Redakteur Lynge - Knut Hamsun - E-Book

Redakteur Lynge E-Book

Knut Hamsun

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Beschreibung

In der bittere Satire auf einen bestimmten –– nicht ausschließlich norwegischen Journalistentypus präsentiert uns Hamsun "einen geistigen Geck mit Begabung, der bereits in den grundlegenden Jahren verdorben worden und nun zum Kellner einer Stadt, eines Boulevardpublikums herabgesunken war", einen klugen Bauernjungen, der sich als Student durch hundert Demütigungen nach oben arbeiten musste und dabei den äußeren Erfolg über die Integrität seiner Persönlichkeit stellen lernte –– und doch sein inneres Unterlegensein als einen Stachel fühlt, der ihn zu immer unbedenklicherem Ringen um den äußeren Sieg antreibt. Diesen Typus einer schiffbrüchigen Natur stützt jene unheilvolle Pseudomacht der Presse: die Macht, die auf der Sensationsgier, dem Schlagwortbedürfnis des Publikums beruht. Der Skeptizismus Hamsuns lässt Redakteur Lynge über alle Mitspieler in seinem Drama siegen –– er behauptet sich auch bei sinkender Kraft eben durch seine Unbedenklichkeit. Und er findet Nachfolger: ebenso geistig unsolide, skrupellose, robuste Leute, die Schneid für Idealismus und große Worte für feste Grundsätze nehmen. Er ist unsterblich. Und über die Gewissenhaften, Reinlichen, die Menschen, denen das Bewusstsein jedes –– auch eines kleinen Makels –– das Selbstvertrauen und die Sicherheit untergräbt, geht die Macht "Redakteur Lynge" hinweg.

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Redakteur Lynge

 

KNUT HAMSUN

 

 

 

 

 

 

 

 

Redakteur Lynge, Knut Hamsun

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN:9783988682895

 

Quelle: https://www.google.de/books/edition/Redakteur_Lynge/2PVs4bCBZTwC?hl=de&gbpv=1&dq=redakteur+lynge+hamsun&printsec=frontcover

 

Übersetzer: Marie von Borchr

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT

 

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

 

 

Erstes Kapitel

 

Was doch alles auf der Welt passieren kann … Zwei Herren treten aus einem Hause auf Haegdehangen. Der eine ist der Sohn des Hauses, Kandidat Ihlen, im grauen Sommeranzug mit Zylinderhut und Stock, der andere ist sein Freund und Genosse vom Gymnasium her, der Radikale Endre Bondesen. Sie bleiben einen Augenblick stehen und sehen zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf, wo ein junges Mädchen mit rötlichem Haar steht und hinunternickt; darauf nicken auch die Herren, grüßen und gehen. Ihlen ruft einmal zu seiner Schwester hinauf:

„Leb wohl, Charlotte!"

Bondesen trägt einen schwarzen, eng anschließenden Cheviotanzug, eine seidene Mütze auf dem Kopf und ein wollenes Hemd mit Schnüren. Man sah ihm sofort den Sportmann an. Er trug auch keinen Stock.

„Du hast doch das Manuskript?" sagt er.

Und Ihlen antwortet, er habe das Manuskript.

„Nein, bei solchem Wetter mit diesem hohen Himmel, – was! Und wie ist es nun erst oben auf St. Hanshaugen, auf dem Lande, mit noch höherem Himmel und Rauschen in den Bäumen. Wenn ich alt bin, werde ich Landmann!"

Endre Bondesen studierte Jura. Er war fünf- oder sechsundzwanzig Jahr alt, hatte einen hübschen Schnurrbart und dünnes, zierlich gelegtes Haar unter der Mütze. Seine Gesichtsfarbe war bleich, beinahe durchsichtig, aber sein wiegender Gang und die schlenkernden Arme deuteten an, wie keck er war; war er auch nicht stark, so war er doch geschmeidig und zähe, übrigens studierte er nicht mehr, er bummelte umher, fuhr Rad und war radikal. Er hatte die Mittel dazu; jeden Monat bekam er Geld von zu Hause, vom Gutsbesitzer im Bergenschen, der durchaus nicht genau auf den Schilling sah. Endre bummelte nicht stark, aber dennoch brauchte er sein Geld zu diesem und jenem, und oft erzählte er selbst, wie er zu Werke ging, um den Vater dazu zu bringen, daß er ein bißchen mehr als das festgesetzte Monatsgeld schickte. So hatte er einmal nach Hause geschrieben, er wolle jetzt anfangen, römisches Recht zu studieren, und römisches Recht könne man nur in Rom studieren, weshalb er hoffe, die kleine Summe zu erhalten, die er sich jetzt zur Reise erbitte. Und der Gutsbesitzer schickte das Geld.

Ihlen war in Bondesens Alter, war aber noch etwas schmächtiger, er war auch etwas größer, ohne Bart, mit langen, weißen Händen und schmalen Füßen. Seine Stirn zuckte dann und wann über der Nasenwurzel.

Weiter unten auf der Straße grüßten sie einen Bekannten, und Bondesen sagte:

„Der sollte nur wissen, was wir vorhaben!"

Bondesen war in ausgezeichneter Laune. War es ihm doch endlich geglückt, seinen Freund, den Aristokraten, zu bekehren; drei Jahre hatte er daran gearbeitet. Es war ein stolzer Tag für ihn, und zu dessen Ehren hatte er eigens eine Radtour nach Ejdsvold aufgegeben. Charlotte hatte ihm ebenfalls gerade ins Gesicht gesehen, als er den Bruder zum zwanzigstenmal durch seine besten Gründe überzeugte. Wer weiß, vielleicht hatte er auch sie ein wenig gerührt!

„Hör mal, du hast doch wohl das Manuskript?" sagt er wieder, „du hast es doch wohl nicht auf dem Tisch liegen lassen?"

Und Ihlen schlägt sich auf die Brusttasche und sagt wieder, er habe das Manuskript.

„Es wäre ja übrigens auch kein Unglück, wenn ich es auf dem Tische hätte liegen lassen," sagt er. „Und außerdem ist es wenig wahrscheinlich, daß er es nimmt."

„Er nimmt es, er nimmt es!" erwidert Bondesen. „Lynge nimmt es sofort. Du kennst Redakteur Lynge nicht. Es gibt hier zu Lande nicht viele Menschen, die ich in so hohem Grade bewundere wie ihn; als ich noch ein Junge und zu Hause war, hat er mich sehr viel gelehrt, und mir wird heiß vor Dankbarkeit, wenn ich ihn nur auf der Straße sehe. Du, das ist ein wunderliches Gefühl. Hast du je was Ähnliches von Kraft gesehen? Drei, vier Reihen in seinem Blatte sagen ebensoviel wie eine Spalte in anderen Blättern. Er haut ordentlich zu, ja, allerdings; aber so muß man ihnen kommen. Hast du die kleinwinzige Notiz ans Ministerium in der letzten Nummer gelesen? Die sechs ersten Reihen so mild, so friedlich, nichts Böses im Sinn, und dann die siebente, eine einzige Reihe, ein Peitschenhieb, der den Schluß bildete und einen hübschen, blutigen Striemen hinterließ. Ja, ja, er versteht's … Wenn du zu ihm kommst, dann sag' so und so, du hast schon mehr als dies geschrieben; einiges hast du ins Ausland geschickt, und mehr noch hast du im Kopf. Dann legst du das Manuskript vor … Wenn ich nur auch etwas hätte, was ich ihm hinauftragen könnte. Sollte ich aber mal was haben, ich meine später mal, vielleicht im nächsten Jahr, so mußt du mir den Dienst erweisen, es ihm mitzunehmen. Doch, – das mußt du, ich komme nicht dazu, verstehe mich nicht darauf, das weiß ich; denn er hat starken Einfluß auf mich gehabt."

„Du sprichst, als ob ich schon eine feste Anstellung bei den ›Nachrichten‹ hätte!"

„Es ist ein großer Unterschied zwischen dir und mir: du kannst mit einem alten, bekannten Namen antreten; denn nicht ein jeder heißt Ihlen; überdies schreibst du ja wissenschaftliche Abhandlungen."

„Wie du rennst," ruft Ihlen. „Ich kann doch nicht klatschnaß zu ihm kommen."

„Nein, du hast recht. Du mußt ruhig bei ihm eintreten. Ich warte vor der Tür, bis du wiederkommst … Der Bär, der Höjbro sagte, er lese die Nachrichten nicht mehr. Na, das entspricht also der Bildung des Mannes, er liest natürlich gar nichts …"

„O doch, er liest sehr viel," erwidert Ihlen.

„So? Höjbro liest viel? Wenn man aber mit fortschreiten und ein moderner Mensch sein will, so muß man meiner Ansicht nach die Nachrichten lesen. Höjbro lachte mich aus, als ich sagte, die Nachrichten seien radikal. Das war die reine Wichtigtuerei. Ich bin radikal, und ich behaupte, die Nachrichten sind es auch. Aber sie machten Reklame für sich – aufrichtig gesagt: weshalb auch nicht? Haben sie denn nicht Grund, ihre Überlegenheit zu fühlen? Alle äffen ihnen ja nach, und wenn es nur gilt, Überschriften für die Artikel zu erfinden, so können sie ja von den Nachrichten lernen. Nicht wahr? Übrigens mag man sagen, was man will, die Nachrichten sind das einzige Blatt, das nennenswerten Einfluß hat. Lynge hat – ich hätte beinahe gesagt ›buchstäblich‹ – das Ministerium in seine Fauteuils eingesetzt, und er ist auch der Mann dazu, es wieder herunterzusetzen. Gewissermaßen arbeitet er auf diese Weise allerdings seiner eigenen Arbeit entgegen; aber ist das Lynges Schuld? Ist es nicht das Ministerium, das seiner alten Fahne untreu wird? Nieder mit dem Elend. Lynge wird schon dafür sorgen."

„Da du gerade von Überschriften sprichst, fällt mir ein, daß ich meinem Artikel vielleicht noch eine Überschrift geben sollte?"

„Wie heißt er jetzt?"

„Jetzt heißt er nur: Einiges über unsere Beerensorten."

„Ja, gehen wir ins Grand Grand, bekanntes Café-Restaurant in Kristiania.und denken wir über eine zweite Überschrift nach."

Als die Herren aber ins Grand kamen und jeder ein Seidel getrunken hatte, änderte Bondesen seine Ansicht. Dies „Einiges über unsere Beerensorten" sei kein Titel für die Nachrichten, er nahm sich nicht gut aus, für eine Reihe war er auch zu lang. Aber es sei ein bescheidener Titel für eine Debütarbeit, die man auf den Tisch eines großen Redakteurs niederlege. Sie wollten es Lynge selbst überlassen, die Überschrift zu machen; er hatte nicht seinesgleichen, was das Erfinden von pikanten Überschriften betraf. „Einiges über unsere Beerensorten" war vorläufig gut, kein Wort mehr.

Und die Herren traten wieder auf die Straße.

Als sie dem Lokal der Nachrichten näher kamen, verlangsamten sie ihre Schritte unwillkürlich. Bondesen sah ganz beklommen aus. Der Name des Blattes war über der Tür angebracht, quer über die Fassade des Hauses, auf den Fenstervorsetzern, an den Türschildern, überall, wo er sich anbringen ließ. Aus der Druckerei klang das Lärmen der Walzen und Räder.

„Siehst du," sagte Bondesen, „hier sind große Verhältnisse!" Und selbst inmitten all dieses Lärms sprach er gedämpft.

„Ja, Gott weiß, wie es jetzt gehen wird!" sagte Ihlen und lächelte. „Aber er kann ja nicht mehr sagen als ›Nein‹."

„Geh nur hinauf und tu, wie ich dir gesagt habe," ermunterte der Freund. „Du hast einer ausländischen Zeitschrift was eingeschickt, und mehr noch hast du im Kopf. ›Darf ich bitten, hier bringe ich etwas über Beeren, über unsere Beerensorten …‹ Ich warte hier auf dich."

 

Ihlen kam in das Vorzimmer des Redakteurs. Hier saßen zwei Herren und schrieben und schnitten mit der Schere, und ihm war, als seien mindestens fünf Scheren in Tätigkeit – so groß waren die Verhältnisse. Er fragte nach dem Redakteur, und mit einer Handbewegung deutete einer der schreibenden Herren nach des Redakteurs Privattür, die er öffnete.

Es waren mehrere Leute anwesend, sogar ein paar Damen; mitten im Zimmer an einem Tische an der Wand saß der Redakteur selbst, Alexander Lynge, der große Journalist, den die ganze Stadt kannte. Er ist ein Mann von vierzig Jahren, mit markierten, lebhaften Zügen und munteren Knabenaugen. Sein helles Haar ist kurz geschoren, und sein Bart ist fürsorglich gestutzt; sowohl sein Anzug wie seine Stiefel sind neu. Im ganzen sieht er liebenswürdig und gewinnend aus. Die beiden Damen lächeln über etwas, das er gesagt hat, und inzwischen öffnet er selbst die Telegramme, die er mit vielfach unterstrichenen Überschriften versieht; wenn er sich über den Tisch beugt, wird sein Doppelkinn sichtbar, und seine Weste schlägt kleine Fettfalten über dem Bauch.

Er nickt Ihlen zu, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen, und inzwischen spricht er nach rechts und links.

Ihlen sieht sich um. An den Wänden hängen Bilder und Ausschnitte, Zeitungen und Zeitschriften liegen überall, auf Tischen, auf Stühlen, in den Fenstern, auf dem Fußboden; Handbücher und lexikale Werke liegen holterdipolter auf einem Bücherbrett über dem Kopf des Redakteurs, und auf seinem Schreibtisch schwimmen Papiere und Manuskripte herum, so daß er kaum die Arme rühren kann. Jeder Winkel des Zimmers ist von der Tätigkeit des Mannes erfüllt. Diese Menge von Gedrucktem, diese Unordnung überall, dieser tiefe Sumpf von Blättern und Büchern machte den Eindruck von starker und unaufhörlicher Arbeit. Nirgends war Ruhe, das Telephon klingelte unaufhörlich, Leute kamen und gingen, die Maschinen aus der Druckerei tönten herein, und der Postbote brachte neue Haufen von Briefen und Zeitungen. Es war, als sei dieser Chef eines Blattes nahe daran, in einem Meer von Arbeit und Schwierigkeiten begraben zu werden, als ströme ein kleines Weltall auf ihn ein und warte auf seine Entscheidungen in allen Dingen.

Und mitten in dieser Emsigkeit sitzt er selbst mit überlegener Ruhe und hält die Fäden, schreibt Überschriften, nimmt wichtige Mitteilungen entgegen, macht Notizen auf losen Blättern, konversiert mit den Wartenden, öffnet dann und wann die Tür, um eine Frage an seine Untergebenen in dem äußeren Bureau zu tun, oder ihnen Befehle zu erteilen. Dies alles ist wie ein Spiel für ihn, er sagt sogar hin und wieder eine Drolligkeit, die die Damen zum Lachen bringt. Eine arme Frau tritt ein, Lynge kennt sie und weiß ihr Anliegen, sie ist offenbar daran gewöhnt, an gewissen Tagen zu ihm zu kommen; er gibt ihr eine Krone über den Tisch, nickt und schreibt weiter. Er hat sein Garn überall ausgelegt, und über aller Haupt blitzt das Schwert der Nachrichten; ein Redakteur ist eine Staatsmacht, und Lynges Macht ist größer als die eines anderen. Er sieht auf die Uhr, steht auf und ruft dem Sekretär zu:

„Hat das Ministerium uns noch keine Erklärung geschickt?"

„Nein."

Und Lynge setzt sich ruhig wieder hin. Er weiß, daß das Ministerium sich bequemen muß, ihm die Erklärung zu geben, die er verlangt hat, sonst versetzt er ihm einen Stoß, vielleicht den Gnadenstoß.

„Gott, wie hart Sie gegen die armen Minister sind!" sagt eine der Damen; „Sie morden sie ja."

Aber Lynge entgegnet ernst und warm:

„So ergeht es jeder Verräterseele in Norwegen!"

Zu seiner Linken, nach dem Fenster zu, sitzt eine für den Redakteur der Nachrichten sehr wichtige Persönlichkeit, ein magerer, grauhaariger Herr mit Brille und Perücke; das ist Herr Ole Brede. Dieser Mann, ein Journalist ohne Anstellung, der nie etwas schreibt, ist Lynges Freund und unzertrennlicher Begleiter; böse Zungen haben ihm den Beinamen Leporello gegeben, weil er stets an Lynges Seite ist. Er hat nichts bei dem Blatte zu tun, er hat keine andere Beschäftigung als die, auf einem Stuhle zu sitzen und einen Platz einzunehmen. Er spricht nicht, ohne gefragt zu werden, und selbst dann sucht er nach den armseligsten Worten. Der Mann ist eine prächtige Mischung von Dummheit und Gutmütigkeit, ein Mann, der kaltblütig aus Faulheit und liebenswürdig aus Not ist. Der Redakteur foppt ihn, indem er ihn Dichter nennt, und Leporello lächelt hierzu, als ob es gar nicht ihn beträfe. Als die beiden Damen aufstehen und gehen, steht der Redakteur ebenfalls auf, Leporello aber bleibt sitzen.

„Leben Sie wohl," sagt der Redakteur und verneigt sich lächelnd. „Vergessen Sie Ihr Paket nicht, Fräulein. Leben Sie wohl."

Endlich wendet er sich zu Ihlen.

„Wünschen Sie etwas?"

Und Ihlen tritt vor.

„Ich habe einen Artikel über unsere Beerensorten, über den ich hören wollte, ob Sie ihn brauchen können."

„Über unsere …?"

„Beerensorten."

Der Redakteur nimmt das Manuskript in die Hand und sagt, indem er es ansieht:

„Haben Sie früher schon etwas geschrieben?"

„Ich habe eine kleine Abhandlung über Pilze an die Letterstedtsche Zeitschrift geschickt, und verschiedene Arbeiten habe ich noch im Kopf. Aber …"

Ihlen hält inne.

„Pilze und Beeren sind ja wenig aktuelle Fragen," sagt nun der Redakteur.

„Ja," entgegnet Ihlen.

„Ihr Name?"

„Ihlen, Kandidat Ihlen."

Der Redakteur stutzt ein wenig bei diesem alten konservativen Namen. Nun kam gar schon ein Ihlen zu den Nachrichten! Und er hatte die angenehme Empfindung, daß seine Macht anfing, Dimensionen anzunehmen. Er warf einen Blick auf den jungen Mann: er war gut gekleidet, und es schien ihm nicht sehr schlecht zu gehen, aber Gott mag wissen, vielleicht waren die Verhältnisse zu Hause ziemlich knapp, und er hatte dies nur geschrieben, um sich ein paar Schillinge zu verschaffen. Aber weshalb ging er nicht zu den konservativen Blättern? Wann hatte man je zuvor gehört, daß ein Ihlen zu den Nachrichten gekommen sei? Wie dem auch sei – Beeren waren ja ein neutraler Gegenstand, der jedenfalls nichts mit konservativer Politik zu schaffen hatte.

„Sie können den Artikel ja hierlassen, ich werde ihn durchsehen," sagt er und greift wieder zu anderen Papieren.

Ihlen begreift, daß seine Audienz zu Ende ist, und sagt Adieu.

Als er an die Haustür kam und Bondesen erzählte, wie sein Geschäft abgelaufen, verlangte dieser, das ganze Gespräch wiederzugeben, den Wortlaut; er wollte wissen, wie es da oben aussah, wieviel Leute dort gewesen, was Lynge zu jedem einzelnen gesagt.

„Verräterseelen –, was? Ist das nicht das wahre Wort?" fragte er begeistert. „Verräterseelen, großartig, das notiere ich mir … Na, aber da siehst du nun, er nimmt es also; das bedeutet, daß er es nimmt. Weshalb glaubst du sonst, daß er es dabehalten hätte?"

Und die beiden Freunde gingen in bester Stimmung heimwärts. Unterwegs aber trafen sie ein paar Bekannte, und Bondesen beschloß aus dieser Veranlassung, sie im Grand zu traktieren.

 

 

Zweites Kapitel

 

Die Witwe Ihlen hatte ein kleines Haus am Haegdehangen. Sie lebte mit ihrem Sohn und ihren beiden Töchtern von dem Gelde, das sie auf verschiedene Weise verdiente, meist durch feine Handarbeiten; überdies hatte sie noch ihre kleine Pension. Frau Ihlen war eine geschickte und sparsame Frau, die mit ihren Mitteln auszukommen verstand, selbst wenn sie gering waren, und vom Morgen bis zum Abend war sie froh und zufrieden. Hatte sie nicht beim letzten Umzugstermin das Glück gehabt, einen festen Mieter für ihr Eckzimmer zu bekommen, ein Mann, der genau auf die Stunde bar bezahlte und außerdem sehr angenehm war! Gott sei Dank, jetzt war die ärgste Sorge vorüber! Im Anfang, als die Kinder klein waren und der Sohn sein Studium hatte, war es oft mühsam gewesen, sich durchzuschlagen, jetzt war das aber vorüber, Fredrik war Kandidat geworden und die beiden Töchter konfirmiert.

Witwe Ihlen ging hastig aus und ein, ordnete, wischte Staub, kochte und verwandte jeden freien Augenblick, um ein paar Stiche an einer Stickerei zu machen. Heute war auch eine ungewohnte Ruhelosigkeit über sie gekommen; sie wußte, daß Friedrich den ersten Versuch nach seinem Examen machte, Geld zu verdienen, und nun kam es darauf an, wie es ihm erging. Wenn Friedrich erst allein für sich sorgen konnte, war das ganze Haus obenauf; sie konnte sich's nicht verhehlen, daß in ihrer Wohnung alles anfing, einen gewissermaßen ausgehöhlten Wohlstand zu verraten; neue Stickereien auf altem Holzwerk, und gesprungene und ramponierte Ofen und Betten. Aber das würde mit der Zeit wohl besser werden.

Übrigens blieb Fredrik merkwürdig lange fort. Gegen elf war er mit Bondesen fortgegangen, aber noch war er nicht zurückgekommen, und das Essen stand auf dem Herd und verbriet. Es war sechs Uhr; der Zimmerherr war schon zu ihnen ins Zimmer gekommen und plauderte wie gewöhnlich mit den Töchtern. Ja, er war wirklich ein bequemer Zimmerherr, dieser Herr Höjbro. Er war den ganzen Tag in eigenen Geschäften aus dem Hause; vormittags tat er seine Arbeit in der Bank, besuchte die Bibliotheken, ging seine eigenen Wege, und wenn er abends nach Hause kam, setzte er sich oft mit einem Buch oder einigen Papieren, die er durchstudierte, zu der Familie ins Zimmer. Frau Ihlen hatte ihn selbst um seinen Besuch gebeten, und damit hatte sie ihre Absichten gehabt; denn wenn Herr Höjbro bei ihnen war, sparte sie unterdessen Licht und Heizung, und dann war es auch eine Annehmlichkeit für die Mädchen, die er manches lehrte. Außerdem noch die Sache mit dem Rad, das er Charlotte verehrt hatte. Ja, sie konnte wirklich keinen besseren Zimmerherrn bekommen, und sie wollte alles tun, um ihn zu behalten.

Die Töchter saßen jede bei ihrer Arbeit und waren fleißig. Charlotte war groß und üppig, mit rötlichem Haar und voller Büste; ihr Teint war ganz merkwürdig klar, mit winzigen roten Fleckchen und anmutiger, samtartiger Weichheit. Sie hatte bereits einen Namen in Sportskreisen, durch ihre Bekanntschaft mit Endre Bondesen und ihr eigenes schönes Radfahren. Schwester Sofie war um zwei Jahre älter, war aber minder entwickelt und schielte ganz unbedeutend. Von dieser jungen Dame wußte übrigens die ganze Stadt eine Geschichte.

An einem dunklen Abend war ein Herr vor dem Skulpturenmuseum auf und ab gegangen mit dem festen Entschluß, eine Dame nach Hause zu begleiten; der Herr war Ole Brede, Leporello, aber er hatte den Rockkragen aufgeschlagen, so daß keiner ihn kannte. Er begegnet auch einer Dame und grüßt, und die Dame dankt.

Ob er sie begleiten dürfe?

Ja, das dürfe er.

Und die Dame führt den Mann durch Gassen und Gäßchen, zu einer Freundin, die gerade Gäste hatte.

Hier wohne sie, sagte die Dame, nun gelte es, vorsichtig nach oben zu kommen.

Und der Mann zieht die Stiefel aus und geht auf den Zehen die Treppen hinauf.

Im dritten Stock halten sie an, die Entreetür ist offen, und sie treten ein.

Plötzlich öffnet die Dame die Zimmertür, reißt sie weit auf und stößt den Herrn vor sich hinein. Das Zimmer ist hell erleuchtet und voller Gäste.

Und die Dame zeigt auf den armen Mann, der mit den Stiefeln in der Hand dasteht und verwirrt die Gesellschaft ansieht. Sie sagt:

„Dieser Mann hat mich auf der Straße angesprochen."

Das war genug; ihre Freundinnen schrien: Gott, hat er dich wirklich auf der Straße angesprochen! Als sie sich aber ein wenig erholt hatten, sahen sie, wen sie vor sich hatten, und eine nach der andern stieß verblüfft Leporellos Namen hervor.

Nun sah der Herr ein, daß er nichts Besseres tun könne als verschwinden, und er verschwand.

Die Dame aber, an die er geraten, war Sofie Ihlen.

Da sah man nun, mit was für Leuten Lynge, dieser freisinnige Redakteur, Umgang hatte! Wie würde er sich aus dieser Affäre ziehen? Natürlich über das Ganze schweigen! –

Tags darauf stand der Vorfall diskret in den Nachrichten unter der Überschrift: Mutige, junge Dame. Es sei ausgezeichnet gehandelt gewesen, sagten die Nachrichten, eine nachahmungswürdige Tat. Möchte sie „unsere jungen Damen zu höheren Zielen anspornen!"

Ja, zu höheren Zielen.

Diese kleine sympathische Notiz übte mit einemmal größere Wirkung in der Ihlenschen Familie als sämtliche freisinnigen Argumente Endre Bondesens zusammen genommen; von diesem Tage an wurde es ihm nicht mehr verboten, die Nachrichten ins Haus zu bringen. Was war dieser Lynge doch für ein Redakteur! Bei diesem charakterfesten Manne galt kein Ansehen der Person, er verleugnete sogar seinen teuren Leporello aufs strengste, wenn es not tat …

Und die beiden Schwestern nähen mit fleißigen Fingern, während die Mutter ab und zu geht, und Herr Höjbro dasitzt und sie beobachtet. Er ist ein Herr von dreißig Jahren, mit beinahe kohlschwarzem Haar und Bart, aber mit blauen Augen, und diese Augen blicken einen eigentümlich und verschleiert an. Dann und wann hebt er in der Zerstreuung bald die eine, bald die andere seiner schweren Schultern. Er sieht imponierend aus und erscheint fremdartig auf Grund seines dunklen Gesichts.

Leo Höjbro war für gewöhnlich sehr still und bescheiden; manchmal sagte er nur das allernotwendigste, worauf er wieder in sein Buch niedersah und an irgend etwas zu denken begann. Wenn er aber zwischendurch einmal in Eifer geriet, flammten seine Rede und sein Blick auf, und er zeigte merkwürdig tiefe Kräfte. Dieser Mann war übrigens seit zwölf Jahren Student und borgte seinen Freunden hie und da eine Krone, wenn es galt. So war er. Seit fünf Monaten wohnte er bei Ihlens.

Die Damen seien stets gleich fleißig, sagte er.

O ja, man mußte sich ja dazuhalten.

Was es denn sei, wenn er fragen dürfe?

Ein Teppich. Hübsch, nicht wahr? Er sollte auf die Ausstellung. Und wenn er fertig, sollte jeder von ihnen ein billiger Wunsch erfüllt werden, das hatte Mama ihnen versprochen. Charlotte wollte ein kurzes, ganz einfaches Sportkleid haben.

„Und Fräulein Sofie?"

„Ein Sparkassenbuch über 10 Kronen," antwortete Sofie.

Dann las Höjbro wieder in seinem Buche.

Ein blaues Sportkleid, beginnt Charlotte wieder, und Höjbro sieht sie an.

Ja, was?

Ach, gar nichts. Sie würde also endlich mal ein neues Kleid anhaben, wenn sie fuhr.

Höjbro murmelt etwas, daß der Sport ungeheuer um sich greife. Es gab also sozusagen bald gar keine andern Menschen, als solche, die auf irgend etwas herumfahren konnten.

So? Ja, das sei dann wohl die Zeit, die Entwicklung. Was denn übrigens Herrn Höjbros Ideal von einem jungen Mädchen sei; ob er das nicht sagen wolle? Eine Dame, die ging, nur ging, trippelte?

Nein, das könnte er nicht so genau sagen. Aber er sei einmal Hauslehrer in einem Hause gewesen, an das er seitdem immer gedacht habe. Auf dem Lande; man hatte dort keine lauwarmen Bäder und Karl Johannstraßenstaub und aufgeputzte Möpse um sich, aber die jungen Damen waren heiß und feurig, voll Kraft und herzlichen Lachens vom Morgen bis zum Abend. Es wäre ihnen vielleicht schlimm ergangen, wenn man sie in gelehrten Gegenständen examiniert hätte; er sei beinahe sicher, daß sie nichts von den fünf Perioden der Erde oder den acht Arten der Moneren gekannt hätten, – aber, Gott im Himmel, wie ihre Pulse schlugen und ihre Augen strahlten! Ja, wie unkundig sie im Kunstsport waren, die Kleinen! Eines Abends erzählt die Mutter ihnen, daß sie einmal einen Ring mit einem Stein gehabt, den sie jetzt verloren habe; sogar ein blauer Stein, Gott weiß, ob er nicht sogar ganz echt gewesen, und der Ring war ein Geschenk. Da sagt Bolette, die älteste der Töchter: Wenn du den Ring jetzt noch hättest, Mutter, so hätte ich ihn wohl bekommen? Ehe die Mutter aber noch antworten konnte, schmiegt Thora sich zärtlich an sie und sagt, dann hätte sie ihn doch wohl bekommen? Und denken Sie nur, da fangen die beiden Schwestern an zu zanken und zu schmollen und entzweien sich förmlich darüber, wer von ihnen den Ring geerbt hätte, wenn er nicht fortgekommen wäre. Und durchaus nicht, weil die eine der andern den Ring nicht gegönnt hätte, sondern weil jede im Herzen der Mutter am höchsten stehen wollte.

„So?" sagt Charlotte erstaunt; „war es so außerordentlich ideal, daß die beiden Schwestern anfingen, sich zu zanken?"

Herrgott, sie hätte es nur selbst sehen sollen! entgegnet Höjbro. Es ließ sich nicht wiedererzählen, so rührend war es. Schließlich sprach da die Mutter zu beiden: Hört, Kinder, seid ihr närrisch? Bolette und Thora zanken sich? – Wir zanken uns? rufen beide und springen auf und umarmen sich. Da lagen sie Brust an Brust, die erwachsenen Kinder, und außerdem begannen sie einen Ringkampf, so daß sie beide auf den Boden rollten. Nein, sie waren nicht erzürnt, sie lachten vor Freude.

Darauf entsteht eine Pause im Gespräch. Sofiens Nadel geht heftig, plötzlich steckt sie sie fest, schleudert ihre Arbeit auf den Tisch und sagt:

„Solche albernen Mädchen vom Lande!"

Darauf ging Sofie hinaus.

Und wieder entsteht eine Pause.

„Sie haben mir übrigens das Rad selbst geschenkt, Höjbro," sagt Charlotte gedankenvoll.

„Ach … habe ich Sie jetzt beleidigt? Wenn Sie kein Rad hätten, würde ich Ihnen wieder eins schenken, wenn Sie es wünschten. Hoffentlich glauben Sie mir. Mit Ihnen ist das eine andere Sache, an Ihnen finde ich natürlich nichts unrecht. Wenn Sie wüßten, wie froh ich bin, wenn ich Sie sowohl fahrend, wie … wie hier im Zimmer sehe! Es ist mir gleichgültig, wo Sie sind."

„Still! Nein, Höjbro!"

Sofie kommt wieder ins Zimmer.

Höjbro starrt in sein Buch. Unruhige Gedanken fuhren ihm im Kopf umher. Hatte er Charlotte denn wirklich gekränkt, sie, die die letzte war, die er kränken wollte! Und er hatte nicht einmal Zeit gehabt, sie um Verzeihung zu bitten. Und beständig tauchte diese Radgeschichte wieder auf, diese unglückselige Radgeschichte, die ihm so viele unruhige Stunden gekostet hatte. Ja, es war wahr, er hatte ihr das Rad verehrt, und er hatte seinen niederträchtigen Streich mit offenen Augen begangen. Als er ihr nämlich in einer fröhlichen Stunde das Rad versprochen und sie damit strahlend glücklich gemacht hatte, mußte er selbstverständlich sein Versprechen halten. Er selbst hatte nicht die Mittel, nicht die ganzen Mittel; wie hätte er auch soviel Geld im Kasten liegen haben sollen? Kurz und gut, er hatte sich das Geld geborgt, hatte es in der Bank bekommen, in der er angestellt war, hatte es auf ein paar gute Namen bekommen, kurzum, auf gefälschte Namen. Aber niemand hatte den Streich entdeckt, niemand hatte ihn gefaßt, die Namen wurden angenommen, das Papier verwahrt und das Geld ausbezahlt. Und später hatte er bezahlt und bezahlt, getreulich jeden Monat, Gott sei Dank, es blieb nur noch wenig mehr als die Hälfte, und er würde auch künftighin ebenso ehrlich bezahlen. Ja, und mit Freude im Herzen wollte er's tun; denn nur einmal hatte er Charlottens Augen vor Freuden strahlen sehen und das war, als sie das Rad bekam. Und niemand, nein, niemand sollte das allergeringste entdecken!

„Daß Fredrik nicht kommt!" sagte Sofie.

„Fredrik hat uns Theaterbillette versprochen, wenn es ihm heute gut geht," erklärte Charlotte.

Höjbro legt den Finger als Lesezeichen zwischen die Blätter und blickt auf.

„So? Also deshalb waren die Damen so ungeduldig? Haha!"

„Nein, nicht deshalb. Pfui, wie können Sie das glauben!"

„Nein, nein, aber deshalb auch. Ja, ja, weshalb sollten Sie auch nicht?"

„Gehen Sie nicht ins Theater?"

„Nein."

„Nicht? Sie gehen nicht ins Theater?" fragt auch Sofie.

„Ach nein, ich gehe nicht."

„Aber weshalb nicht?"

„Oh, hauptsächlich, weil es mich langweilt. Für mich ist das die elendeste Albernheit. Ich bin der kindischen Narretei so müde, daß ich mitten im Parkett aufstehen und vor Widerwillen heulen könnte."

Diesmal ist Sofie nicht beleidigt. Mit einem Manne von so mangelhafter Bildung mußte man Mitleid haben.

„Sie Ärmster!" sagt sie.

„Ja, ja, ich Ärmster!" sagt er und lächelt.

Jetzt klangen endlich Schritte im Entree, und gleich darauf traten Fredrik und Bondesen ein. Sie hatten vielleicht ein paar Gläser getrunken; sie waren aufgeräumt und erfüllten das ganze Zimmer mit ihrer ausgezeichneten Stimmung.

„Gratulieren Sie uns!" rief Bondesen sofort.

„Nein wirklich? Gut abgelaufen?"

„Nein, nein," erwidert Fredrik, „darüber wissen wir noch nichts. Er hat das Manuskript behalten."

„Ich sage Ihnen, meine Damen, das ist dasselbe, als ob er es annimmt. Das ist so der Brauch. Ich sage das, ich, Endre Moohr Bondesen! So!"

Dann kam Frau Ihlen, und Fragen und Antworten schwirrten durcheinander. Nein, danke, sie wollten nichts mehr essen, sie hatten zur Feier des Tages im Grand gespeist; weniger konnten sie doch gar nicht tun. Sie hatten auch eine Flasche mitgebracht, und nun wollten sie einfach darauf trinken.

Und Bondesen holt die Flasche, die draußen in der Tasche seines Überziehers steckt.

Höjbro steht auf und will verschwinden, aber die Frau ruft ihn zurück. Alle wurden lebendig, tranken, stießen an und sprachen lebhaft.

„Was lesen Sie da?" fragte Bondesen. „Wie, Staatsökonomie?"

„Ja, es ist nichts Besonderes," antwortet Höjbro leise.

„Sie lesen wohl viel?"

„Nein, das nicht; ich lese nicht viel, nicht besonders viel."

„Nein, jedenfalls lesen Sie nicht die Nachrichten. Ich begreife gar nicht, wie jemand das Blatt nicht lesen kann. Aber wissen Sie was: die, die am eifrigsten behaupten, daß sie die Nachrichten nicht lesen, lesen sie gerade am meisten, wie ich gehört habe; ja, wenn ich mich nicht irre, habe ich es vom Blatte selbst erfahren. Nein, das gilt nicht von Ihnen, Gott bewahre! Prosit! Nein, Gott bewahre, von Ihnen gilt das nicht. Aber sagen Sie mir mal, was haben Sie eigentlich gegen die Nachrichten?"

„Ich habe eigentlich gar nichts gegen die Nachrichten, mögen sie gelten, für was sie wollen. Ich lese sie nur nicht mehr, ich habe das Interesse für sie verloren; mich dünkt, es ist ein lächerliches Blatt."

„Nun sieh mal einer? Aber nicht wahr, es ist auch nicht das leitende Blatt in der Politik? Es hat auch wohl keinen Einfluß? Es hat sich wohl gedreht und gewunden und auf alle mögliche Weise Schaden angerichtet? Haben Sie je gesehen, daß Lynge um einen Zoll gewichen ist?"

„Nein, das weiß ich nicht."

„Das wissen Sie nicht. Aber man sollte doch eigentlich wissen, über was man spricht. Na, entschuldigen Sie."

Bondesen war in guter Laune und sprach laut und mit lebhaften Gesten; nichts vermochte ihm Einhalt zu tun.

„Sind Sie heute Rad gefahren, Fräulein?" fragte er. „Nein? Aber Sie sind ja auch gestern nicht gefahren. Man muß eifrig dabei sein, mit Ihren prächtigen Anlagen muß man nicht locker lassen. Wissen Sie was: Liebling muß zwei Stunden am Tage spielen, wie ich höre, um in Übung zu bleiben. So geht es auch mit dem Sport, man muß ihn täglich üben. Prosit Ihlen! alter Kamerad! Dir würde es auch gut tun, wenn du aufs Rad kämst, übrigens hast du heute bewiesen, daß du auch zu anderen Dingen taugst. Nun, wollen wir nicht ein Glas auf Fredrik Ihlens Debüt leeren, auf die Erstgeburt seines Geistes? Prosit!"

Er rückte näher zu Charlotte und sprach gedämpft. Sie müsse wirklich hinaus aus dem Hause, sonst würde sie auch noch zur Staatsökonomie übergehen. Und als Charlotte ihm erzählte, daß sie ein neues blaues Kleid bekommen würde, war er entzückt und sagte, er sähe sie wirklich schon im Geiste. Und wenn er doch die Ehre haben könnte, sie an jenem Tage zu begleiten! Er bat sie darum, und sie versprach es. Zuletzt sprachen sie beinahe leise, während die übrigen im ganzen Zimmer plauderten.

Es wurde elf Uhr, ehe Bondesen sich erhob, um nach Hause zu gehen. Noch in der Tür drehte er sich um und sagte:

„Du mußt ein Auge auf deine Abhandlung haben, Ihlen. Du kannst sie ebensogut schon morgen wie irgendeinen anderen Tag finden; vielleicht ist sie schon in die Druckerei gewandert."

 

 

Drittes Kapitel

 

Aber der kleine Artikel über die Beerensorten kam nicht den nächsten Tag, kam auch nicht an den folgenden. Woche auf Woche verging, ohne daß etwas dafür geschah; natürlich lag er unter den übrigen toten Papiermassen auf dem Tisch des Redakteurs begraben.

Lynge mußte auch noch andere Dinge im Kopf haben als Beerensorten. Neben den zwei, drei rasenden Leitartikeln gegen das Ministerium, die die Nachrichten täglich enthielten, sollten sie auch die ersten sein, die Neuigkeiten aller Art brachten, sollten moralische Ordnung in der Stadt halten, sollten an jeder Ecke Wache halten, damit nichts in Dunkel und Finsternis vor sich ging. Die Hilfe, die das alte freisinnige Blatt ›Der Norweger‹ leisten konnte, war äußerst bescheiden, der arme Konkurrent hatte wenig oder gar keinen Einfluß und verdiente allerdings auch keinen größeren, so mäßig, wie er geschrieben war. Die Bedeutungslosigkeit des Norwegers ersah man am besten aus seinen Angriffen: kein Hieb, keine Striemen, keine donnernden Worte; mit großer Besonnenheit sagte er sein bißchen Meinung über Dinge und ließ es dann auf sich beruhen. Wenn der Norweger sich mit einem Menschen herumschlug, konnte dieser ruhig sagen: „Bitte, schlagen Sie zu, das kümmert mich nicht, ich mische mich nicht hinein!" Und bekam er wirklich einen Schlag, so mochte er wohl fühlen, daß er irgendwo in der Nähe sei, aber ihm wurde nicht schwarz vor Augen, und er taumelte nicht. Redakteur Lynge konnte wirklich lachen, wenn er all diese Unvollkommenheit sah.

Wie ganz anders war es doch mit den Nachrichten! Lynge verstand es, helle Blitze aus einer Frage zu bilden, er schrieb mit Krallen, mit einer Feder, daß einem die Zähne knirschten; seine epigrammatischen Spitzen waren eine Geißel geworden, die niemals fehlte, und die alle fürchteten. Welche Kraft und welche Geschmeidigkeit! Und er bedurfte auch beider Teile; es waren allzuviel dunkle Dinge in Schwange, überall in der Stadt und auf dem Lande. Weshalb mußte nun gerade er verurteilt sein, die Wahrheit ans Licht zu ziehen. Da war nun z. B. dieser Schelm von einem Tischler oben auf Kampen, der die ärztliche Kunst gegen Bezahlung trieb und leichtgläubige arme Leute um ihre paar Schillinge brachte. Durfte er das? Und war es nicht auch Pflicht der Behörden, gegen den schwedischen Landstreicher Larsson einzuschreiten, der hier und da Erbauungsstunden abhielt und seinen eigenen Pfad nicht rein hielt? Ja, Lynge hatte seine Aufklärungen über ihn von Mandal, er sprach nicht so ins Blaue hinein.