenden Steinkorallen in den Tropen, die nicht in Symbiose mit Zooxanthellen leben.

Das Steinerne Meer

Man muss nicht in die Tropen reisen, um die Leistungen der Korallenriffe bestaunen zu können. Man braucht noch nicht einmal eine Taucherbrille. In Europa genügt ein Ausflug in die Alpen, genauer in die Kalkalpen. Diese bildeten zwei große Gebirgszüge von ca. 600 Kilometer Länge. Hierzu gehören z. B. die Nördlichen Kalkalpen, die Schweizer Voralpen, die Westlichen Kalkalpen, die zu Frankreich gehören, und die Südlichen Kalkalpen. Die Zentralalpen dagegen bestehen aus Granit und Gneis. Dass Teile der Alpen aus versteinerten Korallenriffen bestehen, wurde schon 1860 von Ferdinand Freiherr von Richthofen entdeckt und publiziert. In zahlreichen Gegenden sind die Spuren der ozeanischen Vergangenheit deutlich zu sehen. Dazu gehört die verkarstete Hochfläche „Steinernes Meer“ bei Lech in Österreich. In knapp über 2000 Meter Höhe finden Fossiliensammler ca. 200 Millionen Jahre alte versteinerte Korallen, Muscheln und Ammoniten. Aus „Hochgebirgskorallenkalk“ bestehen zum Beispiel der Hochkönig und der Hohe Göll. Zwei von 50 Berggipfeln, die ebenfalls eine verkarstete Hochfläche auf ca. 2000 Meter umschließen. Auch dieses Gebiet trägt den Namen „Steinernes Meer“, sollte aber mit dem bei Lech nicht verwechselt werden. Der deutsche Teil gehört zum National­park Berchtesgaden, der österreichische zum Naturschutzgebiet Kalkhochalpen. Fossilien findet man in diesem Gebiet leider kaum.

Einen Mangel an Fossilien zeigen auch die berühmten Dolomiten. Das liegt daran, dass das ursprüngliche von Korallen stammende Gestein aus Aragonit sich durch chemische Prozesse im Lauf der Erdgeschichte in Dolomit umwandelte.21 Die eingeschlossenen Fossilien gingen dabei verloren. Dafür bieten die Dolomiten eine einzigartige Besonderheit. Die ursprüngliche Formation des Meeresbodens blieb erhalten.

— Die Gebirgszüge mit den oft skurrilen Türmen und Zinnen, wie Sella, Rosengarten oder der Schlern, sind ehemalige Korallenriffe.

Steht man vor ihnen auf dem Hochplateau, befindet man sich auf dem ehemaligen Meeresgrund, der die Riffe umgab. Jetzt muss man sich nur noch vorstellen, die Landschaft wäre bis zu den Bergspitzen überflutet und voller Leben und man befände sich mitten im verschwundenen Ozean Tethys. Fischsaurier und bis zu 9 Meter lange Meereskrokodile würden uns umkreisen und Ammoniten ihre Bahnen ziehen. Mit etwas Glück würden wir auch einen Vorläufer der heutigen Haie sichten. An der Steilwand des Sella könnten wir Korallen bewundern.