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Alice führt kein normales Teenagerleben - lebt in einem Waisenhaus und leidet an einer Amnesie. Als sie auf eine öffentliche Schule kommt, wird Lawrence Hale ihr als Schulpate zugeteilt. Alice wird das Gefühl nicht los, ihn irgendwoher zu kennen. Je mehr sie sich mit ihm beschäftigt, desto mehr verliert sie den Kontakt zu ihren besten Freunden. Als Alice dann ein Geheimnis von Lawrence lüftet, überschlägt sich alles. Denn zeitgleich erleidet Alice einen weiteren Schicksalsschlag. Kann Lawrence ihr helfen, bevor es zu spät ist? Selbst wenn sie dafür der Welt der Menschen den Rücken kehren muss? Das spannende Spin - Off zu Never say always and forever - Des Schicksals Verzweiflung - ist da. Erneut fesselt Danae Michaelis ihre Leser mit einer spannenden, aber auch herzergreifenden Geschichte und zieht sie in den Bann einer mysteriösen Welt.
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Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Impressum:
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Veröffentlicht von Danae Michaelis
15. Januar 2025
2. Auflage
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2023 Danae Michaelis
Texte: © Copyright by Danae Michaelis
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Coverdesign: TomJay-bookcover4everyone/www.tomjay.de
Korrektur: Feder und Flamme Lektorat
Bildnachweis: Ranke (©Istock Svitlanka) Herz (©Istock Svitlanka) Vogel/Käfig (©Istock Cattallina) © stevanovicigor / Depositphotos.com © igorlitvyak/ Depositphotos.com © bazil/ Depositphotos.com
Hightower font: Copyright (c) 1996, Tobias Frere-Jones. Designed by Tobias Frere-Jones. Produced by The Font Bureau, Inc. All rights reserved.
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
Never say
always
and
forever
Des Schicksals Krankheit
Danksagung
Als Erstes danke ich meiner Mutter.
Dafür, dass sie sich jedes Mal wieder mit einer riesigen Geduld all meine Ideen anhört. Sich dann meine unfertigen Manuskripte durchliest und durch meinen Gedankenwirrwarr kämpft, bis es eine fertige Geschichte ergibt.
Dann danke ich allen, die mich von Anfang bis Ende bei der Fertigstellung unterstützen. Dazu gehören meine Lektorin/Korrektorin und Klappentextgestalterin, sowie meine Zweitkorrektorin, mein Coverdesigner und natürlich alle Blogger und Leser, die mich immer supporten!
Ohne euch wäre ich niemals so weit gekommen!
Das bin
ich …
Prolog
Erneut flog ich durch die Lüfte.
Alles um mich herum verschwamm. Die Farben glitten ineinander, dass sie nur noch bunten, nicht identifizierbaren Streifen glichen. Der Wind ließ mein Haar wild tanzen und dessen Tempo rauschte in meinen Ohren.Ich hörte, wie eine Stimme rief: »Das gefällt dir, oder, Kleines?« Danach erklang ein tiefes Lachen.Ich erinnerte mich an diesen Satz, doch die Stimme, wem sie gehörte, wusste ich nicht mehr.Plötzlich empfand ich ein Ziehen in meinem Bauch, als wenn man eine Stufe der Treppe verpasste.
Mein Blick glitt nach unten und ich sah, wie eine riesige Schlucht unter uns vorbeizog.
Fest klammerte ich mich an jemandes Rücken.
Ich verspürte keine Angst, denn ich wusste, fallen würde ich nicht. Vor meinen Augen hüpften ein paar goldene Locken im Sonnenschein auf und ab. Auch sie wurden umhergewirbelt, wie mein dunkles Haar.
»Ja, das ist toll, ich möchte–«
*
In der nächsten Sekunde zuckte ich zusammen.
Mein Wecker erinnerte mich dröhnend daran, dass es Zeit war, aufzustehen.
Langsam richtete ich mich auf und schaute in den Spiegel, der genau gegenüber von meinem Bett hing. Mein blasses Gesicht, umrahmt von langem, schwarzem Haar, blickte mir entgegen.
Müde rieb ich meine braunen Augen.Das Bild der Schlucht, über die wir gesprungen waren, verblasste langsam vor meinem inneren Auge.
Dieser Traum …jede Nacht verfolgte er mich.
Ich wusste nicht, was er zu bedeuten hatte.
War es eine Erinnerung an früher, an meine Kindheit?
Mein Blick stoppte bei einem rosa Plüschhasen.
Das Einzige, was ich besaß, seitdem ich klein war. Er hatte schon Flicken und sah etwas ramponiert aus. Doch ohne Hasi (ja, ein kindischer Name … ich weiß, aber er hieß so), konnte ich einfach nicht schlafen.
Immer wieder schwirrten die letzten Fetzen dieses Traumes an meinem inneren Auge vorbei, bis sie endgültig verblassten.
Eine Erinnerung an damals, oder nur ein blöder, hartnäckiger Traum?
Ich konnte es nicht sagen. Denn seit ich zurückdenken kann (und auch dies mit sehr vielen Lücken), lebte ich in einem Heim.
Ich kannte niemanden mit goldenen Locken und erkannte die Stimme aus dem Traum nicht, da sie sich verzerrt und unwirklich anhörte.
Meine Hand fuhr durch mein dunkles Haar und rieb über eine Narbe, welche sich an meinem Hinterkopf befand. Sie wurde gut unter den Haaren versteckt. Doch ich wusste, sie war da.
Laut Erzählungen der Pfleger muss ich als Kind schwer gestürzt sein. Dadurch hatte ich mein Gedächtnis verloren und war einige Tage im Koma gelegen. Nach meiner Genesung kam ich ins Heim. Doch was war davor?
Warum träumte ich jede Nacht erneut diesen Traum?
Müde rappelte ich mich aus dem Bett.
Meine zwei anderen Zimmergenossinnen waren schon auf. Somit konnte ich mich in Ruhe im Bad fertig machen. Mich duschen und dann anziehen. Eine weite, bequeme Hose, sowie ein mir viel zu großer Hoodie, den ich von meinem besten Freund geliehen hatte. Er war weich und einfach perfekt, um sich dort drinnen zu verstecken und unsichtbar zu werden.
Ich stand vor dem Spiegel und band gerade meine Haare provisorisch zusammen.
Nachdem ich das Wertvollste, was ich besaß, unter dem Hoodie versteckt hatte. Nämlich eine Kette mit einemA versehen.Für den Namen Alice. Mit kleinen, blauen Steinchen bestückt.
Wenn auch mittlerweile etwas verblasst und nicht mehr so farbintensiv, wie sie sicher einmal gewesen waren. Als krachend die Tür zum Zimmer aufflog. Erschrocken drehte ich mich um.
»Mensch, wo bleibst du denn?«, nahm ich leise, dumpf, die Stimme eines Jungen wahr. Ich blickte in das genervte Gesicht, meines besten Freundes. Light stand einige Meter vor mir.
Ich hob eine Hand, um ihm zu deuten, dass er kurz warten sollte. Ging dann zu meinem Nachttisch und hob zwei Hörgeräte davon auf und steckte sie mir jeweils an eines meiner Ohren. »So, jetzt kann ich dich besser verstehen«, sagte ich zu ihm.
*
Die Hörgeräte trug ich, seit ich sieben Jahre alt war. Knapp ein Jahr, nachdem ich ins Heim gekommen war, wurde ich schwer krank.
Dazu gehörte eine beidseitige Mittelohrentzündung.
Das Geld, das dieses Heim bekam zur Verpflegung von uns Kindern, gaben die korrupten Pfleger und der Leiter lieber für sich selbst aus. So kam es, dass meine Erkrankung nicht richtig ärztlich versorgt wurde.
Meine Trommelfelle litten unter der Erkältung und wurden nicht genug behandelt. Weshalb ich auf beiden Ohren einige Prozent an Hörfähigkeit verlor.
Seitdem musste ich Hörgeräte tragen. Was die Pfleger und Mr. Orlow erst recht ärgerte. Denn die Geräte kosteten eine Menge Geld, auch wenn ich die Billigsten bekam, die man auftreiben konnte. Nichtsdestotrotz schränkte es mein Leben, neben einer Amnesie, nur noch mehr ein.
Dazu aber später mehr.
Ich konnte auch ohne Hörgeräte Dinge vernehmen, doch es fiel mir deutlich schwerer.
Wie soll ich es euch am besten beschreiben?
Ich erinnere mich nicht daran, wie es war, richtig zu hören. Doch nachdem ich es Light einmal erklärt hatte, meinte er zu mir, es wäre, wie wenn man Watte in den Ohren hat und sie verstopft wären. Dumpf und deutlich leiser als normal. Lippenlesen war von da an etwas, was ich lernen musste. Was auch irgendwie funktionierte, aber Zeichensprache lernte ich nie richtig. Wie das richtige Schreiben und Lesen, blieb es mir durch meine Amnesie fast gänzlich unmöglich. Dauernd vergaß ich Zeichen, weshalb ich es irgendwann ließ und mich auf meine Hörgeräte und Lippenlesefähigkeit beschränkte.
*
Ich sah Light abwartend an.
Dieser hob eine Augenbraue.
»Ich fragte, wo du denn bleibst?«, wiederholte er sich. Wenn auch deutlich genervt, dass er dies tun musste.
»Winston und ich warten schon.«Light war kein Morgenmensch und, dass er auf mich warten musste, schien seine Laune nicht gerade zu heben. Er zupfte an seinem weißen Shirt, was er cool und lässig aus seiner grauen Hose hängen ließ.Ich verdrehte die Augen.
»Keiner sagt, dass du nicht schon ohne mich frühstücken kannst«, entgegnete ich und zog mir schnell meine Schuhe an. Light fuhr sich mit der Hand durch seinen schwarzen Undercut, welcher ihm knapp über die Ohren fiel.
»Um mir dann wieder anhören zu müssen, wir würden nie auf dich achten? Nein, nein, lass mal. Da hole ich dich lieber ab. Und nun komm, bevor Winston wieder alles auffrisst. Du kennst ihn doch.«
Wir grinsten uns an.
Light war mein allerbester Freund, von Kindheit an. Er lebte, seit er ganz klein war, in diesem Heim und hatte mir hier alles gezeigt.
Seitdem waren wir unzertrennlich.
Ich schnappte meinen ledernen Rucksack, hing ihn mir über die Schulter und nahm die Hand von Light.
»Ich bin schon da«, sagte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Light lächelte und seine braunen Augen schauten zu mir runter.
»Guten Morgen, Alice«, flüsterte er, geradeso hörbar für mich und drückte mir ebenso einen Kuss auf die Stirn. Weshalb mein Herz sofort anfing, wild zu klopfen und meine Wangen färbten sich rosa.
Light grinste und zog mich mit sich mit.
Zusammen stiegen wir die Stufen des Kinderheimes von Moskau hinab. Der Ort, wo ich lebte, seit ich sechs Jahre alt war. Gerne würde ich wissen, wo ich herkomme und wo meine Wurzeln liegen.
Meine Gedanken schweiften ab, bis mein Blick auf einen alten Aushang fiel. Die Erinnerung, dass die Heimkinder, welche ab heute auf die öffentliche Schule gingen, sich pünktlich um halb acht in der Aula der besagten Bildungsanstalt befinden sollten. Denn, und bei dem Gedanken machte mein Herz einen Sprung, diese Schüler wurden nicht mehr hier im Heim unterrichtet werden.
Nein!
Wir durften auf die Schule in der Stadt gehen.
Ich konnte diesen Moment kaum erwarten.
Endlich andere Lehrer, andere Schüler treffen.
Ich nahm mir fest vor, ab heute Tagebuch zu führen.
Winston und Light hatten mir dafür extra ein kleines Büchlein geschenkt, in das ich alles hineinschreiben konnte. Weil sie die Idee genauso klasse fanden wie ich selbst. Ich wollte diesen neuen Teil unseres Lebens dokumentieren. Damit wir, allen voran ich, keine Sekunde mehr davon vergaßen.
Meine Hoffnung war, dass die öffentliche Schule meinen Freunden und mir eine bessere Zukunft offenbaren würde. Denn leider war die Vergangenheit von uns nicht wirklich rosig gewesen.
Wir konnten nur hoffen, dass die neue Schule sich nicht als Reinfall herausstellte. Die Leute dort nicht zu Ekelpaketen mutierten, wie wir es bisher kannten. Es musste einfach besser werden.
Ich hoffte dies so sehr!
In dieser Sekunde konnte ich jedoch nicht ahnen, dass dieser Tag mein Leben komplett auf den Kopf stellen würde. Rätsel würden sich lösen … Geschichten sich offenbaren.
Aufgeregt ging ich neben Light her.
Nicht wissend, welche Wege meine Zukunft ab dem Moment einnehmen würde.
Mein Name ist Alice Hollow, ich bin sechzehn Jahre alt und leide an Amnesie.
Ich habe zwei beste Freunde und gehe nun auf die städtische Schule.Mein Leben war nie einfach.
Aber ab heute sollte es noch komplizierter werden!
Wenn ihr möchtet, könnt ihr mich begleiten, meine Geschichte herauszufinden …
Dieses
Starren …
Unheimliche Blicke
01. September 2022
Donnerstag
Nach dem Frühstück versammelten wir uns bei Mr. Orlow, unserem Heimleiter, welcher noch gefühlt eine halbe Ewigkeit davon sprach, dass wir uns auf der Schule ja benehmen sollten. Der Ruf des Heimes stand auf dem Spiel und dies sollten wir niemals vergessen.
Neben meinen beiden Freunden gingen nur zwei weitere Teenager ebenso auf diese Schule.
Ansonsten gab es keine Kinder in unserem Alter, bei uns. Danach machten wir uns auf den Weg. Unterwegs rauchten Winston, Light und ich unsere Morgenzigarette und spekulierten darüber, ob diese Schule wirklich so großartig sein würde, wie Mr. Orlow behauptete.
Eine gute Stunde später befanden wir uns in der Aula der St. Vladimir-Malinowski-Schule.
Es war voll und laut. Ich war mir sicher, selbst ohne Hörgeräte hätte ich den ganzen Lärm problemlos vernehmen können.
Die Lautstärke war unerträglich.
Viele Schüler, Eltern, Familienmitglieder und Lehrer tummelten sich dort. Ich rieb meine Schläfen und hoffte, dass es hier nicht immer so hektisch und laut zugehen würde. Ich lehnte mich müde an Winston und versuchte, ein Kleinkind zu ignorieren, welches direkt eine Reihe vor uns einen Tobsuchtsanfall durchlebte, sich immer wieder zu uns drehte und die Zunge rausstreckte.
Innerlich verdrehte ich die Augen.
Auch die Jungs schienen sichtlich genervt, doch keiner von uns sagte ein Wort. Vom Heim waren wir es gewohnt, die Lautstärke kleinerer Kinder zu ertragen. Da wir dort alle im selben Saal drei Mal am Tag aßen, war es nichts Neues für uns. Nichtsdestotrotz fing es an zu nerven.
Vor allem, da wir sehr neugierig auf diese neue Schule waren.
*
Kurz darauf ging es dann endlich los.
Der Leiter, Mr. Petrow, hielt die Begrüßungsrede. Ein zur Glatze neigender Mann in seinen Fünfzigern. Er sprach von Wissensreichtum, den die ältere Generation (die Lehrer) doch an die Jüngeren weitergeben müssten. All solche Dinge, die einem das Hirn in wenigen Minuten einschlafen ließ.
Light neben mir kippte immer wieder der Kopf auf die Brust, ehe er ihn ruckartig anhob und die Augen aufriss. Ich fand es zum Schießen komisch und kicherte mehrere Male, wofür ich von einigen Eltern bissige Blicke bekam.
Ich hob eine Augenbraue. Hoffentlich haben nicht alle hier, solch einen gewaltigen Stock in ihrem Allerwertesten.
In der nächsten Sekunde ertönte ein lauter Knall, weshalb Winston neben mir zusammenzuckte und beinahe vom Stuhl fiel.
Dabei trat er aus Versehen gegen den Sitz einer Frau vor ihm. Diese drehte sich um und starrte Winston tadelnd in Grund und Boden. Mein Lachen, welches ich nicht mehr unterdrücken konnte, ging zum Glück in lauter Musik unter.
Einige Schüler hatten ein paar Dinge eingeprobt und führten diese nun vor. Danach hielten andere wiederum ein paar Reden. Meist ältere Schüler. Sie erzählten davon, wie großartig diese Schule doch wäre und welch eine Ehre es sei, hierhin gehen zu dürfen.
Arschkriecherei vom Feinsten.
Mein Kopf sackte irgendwann genervt an Lights Schulter. Dessen Blick war so glasig, dass ich mir sicher sein konnte: Seine Gedanken waren längst nicht mehr im Hier und Jetzt.
Nur Winston, der sich anscheinend von seinem Schock erholt hatte, hörte die ganze Zeit aufmerksam zu.
Eine Fähigkeit, die er schon immer besessen hatte. Langweiligem Gelaber aufmerksam folgen können.
Irgendwann, ich weiß nicht mehr, wie viele Seufzer von mir später, war es so weit.Mr. Petrow hielt seine letzte Rede. Danach wurden die neuen Schüler aufgeteilt. Er ratterte einige Namen runter und die erste Klasse quetschte sich auf die viel zu kleine Bühne.
Dann war die Zweite dran.
»Anniston, Elisa«, las der Rektor vor und ein Mädchen mit braunem Haar ging nach vorne.
»Blooman, Winston«, rief er danach und Winston stand auf. Wir klatschten und grinsten unseren Freund oben auf der Bühne breit an.
Dieser lächelte mit roten Wangen, denn er mochte es nicht, im Rampenlicht zu stehen und nun sah ihn jeder in diesem stickigen Saal an.
Mr. Petrow las weiter und andere Schüler gesellten sich zu Winston.So ging es einige Namen weiter, bis ich an die Reihe kam.
»Hollow, Alice«, dröhnte die Stimme des Rektors durch die Boxen. Die Versammelten warteten darauf, dass jemand aufstand.
Light stupste mich mit dem Ellenbogen an. Vermutlich dachte er, ich hätte den Rektor nicht verstanden, dabei hatte ich einfach nur kein Bock mehr auf dieses Theater.
Ich seufzte erneut leise und erhob mich, nachdem Light mir aufmunternd auf die Schulter geklopft hatte. Alle Blicke im Saal richteten sich auf mich. Die Lehrer fingen an, wie bei jedem davor, zu klatschen und der Rest der Versammlung stimmte ein.
Innerlich die Augen verdrehend, schritt ich Richtung Tribüne und zog mir die Kapuze des Hoodies weiter in die Stirn. Ich wollte auf diese Weise den Blicken der Menschen ausweichen und selbst nicht in hundert Gesichter glotzen müssen. Denn im Augenwinkel bemerkte ich, wie eine Familie, welche weiter vorne saß, mich genau beobachtete. Darunter ein Junge, definitiv älter als ich. Seine blauen Augen ließen mich keine Sekunde aus seinem Blick und starrten mich an, als könnte er es nicht fassen, mich zu sehen. Unter anderen Umständen hätte ich sicher mehr darauf geachtet. Doch in dem Moment war ich froh, ohne zu stolpern auf der Bühne angekommen zu sein und, dass die Menschen sich dem nächsten Schüler widmeten, der aufgerufen wurde.
Seine Liste fortsetzend, kam Mr. Petrow endlich bei Zhenya, Light an. Mein bester Freund gesellte sich auf die Bühne der Schüler und der Rektor redete noch über ein paar Dinge.
Unnötiges Zeug, wie dass er hoffe, die neuen Schüler würden genau so viel Ehre an diese Schule bringen, wie die Älteren. Bla, bla …
Er sprach ebenso an, dass fünf der neuen Schüler aus dem städtischen Heim kamen.
Sofort ging das Tuscheln in der Aula los.
Na große Klasse.
Warum musste er das erwähnen?
Als wenn alles nicht schon schwer genug wäre.
Ich wurde sichtlich genervt und versuchte trotz allem, seinem Gerede zu folgen …
*
Irgendwann endete dieser ganze Einführungsspuk.
Alle durften in ihre Klassen. Darunter auch die Jungs und ich. Im Gänsemarsch folgten wir unserem alten, grimmig dreinschauenden Lehrer, Mr. Kozlow.
Im Raum angekommen schnappten Winston, Light und ich uns sofort eine Reihe hinten für uns und der Lehrer begann, die Regeln runterzurattern.Meine Gedanken schweiften ab, bis zu dem Moment, wo sich die Tür der Klasse erneut öffnete. Einige ältere Schüler traten ein.
»So, Klasse, dies sind ein paar Schüler aus der Oberstufe. Sie werden euch zugeteilt. Immer drei Schüler und Schülerinnen. Sie fungieren als eure Paten. Dies bedeutet, wenn ihr Probleme oder Fragen habt, könnt ihr euch an sie wenden. Sie werden die ersten drei Monate für euch zuständig sein. Danach solltet ihr euch hoffentlich eingelebt haben.«
Mein Blick fiel auf die Schüler, die nacheinander in den Raum kamen und die Neuen neugierig musterten. Und da war er …
Sofort blieben meine Augen an seinen hängen.
Blaue Augen, welche direkt zu mir glitten, kaum dass der Junge den Klassenraum betreten hatte. Ich runzelte die Stirn.
Er besaß eine blasse Haut. Das Gesicht ebenmäßig und schön. Dieses wurde von goldenen Locken umrahmt. Sein Blick glitt nicht ein einziges Mal zu den anderen Anwesenden, sondern fixierte mich die ganze Zeit, während unser Lehrer irgendetwas erzählte. Mir wurde seltsam unangenehm in meiner Haut, weshalb ich die Kapuze des Hoodies erneut etwas weiter ins Gesicht zog und dabei enger an Winston rückte. Dieser sah zu mir hinab.
»Alles okay?«, wollte er über meine plötzliche Nähe wissen. Light, neben mir, sah zu uns rüber.
Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum und spürte die Blicke des Älteren weiter auf mir. Sie bohrten sich förmlich unter meine Haut.
»Der da beobachtet mich so schräg«, wisperte ich meinen Freunden unauffällig zu. Beide Jungs hoben zeitgleich ihre Köpfe, um zur besagten Person zu gucken. Ich schlug die Hand an meine Stirn. Noch auffälliger ging es nicht, oder?
»Vielleicht findet er dich süß?«, kam es von Winston und er zuckte mit den Schultern.
Light hingegen hob eine Augenbraue.
»Oder er bemerkt, dass der Hoodie viel zu cool für dich ist, weil er nämlich eigentlich mir gehört.« Er grinste mich an. Ich verdrehte die Augen und wandte mich wieder nach vorn. Der Blonde beobachtete mich immer noch.
Unser Lehrer begann, die älteren Schüler aufzuteilen. Irgendwann wandte er sich an den blonden Jungen.
»Mr. Hale, sie gehen bitte zu Mr. Zhenya und Blooman, sowie Ms. Hollow«, sagte er und ich konnte ein Aufstöhnen nicht unterdrücken, was ein paar Schüler im Umkreis sich zu mir drehen ließ. Meine Wangen liefen rot an und schnell versteckte ich das Gesicht hinter meiner Mappe.
Winston schnaubte amüsiert auf und Light grinste nach wie vor.
Der Junge nickte.
Mr. Kozlow blickte ebenso zu mir.
Eine seiner buschigen, grauen Augenbrauen skeptisch erhoben.
»Miss Hollow, wären sie so freundlich und nehmen sie die Kapuze von ihrem Kopf!«, wies er mich zurecht.Alle blickten zu mir und sofort begannen meine Wangen, zu brennen.Ich wollte protestieren, doch nach einem mahnenden Blick von Winston ließ ich es lieber.Widerwillig zog ich mir die Kapuze des Hoodies vom Kopf.
»Danke«, sagte Mr. Kozlow streng, wandte sich wieder an die Klasse und begann, noch ein paar Sachen zu erklären. Nachdem er dies getan hatte, ließ er die Paten zu den zugewiesenen Schülern.Er selbst entschuldigte sich, denn er musste noch einmal ins Sekretariat.
Kaum, dass er durch die Tür verschwunden war, kam der blonde Junge auf uns zu. Er schnappte sich einen Stuhl, den er galant an den Tisch stellte und sich verkehrtherum draufsetzte, damit er die Rückenlehne für seine Arme nutzen konnte.Da er mich nach wie vor anstarrte, wandte ich den Blick ab, runter auf meine Mappe.
»Hey«, kam es mit angenehmer Stimme von ihm, so dass ich doch wieder aufsehen musste.
»Mein Name ist Lawrence Hale. Ich weiß, dass es ziemlich nervig ist, wenn man einen Paten zugewiesen bekommt. In eurem Alter empfand ich es zumindest so. Man ist der Meinung, man könnte alles selbst schaffen–«, redete er weiter.
Mittlerweile sah er zur Abwechslung auch mal die Jungs an.
»Aber lasst mich euch sagen: Am Ende ist es wirklich hilfreich, einen Paten zu haben. Also, wenn etwas ist oder ihr etwas braucht. Fragen habt oder einen Raum nicht findet. Scheut euch nicht, zu mir zu kommen, okay? Wenn ihr ein Handy habt, gebe ich euch meine Nummer. Dann könnt ihr mich jederzeit erreichen.«
Ich hob eine Augenbraue. Dachte dieser Schnösel tatsächlich, dass wir vom Heim so was wie ein Handy besaßen?
Diese giftigen Worte schluckte ich jedoch wohlweislich runter, denn wahrscheinlich wusste er nicht, dass wir von dort kamen. Genervt strich ich mir ein paar Strähnen hinter die Ohren, welche sich mittlerweile aus meinem Zopf gelöst hatten. Genau in dem Moment, wo dieser Kerl sich erneut zu mir wandte. Sein Blick fiel auf meine Ohren. Auf die Hörgeräte, die ich trug. Seine blauen Augen wurden kugelrund.
Ich konnte blankes Entsetzen in seinem Gesicht erkennen.
»Du … du trägst ja Hörgeräte, Alice«, kam es von ihm.
Woher wusste er, wie ich hieß?
Er starrte mich an, sodass erneut eine unangenehme Hitze in meinem Gesicht aufstieg.
»Was ist nur mit dir passiert?«, fragte er und ich war mir nicht sicher, ob er mich meinte oder er mit sich selbst sprach. Sein Ton klang jedoch mitleidig und entschuldigend. Seltsam!
Ganz, als wäre es seine persönliche Schuld, dass ich diese Hörgeräte trug. Er mich ewig kennen würde und sich ernsthaft fragte, was mir zugestoßen war und er es nicht fassen konnte, mich so zu sehen.
Mir wurde unbehaglich unter seinem Blick und sofort schämte ich mich erneut für meine Hörgeräte. So wie immer. Dies war einer der Gründe, warum ich gerne Kapuzen trug, damit man diese dämlichen Dinger nicht sah.
Ich unterbrach den Blick zu dem Blonden und blätterte in meiner Mappe, als hätte ich seine Worte nicht mitbekommen und würde etwas Wichtiges in meinen Unterlagen suchen.
Zum Glück wandte er sich dann wieder den Jungs zu und begann, über die Aufgaben der Schülerpaten zu erzählen. Mein Herz raste noch immer wegen der Worte dieses Kerls.
Was meinte er damit?
Was sollte das heißen, was ist nur mit dir passiert, Alice?
Warum zum Teufel interessierte ihn das überhaupt?
Langsam hob ich den Kopf und sah zu ihm und da war er wieder. Dieser Blick.
»Also, wie gesagt, wenn etwas ist, zögert nicht, mich zu fragen, okay?«, wiederholte Lawrence.
Bei seinem Okay sah er vor allem mich explizit an, als konnte er sich denken, dass ich wenig begeistert war, dass ausgerechnet er uns als Pate zugeteilt wurde und somit ganz sicher nicht nach seiner Hilfe fragen würde.
Recht hatte er damit.
Um seine Vermutung zu bestätigen, verschränkte die Arme vor der Brust. Winston sah mich an, dann zu Lawrence. Kurz zuckte er mit den Schultern, ehe er zu sprechen begann.
»Freut uns, Lawrence. Ich bin Winston … Winston Blooman und das Angebot nehmen wir gerne an. Auch, wenn es bei manchen gerade nicht so aussieht«, sprach er mit einem erneuten mahnenden Blick an mich gerichtet, was mich eine Augenbraue heben ließ.
Ich schnaubte leise, während sich nun auch Light vorstellte. Die Jungs begannen, sich zu unterhalten. Ich selbst stellte mich nicht vor und Lawrence fragte nicht nach. Bei seiner Aussage eben hatte ich das Gefühl, als müsse er dies auch nicht, dass er genau wusste, wer ich war.
Ich weiß, dies klang komisch, doch dem war so.
Irgendwas an seinen Blicken sagte mir genau das. Dass er mich kannte.
Wusste er, wer ich war?
Aber dies schien unmöglich!
Ich war diesem Jungen noch nie zuvor in meinem Leben begegnet, also woher sollte er mich dann bitte kennen?
Aber irgendwas war seltsam an ihm, das spürte ich. Was es jedoch war, konnte ich nicht ahnen.
Es war nie einfach!
01. September 2022
Donnerstag
Genervt blätterte ich durch eines der neuen Schulbücher, die wir heute ausgeteilt bekommen hatten. Meine Laune glich einem Stier, dem man ein rotes Tuch vor die Nase gesetzt hatte. Nach einer Weile fiel mir auf, dass ich sogar genauso schwer schnaufte und atmete. Ich klappte das Buch energisch zu, als hätte es mir höchstpersönlich etwas Unrechtes getan.
Mein Blick glitt von Winston, welcher eifrig über seinen Hausaufgaben saß, zu Light.
Dieser himmelte mit glänzenden Augen unseren Freund an. Ich schüttelte amüsiert den Kopf. Light und Winston waren in einigen Wochen bald ein Jahr zusammen. Dies herauszufinden, war kein sonderlich toller Moment für mich. Sagen wir so, er schaffte es definitiv nicht in meine Top Ten der besten Momente!
Wenn ich so was überhaupt besaß.
Ich mochte Light.
Mehr als das.
Er war immer für mich da gewesen. Soweit ich mich zurückerinnern konnte.
*
Dies war durch meine Amnesie nicht so viel, wie man jetzt dachte.
Denn ich besaß neben meiner retrograden, ebenso eine anterograde Amnesie. Dies bedeutete, dass ich seit dem Unfall auch gut und gerne mal Dinge vergaß, welche zum Beispiel gerade mal fünf Minuten her waren. Mein Hirn schien damals wirklich in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Nun ja, so war es, dass es mir öfter nicht leichtfiel, mir Dinge zu merken. Ich war in dieses Heim gekommen und eiskalt ins Wasser geworfen worden.
Ich musste mir merken, wo mein Zimmer war.
Wo sich der Aufenthalts- und Speiseraum befand. In welcher Etage ich welches Klassenzimmer fand, und so weiter.
Es war eine Tortur für mich.
Je mehr ich in Panik geriet, umso weniger konnte ich mir merken.
Da die Pfleger in diesem Heim nicht gerade sanft waren, und auch kein Problem damit hatten, handgreiflich zu werden, bekam ich öfter als wohl jedes andere Kind eine Menge Ärger. Darunter zählten auch körperliche Bestrafungen. Dies führte dazu, dass ich mir aus Angst immer weniger merken konnte und mir sogar noch andere Dinge passierten. Sachen fielen mir hin und gingen kaputt oder ich machte mir in die Hosen. Alles, wofür man danach noch mehr von den skrupellosen Pflegern schikaniert wurde.
Natürlich lief es auch in der Schule dementsprechend schlecht für mich.
Gedichte auswendig lernen und aufsagen?
Fehlanzeige!
Diktate komplett mitschreiben können, wo die Lehrer wussten, die Behinderte kam nicht schnell genug mit, also las man ellenlange Sätze vor?
Ganz genau!
Hinzu kam, dass sie dann gut und gerne auch mal viel leiser sprachen, als normal. (Nachdem ich die Hörgeräte bekommen hatte. Also fast ein Jahr später.) Durch mein schlechtes Hörvermögen bekam ich dann nicht alles mit.
Dies taten sie nur, damit ich immer wieder nachfragen musste. Bis ich mich nicht mehr traute, weil die anderen Kinder schon lachten oder die Lehrer mich mahnten, doch endlich besser aufzupassen.
Schule, dieses Heim, all das hatte ich schon immer mit dem blanken Horror verbunden.
Fast alles.
Denn nur wenige Tage nach meinem Eintreffen hier, lernte ich Light kennen. Ich musste gerade den Flur mit meiner Zahnbürste schrubben (weil ich genässt hatte), als Light dazukam. Ich war total verheult und grün und blau geschlagen. Light sah meine Tränen.
Er kam auf mich zu, redete mit mir und tröstete mich. Er hörte sich meine Geschichte an und half mir dann beim Saubermachen. Von da an war Light immer da, wenn etwas war.
Er half mir mit den Schulsachen oder, mich in diesem riesigen Gebäude mit den unzähligen Fluren und Treppen zurechtzufinden. Wenn die Lehrer zu schnell oder leise sprachen, wiederholte er es für mich, damit ich dem Unterricht besser folgen konnte. Light spielte mit mir und half mir beim Lernen, auch, wenn er selbst kein Ass in etwas war. Wir redeten, lachten und Light wurde binnen kürzester Zeit mein allerbester Freund.
*
Er selbst hatte schon einige Jahre vor mir in diesem Heim gelebt.
Laut seiner schwachen Erinnerung war er als kleines Kind hierhergekommen.
Mr. Orlow meinte, er war drei Jahre alt gewesen. In dem Alter konnte man sich noch nicht an viel erinnern. Aber Light erzählte mir, dass es wenige Dinge gab, die er noch wusste. Zum Beispiel erinnerte er sich an laute Schreie und Weinen. Er sagte, er habe immer wieder Bilder vor Augen, wie ein Mann eine Frau verprügelte und auch ihn mehrmals täglich körperlich missbrauchte und schlug. Dass sich solche Bilder einbrannten, konnte ich mir vorstellen.
In den Jahren darauf klaute Light einmal seine Dokumente aus Mr. Orlows Büro.
Wir lasen, dass Lights Vater nur wenige Monate nach seiner Geburt bei einem Autounfall gestorben war. Danach hatte seine Mutter immer wechselnde Bekanntschaften. Darunter einen narzisstischen Kerl, welcher sie und ihren Sohn immer wieder verprügelte und missbrauchte. Dies ging so lange, bis er Lights Mutter krankenhausreif schlug.
Dort eingeliefert bemerkten sie, dass das Kind ebenso körperliche Verletzungen aufwies.
Das Jugendamt wurde informiert und sehr schnell deckte sich alles auf, was der Kerl damals getan hatte.
Da seine Mutter jedoch nicht ohne diesen Typen konnte und sich weigerte, ihn anzuzeigen, wurde ihr der Sohn weggenommen und Light kam ins Moskauer Kinderheim.
Laut den Dokumenten starb sie Jahre später ebenso. Von diesem Typen und ein paar seiner Freunde vergewaltigt und dann umgebracht. In der Wohnung achtlos zurückgelassen. Nachbarn fanden sie Tage später, als ein verwesender Geruch aus der Wohnung drang.
Dies zu lesen, war natürlich ein großer Schock für Light. Schließlich waren er und ich gerade mal knappe acht Jahre alt gewesen. Es gibt nicht viel, an das ich mich erinnerte. An diesen Moment jedoch, als wenn es gestern gewesen wäre. Wie wir hinter einer Mülltonne draußen, auf dem Hof, saßen, aneinander gelehnt, und Light die Berichte vorlas, da lesen für mich eine Tortur war.
Wie er mit jedem Wort mehr und mehr einen Kloß im Hals bekam. Nur, um am Ende weinend in meinen Armen zu liegen.
Sein Schluchzen, das Weinen, ich werde es niemals vergessen. Diese dicken Tränen, welche aus seinen sonst so fröhlichen, braunen Augen quollen. Einfach schrecklich!
*
Light war ein hübsches Kind gewesen.
Doch zu einer vollkommenen Adoption kam es nie. Durch seine Vergangenheit war Light aggressiv geworden. Er tickte schnell aus und war dadurch kaum zu zügeln.
Immer, wenn potenzielle Eltern ins Heim kamen, verliebten sie sich in dieses süße Gesicht.
Wer konnte es ihnen verübeln?
Selbst ich verfiel ihm irgendwann.
Doch immer, wenn es dazu kam, dass Light auf Probe irgendwo wohnen konnte, wurde er sehr schnell wieder zurückgebracht. Seine Wutausbrüche waren etwas, womit kaum ein junges Paar sich auseinandersetzen wollte und je mehr Familien Light wieder abwiesen, umso unausgeglichener wurde er. Seine Aggressivität nahm zu. Er wurde hyperaktiv, unruhig und auffällig. Gründe, welche Mr. Orlow bei potenziellen Eltern erwähnen musste. Somit wurden die Anfragen für Light weniger, bis es irgendwann keine mehr gab.
Ich kann bis heute mit Fug und Recht sagen, dass ich, neben Winston, die Einzige bin, die Lights warme, sanfte Seite kennt!
Die zerbrechliche.
Ich hatte einen Draht zu ihm, welchen nicht einmal Winston besaß. Wir waren immer füreinander da. Lange, bevor Winston ins Heim musste. Diese Verbindung konnte uns keiner nehmen.
Als wir neun Jahre alt waren, kam dann Winston dazu. Sein Leben war vorher nicht rosig gewesen.
Die Eltern drogen-, und alkoholabhängig. Gaben ihr Geld lieber für ihre Sucht als für die zwei Kinder aus.
Nachdem Winstons zwei Jahre jüngere Schwester gestorben war, dachte sich das Moskauer Jugendamt nach etlichen Jahren, nun müssten sie etwas tun. Sie holten Winston aus den schlechten Verhältnissen raus und steckten ihn ins Heim. Kein Upgrade an Lebensstil, wenn man mich fragte. Aber nun bekam er wenigstens drei regelmäßige Mahlzeiten am Tag und etwas Anständiges zum Anziehen.
Winston kam in unser Freundesgespann, nachdem ein paar ältere Kinder versucht hatten ihn in der Pause, mit dem Kopf in die Toilette zu stecken. Ja, so was war bei uns möglich.
Ältere ließen ihren Frust gerne an Jüngeren aus. Ich kann nicht aufzählen, wie viele Hörgeräte mir schon gestohlen, oder aus Spaß von anderen Kindern kaputt gemacht worden waren. Einfach, weil sie ihre Macht an Jüngeren ausüben wollten. Manchmal glaubte ich, dass die Pfleger aus dem Grund solch einen Groll auf mich hegten. Weil sie das Geld, was dieses Heim bekam, unter anderem für meine Hörgeräte ausgeben mussten. Dies waren aber nur Gedanken von mir als kleines Kind. Ob dies stimmte, kann ich bis heute nicht sagen.
*
Zurück zur eigentlichen Geschichte:
Da waren also diese Mobber, welche Winston mit dem Kopf in ein Klo stecken wollten.
Light und ich sahen dies. Wir rafften all unseren Mut zusammen, rannten auf die Älteren zu und traten wie die Irren gegen deren Schienbeine. Das Ende vom Lied?
Schlussendlich bekamen Light und ich Prügel von den Älteren und unsere Köpfe wurden zusammen mit dem von Winston in die Toilette gesteckt. Was soll ich sagen?
So ein Ereignis schweißt einen zusammen.
Von da an waren wir unzertrennlich.
Über die Jahre hinweg, entwickelten wir unsere eigene Taktik, mit dem Heimfrust umzugehen. Da wir wussten, wie es war gemobbt zu werden, kamen wir nie auf diesen Gedanken.
Dafür kamen wir irgendwann auf einen anderen Geschmack, und das wortwörtlich.
Alkohol, Drogen, Zigaretten.
Dinge, die uns vergessen ließen, wie scheiße es uns ging. Winston war am Anfang nicht begeistert davon. Durch seine Vergangenheit wusste er, wozu all dies führen konnte.
Aber, wenn man tagtäglich die Misshandlungen der Pfleger ertragen musste (welche im Übrigen bei manchen Kindern auch in der Nacht übergriffig wurden), kam man irgendwann an einen Punkt, wo man etwas brauchte, um abschalten zu können und Trost zu finden. Dieser Schlüssel wurde die Sucht.
Relativ früh fingen wir an, zu stehlen.
Rauchten und schlichen auf Partys, um dort alles auszuprobieren, wo man rankam.
Das Gute, wenn man in Russland lebte?
Hier gab man in vielen Szenen einen Scheiß darauf, wie alt irgendjemand war. Hattest du Geld, stellte keiner Fragen.
Ganz einfaches Motto.
So war es zuerst die Zigarette, dann ein Joint.
Später die Pille mit einem lustigen Smiley darauf und so weiter. Genauso lief es mit dem Alkohol. Von Bier und Wein steigerte es sich blitzartig zum Hochprozentigem. Wenn man am Anfang noch sagt, nur einmal im Monat. Wird es schnell zweimal, dreimal.
Dann jedes Wochenende.
Plötzlich ist es auch mal ausnahmsweise in der Woche, bis es bald täglich sein muss.
Keine rosige Vergangenheit, wie man liest.
Aber was sollten wir machen?
Keiner zeigte uns einen besseren Weg auf, also gingen wir den, welchen wir für richtig hielten.
*
Über die Jahre hinweg wurde unsere Freundschaft inniger.
Eines Tages bemerkte ich, dass meine Gefühle für Light längst nicht mehr die einer kleinen Schwester waren. Im Gegenteil.
Doch ich traute mich nie, es ihm zu sagen.
Heute, wenn ich darüber nachdenke, weiß ich, warum. Ich beobachtete meinen besten Freund viel. Schon da fiel mir auf, welche heimlichen Blicken Light anderen Jungs, allen voran Winston, zuwarf. Doch naiv, wie ich damals war, wollte ich es nicht wahrhaben, in welche Richtung mein Kumpel anscheinend tendierte. Er sagte auch nie etwas. Traute sich wohl nicht.
Bis zu jenem Abend.
*
Nach einer etwas übertriebenen Weihnachtsparty, welche wir etwas zu ausgiebig gefeiert hatten, landeten wir in der Sporthalle des Heimes.
Winston lag schon völlig high im Bett und schlief, nachdem er sein ganzes Weihnachtsessen, dank der Drogen, wieder auskotzt hatte. Doch Light und ich feierten munter Weihnachten auf unsere Art weiter. Schließlich hatten wir noch drei Flaschen Wodka zu killen.
Wir waren ziemlich dicht. Anders hätte ich mich die nächsten Taten sicher niemals getraut.
Der Gedanke an diesen Abend schmerzt heute noch, als wäre es erst gestern passiert.
Wir fingen nach einer Weile aus Spaß an, uns zu kabbeln und irgendwann wurde dieses Spiel ernster. Ich drückte Light mit den Händen an seinen Schultern runter, so, dass er auf der Turnmatratze lag, und grinste dabei.
»Anscheinend bin ich stärker als du, auch unter Drogeneinfluss«, sagte ich amüsiert.
Light hob nur trocken eine Augenbraue.
»Als wenn du jemals eine Chance gegen mich hättest, Hollow«, neckte er mich amüsiert zurück.
»Ich bin Light Zhenya, an mich kommst du niemals nie heran … keine Chance«, stachelte er mich weiter auf in unserem kleinen Machtspielchen.
Ich schnaubte.
»Ach, du denkst also, jemand wie ich könnte den starken und wilden Light niemals bändigen und zähmen?«
Er lachte, schüttelte den Kopf, sodass ein paar Strähnen seines dunklen Haars in seine Stirn fiel.
»Niemals, dieser Hengst bleibt für immer frei! Oder willst du mich etwa gefügig machen?«, raunte er ziemlich high. Ich sah runter in seine braunen Augen.
»Wer weiß«, hauchte ich zurück und kam ihm ein Stück näher. Das Grinsen wich nicht aus seinem Gesicht. Schon da hätte ich merken müssen, dass es für ihn nur ein Spiel war.
»Dann versuch es doch, Hollow«, zog er mich auf. Und wie schon erwähnt: Unter normalen Umständen hätte ich mich die folgenden Sachen niemals getraut. Aber ich war high, betrunken und so was von verknallt in Light.
»Wie du meinst … Zhenya«, flüsterte ich.
Noch ehe Light überhaupt reagieren konnte, beugte ich mich weiter hinab. Überwand die letzten Zentimeter zwischen uns und drückte … dezent unbeholfen … meine Lippen auf die von Light. Ziemlich umständlich und nicht wissend, was ich da tat, versuchte ich Light, zu küssen und presste mein Becken verlangend an seines.
Ich muss ziemlich drauf gewesen sein. Denn ohne zu zögern packte ich mein Shirt und zog es mir über den Kopf. Nur um sofort meine Lippen wieder auf die von Light zu legen. Dies alles ging so schnell, dass es nur wenige Sekunden dauerte.
Noch ehe ich überhaupt verstand, was ich da tat, oder auch nur ansatzweise weiter handeln konnte, stoppte Light mich. Er drückte mich an den Schultern sanft von sich.
Mit wild klopfendem Herzen öffnete ich die Augen und sah runter in das verlegene Gesicht meiner großen Liebe.
Sein Blick direkt auf mich gerichtet.
»Ich … Alice–«, begann er, zu sprechen und als er das tat, war es, als wachte ich aus einer Art Trance wieder auf. Ich begann zu verstehen, was ich da überhaupt tat. Mein Gesicht fing an, zu glühen. Sofort rutschte ich von seinem Schoß runter.
»Tut mir leid«, murmelte ich. Denn auf die Art, wie er meinen Namen aussprach, wusste ich, was nun kommen würde. Light empfand nicht dasselbe für mich wie ich für ihn. Mein Herz zog sich sofort schmerzhaft zusammen.
»Nein, nein, Alice, alles gut. Ich … ich fühle mich geehrt, wirklich«, sagte er vorsichtig.
Ungläubig sah ich ihn wieder an. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.
»Du … du liebst mich nicht?« Es war weniger eine Frage, mehr eine Feststellung.
Lights Blick wurde entschuldigend.
»Ich mag dich! Mehr als mein Leben und ich würde alles für dich tun! Aber, es ist anders … meine Gefühle sind anders«, versuchte er, zu erklären. Nervös fuhr er sich mit der Hand durch seinen Undercut. Meine Augen begannen zu brennen.
»Sag es … sag es einfach«, forderte ich ihn auf, bedacht darauf, nicht loszuheulen. Aber ich musste es von ihm hören. Anders konnte ich es nicht glauben. Doch was er als Nächstes sagen würde, damit rechnete ich nicht. Oder vielleicht schon, nur war ich zu blind und verliebt, um es zu verstehen.
Light nahm zaghaft meine Hand in seine.
»Es tut mir leid, Alice! Ich … ich wusste nicht, was du für mich empfindest. Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich es dir schon viel früher gesagt. Damit du dir keine Hoffnungen machen musst. Aber ich traute mich nicht und war so unsicher.«
Ich starrte ihn an.
»Wovon redest du bitte? Was willst du mir sagen?«, schnappte ich.Meine Gefühle fuhren in dem Moment Achterbahn.
Light schluckte.
»Alice … ich bin an Jungs interessiert«, offenbarte er nun das, wovor ich wochen-, monatelang meine Augen verschlossen hatte, aus Hoffnung, er könnte mich doch lieben.
»Was?«, entkam es mir leise.
Mein bester Freund nickte.
»Ja, ich mag Jungs. Und ich … bitte werde jetzt nicht sauer, aber ich habe mich in Winston verliebt«, gestand er mir.
Es fehlte nicht mehr viel und meine Kinnlade wäre mir bis zum Boden aufgeklappt.
»Alice, es tut mir leid! Ich wusste nicht … wollte ni-… hey, Alice, was tust du? Hey … hey warte doch, lass es mich erklären … Aalliiccee!«, kam es aufgebracht von Light. Doch ehe er weitersprechen konnte, war ich aufgestanden.
Ich zog mir mein Shirt wieder an und obwohl Light noch versuchte, mich aufzuhalten, riss ich mein Handgelenk, welches er geschnappt hatte, aus seiner Hand und stürmte aus der Halle.
Ich weiß jedes Detail, bis heute noch. Wenn mein krankes Gehirn sich sonst nichts merken konnte, aber diesen Abend behielt es vehement in meinen Erinnerungen.
Ich erinnere mich genau, wie Light mich ziemlich jäh in meinem jämmerlichen Versuch, ihn anzumachen, unterbrochen hatte. Wie er gesagt hatte, dass es ihm leidtut und sich dann in der nächsten Sekunde geoutet hatte.
Ich war wie vor den Kopf gestoßen.
Ein paar Tage lang ging ich ihm aus dem Weg.
Egal, wie sehr er versuchte, sich zu entschuldigen. Doch lange konnte ich ihm nicht böse sein. Schließlich konnte er nichts für meine Gefühle für ihn. Ihn so zu behandeln, war unfair gewesen. Lange Rede, kurzer Sinn:
Kurz danach kamen er und Winston zusammen (trotz allem, war ich für Light da und half ihm beim Verkuppeln) und seitdem spielte ich, noch mehr als vorher, gerne die Unsichtbare.
*
Ich verscheuchte diese Erinnerungen in meinen Hinterkopf, blinzelte und kam wieder im Hier und Jetzt an.
Erneut sah ich zu Winston.
Dieser war ein attraktiver, junger Mann.
Seine leuchtend blauen Augen raubten jedem den Verstand. Sein dunkelbraunes Haar, welches er immer geschickt aus seinem Gesicht kämmte, ging ihm fast bis zum Kinn. Es lockte sich minimal und sah so weich aus, weshalb ein jeder dauernd das Bedürfnis bekam, seine Finger durch diese Lockenpracht fahren zu lassen.
Wenn Winston nicht gerade die olle Uniform des Heimes trug kaufte er sich von seinem selbst verdienten (oder geklautem) Geld immer schicke Kleidung aus dem Secondhand-Laden.
Er zog sich gerne fein an und achtete peinlich genau auf sein Aussehen.
Light war da… mit seinem Undercut, den Hoodies und den weiten Hosen, welche Löcher und Risse besaßen, das genaue Gegenteil.
Nachdenklich zuckte ich mit den Schultern.
Gegensätze ziehen sich wohl manchmal doch an, was?
Nur, dass ich nicht sein Gegensatz war, dachte ich und seufzte erneut.
Dies ließ Winston von seinen Hausaufgaben aufblicken, genau in meine Augen.
»Sag mir nicht, du ärgerst dich immer noch über diesen Typen in der Schule heute?«, wollte er wissen und drehte nachdenklich seinen Kuli zwischen den Fingern.
»Vergiss ihn einfach, Alice. Er ist nur einer von den Älteren und wurde uns zugewiesen. Das bedeutet nicht, dass wir seine Hilfe annehmen müssen. Schließlich haben wir doch uns.«
Light stoppte damit, seinen Freund anzuschmachten und blickte zwischen uns hin und her. Ich rollte mit den Augen und klatschte das Buch auf meine Mappe.
»Ich denke gar nicht an diesen Kerl«, protestierte ich etwas zu herrisch.
»Denke ich–«, kam es kleinlaut von mir, nachdem die Augenbrauen beider Jungs gen Haaransatz gewandert waren. Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust.
»Ich weiß es doch auch nicht. Er sieht mich die ganze Zeit so komisch an. Als würde er mich … was weiß ich … fressen wollen, oder so?«
Light schmunzelte.
»Vielleicht steht er ja tatsächlich auf dich. Er sieht zumindest gut aus, warum nicht?«
Dann zuckte er mit den Schultern.
»Und wenn er dir zu sehr auf die Nerven geht, dann holst du deine Hörgeräte aus den Ohren. Schon hast du deine Ruhe. Ganz einfach.«
Er lachte über seinen eigenen doofen Witz, wofür er einen mahnenden Ellenbogen von seinem Freund in die Rippen gestoßen bekam. Er keuchte leise, auch wenn ihm das Grinsen dadurch nicht wirklich verging. Ich verdrehte die Augen, überging den Kommentar mit den Hörgeräten und schüttelte den Kopf.
»Das ist es sicher nicht«, antwortete ich auf die Aussage hin, dass dieser Lawrence vielleicht etwas von mir wollte.
»Er hat eine Freundin. Ich habe gesehen, wie er sie in der Cafeteria begrüßte. Sie haben sich geküsst. Er saß bei ihr am Tisch, wisst ihr noch? Die Hübsche mit dem stacheligen, schwarzen Haar.« Unsicher knetete ich meine Hände.
»Irgendetwas ist da anders. Ich weiß nur nicht, was. Ich–« Meine Stimme versagte. Immer wieder dachte ich an Lawrence Hale und seine unergründlichen Augen. Wie er förmlich, fast übertrieben freundlich, mit uns sprach und mich andauernd ansah, als würde er mich … kennen?
»Du … was?«, wollte Winston wissen.
»Was ist los? Dich bedrückt irgendetwas, das sieht man doch, Alice. Warum sprichst du nicht mit uns? Du erzählst uns doch sonst alles«, sagte der Junge und Light, neben ihm, nickte energisch.
Fest biss ich mir auf meine Unterlippe.
Ich hasste es, wenn man in mir lesen konnte, wie in einem offenen Buch. Aber die beiden hatten recht. Lawrence ging mir nicht aus dem Kopf und mittlerweile bildete ich mir sogar ein, ihn schonmal irgendwo gesehen zu haben.
Erneut hatte ich ein Bild vor meinem inneren Auge. Goldene Locken, die im Sonnenlicht auf-, und abtanzten. Ich schluckte und schüttelte den Kopf.
»Ich … nein, also … keine Ahnung«, kam es nicht wirklich schlau von mir.
»Ich habe nur das Gefühl, dass ich ihm schon einmal begegnet bin. Früher, als ich noch klein war.«
Light klappte seine Hausaufgaben, denen er vorher schon null Beachtung geschenkt hatte, endgültig zu.
»Du meinst, bevor du hergekommen bist? Alice, damals warst du sechs. Das kann nicht sein. Dieser Lawrence ist drei Jahre älter als du. Dann wäre er damals auch ein Kind gewesen und–«
»Ich weiß, Light! Ich weiß, dass es nicht möglich sein kann, okay?«, fuhr ich dazwischen und funkelte zu meinem besten Freund hinüber.
Winston beobachtete uns nun schweigend.
