Neue Erde - Knut Hamsun - E-Book

Neue Erde E-Book

Knut Hamsun

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Im pulsierenden Christiania (heute Oslo) der Jahrhundertwende entfaltet sich ein doppeltes Liebesdrama. Zwei Freunde, zwei Schicksale – ihre Wege kreuzen sich in den Cafés und auf den Promenaden der erwachenden norwegischen Hauptstadt, wo zwischen Zigarrenrauch und eleganten Spazierstöcken die Leidenschaften brodeln. Hamsun zeichnet mit psychologischer Schärfe das Porträt seiner Ausnahmemenschen, jener Helden, die sich den Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft widersetzen. In der Keimzeit junger Liebe und unerfüllter Sehnsüchte entwickeln sich zwei parallele Geschichten, die unterschiedlicher nicht enden könnten. Während der eine an der Liebe wächst, droht sie den anderen zu verschlingen. Mit der ihm eigenen suggestiven Sprachkraft fängt der spätere Nobelpreisträger die Atmosphäre der nordischen Metropole ein – von den ersten Morgenstunden, wenn schwere Bauernkarren mit Waren in die Stadt rollen, bis in die Nächte voller Gespräche und verzweifelter Gefühlsausbrüche. Ein frühes Meisterwerk des norwegischen Modernisten, das die Themen von "Mysterien" und "Pan" vorwegnimmt: Die Unmöglichkeit der Liebe, das Unverständnis zwischen den Geschlechtern und die ewige Einsamkeit des sensiblen Individuums in einer oberflächlichen Welt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 420

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

Neue Erde

 

KNUT HAMSUN

 

 

 

 

 

 

Neue Erde, Knut Hamsun

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN:9783988682901

 

Quelle: https://books.google.de/books?id=K5Pbu7AdnlEC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

 

Übersetzer: Marie von Borch

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT

 

I.1

II.3

III.7

IV.15

V.18

VI.34

In der Keimzeit37

I.37

II.43

III.50

IV.56

V.62

VI.72

Es reift.77

I.77

II.82

III.90

IV.95

V.102

VI.113

Sechzigfach.120

I.120

II.127

III.136

IV.142

V.148

VI.156

Schluß.160

I.160

II.165

III.179

IV.183

V.186

VI.193

VII.196

VIII.201

IX.206

X.212

I.

Ein zarter, güldener Metallrand steigt im Osten empor, dort, wo die Sonne aufgeht. Die Stadt beginnt zu erwachen; hier und da wird schon das ferne Rollen der Karren vernehmbar, die vom Lande herein in die Straßen kommen, große, schwere Bauernkarren voll Marktwaren, Heu und Schlachtvieh und Klafterholz. Und diese Karren machen ziemlich viel Geräusch, denn während der Nacht überfriert das Straßenpflaster immer noch ein wenig. Es ist gegen Ende März.

Am Hafen ist nicht der leiseste Lärm vernehmbar. Hin und wieder sieht man auf einem Schiffsverdeck einen schläfrigen Matrosen; aus den Kombüsen steigt Rauch auf; die Schiffer strecken halbbekleidet den Kopf aus den Kajütendächern hervor und lugen nach dem Wetter aus, während die See völlig still daliegt und die Gangspille ruhen.

Dann wird die erste Speichertür geöffnet. Im Raum unterscheidet man hohe Stapel von Kisten und Säcken, Matten und Tonnen; Menschen schaffen mit Tauen und Schiebkarren, sie sind nur halb erwacht und gähnen mit weit offenen bärtigen Mündern. Und die Prahme legen an den Quais an; man beginnt Waren zu hissen und zu schleppen, sie auf Wagen zu laden und die dann fortzuziehen.

In den Straßen wird eine Tür nach der andern geöffnet, Vorhänge werden aufgezogen, junge Lehrlinge fegen die Läden aus und schlagen den Staub von den Ladentischen; bei der Firma H. Henriksen sitzt der Sohn schon am Pult und sieht die eingelaufene Post durch. Ein junger Mann schlendert müden, schläfrigen Schrittes über den Eisenbahnplatz; er kommt von einer Kneiperei, einer Gesellschaft bei einem Kameraden, und macht einen Morgenspaziergang. Bei der Feuerwache begegnet ihm ein Bekannter, der ebenfalls aus irgend einer Gesellschaft kommt; sie begrüßen sich.

„Bist du schon auf, Öjen?" sagte der erste.

„Ja, das heißt, ich bin noch gar nicht im Bett gewesen," erwiderte der andere.

„Ich auch nicht," sagte der erste wieder. „Gute Nacht."

Und er geht weiter und lächelt darüber, daß er am helllichten Morgen gute Nacht gesagt hat. Er ist ein junger, hoffnungsvoller Mann, sein Name wurde vor zwei Jahren plötzlich bekannt, als er ein großes, lyrisches Drama herausgab. Es ist Irgens, jedermann kennt ihn. Er trägt Lackstiefel und sieht gut aus mit seinem gedrehten Schnurrbart und den glänzenden, dunkeln Haaren.

Er nimmt den Weg über alle die verschiedenen Marktplätze; in seinem übernächtigen Zustand amüsiert es ihn, die Bauern zu sehen, wie sie einer nach dem andern durch die Gassen dahergerollt kommen und alle Plätze der Stadt mit ihren Karren besetzen. Die Frühlingssonne hat ihre Gesichter gebräunt, sie tragen dicke Wolltücher um den Hals, und ihre Hände sind kräftig und schmutzig. Sie geben sich so große Mühe, ihr Schlachtvieh an den Mann zu bringen, daß sie sogar ihn anrufen, einen Jüngling von vierundzwanzig Jahren ohne Familie, einen Lyriker, der nur gleichgültig und um sich zu zerstreuen umherschlendert.

Die Sonne steigt höher. Die Straßen beginnen von Wagen und Menschen zu wimmeln; in kurzen Zwischenräumen ertönen jetzt Pfiffe von den Fabriken in den entlegenen Stadtgegenden, von den Eisenbahnstationen; der Verkehr wird größer und immer größer; geschäftige Menschen schwirren hierhin und dorthin; einzelne essen von ihrem Frühstück, das sie in Zeitungspapier gewickelt in der Hand halten. Ein Mann zieht auf einem Handwagen eine ganze Last von Paketen und Säcken; er liefert Waren in den Häusern ab; er hat sich vorgespannt wie ein Pferd und liest zugleich in seinem Notizbuch, in dem er alle seine Adressen hat. Ein Kind läuft ohne Ruh und Rast mit den Morgenzeitungen umher, ein kleines Mädchen, das den Veitstanz hat; es wirft den Körper nach allen Seiten, zuckt mit den Schultern, starrt, jagt von Tür zu Tür, zieht sich an den Treppengeländern in die hohen Etagen hinauf, läutet, läßt auf jeder Schwelle eine Zeitung liegen und eilt weiter. Ein Hund ist bei ihm, und wohldressiert macht der Hund jeden Weg mit. Der kleine Hund!

Alles ist in Bewegung, und der Lärm wächst; er beginnt bei den Fabriken, den Schiffswerften, den mechanischen Werkstätten, den Sägewerken; er vermischt sich mit Wagengerassel und menschlichen Stimmen, wird abgeschnitten von irgend einer Dampfpfeife, deren schriller Pfiff wie ein jammernder Strahl himmelan steigt; schlägt endlich über den großen Marktplätzen zusammen, daß die ganze Stadt zuletzt in ein ungeheures Brausen eingehüllt ist. Und inmitten dieses Getümmels sieht man die Telegraphenboten mit ihren Taschen, wie sie Ordres und Kursnotierungen aus aller Herren Ländern bringen; des Handels große und merkwürdige Poesie durchsaust die Stadt, der Weizen in Indien und der Kaffee auf Java stehen im Flor, die spanischen Märkte verlangen Fische, viel Fische für die Fasten.

Es ist acht Uhr; Irgens geht nach Hause. Er kommt am Geschäft von H. Henriksen vorüber und entschließt sich, einen Augenblick hineinzugehen. Am Pulte sitzt noch immer der Sohn der Firma, ein junger Mann in einem Cheviotanzug; er hat große, blaue Augen, obgleich seine Hautfarbe dunkel ist, eine unordentliche Haarlocke hängt ihm in die Stirn. Der große, ziemlich markierte, ziemlich verschlossene Bursche sieht aus, als sei er dreißig Jahre alt. Seine Kameraden schätzen ihn sehr, weil er ihnen gar oft sowohl mit Geld als auch mit verschiedenem Eßbaren aus dem Keller des Vaters geholfen hat.

„Guten Morgen," sagt Irgens.

Überrascht erwidert der andere:

„Du bist es? Bist du schon auf?"

„Ja, das heißt, ich bin noch gar nicht im Bett gewesen."

„Na, das ist was anderes. Ich sitze hier seit fünf und habe schon nach drei Ländern telegraphiert."

„Herr Gott, du weißt, daß dein Handel mir gleichgiltig ist. Ich will dich nur eins fragen, Ole Henriksen: hast du einen Schnaps für mich?"

Die beiden Herren gehen aus dem Kontor, passieren den Laden und steigen in den Keller hinunter. Eilig zieht Ole Henriksen eine Flasche auf; sein Vater kann jeden Augenblick oben ins Kontor treten, deshalb beeilt er sich so; der Vater ist sehr alt, aber trotzdem handelt man nicht gern gegen seinen Willen.

Irgens trinkt und sagt:

„Darf ich den Rest nach Hause mitnehmen?"

Und Ole Henriksen nickt.

Als sie wieder im Laden sind, zieht er eine Schublade im Ladentisch auf, und Irgens, der den Wink versteht, tut einen Griff in die Schublade und nimmt etwas heraus und steckt es in den Mund. Es ist Kaffee, gebrannter Kaffee, gegen den übeln Atem.

II.

Um zwei Uhr schlendern die Leute in großen Scharen auf der Promenade hin und her. Man spricht und lacht in allen Tonarten, man grüßt einander, lächelt, nickt, dreht sich um und ruft; Zigarrenrauch und Damenschleier flattern in der Luft; ein vielfarbiger Wirrwarr von hellen Handschuhen und Taschentüchern, von gelüfteten Hüten und Spazierstöcken bewegt sich die ganze Straße hinunter, und Wagen mit Herren und Damen in vollem Staate fahren vorüber.

An der „Ecke" haben einige junge Herren Posto gefaßt. Es ist ein Kreis von Bekannten, ein paar Künstler, ein paar Schriftsteller, ein Kaufmann, ein Undefinierbarer, lauter Kameraden durch dick und dünn. Ihre Kleidung ist sehr verschiedenartig; einige haben den Überrock schon abgelegt, andere tragen gefütterte Ulster und haben den Kragen hochgeschlagen, wie bei der größten Kälte. Jedermann kennt die Gruppe.

Es schließen sich ihr noch mehrere an, andere gehen fort; zurück bleibt ein junger, dicker Maler, Namens Milde, und ein Schauspieler mit aufgestülpter Nase und einer Milchstimme; außerdem Irgens und Advokat Grande aus der großen Familie der Grandes. Aber der wichtigste war doch Paulsberg, Lars Paulsberg, der Verfasser von einem halben Dutzend Romanen und einem wissenschaftlichen Werk über die Vergebung der Sünden. Man nannte ihn laut und deutlich den Dichter, obgleich doch Irgens und der Schriftsteller Öjen dabei waren.

Der Schauspieler knöpft seinen Ulster bis an den Hals hinauf zu; es friert ihn.

„Nein, die Frühjahrsluft, die ist mir zu scharf," sagt er.

„Bei mir ist es das gerade Gegenteil," bemerkt der Advokat. „Ich könnte fortwährend juchzen; es wiehert förmlich in mir, mein Blut spielt ein Jagdlied." Und der kleine vornübergebeugte Jüngling richtete sich bei seinen eigenen Worten auf und sah zu Paulsberg hinüber.

„I, sieh mal einer an!" entgegnete der Schauspieler höhnisch. „Mann bleibt Mann, sagte der Eunuch."

„Was willst du damit sagen?"

„Nichts, Gott segne dich. Aber du mit deinen Lackstiefeln und dem Zylinder auf der Luchsjagd, was?"

„Ha! Ich konstatiere: der Mime Norem ist witzig geworden. Würdigen wir es!"

Sie sprachen mit großer Geläufigkeit von allem, setzten ihre Worte mit Leichtigkeit, machten hurtige Ausfälle und waren jederzeit mit der Antwort bereit.

Ein Zug Kadetten ging vorüber.

„Etwas so Schlotteriges wie dieses Militär!" sagt Irgens. „Seht doch nur, sie gehen nicht vorüber wie andere Sterbliche, sie steigen vorüber."

Irgens selber und der Maler lachten darüber; aber der Advokat sah hastig zu Paulsberg hinüber, dessen Züge sich nicht im mindesten verzogen. Paulsberg sagte ein paar Worte über die Gemäldeausstellung und schwieg dann.

Darauf kam man auf den gestrigen Tag im Tivoli; sie fingen an, über Politik zu sprechen … Sie zitierten Aussprüche der leitenden Storthingsmänner, schlugen vor, das Schloß in Brand zu stecken und morgen am Tage die Republik zu proklamieren. Der Maler drohte mit der Erhebung der Arbeiter. Wissen Sie, was der Präsident mir unter vier Augen gesagt hat: daß er nie und nimmer auf einen Kompromiß eingehen werde, es möge mit der Union biegen oder brechen. Biegen oder brechen! genau diese Worte brauchte er. Und wenn man den Präsidenten kennt …"

Aber Paulsberg sprach immer noch nicht mit, und da den Kameraden viel daran lag, seine Meinung zu hören, erdreistete der Advokat sich, zu fragen:

„Und du, Paulsberg, du sagst kein Wort?"

Paulsberg sprach selten; er hatte fast immer allein gelebt und seine Studien getrieben oder an seinen Werken gearbeitet; er besaß nicht der Kameraden große Geübtheit im Mündlichen. Er lächelte gutmütig und erwiderte:

„Eure Rede soll sein ja, ja, oder nein, nein, wie du weißt." Hierüber lachten alle sehr laut. „Aber im übrigen," fügte Paulsberg hinzu, „im übrigen gedenke ich wieder heim zu gehen zu meiner Frau."

Und Paulsberg ging. Es war so seine Gewohnheit, ohne weiteres zu gehen, wenn er es gesagt hatte.

Als aber Paulsberg ging, war es beinahe, als könnten die andern alle ebenfalls gehen; hier zu stehen hatte keinen Zweck mehr. Der Schauspieler grüßte und verschwand, man sah ihn stark ausschreiten, um Paulsberg einzuholen. Der Maler hüllte sich in seinen Ulster, ohne ihn zuzuknöpfen, und sagte:

„Uff! ich fühle mich so matt. Wer doch jetzt Geld für ein Mittagessen hätte?"

„Du mußt sehen, daß du einen Krämer herankriegst," entgegnete Irgens. „Ich habe heute morgen einen zu einer Flasche Kognak gepreßt."

Sie entfernten sich zusammen.

„Ich möchte doch wissen, was Paulsberg mit der Antwort gemeint hat, die er mir gab," sagte der Advokat. „Eure Rede soll sein nein, nein oder ja, ja; es ist klar, daß er irgend was damit gemeint hat."

„Ja, das ist klar," sagt auch der Maler Milde. „Hast du gesehn, wie er dabei lachte? Wahrscheinlich machte er sich über irgend etwas lustig." – Pause.

Eine Menge Spaziergänger schlendern noch lachend und schwatzend wie zuvor langsamen Schrittes au den Straßen hin und her.

Milde fährt fort:

„Ich habe schon so oft gewünscht, daß wir nur noch einen solchen Kopf in Norwegen hätten, wie Paulsberg einer ist."

„Wozu eigentlich?" fragte Irgens ein wenig gereizt.

Milde starrt ihn an, starrt darauf den Advokaten an und bricht in ein erstauntes Gelächter aus.

„Na; hast du's gehört, Grande, er fragt, wozu wir hier in Norwegen noch einen solchen Kopf brauchen wie Paulsberg."

„Nun und …?" fragt Irgens.

Grande lachte ebensowenig, und der Maler Milde konnte nicht begreifen, weshalb man nicht lachte. Er wollte darüber weggleiten und begann von etwas anderm zu reden.

„Du hast also einen Krämer zu Kognak gepreßt? Also hast du Kognak?"

„Denn ich stelle Paulsberg so hoch, daß ich ihn ganz allein schon für fähig halte, alles zustande zu bringen," fuhr Irgens mit verkappter Ironie fort.

Dies hatte Milde nicht erwartet; hierin konnte er Irgens nicht widersprechen, er nickte also nur und sagte:

„Jawohl; das ist es. Ich meinte nur, es könne schneller gehen, wenn er etwas Hilfe hätte; das wäre gar nicht so übel, kurzum: ein Kampfgenosse. Aber ich bin vollkommen deiner Ansicht."

Bei „Grand" hatten sie das Glück, auf Tidemand zu stoßen, der auch ein Krämer war, Großhändler, ein bedeutender Geschäftsmann, der Chef eines angesehenen Hauses.

„Hast du schon gegessen?" rief der Maler ihm entgegen.

„Ja, schon manches liebe Mal," erwiderte Tidemand.

„Red keinen Unsinn. Nimmst du mich mit ins Grand?"

„Zuerst darf ich dich aber doch wohl begrüßen?"

Es wurde beschlossen, einen Augenblick zu Irgens hinaufzugehen und den Kognak zu probieren; dann wollten sie ins Grand gehen. Tidemand und der Advokat gingen voraus.

„Du, es ist doch trotz alledem prächtig, daß wir diese Krämer haben," sagte der Maler Milde zu Irgens. „Manchmal sind sie doch ganz nützlich."

Irgens erwiderte mit einem Achselzucken, das alles mögliche bedeuten konnte.

„Und man wird ihnen gar nicht lästig, im Gegenteil, man erweist ihnen einen Gefallen, es schmeichelt ihnen. Wenn man sie ein bischen freundschaftlich behandelt, ein bißchen Bruderschaft mit ihnen trinkt, so ist es schon gut. Hahaha, ja, hab ich nicht ganz recht?"

Der Advokat war stehen geblieben, er wartete.

„Eh' wir's vergessen: wir müssen etwas Bestimmtes wegen des Rummels mit Öjen abmachen," sagte er.

Richtig, beinahe hätten sie es alle vergessen. Natürlich, Öjen wollte ja fortreisen; es mußte etwas veranstaltet werden.

Die Sache war nämlich die, daß der Schriftsteller Öjen zwei Romane geschrieben hatte, die ins Deutsche übersetzt worden waren; jetzt war er nervös geworden, er konnte sich doch auch nicht zu Schanden arbeiten, man mußte ihm Ruhe verschaffen. Er hatte sich um ein Stipendium bemüht und hegte die sichere Hoffnung, es zu erhalten; Paulsberg selbst hatte ihn zur Berücksichtigung empfohlen, wenn auch ein wenig lau. Da hatten sich denn die Kameraden zusammengetan, um Öjen nach Thorahus zu schicken, nach diesem kleinen Zufluchtsort in den Bergen, wo die Luft so gesund für alle Nervösen war. In einer Woche wollte Öjen reisen, das Geld war da; sowohl Ole Henriksen als auch Tidemand hatten sich sehr opferwillig gezeigt. Es war jetzt nur noch nötig, ein kleines Abschiedsfest zu veranstalten.

„Aber bei wem wollen wir es feiern?" fragte der Maler. „Bei dir, Grande. Du hast doch eine große Wohnung?"

Grande war nicht abgeneigt; es könne schon bei ihm gemacht werden; er wolle mit seiner Frau reden. Es wurde beschlossen, Paulsberg und seine Frau als Gäste einzuladen; Tidemand mit seiner Frau und Ole Henriksen waren als Beitragspender selbstverständlich. Gut.

„Ja, ladet ein, wen ihr wollt; aber den Mimen Norem will ich nicht im Hause haben," sagte der Advokat. „Er trinkt sich immer gleich toll und voll, daß es ekelhaft ist; meine Frau verbittet sich ihn, das weiß ich."

Nein, dann konnte die Sache also nicht bei Grande gefeiert werden. Denn es ging doch wohl nicht an, Norem beiseite zu schieben. In der allgemeinen Ratlosigkeit bot Milde sein Atelier an.

Das war nach dem Geschmack der Freunde. Ja, das war wirklich ein vorzüglicher Einfall; man konnte gar kein besseres Lokal finden, es war groß und frei wie eine Scheune, mit zwei gemütlichen Seitenzimmern. Gut, also Mildes Atelier.

Die Schlacht sollte in ein paar Tagen geschlagen werden.

Die vier Herren stiegen zu Irgens hinauf, tranken einen Kognak und gingen dann wieder. Der Advokat wollte nach Hause; er fühlte sich ein bischen verletzt; diese Bestimmung mit dem Atelier paßte ihm nicht. Na, er konnte ja überhaupt aus der Gesellschaft fortbleiben. Jedenfalls empfahl er sich jetzt und ging.

„Aber du gehst doch mit, Irgens?" fragte Tidemand.

Irgens sagte nicht nein, er antwortete durchaus nicht ablehnend auf diese Einladung. Allerdings hatte er keine übergroße Lust, mit Tidemand ins Grand zu gehen, und außerdem ärgerte dieser dicke Milde ihn ganz besonders mit seiner Familiarität; aber vielleicht konnte er sich gleich nach dem Mittagessen aus dem Staube machen.

Hierbei half ihm übrigens Tidemand selbst; sobald er vom Tisch aufgestanden war, bezahlte er nämlich und verabschiedete sich gleichzeitig; er hätte noch etwas zu erledigen.

III.

Tidemand nahm den Weg nach H. Henriksens großem Lagerhause am Quai, wo Ole sich um diese Zeit aufhielt, wie er wußte.

Tidemand war über dreißig und begann an den Schläfen schon ein wenig zu ergrauen. Auch er hatte dunkles Haar und einen dunkeln Bart, aber bei ihm waren die Augen braun, mit müdem Ausdruck. Wenn er still saß und nichts sagte, nur still da saß und langsam zwinkerte, hoben und senkten sich diese schweren Augenlider beinah, als wären sie übernächtig. Übrigens bekam er einen kleinen Ansatz zum Bauch. Er galt für einen außerordentlich tüchtigen Geschäftsmann.

Er war verheiratet und hatte zwei Kinder; seit vier Jahren war er verheiratet. Seine Ehe hatte in der besten Weise begonnen und ging noch so fort, obgleich es den Leuten schwer begreiflich schien, daß sie noch bestand. Nicht einmal Tidemand selbst machte ein Hehl aus seinem Erstaunen darüber, daß seine Frau ihn lieb hatte. Er war zu lange Junggeselle gewesen, war zu viel gereist, hatte zu viel in Hotels gewohnt – das sagte er selbst. Er liebte es, zu schellen, wenn er etwas brauchte; er verlangte seine Mahlzeiten gern zu ungewöhnlichen Tageszeiten, ganz ohne Rücksicht auf die Speisestunden, wann es ihm einfiel. Und Tidemand ließ sich in Details ein: so konnte er es nicht vertragen, daß eine Frau ihm die Suppe aufschöpfte; wie konnte eine Frau denn selbst mit dem besten Willen eine Ahnung davon haben, wieviel Suppe er wünschte?

Und auf der andern Seite Frau Hanka, eine Künstlernatur, zweiundzwanzig Jahre alt, voll Liebe zum Leben und keck wie ein Junge. Frau Hanka hatte große Fähigkeiten und warme Interessen, sie war der willkommenste Gast in allen Gesellschaften der Jugend, war's nun in Sälen oder in Kneipen, und wenige oder niemand widerstanden ihr. Freilich sie hatte nicht viel Sinn für häusliches Leben und Küchenarbeit; aber dafür konnte sie nichts, das lag leider nicht in ihr. Dieser unerträgliche Segen mit je einem Kinde zwei Jahre nacheinander machte sie auch wirklich verzweifelt; lieber Gott, sie war ja selbst fast noch ein Kind voll Blut und Unvernunft; sie hatte ihre Jugend vor sich. Sie bezwang sich eine Zeitlang; es ging schließlich so weit, daß die junge Frau Nächte hindurch weinte; aber nach der Verständigung, zu der es endlich im vorigen Jahre zwischen dem Ehepaar gekommen war, brauchte Frau Hanka sich keinen Zwang mehr aufzuerlegen …

Tidemand trat ins Lagerhaus. Ein kalter, säuerlicher Geruch von südländischen Waren schlug ihm entgegen, ein Geruch von Kaffee und Öl und Wein. Hohe Reihen von Teekisten, in Bast eingenähte Zimmetbündel, Früchte, Reis, Spezereien, Berge von Mehlsäcken – das alles türmte sich vom Fußboden bis zur Decke in seiner bestimmten Ordnung. In der einen Ecke war die Treppe zum Keller, wo Weinfässer mit Kupferreifen und Jahreszahlen darauf im Halblicht schimmerten, und wo gewaltige Metallgefäße voll Öl in massiv eingemauerter Ruhe lagerten.

Tidemand grüßte alle arbeitenden Lagerdiener, ging durch den Raum und blickte durch die Fensterscheibe in das kleine Kontor. Ole war drinnen. Er sah eine Kreiderechnung auf einer Holztafel durch.

Ole legte die Tafel sofort aus der Hand und kam seinem Freunde entgegen.

Die beiden Männer kannten sich von Kind auf, sie waren zusammen auf der Akademie gewesen und hatten ihre schönsten Tage miteinander geteilt. Auch nachdem sie Kollegen und Konkurrenten geworden waren, besuchten sie sich, so oft es die Arbeit erlaubte; sie mißgönnten einander nichts, der Geschäftsgeist hatte sie flott und groß gemacht, sie hatten mit Schiffsladungen zu tun, hatten täglich große Summen vor Augen, gewaltige Glückstreffer oder einen grandiosen Ruin.

Tidemand bewunderte einmal einen kleinen Vergnügungskutter, der Ole Henriksens Eigentum war. Das war übrigens vor zwei Jahren, als es bekannt geworden war, daß die Firma Tidemand einen ansehnlichen Verlust beim Fischexport erlitten hatte. Der Kutter lag dicht vor Henriksens Lagerhaus und erregte durch seine Schönheit allgemeines Aufsehen. Der Mastentop war vergoldet.

Tidemand sagte:

„Ein niedlicheres kleines Ding habe ich nie gesehen, kannst du mir ruhig glauben."

Aber Ole Henriksen erwiderte bescheiden:

„Ach, ich bekomme gewiß keine tausend Kronen dafür, wenn ich's verkaufen wollte."

„Ich gebe dir tausend," bot Tidemand.

Pause. Ole lächelte.

„Bar auf den Tisch?" fragte er.

„Ja, zufälligerweise kann ich es grade."

Damit greift Tidemand in die Tasche und bezahlt das Geld.

Dies trug sich draußen auf dem Lager zu; alle Angestellten waren dabei. Sie lachten, flüsterten, schlugen die Hände vor Staunen zusammen. Tidemand ging.

Ein paar Tage darauf kam Ole zu Tidemand und sagte:

„Du würdest den Kutter wohl nicht für zweitausend hergeben?"

Tidemand erwiderte:

„Hast du das Geld bei dir?"

„Ja, zufällig."

„Her damit," sagte Tidemand.

Und der Kutter gehörte wieder Ole.

Jetzt war Tidemand zu Ole hinuntergegangen, um sich eine Stunde zu vertreiben. Die beiden Freunde waren keine Kinder mehr; sie behandelten sich gegenseitig mit ausgesuchter Höflichkeit und waren sich aufrichtig zugetan.

Ole nimmt Tidemands Hut und Stock, die er aufs Pult legt, während er Tidemand selbst einen Platz auf dem kleinen zweisitzigen Sofa anbietet.

„Was darf ich dir anbieten?" fragte er.

„Danke sehr, gar nichts," erwiderte Tidemand. „Ich komme aus dem Grand und habe gerade gegessen."

Ole setzte die flache, dünne Kiste mit Havannas auf den Tisch und fragte noch einmal:

„Ein Gläschen? Einen von 1812?"

„Ja, das nehme ich trotzdem an. Aber den mußt du wohl aus dem Keller holen; mach dir nur keine Mühe."

„Wie kannst du von Mühe reden!"

Ole holte eine Flasche aus dem Keller; man konnte nicht sehen, woraus sie bestand: das Glas sah aus wie grobes Zeug, so verstaubt war es. Der Wein war kalt, er setzte Schaumperlen am Glase ab, und Ole sagte:

„Also, Andreas, auf dein Wohl!"

Sie tranken. Es entstand eine Pause.

„Ich komme eigentlich, um dir zu gratulieren," sagte Tidemand. „Ein ähnlicher Coup ist mir noch nie gelungen."

Und es war wirklich so; Ole Henriksen hatte einen Coup gemacht; aber er sagte selbst, daß es eigentlich nicht sein Verdienst sei; es sei ein Glückstreffer. Und wenn man durchaus von Verdienst reden wolle, so gehöre es nicht ihm allein, es gebühre der Firma. Die Operation in London hätte er seinem Agenten zu danken.

Mit dem Coup war es aber so:

Ein englisches Lastschiff „Concordia" ging mit halber Ladung Kaffee von Rio, nahm den Weg um Senegambien nach Bathurst, um eine Partie Häute als Topladung einzunehmen, ging in den Dezemberstürmen weiter, schlug an der Nordküste der Normandie leck und wurde als Havarist nach Plymouth hineinbugsiert. Die Ladung schwamm, die Hälfte war Kaffee.

Diese Partie Damage-Kaffee wurde abgespült und nach London gebracht, wurde ausgeboten, war aber unverkäuflich; das Seewasser und die Häute machten, daß der Kaffee roch. Der Eigentümer versuchte hundert Dinge damit, wandte Farben an, Berlinerblau, Indigo, Kurkuma, Chromgelb, Kupfervitriol, ließ den Kaffee mit Bleikugeln zusammen in Fässern rollen; aber es half nichts, und er mußte ihn unter den Hammer bringen. H. Henriksens Agent tat sein Bestes, er stellte sich ein, bot einen Spottpreis und bekam den Zuschlag.

Nun reiste Ole Henriksen nach London, nahm Versuche mit dem Kaffee vor, wusch die Bleifarbe ab, spülte ihn gründlich und ließ ihn zum zweitenmal trocknen. Schließlich ließ er die ganze Partie brennen und in ungeheure Zinnfässer packen, die hermetisch verschlossen wurden. Diese Fässer standen einen Monat unberührt, dann wurden sie nach Norwegen transportiert, wo sie aufs Lager gebracht wurden; Faß auf Faß wurde aufgeschlagen und verkauft; der Kaffee war wie unbeschädigt. Die Firma Henriksen verdiente an diesem einen Geschäft ungeahnte Summen.

Tidemand sagte:

„Ich habe erst vor ein paar Tagen davon gehört, und ich muß sagen, es hat mich stolz gemacht."

„Meine glückliche Idee ist eigentlich nur, daß ich den Kaffee brannte und ihn durch ein paar Kniffe zum Schwitzen brachte. Sonst aber …

„Du selbst warst aber gewiß gespannt auf das Resultat?"

„Ja, das kann ich nicht leugnen."

„Aber dein Vater, was sagte der?"

„Er hat erst hinterher von dem ganzen Handel erfahren. Nein, den durfte ich nicht einweihen, ich glaube, er hätte mich verstoßen, mich enterbt, he – he – he."

Tidemand sah ihn an.

„Hm. Das ist alles recht schön, Ole. Aber wenn du tun willst, als ob die Hälfte der Ehre dieses Geschäfts auf deinen Vater überginge, auf die Firma, so darfst du nicht gleichzeitig erzählen, daß dein Vater erst hinterher davon erfahren hat."

„Laß es jetzt nur gut sein."

Ein Lagerdiener kam und brachte noch eine Tafel, auf der Rechnungen standen; er nahm die Mütze ab, verbeugte sich, legte die Tafel aufs Pult, verbeugte sich noch einmal und ging. Gleichzeitig läutete es am Telephon.

„Entschuldige mich einen Augenblick, Andreas, ich will nur … Es ist vermutlich nichts weiter als eine Ordre. Hallo!"

Ole schrieb die Ordre auf, läutete und übergab sie einem Angestellten.

„Ich störe dich nur," sagte Tidemand. „Jetzt sind da schon zwei Tafeln; nehmen wir jeder eine, ich helfe dir."

„Nein, auf keinen Fall," entgegnete Ole, „du wirst dich doch nicht hinsetzen und an den Tafeln arbeiten."

Aber Tidemand hatte schon angefangen. Diese merkwürdigen Striche und Zeichen in fünfzig Rubriken verstand auch er wie nichts andres und machte die Rechnung auf einem Stückchen Papier. Sie standen jeder aus einer Seite des Pultes; dann und wann warfen sie sich einen kleinen Scherz zu.

„Aber wir dürfen deshalb die Gläser doch nicht vergessen."

„Nein, da hast du recht."

„Dies ist wirklich der angenehmste Tag, den ich seit langer Zeit erlebt habe," sagte Ole.

„Findest du? Dasselbe wollte ich gerade sagen. Ich komme also aus dem Grand, aber … du, es ist ja wahr, ich habe eine Einladung für dich; am Donnerstag sollen wir zusammenkommen; das Abschiedsfest für Öjen; es kommen ziemlich viel Leute."

„So? Wo soll es denn sein?"

„Bei Milde, im Atelier. Du kommst doch?"

„Natürlich, ich komme schon."

Sie gingen wieder ans Pult und schrieben.

„Lieber Gott, denkst du noch an die alten Zeiten, als wir zusammen die Schulbank drückten!" sagte Tidemand: „Damals hatte noch keiner von uns einen Bart; mir ist, als sei es erst ein paar Monate her, so deutlich erinnere ich mich daran."

Ole legte die Feder hin. Die Rechnung war fertig.

„Ich möchte dir was sagen … du darfst nur nicht böse sein, wenn ich dich verletze, Andreas Nein, koste den Wein, du, ich bitte dich. Ich hole eine andere Flasche: dies ist wirklich kein Wein für Gäste."

Damit war Ole zur Tür hinaus: er sah ganz verwirrt aus.

„Was hat er nur?" dachte Tidemand.

Ole kam mit einer Flasche zurück, die rauh aussah wie Sammet, lange Spinnweben hingen daran. Er entkorkte sie.

„Ich weiß nicht, wie dieser ist," sagte er und roch am Glase. „Koste ihn, er ist wirklich … Ich glaube, er wird dir schmecken; die Jahreszahl habe ich vergessen, er ist alt."

Tidemand roch auch daran, nippte, stellte das Glas hin und sah Ole an.

„Nicht wahr? der ist nicht übel?"

„Nein," erwiderte Tidemand, „gewiß nicht. Aber meinetwegen hättest du ihn nicht holen sollen, Ole."

„He, he, hat man so etwas schon gehört! Wegen einer Flasche Wein …" – Pause.

„Ich glaube, du wolltest mir etwas sagen?" fragte Tidemand.

„Ja, das heißt, eigentlich wollte ich nicht, aber …" Ole ging und verschloß die Tür. „Ich meinte nur, du wüßtest vielleicht nichts davon, und darum wollte ich dir sagen, daß man dich verleumdet, dich geradezu herabsetzt. Und du weißt nichts davon."

„Man setzt mich herab? Also, was sagt man denn?"

„Nein, darüber, was man von dir sagt, kannst du dich hinwegsetzen; das ist es nicht, worauf es ankommt. Man sagt, daß du deine Frau vernachlässigtest, du gingest sogar in Restaurants, obgleich du ein verheirateter Mann seist, du ließest sie ihren Weg gehen, während du deinen nach deinem eigenen Kopfe gingest. Darüber kannst du dich hinwegsetzen, weißt du. Aber ehrlich gesagt: weshalb ißt du außer dem Hause und hältst dich so viel in Restaurants auf? Nicht, daß ich dir einen Vorwurf daraus machen will, aber … Also, weiter war es nichts. Nein, dieser Wein ist wirklich nicht zu verachten, wie ich sehe. Koste doch mal, wenn es dir nicht unangenehm ist …"

Tidemands Augen waren plötzlich scharf und klar geworden. Er erhob sich, ging ein paarmal durchs Zimmer und setzte sich dann wieder aufs Sofa.

„Es wundert mich nicht, daß die Leute so von mir reden," sagte er. „Ich selbst habe getan, was ich konnte, um die Klatscherei in Umlauf zu setzen; das weiß ich am besten. Das kann mir übrigens alles ganz gleichgiltig sein." Tidemand zuckte die Achseln und stand wieder auf. Im Zimmer auf- und abgehend und vor sich hinstarrend, murmelte er immer wieder, es könne ihm übrigens alles ganz gleichgiltig sein.

„Aber, bester Andreas, ich sage ja, es ist eine Niederträchtigkeit, über die du dich hinwegsetzen kannst," wendete Ole ein.

„Es ist nicht richtig, wenn man glaubt, daß ich Hanka vernachlässigte," fuhr Tidemand fort, „aber ich wollte ihr Ruhe lassen, verstehst du. Ja. Sie soll tun dürfen, was sie will; dahin sind wir übereingekommen, sonst verläßt sie mich." Während er dann fortfährt, setzt er sich und erhebt sich in kurzen Zwischenpausen; er ist sehr erregt. „Ich erzähle es dir, Ole; es ist dies überhaupt das erstemal, und ich werde es vor keinem Menschen jemals wiederholen. Aber du sollst es wissen, daß ich nicht in die Restaurants laufe, weil es mir Spaß macht. Aber was soll ich zu Hause anfangen? Hanka ist nicht zu Hause, ich finde nichts zu essen; ich finde keine Menschenseele in den Zimmern. Durch ein freundschaftliches Übereinkommen haben wir unsern Haushalt aufgelöst. Siehst du jetzt ein, weshalb ich in die Restaurants gehe? Ich bin nicht mein eigener Herr; ich halte mich im Kontor und im Grand auf; ich treffe meine Bekannten, unter denen auch sie ist, wir sitzen an einem Tische und amüsieren uns. Was sollte ich also zu Hause machen, sag mir das! Hanka, die ist im Grand, wir sitzen an einem Tische, oft einander gegenüber und reichen uns ein Glas, eine Karaffe hin. Andreas, sagt sie manchmal, hab die Güte und bestell auch ein Glas für Milde. Und selbstverständlich bestelle ich ein Glas für Milde. Ich tu es gern; ich werde rot dabei. Ich habe dich heute noch gar nicht gesehen, sagt sie dann zu mir, du bist heute morgen so zeitig fortgegangen. Ja, glaubt mir, das ist ein netter Ehemann! Und dabei lacht sie. Es macht mir Freude, sie scherzen zu hören, und ich scherze mit: Wer in aller Welt hat denn Zeit, zu warten, bis du Toilette gemacht hast, wenn man ein Kontor hat, in dem fünf Leute sitzen? sage ich. Die Wahrheit aber ist, daß ich sie vielleicht schon die letzten paar Tage nicht mehr gesehen habe. Begreifst du jetzt, weshalb ich in die Restaurants gehe? Ich will sie nach zwei Tagen doch einmal Wiedersehen und meine Freunde begrüßen, die mir die Zeit so gut wie möglich verkürzen. Aber selbstverständlich ist dies alles nach dem allerfreundschaftlichsten Übereinkommen geschehen; glaub nur nichts andres; ich finde es ganz ausgezeichnet so, mußt du wissen. Das macht die Gewohnheit."

Ole Henriksen saß mit offenem Munde da. Er sagte ganz erstaunt:

„Hängt die Sache so zusammen? Ich hätte doch nicht geglaubt, daß die Dinge zwischen euch beiden so gründlich Verfahren wären."

„Was ist denn dabei? Findest du es so sonderbar, daß sie gern mit der Clique zusammen ist? Es sind doch alles bekannte Männer, nur Künstler und Dichter, Leute, die etwas bedeuten. Wenn man's bei Licht besieht, Ole, sind sie doch ganz was anderes als wir; und wir selber sind ja auch gern mit ihnen zusammen. Verfahren, sagst du? Nein, versteh mich recht, soweit – verfahren ist eigentlich auch nichts zwischen uns. Es geht ganz ausgezeichnet. Ich konnte nicht immer zur bestimmten Zeit aus dem Kontor nach Hause kommen, also ging ich ins Restaurant und aß da. Hanka konnte sich doch nicht lächerlich machen und für sich allein Tisch führen, – gut also kam sie mir ins Restaurant nach. Freilich gehen wir nicht jeden Tag in dasselbe Lokal; manchmal treffen wir uns nicht. Aber was! Das macht nichts!"

Pause. Tidemand läßt den Kopf in die Hand sinken. Ole fragt:

„Wer aber hat dies Spiel angefangen? Wer schlug es vor?"

„Ha, glaubst du wirklich, ich wär es gewesen? Sollte ich vielleicht zu meiner Frau sagen: Hanka, jetzt kannst du in irgend ein Restaurant gehen, damit ich das Haus leer finde, wenn ich zum Mittagessen nach Hause komme; sollte ich ihr das sagen? Aber wie gesagt, es geht auch so ausgezeichnet; deshalb ist es nicht … Was sagst du dazu, daß sie sich nicht einmal als verheiratet ansieht? Nein, dazu kannst du einfach gar nichts sagen. Ich hab mit ihr geredet, so und so, eine verheiratete Frau, Haus und Herd und sie erwiderte: ›Verheiratet, sagst du? das ist denn doch geradezu eine Übertreibung!‹ Was meinst du dazu, daß sie das eine Übertreibung nennt. Ich wiederhole es daher ihr gegenüber nie mehr, sie ist nicht verheiratet, das überlaß ich ihr. Sie wohnt dann und wann dort, wo ich wohne; wir sehen nach den Kindern, gehen aus und ein und trennen uns wieder. Das tut gar nichts, solange es ihr Spaß macht."

„Das ist ja lächerlich!" sagte Ole mit einem Mal. „Ich begreife nicht … Glaubt sie, du wärst ein Handschuh, den sie fortwerfen kann? Weshalb hast du ihr das nicht gesagt?"

„Natürlich hab ich es ihr gesagt. Aber sie wollte sich scheiden lassen. Ja, zweimal. Was sollte ich da tun? Ich bin nicht so glücklich veranlagt, daß ich mich mit einem Male losreißen könnte; das kommt später, mit der Zeit. Sie hat übrigens recht, wenn sie davon spricht, daß sie sich scheiden lassen will; ich bin es, der sich dem widersetzt, das kann sie mir zum Vorwurf machen. Warum ich ihr nicht ernstlich meine Meinung gesagt habe, und damit Punktum? Du lieber Gott, aber sie wollte ja gehen! Sie sagte es gerade heraus, und ich begriff es; das ist zweimal passiert. Verstehst du mich?

„Ja, ich verstehe schon."

Die beiden Männer saßen eine Weile schweigend. Ole fragte leise:

„Ja, hat deine Frau denn … ich meine: Liebt sie am Ende einen andern?"

„Selbstverständlich," sagte Tidemand. „Das kommt so über einen …"

„Und du weißt nicht, wer es ist?"

„Ich sollte nicht wissen, wer es ist! Aber ich sag es dir nicht, niemals! – Ich weiß es nicht einmal; woher sollte ich es wissen? Außerdem liebt sie wohl auch kaum einen andern; wie kann man so etwas wissen? Glaubst du vielleicht, ich wär eifersüchtig? Bild dir nur nichts ein, Ole, ich versteh es, Gott sei Dank, meine Vernunft im Zaum zu halten, so gut es geht. Kurzum: sie liebt nicht etwa, wie die Leute vermuten, einen andern; das Ganze ist nichts als eine Laune von ihr. Nach einiger Zeit kommt sie vielleicht und sagt: wir wollen unsere Häuslichkeit wieder einrichten und miteinander leben; das ist durchaus nicht unmöglich, sage ich dir, denn ich kenne sie in- und auswendig. Seit kurzem hat sie die Kinder lieb; ich habe niemals jemand gesehen, der Kinder so lieb gehabt hätte, wie sie seit einiger Zeit. Du solltest uns doch mal besuchen … Weißt du noch, damals, als wir heirateten?"

„Ja."

„Eine ganz passable Braut, was? Eigentlich nicht zu verachten, meinst du nicht? Ha – ha – ha, was, Ole? Aber du solltest sie jetzt sehen; zu Hause, meine ich, seitdem sie wieder angefangen hat, die Kinder lieb zu haben. Das läßt sich gar nicht sagen. Sie trägt ein schwarzes Samtkleid …

Nein, du mußt wirklich einmal zu uns kommen …"

„Danke, das will ich auch."

„Da fällt mir ein, daß Hanka jetzt möglicherweise zu Hause ist; ich will also vorbeigehen und hören, ob nichts passiert ist."

Die beiden Kameraden leerten ihre Gläser und standen sich gegenüber.

„Ja, ja, ich will hoffen, daß es bald besser wird," sagte Ole.

„Ach ja, es wird schon besser werden," entgegnete Tidemand. „Dank dir sehr, tausend Dank. Du bist mir ein guter Freund gewesen. Solange ich denken kann, hab ich keine schönere Stunde erlebt."

„Läßt du dich also bald wieder sehen? Du wirst mir hier ordentlich fehlen."

„Ja, ich komme wieder. Hör mal!" Tidemand blieb an der Tür stehen und drehte sich noch einmal um. „Das, wovon wir gesprochen haben, sagen wir keinem Menschen, nicht wahr? Am Donnerstag keine Miene verziehen; wir tun, als sei nichts geschehen. Wir sind ja auch keine Kopfhänger."

Tidemand ging.

IV.

Nun senkt sich der Abend auf die Stadt herab.

Die Geschäfte hören auf, die Läden werden geschlossen und das Gas heruntergeschraubt. Alte grauköpfige Chefs jedoch schließen sich in ihre Comptoirs ein, zünden die Lampe an und holen Papier hervor, schlagen in dicken Büchern nach, notieren eine Zahl, eine Summe und denken nach. Unterdessen hören sie ununterbrochen den Lärm von den Dampfschiffen, die bis in die späte Nacht hinein löschen und laden.

Es wird zehn, es wird elf Uhr; die Cafés sind vollgepfropft, und der Verkehr ist groß; in den Gassen wandern alle möglichen Leute in ihrem besten Putz, begleiten einander, pfeifen den Mädchen und huschen in Toreinfahrten und Kellerhälse. Kutscher stehen auf den Halteplätzen bereit und spähen nach dem leisesten Wink eines Vorübergehenden, plaudern gegenseitig über ihre Pferde und zünden vor lauter Tatenlosigkeit ihre kurzen Pfeifen an.

Ein Frauenzimmer geht vorüber, ein Kind der Nacht, das alle kennen; ihr folgen ein Matrose und ein Herr im Zylinderhut, beide schreiten eilig aus, jeder will das Mädchen als Erster einholen. Dann kommen zwei junge Burschen; sie plaudern laut, haben die Zigarre im Munde und die Hände in den Taschen; und hinter ihnen noch ein Frauenzimmer; zuletzt wieder ein paar Herren, die beide schnell gehen, um sie zuerst zu erreichen.

Aber jetzt schlagen alle Turmuhren der ganzen Stadt hintereinander zwölf langsame Schläge; die Cafés werden leer, und den Musikhallen entströmen Scharen von Menschen, die von Bier und Hitze dampfen. An den Quais rasseln noch die Gangspille, und Droschken poltern durch die Straßen; in. den tiefen Comptoirs aber ist ein alter Chef nach dem andern mit seinen Papieren und seinen Gedanken fertig geworden; die grauen Herren klappen die Protokolle zu, nehmen ihren Hut vom Nagel, blasen die Lampe aus und gehen nach Hause.

Auch das Grand läßt seine letzten Gäste hinaus, eine Clique, die bis zu Ende ausgehalten hat, junge Leute, lustige Kerle. Mit aufgeknöpften Röcken, den Spazierstock unter dem Arm und den Hut ein wenig schief auf dem Kopfe, schlendern sie hinunter nach der Laterne; sie plaudern laut, summen die neueste Weise, und pst'en hinter einem einsamen, vergessenen Mädchen mit Boa und weißem Schleier her.

Die Gesellschaft wandert nach der Universität hinauf. Sie sprechen von Litteratur und Politik, und obgleich gar kein Widerspruch zwischen ihnen herrscht, sind sie doch alle in den höchsten Eifer geraten: Hoho, ob denn Norwegen kein selbständiges Land sei? Jawohl. Habe es dann also kein Recht, souverän aufzutreten? Ha! Wartet nur, der Präsident hat versprochen, sich der Sache anzunehmen, außerdem kommen die Wahlen … Alle waren sich einig darüber, daß die Wahlen sprechen würden.

An der Universität nehmen drei der Herren Abschied und schlagen jeder seinen Nachhauseweg ein; die beiden Zurückgebliebenen gehen noch einmal auf und ab, bleiben wieder vorm Grand stehen und tauschen ihre Ansichten aus. Es sind Milde und Öjen. Milde eifert noch immer:

„Das sage ich: läßt das Storthing dieses Mal locker, so gehe ich nach Australien. Dann ist hier meines Bleibens nicht länger."

Öjen ist jung und nervös; sein kleines, rundes Mädchengesicht ist bleich und müde; er kneift die Augen zusammen wie ein Kurzsichtiger, obgleich er gut sieht, und seine Stimme ist weich und schwach:

„Ich begreife gar nicht, wie euch dies alles so interessieren kann. Mir ist es so gleichgültig." Und Öjen zuckte leicht mit den Achseln; er ist der Politik so überdrüssig. Seine Schultern fallen stark ab, wie bei einer Frau.

„Nun ja, ich will dich auch nicht länger aufhalten," sagt Milde.

„Apropos, hast du kürzlich was geschrieben?"

„Ja, ein paar Gedichte in Prosa," entgegnete Öjen, sofort lebhafter werdend. „Ich warte übrigens darauf, daß ich nach Thorahus komme, damit ich wieder ernstlich anfangen kann. Du hast recht, hier in der Stadt ist es nicht mehr auszuhalten."

„Na ja, ich meinte übrigens im ganzen Lande, aber … Ja, du vergißt doch wohl nicht: am Donnerstag abend in meinem Atelier? … Sag mal, alter Freund, hast du wohl eine Krone Bargeld bei dir?"

Öjen knöpft den Rock auf und sucht eine Krone hervor.

„Danke, alter Freund. Also am Donnerstag abend. Komm ein wenig früher, so daß du mir einen Wink bei der Anordnung geben kannst Jesses, Seidenfutter im Rock! Und dich konnte ich um eine lumpige Krone bitten! Ich bitte dich, verzeih mir, wenn ich dich dadurch beleidigt habe."

Öjen lächelt und achtet nicht auf den Scherz:

„Beinah hätte ich gesagt: Gibt es heutzutage überhaupt Kleidungsstücke ohne Seidenfutter?"

„Zum Henker noch mal, was zahlst du für sowas?" Und Milde befühlt den Rock.

„Nein, darauf kann ich mich nicht mehr besinnen; ich kann mich nie auf Zahlen besinnen, das ist nicht mein Fach. Schneiderrechnungen lege ich fort, ich finde sie jedesmal, wenn ich umziehe."

„Hahaha, eine praktische Manier, äußerst praktisch. Du bezahlst sie also nicht?"

„Nein, das steht in Gottes Hand, wie man zu sagen pflegt. Ja, wenn ich einmal reich werde, dann … Übrigens mußt du jetzt gehen; ich will allein sein."

„Natürlich. Gute Nacht. Aber hör mal, ganz im Ernst: wenn du noch eine Krone hast, w...?"

Und wieder knöpft Öjen den Rock auf.

„Besten Dank! Besten Dank! Ja – ihr Dichter! Wohin gehst du jetzt zum Beispiel?"

„Ich werde hier wohl noch eine Weile herumgehen und mir die Häuser ansehen. Ich kann nicht schlafen, ich zähle die Fenster; das ist oft gar nicht so dumm. Es kann zu einem wahren Genuß werden, das Auge zuweilen auf Quadraten ruhen zu lassen, auf reinen Linien. Ja, davon verstehst du nichts."

„O doch, ich verstehe es schon. Aber ich meine Menschen, wie? Menschen auch. Fleisch und Blut, nicht wahr? Das hat doch auch sein Interesse?"

„Nein, mich langweilen die Menschen, zu meiner Schande muß ich's gestehen. Wenn man so zum Beispiel eine schöne, öde Straße hinuntersieht, – hast du nie bemerkt, wieviel Schönheit darin liegt?"

„Ob ich das habe! Ich bin nicht blind, will ich dir sagen. Die Schönheit einer öden Gasse, ihr Charme, hat den höchsten Reiz in seiner Art. Aber alles zu seiner Zeit … Na ja, ich will dich nicht länger aufhalten. Auf Wiedersehen am Donnerstag."

Dann grüßte Milde, indem er den Stock an den Hut legte, kehrte um und ging die Straße wieder hinauf. Öjen setzte seinen Weg allein fort. Schon einige Minuten darauf wußte er, daß er nicht alles Interesse an den Menschen verloren hatte; er hatte sich selbst belogen. Der ersten besten Dirne, die ihn anrief, gab er willig die paar Kronen hin, die ihm noch geblieben waren, und ging dann schweigend weiter. Er hatte kein Wort gesprochen, seine kleine nervöse Gestalt verschwand, bevor das Mädchen ihm noch hatte danken können.

Und jetzt endlich ist alles still; die Gangspille unten am Hafen schweigen, die Stadt ist zur Ruhe gegangen. Irgendwo aus weiter Ferne hört man noch den dumpfen Schritt eines einzelnen Menschen, man weiß nicht, wo; die Gasflammen flackern unruhig in den Laternen; zwei Konstabler stehen und schwatzen miteinander, dann und wann schlagen sie die Stiefel aneinander, weil ihnen die Füße kalt werden.

So geht es die ganze Nacht. Menschliche Tritte hier und dort, und dann und wann ein Konstabler, der die Stiefel aneinander schlägt und friert.

V.

Es war ein großes Zimmer mit blauen Wänden und zwei Schiebefenstern, eine Art Trockenboden, mitten darin ein kleiner Kachelofen mit Röhren, die durch Eisendrähte gehalten wurden, die von der Decke herunterhingen. An die Wände waren eine Menge Skizzen und bemalte Fächer geheftet, ja, sogar Paletten; verschiedene Bilder in Rahmen standen an den Wänden. Ölfarbengeruch und zerbrochene Stühle, Tabakrauch, Pinsel, Tuben, hingeworfene Überröcke der eingetroffenen Gäste, eine alte Gummigalosche mit Nägeln und Eisenkram drin; auf der Staffelei, die in eine Ecke geschoben war, ein großes halbfertiges Porträt von Lars Paulsberg.

So sah es in Mildes Atelier aus.

Als Ole Henriksen gegen neun Uhr eintrat, waren schon alle Gäste versammelt, auch Tidemand und seine Frau; im ganzen waren es zehn, zwölf Leute. Die drei Lampen im Zimmer hatten dichte Schirme über den Kuppeln und gaben nicht viel Licht in allem dem Tabakrauch. Dieses Halbdunkel war sicher Frau Hankas Erfindung. Ein Paar ganz junge, bartlose Herren waren noch dazu gekommen, sehr junge Poeten, Studenten nach dem Abiturium, die erst im letzten Jahre die Bücher in den Schrank gelegt hatten. Beide hatten geschorene Köpfe, die fast nackt aussahen; der eine trug einen kleinen Kompaß an der Uhrkette. Sie waren Öjens Genossen, seine Bewunderer und Jünger; beide machten sie Gedichte.

Außer ihnen war noch ein Herr von den „Nachrichten" da, Journalist Gregersen, der Literat unter den Mitarbeitern des Blattes, ein Mann, der seinen Freunden große Dienste erwies und gar manche Notiz über sie in die Blätter brachte. Paulsberg widmet ihm die größtmögliche Aufmerksamkeit und spricht mit ihm über seine Artikelserie „Neue Literaten", die er bewundernswert findet. Und der Journalist antwortet ihm, froh und stolz über diese Anerkennung. Er hatte die Gewohnheit, Worte zu verdrehen, so daß sie komisch klangen, und niemand war geschickter im Wortverdrehen als er.

„Es ist ziemlich schwierig, eine solche Reihe von Aufsätzen zu schreiben," sagt er, „es gibt so viel Schriftsteller, die man mitnehmen muß, ein wahres Choas."

Er bringt Paulsberg über dieses „Choas" zum Lachen, und im besten Einverständnisse sprechen sie weiter.

Advokat Grande und Frau waren nicht erschienen.

„Dann kommt der Advokat heute abend also nicht?" sagte Frau Hanka Tidemand und erwähnte die Frau nicht.

„Er mault," erwiderte Milde und trank dem Schauspieler Norem zu. „Er wollte nicht mit Norem zusammenkommen."

Man geniert sich nicht, es wird durcheinander geredet, getrunken und tüchtig gelärmt. O, Mildes Atelier war doch ein prächtiges Lokal; gleich beim Eintreten hatte man das Gefühl, daß man sagen und tun könnte, was man wolle.

Frau Hanka sitzt auf dem Sofa, Öjen ihr zur Seite. Ihr gegenüber auf der andern Seite des Tisches sitzt Irgens, das Licht der Lampe fällt auf seine flache Brust. Frau Hanka sieht ihn kaum an.

Sie hat ihr Samtkleid an, ihre Augen sind grünlich, die Oberlippe ist etwas kurz, man sieht ihre Zähne, sieht, wie weiß sie sind. Das Gesicht ist frisch und weiß, die hübsche Stirn wird nicht durch Haar verdeckt; sie trägt es, reizend, wie eine Nonne. Ein paar Ringe funkeln an ihren Händen, die sie auf die Brust legt. Sie atmet tief und sagt über den Tisch hinüber:

„Irgens, wie heiß es hier ist!"

Irgens erhebt sich und geht an ein Fenster, das er öffnen will. Aber jetzt protestiert eine Stimme, Frau Paulsberg. Nein, keine offenen Fenster, um Gottes willen, das könne sie nicht vertragen. Nur vom Sofa fortgehen; weiter drüben im Zimmer sei es kühler.

Und Frau Hanka erhebt sich vom Sofa. Sie hat langsame Bewegungen; wenn sie steht, sieht sie aus wie ein junges Mädchen mit kecken Schultern. Sie blickt im Vorbeigehn in den großen geborstenen Spiegel; sie riecht auch nicht nach Parfüm; ruhig nimmt sie ihren Mann unter den Arm und geht mit ihm auf und ab, während man drüben an den Tischen trinkt und plaudert.

Tidemand spricht, er erzählt lebhaft, ein wenig forciert von einer Ladung Korn, von einem gewissen Fürst in Riga, von einer Zollerhöhung. Plötzlich beugt er sich ein wenig zu seiner Frau hinüber und sagt:

„Ja, heute bin ich wirklich vergnügt. Aber verzeih, Liebste, das interessiert dich nicht … Hast du Ida gesehen, bevor du fortgingst? War sie nicht niedlich in ihrem weißen Kleidchen? Wenn nun der Frühling kommt, werden wir sie im Wagen schieben."

„Ach ja, denk nur, draußen auf dem Lande! Ich sehne mich jetzt schon danach," sagte Frau Hanka ebenfalls ganz lebhaft. „Du mußt jetzt den Garten und die Wiesen und die Bäume putzen lassen. Nein, es wird zu schön sein!"

Und Tidemand, der nicht weniger sehnsüchtig auf den Frühling wartet als sie, hat bereits Ordre gegeben, den Landsitz herzurichten, obgleich es noch nicht April ist. Er ist entzückt über die Freude seiner Frau und drückt ihren Arm an sich; seine dunkeln Augen leuchten auf.

„Ich bin heute wirklich froh, Hanka. Jetzt wird noch alles gut werden."

„Ja … übrigens, was wird gut werden?"

„Nein, nein, nichts," erwiderte der Mann rasch. Er sah zu Boden und fuhr fort: „Das Geschäftsleben blüht wieder auf, ich habe Fürst Ordre gegeben, zu kaufen."

Dummkopf, der er war! Jetzt hatte er zum zweitenmal einen Verstoß begangen und seine Frau mit diesen Geschäften gelangweilt. Aber Frau Hanka hatte geduldige Nachsicht mit ihm: niemand hätte netter als sie antworten können:

„Na, das ist ja recht schön."

Nach diesen milden Worten wurde er noch mutiger; er ist von Dankbarkeit erfüllt und will sie nach bestem Vermögen zeigen; er lächelt mit feuchten Augen und sagt in gedämpftem Ton:

„Ich möchte dir aus dieser Veranlassung gern etwas schenken, wenn du willst. Eine Art Andenken. Wenn es etwas sein könnte, das dir besonders lieb wäre, so …?"

Frau Hanka blickte zu ihm auf.

„Ach nein, was ficht dich eigentlich an, mein Freund? Ja, du kannst mir übrigens ein paar hundert Kronen schenken. Dank, besten Dank."

Dann gewahrt sie die alte Gummigalosche voll Nägeln und Eisenkram und macht sich neugierig darüber her. „Nein, was ist das?" ruft sie. Sie läßt den Arm ihres Mannes los und trägt die Galosche vorsichtig an den Tisch. „Was ist das, Milde?" Sie rührt mit ihren weißen Fingern in dem Eisenkram herum, ruft Irgens, findet einen seltsamen Gegenstand nach dem andern, den sie in die Höhe hält und über den sie eine neue Frage tut.

„So soll mir doch irgend jemand sagen, was in aller Welt ist dies?"

Sie hat den Griff eines Regenschirms gefunden, den sie sofort wieder beiseite wirft; dann eine Haarlocke, die in ein Stück Papier gewickelt ist. „Nein, hier sind auch Haare; kommt nur her und seht euch's an."

Milde selbst kam dazu.

„Lassen Sie die Haarlocke liegen!" sagte er und nahm die Zigarre aus dem Munde. „Wie mag die nur dorthin geraten sein? Hat man je was ähnliches gehört! Das Haar meiner letzten Liebe, wenn ich so sagen darf."

Dies genügte, um die ganze Gesellschaft zum Lachen zu bringen. Der Journalist rief:

„Aber haben Sie denn schon Mildes Korsettsammlung gesehen? Her mit den Korsetten, Milde!"

Und Milde sagte nicht nein; er ging in eins der Nebenzimmer und holte sein Päckchen. Da waren weiße und braune Korsette, die weißen ein wenig grau; Frau Paulsberg fragte verwundert:

„Aber … die sind ja doch schon getragen?"

Allerdings seien sie schon getragen, he, he, sonst würde Milde sie wohl nicht sammeln. Welchen Affektationswert hätten sie sonst wohl? Und der Journalist lachte herzlich vor Freude, daß er auch dies Wort hatte verdrehen können.

Der dicke Milde aber rollte seine Korsette wieder zusammen und sagte:

„Das ist nun so meine Spezialität … Übrigens, was zum Satan steht ihr da und glotzt mich an? Das sind meine eigenen Korsette; ja; ich selbst habe sie getragen; begreift ihr das nicht? Ich brauchte sie, als ich anfing, dick zu werden; ich schnürte mich und glaubte, das würde helfen. Aber es half nichts."

Paulsberg schüttelte den Kopf und stieß mit dem Schauspieler Norem an.

„Prosit, Norem. Was ist das für ein Unsinn, daß Grande nicht mit dir zusammenkommen will?"

„Ja, das mag Gott wissen," erwiderte Norem schon halb betrunken. „Hast du schon mal sowas Verrücktes gehört? Ich habe ihn nicht im Traume beleidigt."

„Nein, er fängt seit einiger Zeit an, sich ein bischen wichtig zu machen."

Jetzt rief Norem entzückt:

„Na, da hört ihr's, Paulsberg sagt ebenfalls, daß Grande jetzt anfängt, sich ziemlich wichtig zu machen. Da hört ihr's jetzt!"

Darüber waren alle einig. Paulsberg sagte außerordentlich selten so viel; klug und unergründlich saß er da und horchte auf das Gespräch, ohne sich hineinzumischen; er besaß den Respekt aller. Nur Irgens meinte, ihm die Stirn bieten zu können; immer mußte er mit seinem Widerspruch kommen.

„Ich verstehe nicht, daß Paulsberg über dergleichen entscheiden kann," sagte er.

Ganz verblüfft sah man ihn an. Paulsberg könne nicht darüber entscheiden? He, he. Also nicht? Wer aber könnte es sonst?

„Irgens," antwortete Paulsberg mit komischem Ernst.

Irgens sah nach ihm hin; sie fixierten einander scharf. Frau Hanka trat dazwischen, setzte sich direkt zwischen sie auf einen Stuhl und begann mit Öjen zu reden.

„Hört doch," rief sie gleich darauf, „Öjen will uns seine letzten Sachen vorlesen, ein paar Gedichte in Prosa."

Nun setzte man sich zurecht und schickte sich an, zuzuhören.

Öjen hatte seine Gedichte in Prosa mitgebracht; er zog sie aus der Tasche, und seine Hände zitterten.

„Ich muß jedoch um Nachsicht bitten," sagte er.

Da aber lachten die beiden jungen Studenten, die Poeten mit den kurzgeschorenen Köpfen; und der mit dem Kompaß an der Uhrkette sagte bewundernd:

„Ja, wenn man mit Ihnen Nachsicht haben soll! Was soll man denn da von uns sagen?"

„Scht! Ruhe!"

„Dies hier heißt ›Zum Tode verurteilt‹," sagt Öjen und beginnt:

„Ich habe oft gedacht, wenn mein geheimstes Verbrechen bekannt würde …"

Still!

Ja, still!

Aber dann würde ich zum Tode verurteilt.

Und ich würde im Gefängnis sitzen und wissen, daß ich im Augenblick, der Entscheidung so ruhig, so überlegen wäre.

Ich würde die Stufen zum Schafott hinansteigen, lächeln und alle demütig um die Erlaubnis bitten, ein Wort reden zu dürfen.

Und dann würde ich reden. Ich würde alle bitten, gute Lehren aus meinem Tode zu ziehen. Eine Rede aus meinem Herzen, und Flammen würden daraus emporlodern, wenn ich zum Schluß lebewohl sagte …

Jetzt ist mein geheimstes Verbrechen bekannt.

Ja!

Und ich wurde zum Tode verurteilt. Und ich habe solange im Gefängnis gesessen, daß meine Kraft gebrochen ist.

Ich steige die Stufen zum Schafott hinauf; aber die Sonne scheint heute, und mir treten Tränen in die Augen. Denn ich war so lange im Gefängnis, daß ich schwach geworden bin. Und außerdem scheint die Sonne herunter; ich habe sie seit neun Monaten nicht gesehen, und seit neun Monaten habe ich die Vögel nicht singen hören; erst heute wieder.

Ich lächle, um zu verbergen, daß ich weine, und bitte die Wächter um die Erlaubnis, ein Wort reden zu dürfen.

Aber ich darf nicht.

Und ich will trotzdem reden, nicht um meinen Mut zu zeigen, aber ich möchte doch wenige Worte aus dem Herzen reden, ehe ich sterbe, so daß ich nicht stumm sterbe; unschuldige Worte, die keiner Seele schaden können; ein paar Worte in größter Hast, ehe man herspringt und mir den Mund zuhält: Freunde, seht, wie Gottes Sonne leuchtet

Und ich beginne auch, aber ich kann nicht sprechen.

Habe ich Furcht? Verläßt mich der Mut? Ach nein, ich habe keine Furcht. Aber schwach bin ich, und ich kann nicht reden, weil ich Gottes Sonne und seine Bäume jetzt zum letztenmal sehen soll …

Was nun? Ein Reiter mit einer weißen Fahne?

Still, mein Herz, bebe nicht!