Neuer Antisemitismus? -  - E-Book

Neuer Antisemitismus? E-Book

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Beschreibung

Worauf lassen wir uns ein, wenn wir Antisemitismus begreifen wollen? Meinen wir ein Gefühl, ein Ressentiment, eine Haltung, ein Gerücht oder gar nur ein Vorurteil über eine bestimmte soziale und kulturelle Gruppe, die Juden genannt wird? Ressentiments gegen Juden kommen von Rechten, Linken, der Mitte, von Muslimen, sogar von anderen Juden.

Vor diesem Hintergrund ist es Zeit, Bilanz zu ziehen, und eine erweiterte Fassung des mittlerweile zum Standardwerk avancierten Sammelbandes zur Frage des »neuen Antisemitismus« vorzulegen. Die bisherigen Beiträge werden ergänzt um neue Texte, unter anderem zur aktuellen Situation in Großbritannien, Frankreich und Polen sowie um Erörterungen zur Agitation im Netz und um eine Untersuchung zu antisemitischen Einstellungen unter Flüchtlingen. Die älteren Texte sind jeweils zudem durch ein Postskriptum der Autoren angereichert. So ist das Buch nun mehr als ein Diskussionsband, es ist eine Dokumentation und eine Fortsetzung der globalen Debatte über den »neuen Antisemitismus« zugleich.

Mit Texten von Omer Bartov, Tony Judt, Judith Butler, Gerd Koenen, Sina Arnold, Michel Wieviorka, Matthias Küntzel, Katajun Amirpur, Ian Buruma, András Kovács, Rafał Pankowski, Jan T. Gross, Brian Klug, Anshel Pfeffer, Monika Schwarz-Friesel, Ingrid Brodnig, Moshe Zimmermann und Dan Diner.

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Seitenzahl: 616

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3Neuer Antisemitismus?

Fortsetzung einer globalen Debatte

Herausgegeben von Christian Heilbronn, Doron Rabinovici und Natan Sznaider

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Doron Rabinovici und Natan Sznaider

:

Neuer Antisemitismus Die Verschärfung einer Debatte

Omer Bartov

:

Der alte und der neue Antisemitismus

Der alte Antisemitismus: Hitlers

Zweites Buch

Neue Töne: Kritik an Israel und Antisemitismus

Mahathir und das »Judenproblem«

Krieg gegen Juden: Islamistischer Terror

Die Sprache der Feinde

Postskriptum, Herbst 2018

Anmerkungen

Tony Judt

:

Zur Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antizionismus

Die wirklichen Proportionen

Antisemitismus und Antizionismus

Legitime Kritik

Anmerkungen

Judith Butler

:

Antisemitismus und Rassismus Für eine Allianz der sozialen Gerechtigkeit

Anmerkungen

Gerd Koenen

:

Mythen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts

Hitlers Totalisierung des Antisemitismus

Funktion und Spezifik des stalinistischen Antizionismus

Metamorphosen des sowjetischen Antizionismus

»Felix Culpa«: Die westdeutsche Linke

Narzisstische Bindung an Auschwitz

Ernst und Schrecken der einen Welt

Postskriptum, Herbst 2018

Sina Arnold

:

Der neue Antisemitismus der Anderen? Islam, Migration und Flucht

Antisemitismus unter Muslimen und Rassismus gegen Muslime

Fallbeispiel Deutschland 2015ff.

Die neuesten Fluchtbewegungen – empirische Studienergebnisse

Muslim ist nicht gleich Araber ist nicht gleich Geflüchteter

Ausblick

Anmerkungen

Michel Wieviorka

:

Der Antisemitismus im Frankreich der Gegenwart

1. Die Juden und das republikanische Modell

2. Das Wiedererstarken des klassischen Antisemitismus

3. Wandel der Immigration

4. Nordafrikanischer Migrationshintergrund und Antisemitismus

5. Die Grenzen der These vom

islamo-gauchisme

6. Antisemitismus außerhalb des radikalen Islamismus

Anmerkungen

Matthias Küntzel

:

Von Zeesen bis Beirut Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt

Hakenkreuze in Palästina

Keimzelle des Islamismus

Islamismus und Nationalsozialismus

Naziideologie und arabische Welt

Islamischer Antisemitismus und Europäische Union

Postskriptum, Herbst 2018

Anmerkungen

Katajun Amirpur

:

Licht und Schatten Antisemitismus im Iran

Die Situation heute

Iran ist nicht Diaspora

Anmerkungen

Ian Buruma

:

Im gleichen Boot? Zur Beziehung zwischen Amerika und Israel

Die proisraelische Allianz in den

USA

Strategien und Sympathien: Der Sechstagekrieg als Wendepunkt

Konvergenz der Interessen: Das Bündnis zwischen

USA

und Israel

Die Wiederkehr der Vorurteile: Antiamerikanismus und Antisemitismus

Postskriptum, Herbst 2018

András Kovács

:

Postkommunistischer Antisemitismus: alt und neu Der Fall Ungarn

1. Kontinuität und Wiedergeburt des Antisemitismus nach 1990

2. Die Stärke und der Gehalt antisemitischer Vorurteile nach der Transformation

3. Antisemitismus und Wahlentscheidungen

Antisemitischer Diskurs nach 1990

4. Antisemitismus und populistische Politik nach 2015

Zusammenfassung

Anmerkungen

Rafał Pankowski

:

Die Renaissance des antisemitischen Diskurses in Polen

Anmerkungen

Jan T. Gross

:

Offizieller Antisemitismus in Polen Eine persönliche Betrachtung

Anmerkungen

Brian Klug

:

Die Linke und die Juden Labours Sommer der Bitterkeit

Anmerkungen

Anshel Pfeffer

:

Gute Juden, schlechte Juden Antisemitismus in Jeremy Corbyns Labour Party

Anmerkungen

Monika Schwarz-Friesel

:

Judenhass 2.0 Das Chamäleon Antisemitismus im digitalen Zeitalter

Antisemitismus im digitalen Zeitalter: Ein kultureller Gefühlswert und seine aktuelle Adaption

Das Internet als fünfte Gewalt

Das Web 2.0 als kontrollresistenter und affektgesteuerter Kommunikationsraum

Kontinuität und Uniformität der Stereotypcodierungen: »Der ewige Jude« online

Israelisierung der antisemitischen Semantik: Zur Amalgamierung von Juden- und Israelhass

Hass als kultureller Gefühlswert: Die antisemitische Affektlogik

Fazit: Die Büchse der Pandora ist weit geöffnet

Anmerkungen

Ingrid Brodnig

:

Im Netz der Antisemiten

Wie antisemitische Posts um die Welt reisen

Wut als Instrument im Netz

Antworten auf Antisemiten

Anmerkungen

Moshe Zimmermann

:

Im Arsenal des Antisemitismus

Zionismus und Antisemitismus

Die Wiederkehr des Antisemitismus

Kritik an Israel und Antisemitismus

Israels Alleinvertretungsanspruch

Postskriptum, Herbst 2018

Anmerkungen

Dan Diner

:

Der Sarkophag zeigt Risse Über Israel, Palästina und die Frage eines »neuen Antisemitismus«

Der Konflikt um das Land

Die Aufladung des Konflikts

Legitimation durch Auschwitz

Pathologie der Moderne

Die gordische Lösung

Nachträge aus der Gegenwart Postskriptum, Herbst 2018

Über die Autorinnen und Autoren

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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9Doron Rabinovici und Natan Sznaider

Neuer AntisemitismusDie Verschärfung einer Debatte

»Antisemitismus bedeutet, die Juden mehr als absolut notwendig zu hassen.«

(Isaiah Berlin zugeschrieben)

»Die Juden sind genauso wie andere Menschen, nur etwas mehr.«

(Chaim Weizmann zugeschrieben)

Diese beiden Behauptungen muten seltsam an, aber sie fassen zusammen, in welch theoretischen Treibsand gerät, wer versucht, Antisemitismus zu verstehen. Worauf lassen wir uns ein, wenn wir Antisemitismus begreifen wollen? Meinen wir ein Gefühl, ein Ressentiment, eine Haltung, ein Gerücht oder gar nur ein Vorurteil über eine bestimmte soziale und kulturelle Gruppe, die Juden genannt wird? Und wer sind diese Juden, denen so vieles übel genommen wird? Von wem reden und theoretisieren wir also, wenn wir über Juden sprechen und nachdenken?

»Der Antisemitismus zeigt täglich sein hässliches Gesicht«, heißt es. Kippa-Träger (also sichtbare Juden) fühlen sich in Deutschland und nicht nur dort zusehends unsicher, jüdische Kinder werden in Schulen gemobbt. Im Netz hasst sowieso jeder jeden, aber Juden werden dort ziemlich schlecht behandelt. Ressentiments gegen Juden kommen von Rechten, Linken, der Mitte, von Muslimen, sogar von anderen Juden. Der Antisemit will keiner je gewesen sein und hat sein klares Profil verloren.

Um über Antisemitismus zu sprechen, müssen wir nicht 10nur von den Antisemiten, sondern auch über die Juden reden. Frei nach Max Horkheimer lässt sich sagen, wer von Juden nicht reden will, sollte auch über den Antisemitismus schweigen. Zugleich kann auch behauptet werden, Antisemitismus habe eigentlich nichts mit Juden zu tun, sondern nur mit Antisemiten. Wie untersucht man nun Antisemitismus, wenn man zwar nicht gleich alle Sturmglocken läuten lassen möchte, als wäre er ein metaphysischer Ungeist, der über uns kommt und verschwindet, doch andererseits auch nicht mit denen übereinstimmen will, die da sagen, dass alle Ängste eigentlich übertrieben seien und der Judenhass ständig abnehme? Es ist eine Zwickmühle: Sobald über Antisemitismus kommuniziert wird, sieht man sich zumeist in einer fatalen Dichotomie zwischen Alarmisten und Leugnern gefangen.

Dieses Buch ist ein Versuch, diese Dichotomie zu durchbrechen. Vor knapp 15 Jahren veröffentlichten wir die erste Auflage dieses Sammelbandes. Damals waren die Ausgangsbedingungen zum Teil andere. Wir gingen davon aus, dass es nach der Schoah schwer ist, ein bekennender Antisemit zu sein. Negative Gefühle gegen Juden waren zu sehr mit ihrer Vernichtung in Europa verbunden. Hat sich daran viel verändert?

Die Rede ist von einem »neuen Antisemitismus« – von einem Antisemitismus, der erst nach der Schoah und nicht trotz, sondern wegen ihr entstand, der auch als sekundärer Antisemitismus bezeichnet wird. Der offene Antisemitismus war durch den Massenmord in Verruf geraten und tabuisiert, doch das Ressentiment wendete sich nun gegen die Schuldgefühle, relativierte die Verbrechen oder setzte gern Opfer und Täter gleich. In der Debatte über diesen neuen Antisemitismus wird auch der Vorwurf erhoben, dass die Kritik an Israel in einigen Fällen weit über eine sachlich gerechtfertigte Kritik hinausgehe und dass ihr wahres Motiv antisemitisch 11sei. Als Zentren dieses neuen Antisemitismus werden die islamische Welt, aber auch Europa ausgemacht, als ihre Träger werden einerseits islamistische Kräfte gesehen, zum anderen aber auch Teile der weltweiten Linken, deren Antizionismus sich nur allzu oft als Antisemitismus entlarve. Seinen Ausdruck finde der neue Antisemitismus einerseits in einer neuen verbalen Radikalität gegenüber Israel und den Juden insgesamt, andererseits in einer neuen Gewaltsamkeit, die sich in der gestiegenen Zahl der Übergriffe gegen Juden manifestiere.

Die Kritiker des Begriffs des »neuen Antisemitismus« hingegen sehen darin nur ein politisches Instrument mit durchsichtigen Zielen. Zum einen gehe es um den Versuch, Kritik an israelischer Politik gegenüber den Palästinensern zu unterbinden, ja, Israel gegen Kritik zu immunisieren. Zum anderen gehöre der Antisemitismusvorwurf mittlerweile zu den transatlantischen Kampfbegriffen, indem Europa von amerikanischer Seite pauschal als antisemitisch gebrandmarkt werde. Die Gefahr für Juden innerhalb und außerhalb Israels werde bewusst übertrieben, der neue Antisemitismus sei ein Propagandainstrument im Dienste bestimmter jüdischer und israelischer Interessen.

Was die intellektuelle und politische Debatte über den neuen Antisemitismus, die im Wesentlichen in Zeitschriften und auf Konferenzen geführt wird, so kompliziert macht, ist der ihr zugrunde liegende Konsens, dass offener Antisemitismus seit dem Holocaust keinerlei Legitimität mehr besitzt. Mehr noch: Just die Abkehr von der nazistischen Ideologie speist den Groll der einen gegen die Juden oder Israel, nährt zugleich das Misstrauen der anderen, hinter den Anschuldigungen gegen jüdische, zionistische oder israelische Politik verberge sich nichts als das alte Ressentiment. Alle Beteiligten der Debatte arbeiten mit der Rhetorik des Verdachts: 12Der Antisemitismusvorwurf gründet auf der Vermutung, dass das Gesagte nicht das Gemeinte ist – dass Kritik an Israel nur ein Vorwand ist, um antisemitische Ideen oder Gefühle zu artikulieren, bewusst oder auch unbewusst. Die andere Seite hingegen argwöhnt, der Antisemitismusvorwurf diene nur dem Interesse Israels, legitime Kritik zum Schweigen zu bringen. Zuweilen liegen wohl beide Seiten mit ihren Verdächtigungen nicht ganz daneben.

Antisemitismus und die Erinnerung an den Holocaust sind zu einem System des Denkens und Handelns verschmolzen, und Antisemitismus ist zu einem Tabu der zivilisierten Gesellschaft geworden. Seit der ersten Ausgabe von 2004 haben jedoch einige Veränderungen stattgefunden.

Wir gingen damals von einem neuen Phänomen aus, das von manchen der Publizierten zwar bezweifelt wurde, doch in der Zwischenzeit kann kaum geleugnet werden, was damals noch umstritten war: Es gibt einen neuen Antisemitismus, der in den letzten Jahren an Macht gewann. In verschiedenen Städten Europas und der USA wissen sich Juden heute nicht mehr sicher. Dschihadistische Attentate gegen jüdische Institutionen haben zugenommen. Zugleich spielen in einigen Staaten autoritär-populistische Regierungen mit einschlägigen Ressentiments. In Ungarn ehrt die Koalition unter Viktor Orbán den Verantwortlichen für die Deportation Hunderttausender Juden, den früheren ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy, und hetzt gegen George Soros. In Polen verbietet ein Gesetz, die polnische Mitschuld an dem Massenmord von Juden zu benennen, in Österreich greifen die Freiheitlichen ebenfalls zu den alten Klischees – etwa um Stimmung gegen Soros zu machen. Und es ist kein Zufall, dass George Soros zur Zielscheibe der Hetze wurde. Soros ist Ungar, Amerikaner und Jude. Er ist Philanthrop und ein reicher und erfolgreicher Geschäftsmann. Und er ist kos13mopolitisch und liberal. Als Gründer der Open Society Foundations verkörpert er im wahrsten Sinne des Wortes alles, was Antisemiten schmeckt: ein vaterlandsloser linker Geldjude. Während rechtspopulistische Parteien, die gegen die Erinnerung zu Felde ziehen, als die wahren Freunde Israels auftreten, um ihren antimuslimischen Rassismus zu schüren, wird dem Judenhass im Islam immer offener gehuldigt. Zugleich gerät die britische Labour Party und ein Teil der Linken in Frankreich in Verdacht, im Windschatten antizionistischer Propaganda und antiisraelischer Boykottbewegungen auch antisemitische Stimmungen zu nähren. All das wird in dieser Neuauflage thematisiert und diskutiert.

Es geht um ein Phänomen, das noch immer eher angenommen und implizit als offen und deutlich aufscheint. Wir wollen in diesem Band mit unseren Autorinnen und Autoren das Implizite explizit machen. Erörtert werden die Tabus und die Frage, welche Tabus zu vertreten sind, wenn es darum geht, die Prinzipien der Moderne nicht der Erosion preiszugeben. Und was bedeutet es für die Moderne, wenn das Tabu des Antisemitismus gebrochen wird? Was sind die Folgen antisemitischer Ressentiments? Warum soll eine freie und autonome Person denn nicht dazu berechtigt sein, negative Gefühle gegenüber anderen zu hegen oder ihre Freunde und Nachbarn so zu wählen, wie sie es wünscht? Haben wir es in manchen Ländern gar schon mit institutionalisierten Ressentiments in staatlicher Propaganda, in Gesetzen und Verordnungen zu tun, die eine Gruppe namens Juden diskriminieren? Über allem steht die Auseinandersetzung mit der Schoah, die die Debatte überlagert. Also wie über Antisemitismus reden und denken? Wie soll Antisemitismus definiert werden?

Die Situation ist klar umrissen: Man mag ja gewisse Gefühle gegenüber Juden hegen, aber eine zivilisierte Person behält sie für sich. Man mag gewisse Gefühle gegenüber Israel, 14dem jüdischen Staat, hegen, aber darüber wie in diesem Band zu diskutieren, ob Kritik an Israel antisemitisch ist oder nicht, bedeutet, die Büchse der Pandora zu öffnen, denn derartige Beiträge enden für gewöhnlich in der Debatte über die Legitimität der Kritik. Auch in diesem Band können wir natürlich nicht vermeiden, auf diese Frage einzugehen, ja sie nimmt hier sogar einen zentralen Platz ein.

Sicher gibt es »Antisemitismus« ohne Juden, aber wie lässt sich ein Antisemitismus gegen Juden, doch ohne Juden theoretisieren? Das Problem ist komplex: Juden sind Fremde, weil sie so vertraut sind. Das ist eine alte soziologische Binsenwahrheit, die vom Juden und Deutschen Georg Simmel schon 1908 formuliert wurde. Er wusste aus eigener Erfahrung, wovon er schrieb: Es ist ihre Vertrautheit (da sie wie andere Leute sind, nur noch mehr), die sie zu Fremden macht. Der jüdische Zustand macht den menschlichen Zustand der Fremdheit für andere sichtbar. Damit lässt sich die Debatte über den Antisemitismus immer noch beginnen. Es geht darum, komplexe soziale Zusammenhänge wieder zu vereinfachen. Der aus Budapest stammende Jude und deutsche Soziologe Karl Mannheim nannte das 1930 »Re-Primitivisierung«. 1933 wurde er von den Nazis als ungarischer Jude beschimpft. Diese Tendenz der Reduzierung von Komplexität kann von rechts oder von links kommen, von anderen religiösen Tendenzen, die Welt mit einfachen Augen zu sehen, sich den Nationalstaat in Zeiten der Globalisierung einzubilden. Wenn man also beginnt, Juden in das Theoretisieren über den Antisemitismus einzubeziehen, warten dann natürlich einige epistemologische Fallen: Gibt es überhaupt eine jüdische Nation ohne Territorium, die verstreut und über Grenzen hinweg in Europa lebt(e) und gegen die man antisemitische Vorurteile kultivieren kann? Sind die Juden gleichzeitig assimiliert, orthodox, jüdisch und nichtjüdisch? Und ist es 15gerade dieses Nichtdazugehören, das auf die ontologische Bosheit des antisemitischen Bewusstseins trifft?

Und nicht zuletzt: Ist das ein historisch überwundener Ausnahmezustand? Oder gibt es Kontinuitäten, die tief im europäischen Selbstverständnis – und zwar spätestens seit der Französischen Revolution mit ihrem Postulat der universellen Gleichheit aller Menschen – verankert sind, weil der universalistische Stolz Europas den Juden erlaubte, als Gleiche, d. ‌h. als Deutsche, Franzosen etc. sich in Europa zu integrieren, aber eben nicht als Juden? Mussten die Juden nicht gerade auch im aufgeklärten Europa auf ihr Jüdischsein verzichten und konvertieren, sich assimilieren, um als Gleiche anerkannt zu werden? Wirkt diese Forderung nicht bis heute nach? Ist also immer noch in Europas Sichtweise der gute Jude der Un-Jude (ebenso wie der gute Schwarze der maskierte Schwarze oder der gute Muslim der säkularisierte Muslim ist)?

Die jüdische Erfahrung war und ist immer noch mehrsprachig, und diese Mehrsprachigkeit wurde zu einem Zentrum jüdisch gelebter Erfahrungen. Zwei Ideen sind hier von Bedeutung: dass erstens verschiedene Kulturen in verschiedenen Welten leben; und dass wir zweitens – eine Variante der ersten Idee – in einer gemeinsamen Welt mit einer gemeinsamen Geschichte und Erzählung leben, die partikulare Geschichten als Relikte der Vergangenheit sieht. In diesem Zusammenhang kommen wir um eine Frage nicht umhin: Gibt es überhaupt etwas, das alle Juden teilen? Oder existieren Juden gar nicht und sind sie nur die Projektionsfläche der Antisemiten? Wenn die Juden jedoch immer nur das jeweils Andere, das deshalb abgelehnt wird, sind, was wäre das sogenannte Eigentliche, das sie ablehnt? Betrachtet man jüdische Welten schon vor, aber vor allem nach der Emanzipation, findet man säkulare und orthodoxe Juden, westeuropäische Juden mit ihren besonderen Erfahrungen und osteuropäische 16Juden mit völlig anderen Erfahrungen. Es gibt nicht nur Juden aus der westlichen Welt, sondern bekanntlich ebenso aus arabischen und nordafrikanischen Ländern. Was teilen alle Juden dennoch, wenn überhaupt etwas? Diese seltsame Frage wird ernsthaft diskutiert, wobei die Frage: »Wer ist Jude?«, eine der kontroversesten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst ist, und es einen Staat gibt, der sich als jüdisch definiert, ohne dass darüber Einigkeit herrscht, was das heißen mag.

Um den Antisemitismus zu analysieren, müssen wir allerdings nicht bestimmen, wer ein Jude ist. Die Aufsätze in diesem Band machen dies deutlich. Wir sind als Historiker und Theoretiker des Antisemitismus immer in der Falle des Gegenstandes selbst gefangen. Wenn der Antisemitismus bedeutet, negative Gefühle und Meinungen gegen ein Kollektiv zu hegen, dann muss der Antisemitismusanalytiker auf die kollektiven Grundannahmen des antisemitischen Gefühls teils eingehen, um sie zu decodieren. Antisemitismus und Anti-Antisemitismus gehen in diesem theoretischen Unternehmen immer wieder unwillkürlich Hand in Hand. Was soll man als Analytiker des Antisemitismus gegen diesen Befund tun? Sollen wir eine Theorie von antisemitischen Einstellungen konstruieren, die völlig unabhängig von jüdischem Verhalten oder Handeln ist? Müssen die Juden als passive Opfer von Groll und Hass gegen sie gesehen werden, um zu einer »richtigen« Theorie zu gelangen? Kann so eine Konstruktion überhaupt funktionieren?

Kommen wir zu Simmel zurück, der schon 1908 die Moderne als eine Gesellschaft von Fremden beschrieb, die ihre Entfremdung oder Fremdheit nicht nur als Bedrohung empfand, sondern auch als Befreiung. Wenn wir diesen Punkt ernst nehmen, können wir gemeinsam mit so manchen Autoren und Autorinnen erkennen, dass es bei Antisemitismus 17nicht nur um Juden geht, sondern um die Feindschaft gegenüber einer komplexen Gesellschaft, in der wir dazu verurteilt sind, im selben Augenblick gleich und verschieden zu sein.

Wie sollte es also keine Ressentiments gegen die Juden und ihre Verkörperung von Ambivalenz geben? Wieso sollte es überhaupt verwundern, wenn das Jüdische, selbst dessen Nation, als Sinnbild westlicher Vormacht verteufelt wird, um zugleich auch – etwa in den Kampagnen gegen George Soros, doch ebenso durch den rassistischen Attentäter in der Synagoge von Pittsburgh im Oktober 2018 – beschuldigt zu werden, der eigentliche Agent hinter Migration, den Fluchtwellen, ja der multikulturellen Wirklichkeit im Zeitalter der Globalisierung schlechthin zu sein? Warum überhaupt gegen den Antisemitismus angehen, wenn er doch eine so weithin verbreitete, weltumspannende, eine beinah übliche und – wie es im eingangs zitierten Satz von Isaiah Berlin gar heißt – notwendige Reaktion genannt werden kann? Weil der Antisemitismus der Hass auf das Universale und auf das Partikulare der modernen menschlichen Existenz ist. Das ist nicht nur ein jüdisches Problem, sondern eine Bedrohung für die Pluralität im globalen Zeitalter an sich. Der Traum von der perfekten Assimilation ist eine uneinlösbare Illusion. Dieser Umstand definiert die paradoxe Situation nicht nur von Juden, sondern von allen modernen Menschen: Er ist Bürde und Würde zugleich.

Wir hoffen, dass wir in diesem Band die angesprochenen Fragen neu aufwerfen können. Wir haben auf einige Beiträge des Buches aus dem Jahre 2004 verzichtet, weil sie zu sehr in die Debatten der damaligen Zeit verstrickt waren. Stattdessen nahmen wir neue Beiträge auf, um auf aktuelle Probleme einzugehen. Wir haben die verbliebenen Autoren aus der ersten Ausgabe gebeten, ihre Texte nun kurz zu kommentieren.

18Die neuen Essays setzen sich mit den Erscheinungen der letzten Jahre auseinander, wie etwa mit den Debatten rund um die Geflüchteten, mit der Rolle der sozialen Medien, mit dem politischen Aufstieg rechter Politik in Europa. Zugleich wird in den Beiträgen auch die Verknüpfung von Kritik an Israel und Antisemitismus erörtert.

Wir danken allen, deren Texte bereits 2004 erschienen und die nun nochmals bereit gewesen sind, über ihre Beiträge von damals nachzudenken, doch ebenso den neuen Autoren und Autorinnen für ihre Essays. So lassen sich Entwicklungen der letzten fünfzehn Jahre nachvollziehen.

Wir beginnen mit dem Beitrag von Omer Bartov, »Der alte und der neue Antisemitismus«. Ausgehend von einer Analyse des Antisemitismus in Hitlers Zweitem Buch konstatiert Bartov beunruhigende Parallelen zwischen dem »alten« und dem »neuen« Antisemitismus, den man sehr ernst nehmen müsse. Auch wenn Bartov sich gegen Alarmismus wendet, konstatiert er doch eine klare, neue Bedrohung für Juden. Nur allzu oft verwandele sich Kritik an Israel in Antisemitismus. In seinem Nachwort vom Oktober 2018 geht Bartov noch auf jüngste Ereignisse in den USA ein und darauf, wie die Präsidentschaft von Donald Trump den Antisemitismusdiskurs in den USA verändert hat.

In seinem 2004 erschienenen Beitrag »Zur Unterscheidung von Antisemitismus und Antizionismus« nimmt Tony Judt, der inzwischen leider verstorben ist, Europa gegen den Vorwurf in Schutz, hier habe sich ein neuer Antisemitismus breitgemacht. Das Problem des Antisemitismus sei zwar real, man müsse es aber in seinen Proportionen sehen. Judt betont, dass zwischen Antisemitismus und Antizionismus – Feindschaft gegen Juden und Feindschaft gegen den jüdischen Staat – ein deutlicher Unterschied besteht. Israels Anspruch, für alle Juden zu sprechen, sei der Hauptgrund dafür, dass 19antiisraelische Stimmungen in Judenfeindschaft umschlagen.

Das Postskriptum, das uns Judith Butler zu ihrem Beitrag aus dem Jahr 2004 beisteuerte, wuchs zu einem eigenständigen und neuen Essay an, in dem sie auf die politische Situation des Jahres 2018 reagiert, weshalb wir ihn statt ihres einstigen nun veröffentlichen. Judith Butler verweist in ihrem Text »Antisemitismus und Rassismus: Für eine Allianz der sozialen Gerechtigkeit« darauf, dass es neben den oft beklagten Spielarten antijüdischer Aggression nun auch prozionistische Antisemiten gibt. Diese würden, so Butler, vom israelischen Staat kaum bekämpft werden, solange sie nur den Judenstaat verteidigen. Im Widerspruch zur antimuslimischen »Zionsliebe« eines Donald Trump oder eines Steve Bannon propagiert Butler die Unterstützung der Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions), kurzum die internationale Boykottbewegung gegen Israel. Nun ist eben diese Boykottbewegung für viele gerade eine antisemitische Erscheinung, weil ins Treffen geführt wird, BDS ziele nicht bloß gegen die staatlichen Institutionen des Staates Israel, rufe nicht allein zur Handelssperre gegen israelische Firmen auf, boykottiere teils nicht nur alle Produkte aus Israel, sondern fordere immer wieder auch den Abbruch jeglichen Kontakts mit israelischen Akademikern oder Künstlern, selbst den regierungskritischen. Zuweilen wurde auch der Boykott von jüdischen, nichtisraelischen Kulturveranstaltungen und Musikern gefordert, wenn sie von Israel gesponsert wurden.

Judith Butler ruft dazu auf, sich durch BDS mit der palästinensischen Nationalbewegung zu solidarisieren, um den antirassistischen Kampf voranzutreiben und meint, so auch jenen Antisemitismus zu bekämpfen, der jüngst in Pittsburgh wütete. Dabei bemerkt sie in ihrem Beitrag durchaus, dass ihr Appell in den USA anders klingen mag als in deutschen 20Ohren – und tatsächlich wirkt der antiisraelische Boykott in Gaza ganz anders als in Berkeley, da wiederum ganz anders als im Paris der islamistischen Attentate gegen Juden und dort nochmals nicht so wie in Wien oder in Berlin, wo bei vielen noch andere Assoziationen, ob berechtigt oder nicht, geweckt werden.

Was Butlers Beitrag – wenn auch nur indirekt, doch deutlicher als alle anderen Essays – darlegt, ist: Die theoretischen Positionen sind einander seit 2004 nicht nähergekommen, sondern die intellektuellen Stimmen driften vielmehr zusehends auseinander, wobei die eine Seite jeweils die andere als den wahren Agenten des eigentlichen Antisemitismus ansieht. Nicht, ob es einen »neuen Antisemitismus« überhaupt gibt, steht nun zur Debatte, sondern was seine Herkunft ist und wo er zu bekämpfen wäre.

Gerd Koenen ist in seinem Beitrag »Mythen des 19., 20. und des 21. Jahrhunderts«, den wir schon 2004 veröffentlichen durften, skeptisch gegenüber der These eines »neuen Antisemitismus«. In seiner Skizze der Geschichte von Antisemitismus und Antizionismus im 20. Jahrhundert – von Hitler über Stalin bis zur bundesrepublikanischen Neuen Linken – betont er die jeweils situativen Elemente. In seinem im Oktober 2018 verfassten Nachwort geht Koenen auf diese Entwicklungen der letzten 15 Jahre ein und konzeptualisiert sie in Hinsicht auf die Präsidentschaft von Donald Trump, Rechtspopulismus in Europa und auch auf antiisraelische und antisemitische Gedanken von der linksextremen Seite.

Sina Arnold setzt sich in ihrem Essay »Der neue Antisemitismus der Anderen? Islam, Migration und Flucht« mit dem Antisemitismusvorwurf gegenüber Geflüchteten auseinander. Ihr Essay versucht auf Grundlagen ihrer empirischen Forschung, muslimischen Antisemitismus im weiteren Zusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 21Jahre in Europa zu diskutieren. Wie andere Autoren und Autorinnen in diesem Band geht Arnold von einer Polarisierung aus, die das Sprechen über Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft prägt. Gleichzeitig stellt sie fest, dass es beim Sprechen über den Antisemitismus in Deutschland zu einer doppelten Verharmlosung kommt. Von rechts freut man sich über den linken Antisemitismus und verharmlost den eigenen, und von links wiederum freut man sich des rechten Antisemitismus und verharmlost die eigenen Vorurteile. Ihrer eigenen Studie über die Einstellungen der Geflüchteten kann man in erster Linie entnehmen, dass sie Israel sehr kritisch gegenüberstehen und über »den Juden« und den Holocaust so gut wie nichts wissen.

Michel Wieviorka stellt in seinem Beitrag »Der Antisemitismus im Frankreich der Gegenwart« dar, wie der Antisemitismus in Frankreich sich in den letzten Jahren von Neuem konstituierte. Er geht dabei auf den Zusammenstoß zwischen den jüdischen und den muslimischen Migrationen aus Nordafrika ein, zeigt aber zugleich die Konfrontation zwischen französischem Republikanismus und Islam auf und behandelt auch den Aufstieg der extremen Rechten. Er zeichnet das Bild eines zerklüfteten Frankreichs, das über sehr unterschiedliche Formen des Antisemitismus debattieren muss.

In welchem Ausmaß der Antisemitismus in der arabischen Welt vom Nationalsozialismus gefördert wurde, als eine Art von ideologischem Transfer, macht Matthias Küntzel in seinem 2004 publizierten Beitrag »Von Zeesen bis Beirut: Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt« deutlich. Er rekonstruiert die massive Propaganda des »Dritten Reiches« und seine Aktivitäten in der Region, das Wirken des Mufti von Jerusalem, der sich den Nazis andiente und die Kriegsjahre in Berlin verbrachte, und den entstehenden Antisemitismus der ägyptischen Muslimbruderschaft. 22Küntzel kritisiert die »unbekümmerte Haltung gegenüber dem islamistischen Judenhass« im heutigen deutschen Diskurs. Solange Antisemitismus von Muslimen geäußert werde, würde man ihn als Reflex auf den Nahostkonflikt verharmlosen oder ganz ignorieren. In seinem Nachwort bekräftigt er diese Thesen und geht davon aus, dass die moderne Nahostgeschichte von den Nachwirkungen des Nationalsozialismus geprägt worden ist.

Katajun Amirpur beschreibt in ihrem Beitrag »Licht und Schatten: Antisemitismus im Iran«, wie komplex das jüdische Leben heute im Iran ist. Auf der einen Seite steht der Iran für den neuen Antisemitismus schlechthin, sein Atomprogramm als Fortsetzung des nationalsozialistischen Vernichtungswillen gegenüber Juden, auf der anderen Seite will Amirpur durch Beispiele zeigen, wie vielschichtig und facettenreich das Verhältnis der jüdischen Minderheit Irans mit dem iranischen Staat ist.

In seinem bereits 2004 geschriebenen Beitrag »Im gleichen Boot? Zur Beziehung zwischen Amerika und Israel« konstatiert Ian Buruma ebenfalls eine Konjunktur von auf Israel bezogenen Verschwörungstheorien. Die Vorstellung, dass Israel und jüdische Interessen im Mittelpunkt des Weltgeschehens oder zumindest der amerikanischen Außenpolitik stünden, sei weitverbreitet. Um solchen Mystifizierungen den Boden zu entziehen, untersucht Buruma die Entwicklung der Beziehungen zwischen Amerika und Israel in den letzten Jahrzehnten. Sein Nachwort von 2018 zieht den Faden weiter, geht auf die jüngsten Ereignisse in den USA ein und untersucht auch die Rolle Trumps im Aufflackern des Antisemitismus in den USA. Buruma erwähnt zudem, dass Israel immer mehr die Unterstützung einer Mehrheit des amerikanischen Judentums verliert.

András Kovács räumt in seinem Essay »Der alte und der 23neue postkommunistische Antisemitismus« mit der These auf, der Judenhass sei in der kommunistischen Herrschaft ausgetilgt gewesen und habe jene Zeit nur tiefgefroren überlebt. Vielmehr hatten die Ressentiments nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitergewirkt, insbesondere gegen die jüdischen Überlebenden und ihre Entschädigungsforderungen, doch ebenso gegen die jüdischen Parteifunktionäre. Vor allem aber waren antisemitische Gefühle vom kommunistischen Regime genutzt worden, indem etwa gegen Israel und den Zionismus gehetzt wurde. Vom postkommunistischen Antisemitismus könne, so Kovács, als einer spezifischen Form von »neuem Antisemitismus« gesprochen werden. Dieser postkommunistische Antisemitismus sei durch die rechtsextreme Partei Jobbik öffentlich legitimiert worden, habe nach 2010 an Kraft gewonnen, als die regierende Fidesz eine nationalistische Historiografie propagierte, die jedwede ungarische Verantwortung am Holocaust abstritt. Eine neue Radikalisierung sieht Kovács in den offiziellen Verschwörungstheorien, denen zufolge Ungarn durch eine Invasion von Fremden bedroht sei, die von einer »Macht im Hintergrund« unter dem Einfluss des jüdischen Investors George Soros gesteuert würden.

Rafał Pankowski analysiert in seinem Beitrag »Die Renaissance des antisemitischen Diskurses in Polen« die Diskurse in den polnischen Medien. Dabei geht es nicht nur um Hasstiraden gegen Juden im Netz, sondern auch in den öffentlichen Äußerungen polnischer Politiker und in den gedruckten Medien und im Radio. Pankowski berichtet zudem über den Widerstand, der sich in der polnischen Öffentlichkeit gegen diese antisemitischen Tendenzen breitmacht.

Jan T. Gross berichtet in seinem sehr persönlich verfassten Beitrag »Offizieller Antisemitismus in Polen – Eine persönliche Betrachtung« über die neuesten antisemitischen Ent24wicklungen in Polen. Als Autor des Buches Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne war Gross selbst einer der Auslöser der Debatte um ein Gesetz in Polen, mit dem es gesetzlich verboten werden sollte, die polnische Verknüpfung mit dem Holocaust öffentlich zu machen. Gross sieht darin eine Fortsetzung des klassischen polnischen Antisemitismus.

Mit feiner Ironie beschreibt Brian Klug in seinem Essay »Die Linke und die Juden: Labours Sommer der Bitterkeit« die britische Debatte über die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn. Klug unterzieht dabei beide Seiten der Kritik. So benennt er etwa die Unfähigkeit innerhalb der Linken, sich dem Antisemitismus in den eigenen Reihen zu stellen. Corbyn begreife gar nicht, wie es möglich sei, ihm Antisemitismus vorzuwerfen, wenn er sich doch immer so eifrig gegen Rassismus ausspreche.

Klug meint jedoch, die Angriffe gegen Labour seien übertrieben. Das Misstrauen gegen Labour gründe, so Klug, teils auf früheren jüdischen Erfahrungen mit antizionistischen Ressentiments. Allerdings würden in der Labour-Partei die jüdischen Forderungen, die antisemitischen Aussagen aus den eigenen Reihen zu verurteilen, immer wieder als zionistische Verschwörung abgeschmettert. Aber Klug warnt vor allzu einseitigen Kampagnen gegen Labour und vor einer Dynamik, in der die Juden als Feinde Corbyns, der Lichtgestalt seiner sozialistischen Anhänger, erscheinen könnten. Diese Inszenierung rund um einen Erlöser erinnere ihn, meint Klug, an die alten judenfeindlichen Szenen aus dem Neuen Testament.

Auch Anshel Pfeffer analysiert in seinem Beitrag »Gute Juden, schlechte Juden: Antisemitismus in Jeremy Corbyns Labour Party« den britischen Diskurs über die Labour Party und ihre Führung, wobei er zunächst die verschiedenen Formen des modernen Judenhasses charakterisiert. Pfeffer er25kennt in Jeremy Corbyn einen Politiker, der lange Zeit eher ein unbedeutender, doch dogmatischer Hinterbänkler war. Erst als die etablierten Kräfte der Partei an Vertrauen verloren hatten, kam er zum Zug. Corbyns unverdrossener Starrsinn, so Pfeffer, ist sein Erfolgskonzept, weshalb er auch nicht von den Ressentiments gegenüber Israel abrückt, sondern ebenso keine Sensibilität gegenüber klassisch antijüdischen Klischees, die nichts mit Zionismus zu tun haben, entwickelt. Ebenso wie die Neue Rechte leugnen auch die Corbynistas, antisemitisch zu sein, doch während die einen gegen die diasporischen Juden hetzen und Israel achten, hassen die anderen den Judenstaat und alle Juden, die mit ihm fühlen.

Der Beitrag von Monika Schwarz-Friesel »Judenhass 2.0 – Das Chamäleon Antisemitismus im digitalen Zeitalter« fußt auf der umfassenden Langzeitstudie Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses. Judenfeindschaft als kulturelle Konstante und kollektiver Gefühlswert im digitalen Zeitalter und nimmt die Äußerungen des Antisemitismus im Internet in den Blick. Das Netz verstärke, so Schwarz-Friesel, die Akzeptanz und Normalisierung von Judenfeindschaft in der gesamten Gesellschaft. Die Erinnerung an die Massenvernichtung des Holocaust hindere Teile der Gesellschaft nicht daran, in alte judenfeindliche Ressentiments und Klischees zu verfallen. Der alte Judenhass dringe durch die digitalen Kommunikationsformen in das kollektive Bewusstsein des 21. Jahrhunderts.

Ingrid Brodnig benennt in ihrem Essay »Im Netz der Antisemiten« nicht nur die Formen des digitalen Antisemitismus, sondern beschreibt die Enthemmung, die viele im digitalen Raum ergreift, weil sie meinen, hier anonym, intim, ja, unsichtbar und ohne Einschränkungen durch Autoritäten auftreten zu können. Niemand sieht dem anderen ins Gesicht und keiner denkt daran, wie die Antwort für einen von Hun26derten gelesen wird, die es an Zigtausende weiterleiten, worauf es Hunderttausende diskutieren. Die Zote, die nur einem galt, erreicht Unzählige. Den Rassismus, den einer am Stammtisch von sich gibt, liest der andere in der Gedenkveranstaltung. Nichts bleibt lokal. Jede Nachricht schafft in Sekunden die Weltumrundung. Im Netz, so Brodnig, punkten Emotionen wie etwa Wut, denn sie erhalten am meisten Klicks. Die Erregungslogik sozialer Plattformen stärkt die extremen Gruppierungen. Das Netz wirkt als Aufputschmittel für sonst durchaus Gemäßigte. Es wächst über sich hinaus: Die rein virtuelle Radikalisierung wird zur realen. Die überhitzte Diskussion wird zur Normalität. Wir erleben einen Klimawandel in unserer Kommunikation.

Zu guter Letzt erörtert Brodnig, ob mit Regeln und mit staatlichen Gesetzen dem digitalen Antisemitismus begegnet werden kann, wobei sie auch daran erinnert, wie zuweilen mit Humor die Angstmache überlistet werden kann.

Dass das »Wiedererwachen des Antisemitismus« in den neunziger Jahren mit Israel und dem Nahostkonflikt zu tun hat, betont Moshe Zimmermann in seinem 2004 publizierten Beitrag »Im Arsenal des Antisemitismus«. Insbesondere nach 1967 habe die arabische Seite, auf der Suche nach antizionistischen Argumenten, den europäischen Antisemitismus adaptiert. Mit der Einwanderung komme dieser Antisemitismus nun nach Europa zurück. Zimmermann konstatiert eine wachsende Identifizierung von Israel und Juden, sowohl auf israelischer als auch auf arabischer Seite. Diese problematische Identifizierung sei es, die Juden außerhalb Israels zur Zielscheibe antiisraelischer Übergriffe mache.

Auch Dan Diners abschließender Beitrag von 2004, »Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines ›neuen Antisemitismus‹«, macht deutlich, dass der Nahostkonflikt im Zentrum der Debatte über den »neuen Anti27semitismus« steht. Diner schlägt eine »gordische Lösung« vor: den Antisemitismus bekämpfen, als ob es keinen Nahostkonflikt gäbe, und den Nahostkonflikt einer Lösung zuführen, als gäbe es den Antisemitismus nicht.

In seinem Nachtrag von 2018, der den Band beendet, geht Diner auf die Vereinfachung des Wortes »Antisemitismus« ein, die der Komplexität der Erscheinung der Judenfeindschaft nicht gerecht werden kann, wobei Diner insbesondere Antisemitismus von Rassismus unterschieden wissen will. Letztlich bringt Dan Diner auf den Punkt, was auch in den Postskripta von Omer Bartov, Ian Buruma und Moshe Zimmermann angesprochen wird, denn Diner verweist auf die Differenz, ja, auf die, wie er bemerkt, »Gegenläufigkeit« zwischen der israelischen Staatsräson und der jüdischen-diasporischen Existenz hinsichtlich der Frage, was überhaupt als »neuer Antisemitismus« gelten soll.

28Omer Bartov

Der alte und der neue Antisemitismus

Um den heutigen Antisemitismus zu erfassen und sein Potenzial für die Zukunft einschätzen zu können, müssen wir zunächst den früheren Antisemitismus und seine Entwicklung in den Blick nehmen. Chronische Krankheiten wie den Antisemitismus kann man nicht verstehen, wenn man nur stichprobenartige Untersuchungen zu einem bestimmten Zeitpunkt anstellt. Diese Krankheiten entwickeln sich, werden endemisch und wachsen sich unter bestimmten Umständen zu einer Epidemie aus. Die Krankheit trägt ihre Geschichte in sich. Und diese Geschichte ist eine Warnung, die wir ernst nehmen müssen. Solche chronischen Krankheiten können zwar nicht geheilt werden. Doch wenn die Symptome nicht gleich behandelt werden, verwandeln sie sich schnell: Was zunächst als Anomalie erschien, entwickelt sich zu einem alltäglichen, alles durchdringenden Zustand.

Der alte Antisemitismus: Hitlers Zweites Buch

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen. Adolf Hitlers sogenanntes Zweites Buch ist die klarste politische Erklärung eines Mannes, der die Ideologie des Antisemitismus zu ihrem logischen Ende brachte: zum offenen Völkermord. Das 1928 hastig geschriebene Buch wurde zu Lebzeiten Hitlers nicht veröffentlicht, zunächst nicht, weil es eine Konkurrenz zu Mein Kampf gewesen wäre, das sich sehr schlecht verkaufte. Nach Hitlers Machtübernahme kam eine Publikation nicht mehr infrage, weil das Zweite Buch seine außenpolitischen 29Pläne allzu deutlich offenlegte. Es wurde weggeschlossen und blieb so gut wie unbekannt, bis der Historiker Gerhard Weinberg es 1958 wiederentdeckte.1

Doch dieses Buch hätte schon von den Zeitgenossen gelesen werden sollen, und es sollte auch heute gelesen werden. Das Zweite Buch war eine unmissverständliche Warnung an die Welt, was von dem künftigen Führer des »Dritten Reiches« zu erwarten war. Als Hitler das Buch schrieb, konnte niemand sagen, ob seine Pläne und Fantasien, die sich auch in vielen anderen seiner Publikationen und Reden fanden, je in Politik verwandelt werden würden. Man nahm allgemein an, dass Hitler, sobald er an der Macht war, durch die Realitäten der Diplomatie, durch die Grenzen von Deutschlands Macht, durch die nationalen Interessen des Reiches sowie durch die militärischen, wirtschaftlichen und politischen Partner, mit denen er zusammenarbeiten musste, gezügelt werden würde.

Heute wissen wir, dass dies ein fataler Irrtum war, der mehr auf Wunschdenken beruhte als auf jenem Realismus, dessen sich zeitgenössische Beobachter rühmten und von dem sie erwarteten, dass er Hitler in die Schranken weisen würde. Heute wissen wir, dass Hitler genau das sagte, was er meinte. Im Nachhinein sehen wir, dass Hitler nicht geisteskrank, irrational oder ein Dummkopf war. Im Zweiten Buch erörtert er ganz offen seine künftige Politik und deren leitende Motive. Seine Rhetorik war nicht dümmer als diejenige vieler seiner Zeitgenossen; seine Klischees entsprachen in etwa dem, was man in Zeitungen lesen konnte; seine Geschichtskenntnis, seine psychologischen Einsichten, seine Kritik an politischen Rivalen sind im Großen und Ganzen typisch für sein Land und seine Zeit.

Und doch war Hitler ein pathologischer Massenmörder, der den Tod von Millionen und die Zerstörung Europas ver30ursacht hat. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass er genau das tat, was er zu tun versprochen hatte. Offenbar haben wir eine einfache und entscheidende Lektion noch immer nicht gelernt, obwohl Hitler sie uns klarer erteilt hat als jeder andere: dass manche Völker, manche Regimes, manche Ideologien, manche politischen Programme und auch manche religiöse Gruppen beim Wort genommen werden müssen. Es gibt Menschen, die meinen, was sie sagen; die sagen, was sie tun werden; und die tun, was sie gesagt haben.

Die meisten liberalen, optimistischen und wohlgesinnten Menschen wollen das nicht glauben. Sie glauben, dass Fanatismus bloß eine »sekundär auftretende« Art Fassade für Politik ist, dass sich Meinungen verändern, dass jeder Mensch sich korrigieren und verbessern lasse. Oft stimmt das auch, aber eben nicht in allen Fällen und nicht in den gefährlichsten. Es gibt Menschen, die umsetzen, was sie predigen, und darauf stolz sind. Für sie sind diejenigen, die Kompromisse schließen und vor endgültigen Urteilen zurückschrecken, Opportunisten und Schwächlinge. Sie werden als Ziele gesehen, die sich leicht überwältigen und unterwerfen lassen, und zwar von denen, die entschlossener, härter und rücksichtsloser vorgehen. Wenn diese Leute sagen, dass sie dich töten, dann töten sie dich auch – es sei denn, du tötest sie zuerst.

In der von Gewalt geprägten Wirklichkeit von heute sollte Hitlers Zweites Buch als instruktive Einführung für Journalisten, politische Beobachter und all jene dienen, die die Neigung haben, das Böse klar zu erkennen, wenn sie ihm gegenüberstehen. Denn einer der erschreckendsten Aspekte an Hitlers Buch ist nicht, dass er damals sagte, was er sagte. Sondern dass sich einiges davon heute vielfach wiederfindet: im Internet, in Propagandabroschüren, in politischen Reden, auf Demonstrationen, in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, 31in religiösen Predigten und anderswo. Solange sie nicht direkt mit Hitler verbunden sind, werden diese irrsinnigen Diskurse ignoriert.

Die Stimmen, die solche Dinge äußern, lassen sich keiner bestimmten politischen oder ideologischen Strömung zurechnen. Sie sind viel schwerer auszumachen als in den dreißiger Jahren. Sie gehören zur Rechten wie zur Linken, zu den Religiösen wie zu den Säkularen, zum Westen wie zum Osten, zum Fußvolk wie zu den Anführern. Es sind Terroristen darunter und Intellektuelle, Studenten und Bauern, Pazifisten und Militante, Anhänger einer Expansionspolitik und Globalisierungsgegner. Hitlers Strategie ist nicht mehr relevant. Doch das dahinterliegende Motiv, die Legitimation seiner »Weltanschauung«, ist quicklebendig und möglicherweise noch immer fähig, uns harte Schläge zuzufügen.

Hitlers Ideologie war nicht sehr komplex; im Folgenden werde ich mich auf die Anteile beschränken, die bis heute relevant geblieben sind. Hitler entwarf ein klares Bild von der Welt, er teilte sie auf in Gut und Böse, sündig und gerecht, schuldig und unschuldig, schmutzig und sauber, minderwertig und überlegen. Zwischen seiner historischen »Analyse« und seinen Plänen für Deutschlands Zukunft machte er keinen Unterschied. »Politik aber ist«, schrieb er im Zweiten Buch, »nicht nur der Kampf eines Volkes um sein Dasein an sich, sondern […] die Kunst der Durchführung dieses Kampfes.« Man müsse sich das klar vor Augen halten, »weil damit die beiden Begriffe Friedens- oder Kriegspolitik sofort in ein Nichts versinken«. Der »Einsatz, um den durch die Politik gerungen wird«, sei »immer das Leben«.2

Hitlers zentrale Ziele bestanden darin, in Deutschland eine völkische Einheit herzustellen und es von »schädigenden« Bestandteilen zu befreien; zudem wollte er im Osten einen riesigen und nicht näher definierten »Lebensraum« erobern. 32Die Hauptgegner waren das »vernegerte« Frankreich sowie die Vereinigten Staaten, deren gesunder arischer Stamm sich vom Vaterland abgewandt habe. Die Slawen, vor allem die Polen und Russen, müssten unterjocht werden, da sie unfähig seien, sich selbst zu regieren; was immer in ihren Ländern von Wert sei, hätten sie deutschen Kolonisatoren und Herrschern zu verdanken.

Für die Expansion des Reiches sah Hitler keine Grenzen: »Denn wo immer auch unser Erfolg endet, er wird stets nur der Ausgangspunkt eines neuen Kampfes sein.«3 Die bloße Revision des Versailler Vertrags reichte ihm keineswegs. Er betonte, dass die »Nationalauffassung nicht von bisherigen patriotischen Staatsgedanken […] bestimmt […] wird, als vielmehr von völkischen, rassischen Erkenntnissen«. So stellten »die deutschen Grenzen des Jahres 1914 […] genauso etwas Unfertiges« dar, »als sie die Grenzen der Völker zu allen Zeiten sind«. Er war überzeugt, dass die »Raumverteilung der Erde […] in jeder Zeit das augenblickliche Ergebnis eines Ringens und Werdens […] ist, das damit keineswegs abgeschlossen ist«.4

Infolgedessen kam »Appeasement« in Hitlers Vorstellungswelt nicht vor. Schon 1928 befürwortete er die ethnische Säuberung und Kolonisierung Polens, mit der er elf Jahre später Heinrich Himmler beauftragte.5 Doch dies war kaum genug, denn »das einzige Gebiet, das in Europa für eine solche Bodenpolitik in Frage kam« – als zukünftiger Lebensraum der Deutschen –, war Russland.6 Das Instrument zu seiner Eroberung würde eine riesenhafte, neue und moderne Militärmaschine sein. Sieben Jahre später war Hitler dem Ziel, eine neue Wehrmacht zu schaffen, schon sehr viel näher gekommen. Nachdem er die SA, die eine alternative revolutionäre Armee zu werden drohte, rücksichtslos gesäubert hatte, führte er, in Verletzung des Versailler Vertrags, die allgemeine 33Wehrpflicht ein.7 Doch damit nicht genug. Er hatte schon weiter gesteckte Ziele im Auge: »Nordamerika wird in der Zukunft nur der Staat die Stirne zu bieten vermögen, der es verstanden hat, durch das Wesen seines inneren Lebens sowohl als durch den Sinn seiner äußeren Politik den Wert seines Volkstums rassisch zu heben und staatlich in die hierfür zweckmäßigste Form zu bringen.«8 Es wurden Pläne für die Produktion von Flugzeugen und Schiffen entwickelt, die das militärische Vorgehen gegen die USA möglich machen sollten.9

Während er selbst den Aufbau eines Weltreiches plante, brandmarkte Hitler den »Internationalismus« als eine jüdische Verschwörung zur Erringung der Weltherrschaft. Deutschlands tödlichste Feinde seien nicht fremde Länder und Armeen, sondern die Juden, die die Sowjetunion beherrschten und hinter den marxistischen Parteien in Europa stünden. Zugleich seien sie die Bosse und Manipulatoren des internationalen Kapitalismus. Die Juden und ihre globale Verschwörung beherrschten die Welt, und es sei Deutschlands Pflicht, sie zu vernichten, bevor sie die Menschheit auf ewig unterwerfen würden. Denn diese Agenten der Globalisierung strebten danach, »die anderen […] mit friedlicher Wirtschaft […] töten zu können«; sie raubten den Menschen den Lebensraum, den diese für eine gesunde Entwicklung benötigten.

Die Städte seien »Brutstätten der Blutsvermischung und Bastardierung, damit meistens der Rassensenkung«. Sie »ergeben damit jene eitrigen Herde, in denen die internationale jüdische Völkermade gedeiht und die weitere Zersetzung endgültig besorgt«. »Sowie ein Volk den kulturellen Ausdruck des durch sein Blut bedingten eigenen Seelenlebens nicht mehr würdigt […], […] wird es unsicher in seiner Beurteilung des Weltbildes […], verliert die Erkenntnis […], um 34anstelle dessen im Wirrwarr internationaler Vorstellungen, Auffassungen und dem daraus entsprossenen Kulturdurcheinander zu versinken. Dann kann der Jude in jeder Form seinen Einzug halten, und dieser Meister der internationalen Giftmischerei und Rassenverderbnis wird dann nicht eher ruhen, als bis er ein solches Volk restlos entwurzelt und damit verdorben hat.«10

Hitler zog eine Linie zwischen dem Entstehen einer »globalen Wirtschaft«, einer europaweiten Bewegung und einer von »dem Juden« ins Werk gesetzten »Verbastardung und Verniggerung der Kulturmenschheit«, die zu einer »solchen Senkung ihres rassischen Wertes« führe, »daß der sich davon freihaltende Hebräer langsam zum Weltherren aufzusteigen vermag«.11 Die Juden stünden hinter jeder Tragödie, die den Deutschen zugestoßen sei. Sie und ihre marxistischen Verbündeten hätten den Deutschen 1918 den Dolch in den Rücken gestoßen. Anders als die ausländischen Feinde verdienten die Juden keine Gnade: »Wer heute im Namen der deutschen Ehre handeln will, der hat zunächst den unbarmherzigsten Kampf anzusagen den infernalischen Besudlern der deutschen Ehre […]. Ich gestehe freimütigst, daß ich mich mit jedem der damaligen Gegner versöhnen könnte, aber daß mein Haß gegen die Verräter unseres Volkes in den eigenen Reihen ein unversöhnlicher ist und bleibt.«12

Hitlers gesamte politische Laufbahn war geprägt von einer obsessiven Fixierung auf »den Juden«. Die Schlussbemerkungen des Zweiten Buches ähneln den abschließenden Erklärungen seines politischen Testaments, das er kurz vor seinem Selbstmord diktierte.13 Für Hitler war unmissverständlich klar, was schon immer an der Wurzel alles Bösen und allen Unglücks gestanden hatte. Auch wenn er in weiten Teilen nur auf die antisemitischen Gemeinplätze der Zeit zurückgriff, gab seine Haltung diesen Worten ein ganz anderes 35Gewicht und einen anderen Sinn. Für Hitler sind die Juden ein Volk »mit besonderen Wesenseigenheiten, die es von allen sonst auf der Erde lebenden Völkern scheiden«. Denn das »jüdische Volk kann mangels eigener produktiver Fähigkeiten einen Staatsbau räumlich empfundener Art nicht durchführen, sondern braucht als Unterlage seiner eigenen Existenz die Arbeit und schöpferischen Tätigkeiten anderer Nationen. Die Existenz des Juden selbst wird damit zu einer parasitären innerhalb des Lebens anderer Völker. Das letzte Ziel des jüdischen Lebenskampfes ist dabei die Versklavung produktiv tätiger Völker.« Der Jude kämpft »innerhalb der einzelnen Völker erst um die Gleich- und später um die Überberechtigung. Außenpolitisch versucht er die Völker […] in gegenseitige Kriege zu stürzen und auf diesem Wege langsam mit Hilfe der Macht des Geldes und der Propaganda sich zu ihrem Herrn aufzuschwingen.« Das »Endziel« des Juden sei »die Entnationalisierung, die Durcheinanderbastardierung der anderen Völker […] sowie die Beherrschung dieses Rassenbreies durch Ausrottung der völkischen Intelligenzen und deren Ersatz durch die Angehörigen seines eigenen Volkes«.

»Um die Jahrhundertwende«, so Hitler weiter, »ist die wirtschaftliche Eroberung Europas durch den Juden ziemlich vollzogen, er beginnt nun mit der politischen Sicherung […] in Form von Revolutionen […] und indem er planmäßig zum Weltkriege hetzt.« »Die Gesamtopfer dieses jüdischen Kampfes um die Vorherrschaft in Rußland betrugen für das russische Volk achtundzwanzig bis dreißig Millionen Menschen an Toten […], nach gelungener Revolution riß er sämtliche Bande der Ordnung, der Moral, der Sitte usw. weg […] und proklamierte statt dessen die allgemeine Paarung untereinander«, mit dem Beistand so schädlicher Verbündeter wie »der Freimaurerei […] der Presse […] und der […] offensi36ven Kampftruppe des Marxismus«. Und doch ist »das Ende einer Judenherrschaft […] dabei stets der Verfall jeglicher Kultur und endlich der Wahnsinn des Juden selbst. Denn er ist Völkerparasit, und sein Sieg bedeutet ebensosehr den Tod seines Opfers als sein eigenes Ende.« Schließlich aber, erklärt Hitler, werde dem ein Ende gemacht, denn »die nationalsozialistische Bewegung […] hat […] als einzige den Kampf gegen dieses fluchwürdige Menschheitsverbrechen aufgenommen«.14

Es ist erstaunlich, dass alle die Sünden, die Hitler »dem Juden« zuschrieb, zu Elementen seiner eigenen Politik wurden, wie er sie im Zweiten Buch skizzierte und später verwirklichte: die Vernichtung ganzer Nationen durch Ausrottung ihrer Eliten, ihre Massendeportation, und im Fall der Juden der Völkermord. Und ebenso verblüffend ist es, wenn man feststellt, dass die von Hitler den Juden zugeschriebene Verworfenheit unter seiner Herrschaft zur Wirklichkeit deutschen Verhaltens wurde, was zur Aufgabe jeglicher moralischer Hemmungen führte und Deutschland in einen wahnsinnigen Sturm der Selbstzerstörung trieb. Was Hitler zufolge Deutschland angetan werden würde, tat er anderen an; er und sein Volk wurden zu Opfern der Nemesis, die er seinen Feinden prophezeit hatte. Als Hitler das Zweite Buch schrieb, starrte er in einen Spiegel.

Neue Töne: Kritik an Israel und Antisemitismus

Wer beobachtet hat, wie die heutige Welle des Antisemitismus in nur wenigen Jahren aus den verschiedensten Quellen hervorgegangen ist, könnte ebenfalls das Gefühl haben, in einen Spiegel zu starren – in den Zerrspiegel einer wiederauferstandenen Vergangenheit, aus dem ihn ein verstümmeltes, 37transplantiertes, verwandeltes, verzerrtes und monströses Gespenst anstarrt, dessen vermeintlich erschöpfte Kräfte jeden Tag stärker zu werden scheinen.

Hitler ist tot, wie der Journalist Leon Wieseltier zu Recht vor ein paar Jahren in der Zeitschrift The New Republic erklärt hat.15 Was Wieseltier beunruhigte, war die Neigung, jede Bedrohung als maximale Bedrohung anzusehen, jede antisemitische Tirade als ersten Schritt zu einer neuen »Endlösung« zu deuten. Es ist offensichtlich, dass wir nicht vor der Gefahr eines zweiten Auschwitz stehen. Die Hysteriker müssen sich daran erinnern, dass Hitler und das »Dritte Reich« Geschichte sind. Deutschland hat sich entschuldigt und großzügige Wiedergutmachung geleistet. Die Nazis wurden vor Gericht gestellt oder versteckten sich, einige verwandelten sich in gute Demokraten. Der Staat Israel wurde gegründet. Noch nie sind die Juden wohlhabender, erfolgreicher und sicherer gewesen, als sie es heute in den USA sind. Das gilt ebenso für die nervösen Juden Westeuropas. Die letzten Reste des kommunistischen Antisemitismus verschwanden mit dem Sturz dieses »Reichs des Bösen«. Juden haben heute gute Gründe dafür, sich weitaus sicherer zu fühlen als ihre Vorfahren.

Doch es steht nicht alles zum Besten, bei Weitem nicht. Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern hat sich schon seit Langem mit Antiamerikanismus verbunden. Bereits die Nazis erklärten im Zweiten Weltkrieg, die USA würden von den Juden beherrscht. Zudem wird Kritik am amerikanischen Imperialismus oft mit der Unterstützung der USA für Israel in Zusammenhang gebracht, einem angeblichen kolonialen Vorposten im Herzen der arabischen und islamischen Zivilisation, bewohnt von Juden. Zwar darf man legitime Kritik an der israelischen Politik niemals mit dem verwechseln, was für alle vernünftigen Menschen die 38verachtenswerte Ideologie des Antisemitismus ist. Und tatsächlich widerspricht die Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung in den besetzten Gebieten vollkommen den strategischen und moralischen Interessen des jüdischen Staates. Man muss jeden Versuch zurückweisen, eine anstößige israelische Politik mit dem Holocaust zu rechtfertigen.

D. ‌h. aber nicht, dass wir das Offenkundige übersehen sollten – wenn nämlich antiisraelische Gefühle sich in unverhohlenen und bösartigen Antisemitismus verwandeln. So argumentierte auch ein Bericht über Antisemitismus in der Europäischen Union, den das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin dem Europäischen Beobachtungszentrum für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) 2002 vorlegte, das den Bericht in Auftrag gegeben hatte.16 Das EUMC versuchte seinen eigenen Bericht zu unterdrücken, weil er einen Eindruck von der antisemitischen Gewalt durch Muslime in Europa vermittelte und weil seine Definition von Antisemitismus auch diejenigen einschloss, die die Vernichtung Israels fordern. Diese bitteren Wahrheiten widersprachen der politischen Korrektheit. Die israelische Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens ist dumm und destruktiv, und sie sollte durch die Schaffung eines palästinensischen Staates beendet werden. Wer aber die Vernichtung des jüdischen Staates predigt, sollte sich nicht hinter der unglücklichen Politik Scharons verstecken dürfen. Es ist eine Sache, die Ziele der palästinensischen Nation zu unterstützen, und eine ganz andere, den Juden das Recht zu verweigern, in ihrem eigenen Staat zu leben.

Was wir heute sehen, ist eine breite Strömung, die sich in allen politischen Spektren und religiösen Lagern findet. Ihre Kritik an der Politik Amerikas und Israels, ihre Ängste bezüglich der Gegenwart, ihre Träume von einer besseren Zukunft und ihre Fantasien über eine mythische Vergangenheit 39konzentrieren sich allesamt, in einer bizarren und zunehmend bedrohlichen Weise, auf eine einzige Figur: den »Juden«. Ich habe lange geglaubt, dass es zwecklos und entwürdigend ist, mit Antisemiten zu diskutieren. Ein solcher Austausch von »Ideen« verschafft diesen Leuten bloß Legitimität. Es gibt jedoch Zeiten, in denen Absurditäten zu politischen Tatsachen werden und nicht mehr ignoriert werden können. Man muss sich mit diesen Leuten auseinandersetzen. Und zwar nicht, indem man für ihre gewalttätigen Vorstellungen und Gefühle eine Erklärung sucht, sondern indem man ihnen Grenzen setzt, mit allen verfügbaren Mitteln – politischen, rechtlichen und, wenn nötig, auch mit dem Mittel legitimer Gewalt. Denn es handelt sich um Leute, die meinen, was sie sagen. Wenn man sie nicht vernichtet, werden sie einen vernichten. Dafür gibt es Präzedenzfälle.

Man erinnere sich daran, was Hitler 1928 schrieb. Wenn man das Wort »Rasse« durch »Zionismus« oder »amerikanischer Imperialismus« und die Verweise auf die Sowjetunion durch Verweise auf die USA ersetzt, erscheint der Diskurs nicht mehr nur verrückt, sondern fast schon alltäglich. Die sanfte Variante dieser vergifteten Rhetorik findet man in manchen Kreisen europäischer und amerikanischer Intellektueller und Akademiker. Hier neigt man dazu, Israelis als Übeltäter anzusehen, und Juden als potenzielle Israelis. Dieser Diskurs ist in obsessiver Weise fixiert auf den angeblichen weltweiten Einfluss von Juden auf Kultur, Politik und Wirtschaft. Der teilweise erfolgreiche Boykott israelischer akademischer Institutionen in den letzten Jahren ist ein Beispiel dafür – wobei er meist diejenigen trifft, die zu den entschiedensten Gegnern der Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung gehören. Die Kampagne, mit der amerikanische und europäische Universitäten dazu gebracht werden sollten, der israelischen Forschung die Unterstützung zu entziehen, 40ist ein weiteres Beispiel; diese Kampagne sieht für weltweit alle Regimes, die akademische Freiheit nie anerkannt haben, Schutz und Immunität vor. Das in der selbstgerechten Sprache von Befreiung und Gerechtigkeit daherkommende Verständnis für Selbstmordattentäter, die in Israel unschuldige Zivilisten in die Luft jagen, erzeugt in gewissen akademischen Kreisen und auch in liberalen und linken Publikationen ein Klima der Toleranz für Mord.17

Gelegentlich verbindet sich die Fixierung auf Juden sehr eng mit Antiamerikanismus. Mehrere Bestseller von Akademikern, Politikern und Journalisten in Frankreich und Deutschland haben die verbreitete Auffassung »bestätigt«, dass die Anschläge vom 11. September 2001 von der CIA und dem Mossad geplant und durchgeführt worden seien (nach einer Umfrage glauben das 19 Prozent der deutschen Bevölkerung und eine Mehrheit in vielen arabischen und islamischen Ländern). Es wird sogar behauptet, der Mossad habe die im World Trade Center arbeitenden Juden gewarnt, an jenem Tag nicht zur Arbeit zu kommen.18 Immer wieder werden die USA, von Europäern wegen ihrer Unterstützung Israels angegriffen, als ein von den Juden kontrolliertes Land dargestellt. Jüdische Lobbys, finanzielle und elektorale Macht manipulierten, in Verbindung mit Schlüsselfiguren im Weißen Haus und im Pentagon, die amerikanische Öffentlichkeit wie auch die Weltpolitik insgesamt.19

Es wird auch behauptet, Israel habe ähnliche Verbrechen begangen wie die Nazis, und in dieser Behauptung schwingt die Nazidarstellung von Juden mit. So bemühten sich die europäischen Medien, vor allem ihre intellektuelleren Vertreter, darum, die israelische Operation im Flüchtlingslager Dschenin im Frühjahr 2002 als Kriegsverbrechen und Massaker darzustellen – und zögerten später, zuzugeben, dass sie von der palästinensischen Propaganda irregeführt worden waren 41und ihre Leser falsch informiert hatten. So hatten sie die Zahl der getöteten palästinensischen Zivilisten stark übertrieben, um ihre Darstellung des Geschehens als Massaker zu rechtfertigen.20 Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon wurde in einem von der Londoner Zeitung The Independent (vom 27. Januar 2003) veröffentlichten Cartoon als bluttriefender Menschenfresser dargestellt, der palästinensische Kinder verschlingt. Seine Gesichtszüge erinnerten an die Darstellungen in der Nazizeitschrift Der Stürmer.21

Wer zu rassistischen, antisemitischen und Neonazipublikationen in den USA und anderswo Zugang hat (mit anderen Worten, wer einen Internetzugang hat), stößt auf diese Meinungen und Beschreibungen. All dies bleibt meist ohne Reaktion. Es gibt jedoch einige wichtige Ausnahmen. Am schockierendsten war die Rede des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann vor rund 130 Zuhörern am 3. Oktober 2003. Hohmann meinte, dass niemand das Recht habe, die Deutschen als »Tätervolk« zu bezeichnen, weil man dann auch die Juden – anscheinend diejenigen, die das behaupteten – als »Tätervolk« bezeichnen könne, angesichts ihrer hohen Präsenz in den Führungsrängen der mörderischen Bolschewiken.22