New Worlds - Anne Oldach - E-Book

New Worlds E-Book

Anne Oldach

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Beschreibung

In dem dystopischen Jugendroman New Worlds Lüge und Verrat erzählt Anne Oldach die Geschichte der alterslosen, dem Aussehen nach achtzehnjährigen Lika, die in einer utopisch anmutenden Welt lebt. Als sie diese verlässt, wird sie erstmalig mit Konflikten, Liebe und Tod konfrontiert und sie muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wer sie ist und was es bedeutet, wahrhaftig zu leben. Die Handlung wird aus der Sicht der Hauptfigur Lika erzählt und spielt im Jahre 2358 auf der Erde, nachdem die Folgen der Klimaerwärmung und eine weltweite Pandemie die Menschheit bis auf wenige Überlebende vernichtet haben.Die alterslose Lika lebt auf der abgeschotteten Insel Eden in einer perfekten Gesellschaft. Zwischenmenschliche Konflikte sind ihr fremd. Sie liebt ihre Arbeit im Wissenschaftlichen Zentrum, für die sie erschaffen wurde. Gemeinsam mit ihrem Mentor forscht sie daran, die Auswirkungen der verheerenden Klimaerwärmung und der von ihr ausgelösten Ereignisse zu beseitigen.Eines Tages offenbart ihr Mentor ihr ein Geheimnis: Auch außerhalb Edens haben Menschen die Katastrophen überlebt. Deren Nachfahren führen ein genügsames Dasein, das an das Leben in den schottischen Clans vor Beginn der Industrialisierung erinnert. Er bittet Lika, ihn in die Alte Welt zu begleiten, um den Bewohnern eines Dorfes durch Impfungen beim Überleben zu helfen.Im Clan lernt Lika eine neue, ihr fremde Welt kennen, in der Freundschaft, Liebe und Tod eine allgegenwärtige Rolle spielen. Doch nicht alle empfangen sie mit offenen Armen. Milo, ein Clanbewohner Anfang zwanzig, wirft ihnen vor, nicht uneigennützig zu handeln. Er behauptet, Likas Mentor sei verantwortlich für den Tod einiger Altweltler. Lika weist die Anschuldigungen von sich. Aber als sich nach einem Unfall ihre Wahrnehmung verändert, beginnt sie, die Dinge zu hinterfragen.Ein Roman über den Mut, sich der Wahrheit zu stellen, sich auf das Leben einzulassen und Verantwortung zu übernehmen. Spannend erzählt und hoch aktuell.

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New Worlds

Lüge und Verrat

Anne Oldach

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Danksagung

An meine Leser

ISBN: 978-3985221813

© 2021 Kampenwand Verlag

Raiffeisenstr. 4 · D-83377 Vachendorf

www.kampenwand-verlag.de

Text: Anne Oldach

Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff

Unter Verwendung von Bildern von Adobe Stock

Lektorat: Claudia Pietschmann

Korrektorat: Jona Gellert

Innentypografie und Satz: Claudia Pietschmann

Für Rene, der mein Mardy ist, ohne behaupten zu wollen, ich wäre Ruth …

Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt - die meisten Menschen existieren nur. (Oscar Wilde)

1

Lika erwachte und starrte schlaftrunken auf die Wand vor sich. Im schummerigen Licht des Ruhemodus verschmolzen das Bett und die Mediawand mit der farbleeren Umgebung des Zimmers. Wie spät mochte es sein? Drei grüne Ziffern leuchteten vor ihr auf. Die Zahlen flirrten in der Luft. Geblendet kniff sie ihre Augen zusammen. 7 Uhr 43. Ihr blieben siebzehn Minuten. Sie seufzte und wälzte sich auf die andere Seite. Ihr Körper drückte sich bleischwer in die Matratze. Lika zog sich die Decke bis unter die Nasenspitze und kuschelte sich in das körperwarme Bett. Der Schlaf war nur noch einen Atemzug entfernt. Doch schon erfüllte sanftes Meeresrauschen den Raum und kündete das Ende der Nachtruhe an.

»Guten Morgen«, ertönte eine samtige Stimme aus der Mediawand. »Es ist acht Uhr.«

Die Scheiben der raumhohen Fensterfront begannen von innen zu leuchten und tauchten das Zimmer in blassgelben Schimmer. Während der sanfte Schein immer intensiver wurde, bis die Umgebung in gleißendem Licht erstrahlte, schüttelte Lika ihre Müdigkeit ab. Hellwach richtete sie sich auf und stellte die Beine auf den Boden.

»Guten Morgen«, erwiderte sie den Gruß.

»Heute ist der fünfzehnte März im Jahre 249 nach Exodus«, setzte die Stimme fort. »Noch ein Tag bis zur Großen Feier zum zweihundertfünfzigsten Geburtstag der Neuen Welt.«

Lika reckte sich und unterdrückte ein Gähnen. »Wie sieht mein Tagesplan aus?«

»Du hast eine Nachricht von Oclay. Sie fragt an, ob ihr euch nach der Arbeit ihre neue Hologrammshow ansehen wollt.«

»Können wir machen«, bestätigte sie. »Sonst noch etwas?«

»Mir liegen keine weiteren Einträge vor.«

»In Ordnung.« Mit einer raschen Handbewegung beendete Lika die Terminabsprache.

Wie jeden Morgen glitt nun die Tür zum Wohnbereich auf und gab den Blick auf ihren rot getigerten Kater frei. Er stand regungslos im Eingang zum Schlafzimmer. Seine grünen Augen fixierten Lika, bevor er sich mit einem Maunzen in Bewegung setzte und auf das Bett zuschlenderte. Schnurrend schmiegte er sich an ihre Beine. Sie beugte sich zu ihm hinunter und strich dem Tier über das seidige Fell.

»Na, Malcom, mein Dickerchen? Hast du denn schon ausgeschlafen?« Der Kater presste seinen Kopf gegen ihre Handfläche und sah sie auffordernd an. »Du hast Hunger, was?«, neckte sie ihn.

Gefolgt von ihrem Gefährten betrat Lika den Wohnbereich und blieb an der gegenüberliegenden Wand vor der Servunit stehen. Von der matt glänzenden Oberfläche des raumhohen Apparates starrte ihr ihr Spiegelbild entgegen. Die bernsteinfarbenen Augen wirkten in der Reflexion fast schwarz und schienen im Vergleich zu ihrer zierlichen Nase und dem leicht geschwungenen Mund zu groß geraten. Das rotblonde Haar hing in verwuschelten Strähnen bis auf ihre Schultern. Es bildete den einzigen Farbklecks auf dem Bildschirm und umrahmte ihr blasses Gesicht wie ein Leuchtkranz. Lika fuhr mit den Fingern durch ihre Mähne und versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen.

Ein Flackern lief über den Screen und anstelle ihres Spiegelbildes erschien die interaktive Kontrolleinheit der Servunit. Während das Gerät leise schnurrend den morgendlichen Gesundheitsscan durchführte, stellte Lika sich an der Benutzeroberfläche die Kleidung für den Tag zusammen. Sie mochte es nicht, bei der Arbeit durch extravagante Sachen, ausgefallene Frisuren oder grelles Make-up aufzufallen. Das behielt sie sich für ihre Freizeit vor. Zum Dienst im Wissenschaftlichen Zentrum erschien sie zweckmäßig angezogen.

Ein hochgeschlossener Overall fiel ihr ins Auge. Er war schmal geschnitten und würde sich an ihren schlanken Körper schmiegen. Dafür wählte sie einen Stoff, der an Leder erinnerte und matt glänzte. Ein bisschen langweilig, fand sie. Mithilfe der Gedankensteuerung vergrößerte sich ein Fenster mit weiteren Materialien. Sie betrachtete die Effektstoffe, und ein Untermenü, bestehend aus zwei Spalten, öffnete sich. Am linken Bildschirmrand stapelten sich Kästchen, die Gewebestrukturen präsentierten. Einige zeigten Stoffe, die aussahen, als wären sie aus pflanzlichen Fasern, metallenen Fäden oder Kunststoff hergestellt worden. In anderen schimmerten die Strukturen so zart, dass sie an Spinnweben erinnerten. Dann wiederum gab es organisch anmutende Oberflächen wie die Häute und Felle verschiedenster Tierarten, Baumrinden, Moose oder Flechten.

In der rechten, ähnlich aufgebauten Spalte liefen kurze Filmsequenzen visueller Effekte ab. In einem Feld waberten Nebelschwaden, in einem anderen züngelten Feuerflammen empor.

Likas Blick blieb an einem Kästchen hängen, in dem schäumende Wassermassen Gischt gegen eine Felswand schleuderten. Sie fixierte den Visualeffekt und kombinierte ihn mit einem metallenen Gewebe in der linken Spalte. Das Menü schloss sich. Auf dem Bildschirm war wieder der schwarze Overall zu sehen. Ihr Finger schwebte dicht über dem Monitor, während sie die Seitenlinien des Anzugs vom Ärmelbündchen bis hinunter zu den Knöcheln nachzeichnete und so einen schmalen Streifen einfügte. Kritisch betrachtete sie ihr Werk. Die brodelnden Wellen zierten die Seite des Kleidungsstücks. Sie bildeten einen reizvollen Kontrast zu dem glatten Material des Overalls. Lika veränderte die Farbintensität des Videos, passte die Breite des Stoffstreifens an und nickte zufrieden. Halbhohe, schwarze Stiefel würden den Anzug komplettierten.

Malcom hatte die Zeit geduldig neben ihr gesessen, doch nun forderte er mit einem Maunzen ihre Aufmerksamkeit.

»Na, womit kann ich dir heute eine Freude machen, mein Kleiner?« Sie warf dem Kater einen kurzen Blick zu, bevor sie sich schmunzelnd wieder der Servunit zuwandte. Ihre Finger schnellten über den Bildschirm. »Was hältst du von leckeren Crackern? Oder lieber vitaminreiche Frühstückssnacks?« Erneut ertönte Malcoms langgezogenes Miauen. »Jaja. Ich weiß doch, was dir schmeckt«, antwortete Lika lachend und wählte für den Kater eine appetitlich aussehende Pastete.

Als sie das angrenzende Badezimmer betrat, lag das soeben von ihr entworfene Ensemble nebst Stiefeln im Porter bereit. Sie trat für die Körperreinigung in die Hygieneeinheit, schlüpfte in den Overall und zog sich die Schuhe an. Abschließend stellte sie sich unter den Styler, der sie nach ihren Vorstellungen frisierte. Ein leises Summen ertönte und verkündete das Ende des Vorgangs.

Prüfend betrachtete Lika sich im raumhohen Spiegel. Der Anzug saß wie angegossen. Er betonte ihre sanften Rundungen, ohne aufreizend zu wirken. Die Haare waren zu einem festen Knoten im Nacken gesteckt und schimmerten zart rotblond. Das Permanent-Make-up war kaum sichtbar, brachte ihre hellbraunen Augen aber dennoch zum Leuchten. Die Lippen schienen durch den Hauch von Farbe größer und voller zu sein. Zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild verließ sie das Bad.

Sie entnahm der Servunit ein Tablett mit dem Frühstück und setzte sich an den Tisch. Malcom hockte zu ihren Füßen und starrte zu ihr herauf.

»Du kannst es wohl gar nicht mehr erwarten«, sagte sie und stellte eine der Schüsseln vor ihm auf den Boden. »Ich wünsche dir einen guten Appetit.«

Das Tier stürzte sich auf das Gefäß und verschlang die Pastete mit wenigen Bissen. Lika schüttelte den Kopf. Der Kater führte sich auf, als würde jeden Moment eine zweite Katze auftauchen und ihm sein Futter streitig machen.

Kleiner, alberner Malcom.

Wenige Minuten später schob sie die leeren Schüsseln zurück in die Servunit. Der Kater hatte sich in der Zwischenzeit verkrochen.

»Malcom, komm dich verabschieden. Ich muss los.«

Verwundert sah sie sich im Zimmer um.

»Malcom? Malcom!«

Endlich kam er hinter einem der Sessel hervor und spazierte auf sie zu.

»Wo steckst du denn?«, fragte Lika.

Plötzlich stutzte sie. War der Kater eben getaumelt? Mit gerunzelter Stirn verfolgte sie seine Bewegungen, bevor er sich vor ihr aufbaute und zu ihr heraufsah.

»Alles klar bei dir?« Malcoms Schwanz zuckte nervös hin und her. Er wirkte wie immer. »Ich muss los zur Arbeit.«

Lika hockte sich neben den Kater und kraulte ihn lächelnd hinter den Ohren. Das Tier bedankte sich mit einem lauten Schnurren.

»Und du passt in der Zwischenzeit schön auf dich auf, hörst du?«

Sie erhob sich und Malcom stolzierte Richtung Schlafzimmer davon. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie, wie er auf ihr Bett sprang und sich auf der Decke zusammenrollte. Alles völlig unauffällig. Hatte sie sich das Straucheln doch nur eingebildet? Ihr blieb keine Zeit, Malcoms Verhalten zu ergründen. Das Shuttle würde jeden Moment erscheinen, um sie und die anderen Bewohner des Blocks zu ihrer Arbeit ins Wissenschaftliche Zentrum zu bringen. Sie atmete tief durch und lief zum Lift, der sie zur Shuttlestation auf das Dach des Hauses beförderte.

2

Lika biss sich auf ihre Unterlippe. In ihrem Bauch schien ein Schwarm Bienen sein Unwesen zu treiben. Das Kribbeln breitete sich immer weiter in ihrem Körper aus. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und holte mehrmals tief Luft. Hoffentlich irrte sie sich.

Sie trat vor die gläserne Wand in ihrem Labor und beobachtete, wie der Serviceroboter in der angrenzenden Anzuchtkammer zwischen zwei Regalen auf sie zu schwebte. Lange Leuchtröhren tauchten den Raum hinter der Scheibe in kaltes Licht und bestrahlten die unzähligen Probeschälchen, die sich auf vier Regalebenen drängten. Kurz vor der Glaswand blieb der Roboter stehen, griff ein Tablett mit Proben und entfernte sich wieder in den hinteren Bereich der Kammer, wo sich die Analyseeinheit befand. In einer fließenden Bewegung schob er die Schälchen in den schmalen Eingabeschlitz. Nur noch wenige Sekunden, dann würden die Zwischenergebnisse vorliegen.

Sie atmete ein letztes Mal tief ein und kehrte der Anzuchtkammer den Rücken zu. Ein Summen ertönte. Die Luft vor ihr flimmerte und ein Holoscreen öffnete sich in der Mitte des Labors. Lika trat näher und begutachtete die ersten Zahlenkolonnen, die den virtuellen Bildschirm füllten.

Sie hatte es geahnt. Was hier auf dem Screen zu sehen war, bestätigte ihren schlimmsten Verdacht: Die Viren vermehrten sich munter weiter, anstatt sich aufzulösen.

Ihre Aufgabe als Wissenschaftlerin war es, eine Behandlungsmethode für die gefährlichen Erreger der Beta-Kategorie zu entwickeln. Die ursprüngliche Form dieses Virus hatte kurz nach der Errichtung Edens die Erde wie eine Feuersbrunst überrollt und beinahe die gesamte Menschheit vernichtet. Und noch immer hatten die mutierten Formen dieses Stammes nichts von ihrer Aggressivität eingebüßt. Erst wenn ihnen ein wirksamer Schutz zur Verfügung stand, konnten sie ihre abgeschirmte Insel verlassen und sich die Erde wieder zu eigen machen. Natürlich gab es da noch andere Gründe, warum eine Reise in die Alte Welt derzeit viel zu gefährlich war, aber um diese Probleme kümmerten sich Wissenschaftler anderer Forschungsteams. Sie und ihre beiden Mitarbeiter waren lediglich mit der Suche nach einem wirksamen Mittel gegen alle Erreger, die in die Beta-Kategorie fielen, beauftragt. Lika hatte gehofft, dem Durchbruch ein Stückchen nähergekommen zu sein. Aber diese Viren mutierten so häufig, dass sie ihr und ihrem Team immer einen Schritt voraus waren.

Mit einem leisen Zischen glitt die Labortür auf und Manoo tauchte auf. Ihre Haare waren heute sattgrün und auf der rechten Seite zu einer wilden Mähne gestylt, wohingegen raspelkurze Stoppeln ihre linke Kopfhälfte bedeckten. Was für ein Kontrast zu den hüftlangen schwarzen Zotteln, mit denen sie gestern zur Arbeit erschienen war. Lika seufzte leise. Manoo war eine von Likas beiden Mitarbeitern und eine enge Freundin. Oft trafen sie sich nach Feierabend und verbrachten Zeit mit ihrem gemeinsamen Freundeskreis. Doch manchmal war Manoos Art anstrengend. Gerade heute passte das fröhliche Hallo, das Manoo beim Eintreten rief, nicht zu Likas Stimmung. Sie schluckte ihre Enttäuschung über den misslungenen Versuchsansatz hinunter. Rückschläge gehörten zu ihrem Alltag im Labor. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie bereits bei der Vorplanung dieser Versuchsreihe ein mulmiges Gefühl gehabt hatte. Aber selbst als Leiterin dieser Forschungsgruppe konnte sie eine im Team entwickelte Herangehensweise nicht aufgrund eines Bauchgefühls verwerfen. Und tatsächliche Argumente gegen den Einsatz des neuartigen Wirkstoffes hatte sie damals nicht vorbringen können. Vielleicht hätte sie Manoo und Joon dennoch dazu bringen können, den Ansatz ein weiteres Mal zu prüfen. Dann hätten sie nicht abermals wertvolle Zeit verloren.

»Oh, das sieht aber nicht gut aus!«, zwitscherte Manoo mit Blick auf den Holoscreen.

Sie steuerte mit federndem Gang auf Lika zu. Der Rock ihres mintgrünen Kleides reichte bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel und schwang bei jedem Schritt wie eine Glocke hin und her. Der Schaft ihrer engen silberfarbenen Stiefel endete knapp oberhalb der Knie. Durch die dicken Sohlen wirkte sie größer. Dennoch überragte Lika sie um einen halben Kopf.

»Schicker Overall.« Manoo blieb neben ihr stehen und musterte sie von den streng im Nacken gebundenen Haaren bis hinunter zu den Spitzen ihrer schwarzen Stiefel. »Elegant und schlicht wie immer«, bemerkte sie anerkennend.

»Danke«, sagte Lika. Ihr fehlten die Geduld und die nötige Begeisterung, sich über ihr Erscheinungsbild zu unterhalten. Mit einem Wink Richtung Holoscreen lenkte sie Manoos Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit. »Ich habe schon befürchtet, dass unser Ansatz keinen Erfolg bringen würde. Aber lieber gewesen wäre mir, ich hätte mich geirrt.« Sie rieb ihre Hände über den weichen Stoff des Overalls.

Gemeinsam studierten sie die Messergebnisse, die inzwischen vollständig vorlagen und den gesamten Holoscreen ausfüllten.

»Hmmm«, durchbrach Manoo die Stille. »Dass die Behandlung der Viren so gar keine Auswirkung hatte, will mir nicht einleuchten. Der Stamm müsste doch zumindest geschwächt sein, oder?«

Lika verschränkte die Arme und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. Manoo hatte recht. Die Messergebnisse deuteten nicht nur darauf hin, dass die Viren unverändert weiter wüteten. Im Gegenteil. Der Erreger schien sich ungewöhnlich stark vermehrt zu haben und attackierte die infizierten Zellen aggressiver als zuvor. Könnte es sein …? In Likas Kopf ratterte es. Sie ließ die Arme sinken und richtete sich auf. Mit fahrigen Fingern wischte sie durch die verschiedenen Schautafeln auf dem Holoscreen.

»Und wenn wir …« Lika führte Zeigefinger und Daumen ihrer rechten Hand zu einem Kreis zusammen und vergrößerte die mikroskopische Darstellung einer Zellkultur, indem sie beide Finger spreizte. Sie zoomte in die DNA des Virus und schob sie neben eine Aufnahme, die den Virusstamm vor Beginn der Versuchsreihe zeigte.

»Einfach den Effekt umdrehen. Das wäre es.« Manoos Kopf wippte aufgeregt auf und nieder. Sie schien zu wissen, worauf Lika hinauswollte.

»Dann müssten wir nur …« Likas Finger deutete auf einen Abschnitt im Erbgut des Erregers. Im Vergleich zu den Aufnahmen aus der Zeit vor Beginn der Testreihe wies er deutliche Veränderungen auf.

Aufgeregt tänzelte Manoo von einem Bein auf das andere »… den Virus umprogrammieren!«

Lika nickte zustimmend. »So könnte es klappen. Einen Versuch ist es wert.«

Die beiden lächelten sich an. Also war die Versuchsreihe doch nicht umsonst gewesen. Sie gingen zu ihren Kontrollboards und stürzten sich in die Arbeit.

»Wenn Joon nachher kommt, müssen wir ihm gleich von unserer Idee erzählen. Ihm fällt bestimmt ein Weg ein, wie wir die Programmierung gezielt durchführen können«, meinte Manoo, während sie Anweisungen in die Kontrolleinheit hämmerte.

»Ich werde den Professor so schnell wie möglich über unseren neuen Ansatz unterrichten«, sagte Lika.

»Ich habe ein richtig gutes Gefühl bei der Sache. Und stell dir vor, wir könnten zum zweihundertfünfzigsten Geburtstag der Neuen Welt die Lösung für eines unserer großen Probleme präsentieren«, sprudelte es aus Manoo.

Ihre Augen strahlten. Eine feine Röte hatte sich auf den Wangen ausgebreitet. Die Gedanken schienen sich in ihrem Kopf zu überschlagen. Das kannte Lika schon, aber genau diese Eigenart ihrer Freundin, Likas analytischer Geist und Joons technischer Verstand ergänzten sich perfekt. Diese Stärken waren der Grund, warum sie so erfolgreich als Team zusammenarbeiteten.

»Na ja, das ist wohl etwas unrealistisch«, holte Lika sie auf den Boden der Tatsachen zurück. »Die Große Feier ist morgen und selbst wir können aus einer zugegebenermaßen genialen Idee nicht über Nacht das Allheilmittel zaubern. Und dann ist da immer noch die Möglichkeit, dass das Virus uns ein weiteres Mal an der Nase herumführt. Schließlich hat es mit dem ursprünglichen Virus, das beim Untergang der Alten Welt Millionen Menschen auslöschte, kaum noch etwas gemeinsam.«

Manoo kicherte leise. »Natürlich hast du recht. Aber man wird doch träumen dürfen. Stell dir vor: Wir könnten unsere Insel verlassen. Vielleicht sogar irgendwo siedeln.«

»Irgendwann wird es so weit sein«, sagte Lika. »Aber noch ist die Erde nach den Katastrophen, die die Klimaerwärmung auslöste, unbewohnbar für uns. Bei der nuklearen Verseuchung, den mutierten Viren und all den anderen Bedrohungen wären wir bald genauso tot wie all die Menschen, die damals lebten. Wir können uns freuen, dass wir auf Eden unter unserem Schutzschild vor den Gefahren von außen sicher sind. Aber es stimmt«, lenkte Lika ein, als sie Manoos Schnaufen hörte. »Wir werden die Alte Welt wieder besiedeln. Erst müssen wir jedoch die radioaktive Strahlung neutralisieren, das verseuchte Wasser aufbereiten, die Monsterstürme kontrollieren …«

»Ja, ja. Ich habe es verstanden«, unterbrach Manoo lachend. »Du bist und bleibst eine unverbesserliche Realistin. Aber wer weiß? Die anderen könnten in ihren Forschungen genauso weit wie wir sein.«

»Das mag sein. Wahrscheinlicher ist es, dass wir uns noch fünfzig oder sogar einhundert Jahre gedulden müssen, bis wir zum ersten Mal unser kleines Paradies verlassen können.«

»Und da wir zum Glück nicht mehr altern und somit unsterblich sind, freue ich mich jetzt schon darauf!«

Lika lachte leise. Sie verkniff sich einen Kommentar zu der angeblichen Unsterblichkeit der Edenbewohner. Natürlich konnten sie ihr Leben verlieren. Zum Beispiel, wenn sie sich ernsthaft verletzen oder krank werden würden. Aber so gut wie jede Krankheit wurde bei den morgendlichen Gesundheitsscans im Keim erstickt und sollte es doch einmal nötig sein, stand ihnen im Gesundheitszentrum ausgefeilte Technik zur Verfügung, um innerhalb kürzester Zeit wieder gesund zu werden. Und sich lebensgefährlich verletzen? Dazu gab es auf Eden wohl kaum eine Gelegenheit.

Joon war von Manoos und Likas Idee begeistert. Gemeinsam erstellten die drei einen neuen Versuchsablauf. Während sie hinter ihren Kontrollboards standen und die Testreihe umprogrammierten, wanderte die Sonne an der breiten Fensterfront des Labors vorbei.

»Unser Shuttle startet in zehn Minuten«, durchbrach Joon Stunden später das konzentrierte Schweigen. Er streckte den Rücken durch und lockerte seine Muskeln, indem er den Kopf langsam hin und her drehte. Seine schlanke Gestalt lehnte an dem silbern glänzenden Gestell des Stehhockers. Er fuhr sich durch die kurzen braunen Haare und unterdrückte ein Gähnen. »Wir sollten für heute Schluss machen, sonst müssen wir bis zum nächsten Abflug warten.«

Nur widerwillig löste Lika sich von ihrer Arbeit. Joon fuhr bereits sein Kontrollboard herunter. Auffordernd schaute er sie an.

»Ich schließe nur noch schnell diesen Punkt ab.«

»Hast du heute Abend nicht eine Verabredung?«, fragte Manoo sie.

Eine Hitzewelle durchfuhr Lika. Beinahe hätte sie Oclay vergessen. Sie raffte ihre Sachen zusammen und eilte in Begleitung ihrer beiden Kollegen zur Shuttlestation.

3

Als Lika eine Stunde später vor die Tür ihres Wohnquartiers trat, war es bereits dunkel. Ein langer Tag lag hinter ihr. Wenn sie die Augen schloss, sah sie unendliche Zahlenkolonnen vor sich, die vor ihr in der Luft flirrten. Es war wirklich höchste Zeit gewesen, ihr Labor zu verlassen. Sie hatte ihren Overall gegen ein kurzes Kleid aus einem dünnen dunkelblauen Material eingetauscht. Laue Sommernachtsluft strich über ihre nackten Arme. Der luftige Rock schlug ihr bei jedem Schritt um die Beine. Lika hatte sich nicht die Zeit genommen, ihr Haar aufwendig vom Styler frisieren oder gar färben zu lassen. Es hing ihr lose über die Schulter. Eine rotblonde Strähne fiel nach vorn und schob sich in ihr Gesichtsfeld. Sie wickelte sie um ihren Zeigefinger und steckte sie hinter dem Ohr fest. Das Klicken ihrer hochhackigen Stiefel halte durch die Nacht. Leuchtkugeln schwebten zu beiden Seiten des Weges und zauberten einen Lichttunnel, der Lika die Richtung zum Park wies. Es war nicht mehr weit. Sie konnte schon den Duft der Nadelbäume erahnen, die in der weitläufigen Gartenlandschaft wuchsen.

Wie verabredet blieb sie am Eingang der Parkanlage stehen und wartete auf ihre Freundin, die sich kurz darauf zu ihr gesellte.

»Pünktlich wie immer«, begrüßte Oclay sie.

»Du weißt doch, dass ich es hasse, zu spät zu kommen.«

»Klar weiß ich das. Wir sind schließlich nicht umsonst bei denselben Tutoren aufgewachsen.« Grinsend legte Oclay einen Arm um Likas Schulter und zog sie mit sich in den Park. »Aber eigentlich begann unsere Freundschaft viel früher. Ich bin fest davon überzeugt, dass schon unsere Fetalkapseln nebeneinanderstanden.«

Sofort sah Lika die gläsernen Gebärmütter vor sich. In der smaragdgrünen Flüssigkeit im Inneren der beiden Apparate schwebten zwei zusammengekauerte Föten.

»Wahrscheinlich haben wir uns da schon von Zeit zu Zeit zugewinkt, und du hast mich mit deinen Einfällen zum Lachen gebracht«, gluckste sie vergnügt. »Zum Glück bist du damals noch nicht aus deinem Glaskasten herausgekommen, sonst hättest du mich schon vor unserer Geburt in Schwierigkeiten gebracht.«

Oclays helles Lachen perlte durch die Nacht.

»Du kannst froh sein, dass du mit jemandem aufgewachsen bist, der für das Kreativteam vorgesehen war. So mussten die Reproduktionsmediziner meine DNA so zusammenbasteln, dass ich einfallsreich, risikofreudig und intelligent wurde. Dein Leben wäre so was von öde gewesen ohne mich. Nur Lernen, Lesen und Debattieren von morgens bis abends.« Oclay seufzte theatralisch und verdrehte die Augen.

»Ich weiß auch nicht, was die Mentoren sich dabei gedacht haben, uns beide zusammen aufwachsen zu lassen.« Lika stieg auf das Spiel ihrer Freundin ein. »Hättest du mich nicht ständig mit deinen aberwitzigen Ideen von den Lehrbüchern fortgelockt, wie viel mehr meines mitgegebenen Potenzials hätte ich entfalten können!«

»Tja, die wussten eben, dass Intelligenz allein nicht reicht. Ein gewisses Maß an Kreativität und Spontanität brauchst selbst du als Wissenschaftlerin, um auf neue Lösungswege zu kommen.« Sie tippte sich übertrieben an die Unterlippe. »Hmmm. Wenn ich es genau bedenke, verdankst du deinen Erfolg ausschließlich mir.« Oclay warf ihr einen kurzen Blick zu. Um ihren Mund zuckte es verräterisch.

»Und meine Dankbarkeit wird niemals enden«, bestätigte Lika mit übertrieben ergebenem Ton.

Oclay richtete sich zu ihrer vollen Körpergröße auf und betrachtete sie mit huldvollem Lächeln. »Ich nehme deine Dankbarkeit wohlwollend entgegen. Als Beweis für deine Treue präsentiere ich dir nun meine neueste Show, und du darfst deine Begeisterung zeigen und mich mit Lob überschütten.«

Lika deutete eine Verbeugung an. Oclays Selbstbeherrschung brach zusammen. Sie prustete laut los und wenige Sekunden später stimmte Lika in das Lachen ein.

Nach einer Weile verebbte das Gelächter und Oclays Gesicht wurde ernst.

»Nein, aber jetzt mal ehrlich. Wir sind aus einem Jahrgang, sind bei denselben Tutoren aufgewachsen. Als wir achtzehn wurden, sind wir gemeinsam in den Kreis der Alterslosen aufgenommen worden. Ich kenne dich in- und auswendig, so wie du mich. Und so wird es auch immer bleiben.«

Lika knuffte Oclay in die Seite und nickte ihr zustimmend zu, bevor sie sich ihrer Umgebung zuwandte. Dieser Park war einer von Likas liebsten Ausflugszielen. Sie war regelmäßig hier, um die Natur zu genießen und durchzuatmen. Doch heute Nacht präsentierte sich die weitläufige Gartenanlage in neuem Licht. Platten aus blauem Quarz bedeckten den Pfad, der sich in weiten Schleifen durch die Anlage wand. Er strahlte von innen und tauchte die Umgebung in Mondglanz. Blühende Hecken und Blumenbeete säumten den Weg. Lika folgte ihrer Freundin tiefer in den Park. Plötzlich streifte sie etwas zart wie eine Feder an der Schulter. Überrascht sah sie sich um, doch was auch immer an ihr vorbeigehuscht war, war bereits mit den Schatten verschmolzen.

Langsam schlenderte sie weiter. Im Gras dicht neben dem Weg zischelte es. Blätter raschelten. Gespannt lauschte Lika. Das Knistern, Summen und Schaben verborgener Kreaturen drang von überall zu ihr herüber. Erwartungsvoll ging sie weiter, vorbei an einer Hecke. Rosenduft stieg ihr in die Nase. Sie schloss die Augen und sog den schweren Geruch genüsslich ein. Als sie die Lider wieder öffnete, war sie umringt von Schmetterlingen, ein jeder so groß wie ihre Hand. Ihre Flügel nachtleuchteten in den Farben des Regenbogens. Die Flatterwesen waren überall. Es war, als schwebte Lika in einer Wolke aus Seifenblasen. Sie streckte ihre Arme aus, doch bevor ihre Fingerspitzen die zarten Gebilde berührten, stob der Schwarm auseinander. In einiger Entfernung formierte er sich neu, verharrte für einen Moment auf der Stelle und flog dann knapp über ihren Kopf hinweg. Ein feiner Luftzug streifte ihr Gesicht. Die Leuchtgestalten entschwebten Richtung Wiese und verglühten kurz darauf am Nachthimmel.

»Das war unglaublich«, flüsterte Lika. Aufgeregt wandte sie sich zu ihrer Freundin um. »Und was kommt jetzt?«

Oclay grinste verschmitzt und zuckte mit den Schultern. »Das musst du schon selbst herausfinden.«

Erwartungsvoll folgte Lika dem Quarzweg. Begierig suchte sie nach weiteren Überraschungen. Und endlich zeigten sie sich in den Hecken, auf den Bäumen und am Wegesrand: Äffchen mit maskenhaften Gesichtern, metallen glänzende Käfer, Kolibris, die über dem Meer aus Blüten flirrten. Das Gekrächze von Papageien erfüllte die Luft.

Zwischen zwei Büschen entdeckte sie einen Panther. Er lag auf der Wiese und leckte genüsslich seine großen Tatzen. Lika blieb stehen und betrachtete das Tier fasziniert. Es legte seinen Kopf in den Nacken und gähnte ausgiebig. Die spitzen Zähne glänzten im bläulichen Schein des Weges. Die Raubkatze schloss ihr Maul wieder und begutachtete ihre Umgebung gelangweilt. Sie musterte Lika, als wollte sie sie einer Prüfung unterziehen. Lika hielt die Luft an, doch schon wandte sich das Tier ab und bettete seinen Kopf auf die ausgestreckten Pranken. Es legte den Schwanz neben seinem Körper ab, schloss die Augen und schlief ein.

Lika riss sich von dem Anblick des Panthers los und setzte ihre Wanderung fort. Der Weg leuchtete in einiger Entfernung vor ihnen auf, als wollte er sie auffordern, weiterzugehen, sie locken, tiefer in den Park zu kommen, hin zu dem murmelnden Stimmengewirr, das mit jedem Schritt anschwoll. Doch sie ließ sich Zeit. Sie wollte diesen Gang durch Oclays Meisterwerk genießen, das erste Entdecken so weit wie möglich hinauszögern, um das Vergnügen zu steigern.

Oclay folgte ihr wie ein Schatten und überließ sie ihrem eigenen Tempo. Die beiden näherten sich einer Wegbiegung. Lika hörte Kinderstimmen. Pfiffe dröhnten in ihren Ohren. Eine Welle aus Applaus rollte auf sie zu und schlug über ihr zusammen.

Sie ließen den von Hecken gesäumten Teil des Weges hinter sich und entdeckten den Ursprung des Lärms. Mit leuchtenden Augen betrachtete Lika das ausgelassene Treiben vor sich. In schillernde Tücher gehüllte Kinder rannten lachend über die Wiese. Von Zeit zu Zeit schlugen sie ein Rad und stürmten anschließend hinter den anderen Kindern her. Feuerspeiende Artisten auf Stelzenbeinen standen am Wegesrand und stießen heiße Flammen in den Nachthimmel. Lika duckte sich, schmunzelte aber im nächsten Moment über ihre eigene Schreckhaftigkeit. Ein Stückchen weiter hatte sich eine Gruppe bunt gekleideter Menschen um einen Mann in schwarzem Frack und Zylinder versammelt. Lika stellte sich neben eine Traube aus Zuschauern und verfolgte die Darbietung. Die Menge applaudierte. Der Magier griff nach seinem Hut und zog einen Affen daraus hervor. Das Tierchen wanderte auf den Pfoten laufend den Arm seines Meisters hinauf. Es kletterte auf dessen Kopf und schlug unter dem Applaus des Publikums einige Purzelbäume. Der Zauberer griff nach dem Äffchen und setzte sich seinen Zylinder wieder auf. Das Tier saß nun in der offenen Hand des Zauberers und jonglierte erst mit drei, dann mit vier und schließlich sogar mit fünf faustgroßen Leuchtkugeln, die wie lodernde Feuerbälle aussahen. Als die Vorführung beendet war, tätschelte der Zauberer den Kopf des Affen, bevor er ihn in hohem Bogen hinter sich warf. Noch in der Luft löste sich das Tier mit einem Knall in Rauch auf. Die Nebelschwaden dehnten sich aus und waberten über die Jahrmarktsbesucher hinweg. In dem Dunst wurden lange Fäden sichtbar. Sie führten wie gespannte Spinnweben von Kopf, Armen und Beinen der Zuschauer aufwärts.

Likas Blick wanderte die dünnen Schnüre hinauf, bis sie ihren Kopf in den Nacken legen musste. Erst jetzt entdeckte sie auf Höhe der Baumwipfel riesige durchscheinende Hände, die aus dem Himmel zu wachsen schienen und geschickt die Fäden zogen.

Derweil holte der Zauberer eine weiße Maus aus seinem Hut hervor und setzte sie auf seine ausgestreckte Hand. Das Mäuschen stellte sich auf seine Hinterbeine. Es rieb sich mit den Pfoten die Augen. Der Mann zog einen silbernen Stab aus der Innentasche seines Fracks und tippte auf das Tier. Plötzlich wuchsen aus dessen Rücken ein Paar Flügel. Die Maus sah sich erstaunt um. Sie ließ ihre Federschwingen auf und nieder schlagen und hob von der Hand des Zauberers ab. In weitem Bogen flog sie um ihren Meister herum, wobei sie mit jedem Flügelschlag an Größe gewann. Schon bald hatte die Kreatur die Ausmaße des Panthers erreicht. Sie änderte ihre Richtung und galoppierte einem Pegasus gleich auf den freien Platz vor den Zuschauern zu. Aus der Menge erklang brausender Applaus. Anfeuerungspfiffe dröhnten in Likas Ohren. Obwohl sie wusste, dass das Schauspiel eine Illusion war, stimmte sie mit geröteten Wangen in den aufbrausenden Beifall ein. Das wundersame Flügelwesen landete auf der Wiese. Inzwischen hatte es die Ausmaße eines Elefanten erreicht. Nervös tänzelte es von einem Bein auf das andere. Der Zauberer schwang erneut seinen Stab und die einst winzige Maus verwandelte sich in einen feuerspeienden Drachen. Sein gezackter Schwanz peitschte auf den Boden. Er schnaubte aufgebracht. Seine Augen schleuderten Blitze in Richtung des Publikums. Das Ungetüm holte tief Luft und spie einen gewaltigen Feuerstrom aus. Doch bevor die Flammen die erstarrten Zuschauer erreichten, schnellte eine der Riesenhände wie ein überdimensionales Pendel aus der Höhe herab und fegte den Drachen mitsamt der Feuersbrunst hinfort.

Lika sprang zurück und schrie überrascht auf. Hinter ihr ertönte ein Kichern.

»Ich wusste, dass es dir gefallen würde.« Oclay klatschte begeistert in die Hände.

»Gefallen?«, fragte Lika. »Ich finde es schon ein wenig unheimlich. Deine Hologramme sind täuschend echt. Für einen Moment habe ich vergessen, dass es sich nur um eine Illusion handelt!« Sie strich sich über ihre Oberarme, als wollte sie einen Schauer fortwischen.

»Yavis hat die Soundeffekte und die anderen sinnlichen Täuschungen direkt an die Hologramme gekoppelt. Nun sind die Projektionen fast so real wie im Holospace«, berichtete Oclay. »Und das ist erst der Anfang! Warte nur ab, was wir uns für die Eröffnung der Kunstausstellung ausgedacht haben! Bald ist es so weit. Ich kann es kaum erwarten, dein Gesicht zu sehen!« Die Worte sprudelten aus ihr heraus.

Lika betrachtete Oclay kopfschüttelnd. Ihre Freundin erinnerte sie in diesem Moment an den Springbrunnen vor ihrem Wohnblock, in dem faustgroße Luftblasen aus den Tiefen des blau schimmernden Beckens emporstiegen, die dann an der Wasseroberfläche glucksend zerplatzten und dabei glitzernde Farbblitze in den Himmel schickten.

»Die Show ist toll geworden«, bestätigte Lika. »Ich hatte fast das Gefühl, als würde ich auch an einem der Marionettenfäden hängen.«

Oclay schien bei Likas Worten ein paar Zentimeter zu wachsen.

Sie schlenderten Richtung Parkausgang. Die Luft hatte sich nur unwesentlich abgekühlt. Obwohl es inzwischen recht spät war, kamen ihnen noch immer vereinzelte Besucher auf dem Weg zur Hologrammshow entgegen.

»Schön, dass du dir heute Zeit für mich genommen hast«, verabschiedete Oclay sich am Ausgang von Lika. »Wir sehen uns morgen Abend zu Custos Eröffnungsrede.« Sie drückte ihre Freundin kurz an sich und lief die Straße entlang zur nächstgelegenen Shuttlestation.

Lika rieb sich über ihre müden Augen. Die Arbeit im Labor war anstrengend gewesen. Nun freute sie sich auf ihre Wohneinheit und auf Malcom. Sicher erwartete er sie schon ungeduldig. Egal, wie sehr sie sich nach Schlaf sehnte, der Kater würde nicht lockerlassen, bis er seine abendliche Portion Streicheleinheiten bekommen haben würde. Aber danach würde sie nichts auf der Welt davon abhalten können, sich in ihr Bett fallen zu lassen.

4

»Der Professor steht nun für ein Holomeeting zur Verfügung.« Die Sprachsteuerung riss sie am späten Nachmittag des darauffolgenden Tages aus ihren Gedanken.

Lika zögerte. Die Planung der neuen Versuchsreihe hatten Joon, Manoo und sie abgeschlossen, aber die Präsentation war noch nicht fertig.

»In fünf Minuten, bitte«, forderte sie die Kontrolleinheit auf.

Sie trat vor den virtuellen Bildschirm und reinigte die Oberfläche mit einer Wischbewegung von allen Zahlenkolonnen und Abbildungen.

»Öffne die Zellproben«, wies sie das Board an.

Der Holoscreen füllte sich mit unzähligen mikroskopischen Aufnahmen. Lika überflog die Reihen in Windeseile. Sie fixierte brauchbare Bilder mit ihrem Blick und tippte mit dem Zeigefinger in die Luft. Nach einem erneuten Wedeln verschwanden die restlichen Bildchen. Lika vergrößerte die Zellkulturen, bis die DNA der Zellen und Viren sichtbar wurde.

»Und nun die Messergebnisse der Versuchsreihe, bitte«, forderte sie das Kontrollboard auf.

Der freie Platz neben den mikroskopischen Aufnahmen füllte sich mit mathematischen Formeln und Tabellen. Einige Befehle später präsentierten dreidimensionale Grafiken die Ergebnisse, die dem Team bisher vorlagen. Noch ein Bild des Virus und Lika war für die Präsentation bereit. Gerade rechtzeitig, denn schon flimmerte die Luft vor ihr und die Projektion des Professors erschien neben dem Holoscreen.

Lika betrachtete ihren Mentor und verkniff sich ein Grinsen. Wie immer trug er seinen weißen Laborkittel. Ein Relikt aus der Zeit vor dem Zusammenbruch der Alten Welt. Damals hatte er als Professor an einer Eliteuniversität gelehrt. Das war vor über zweihundertfünfzig Jahren gewesen und inzwischen gab es keinen Grund mehr, in dem formlosen Gewand herumzulaufen. Doch in diesem Punkt war er sentimental. Auch für den Gegenstand, der aus der Brusttasche seines Kittels lugte, wahrscheinlich ein Stift oder dergleichen, gab es in ihrer Welt keine Verwendung mehr.

Ein weiteres Überbleibsel aus der vergangenen Zeit war der Name ihres Mentors. Der Professor. Lika hatte Gerüchte gehört, wonach er schon in der Alten Welt von allen nur der Professor genannt worden war. Wahrscheinlich war er inzwischen der Einzige, der seinen wirklichen Geburtsnamen kannte.

Aber nicht nur durch seinen Namen, auch durch sein Äußeres stach er aus der Reihe der Neuweltler heraus. Kurz bevor die Gründer den Grundstein zum Aufbau der Neuen Welt gelegt hatten, hatten Humangenetiker ein Enzym isoliert, das den Alterungsprozess von Zellen stoppte. Der Professor war damals bereits über siebzig gewesen. Kurz darauf hatte das Alter keine Rolle mehr gespielt und die meisten Gründer hatten sich einer äußerlichen Verjüngungskur unterzogen. Seitdem waren sie kaum von den inselgeborenen Neuweltlern zu unterscheiden. Der Professor hingegen sah noch immer so aus wie zum Zeitpunkt, als die Alte Welt zusammengebrochen war. Sein Haar war schlohweiß. Um den Mund zeichnete sich ein gepflegter Dreitagebart in demselben strahlenden Farbton ab. Von der Kinnpartie führte ein schmal rasierter Streifen an der Kante des Unterkiefers entlang bis hinauf zum Haaransatz und rahmte so das Gesicht des Professors ein. Lediglich die Augenbrauen hatten einen dunkleren Grauton und lenkten die Aufmerksamkeit auf seine hellblauen Augen, die immer zu lächeln schienen. Lika war dankbar, ausgerechnet ihn als Mentor an ihrer Seite zu haben. Als sie mit achtzehn Jahren in die Reihe der Alterslosen aufgenommen worden war, hatte ihre Ausbildung zur Wissenschaftlerin begonnen. Der Professor hatte ihr von Anfang an viel zugetraut und sie ermutigt, täglich zu lernen und über sich hinauszuwachsen. Er war ihre Vaterfigur in einer Welt, in der es keine Väter mehr gab.

Die Projektion ihres Mentors wandte sich dem Holoscreen zu und studierte die Präsentation.

»Wie ich sehe, liegen die ersten Ergebnisse eurer Versuchsreihe vor.«

»Guten Tag, Professor«, grüßte Lika, bevor sie auf seine Bemerkung einging. »Ja. Doch leider führte unser Ansatz nicht zum gewünschten Ziel. Allerdings haben wir eine interessante Entdeckung gemacht.« Sie deutete auf die entsprechende Aufnahme. »Wir vermuten, dass man die DNA des Virus umprogrammieren kann. Und wenn wir den Eingriff in diesem Abschnitt vornehmen …« Dabei zeigte sie auf eine farbig gekennzeichnete DNA-Sequenz. »… dürfte das Virus nicht weiter mutieren. Ob das stimmt, werden die nächsten Versuche zeigen. Joon hatte die Idee, die Programmierung durch Tetrastrahlen vorzunehmen. Er arbeitet schon daran, den neuen Code an die Strahlen zu koppeln.«

»Ausgezeichnet. Das könnte funktionieren. In ein paar Wochen sind wir schlauer, nicht wahr?«

Lika lächelte zufrieden. »Wir halten dich auf dem Laufenden.«

»So wie immer.« Der Professor betrachtete ein letztes Mal die DNA des Virus, an der sie zuvor die neue Vorgehensweise erklärt hatte. Er kratzte sich am Kinn und nickte, bevor er sich zu Lika umdrehte. »Heute Abend beginnt die Große Feier. Da alle Neuweltler drei Tage von der Arbeit freigestellt sind, werden wir uns erst danach wieder im Labor sehen. Komm nach den Feierlichkeiten in mein Büro«, forderte er sie auf. »Ich möchte mit dir reden.«

Der Holoscreen flackerte auf und der Professor war verschwunden. Lika schnaufte leise. Er hatte weder auf eine Bestätigung des Termins gewartet noch sich von ihr verabschiedet. Aber das kannte sie schon von ihm. Wahrscheinlich war er in Gedanken bereits bei dem nächsten wissenschaftlichen Problem.

Was er wohl mit ihr besprechen wollte? Und warum wartete er mit der Unterredung bis nach den Feierlichkeiten? Lika zuckte mit den Schultern. Die Antwort auf diese Fragen würde sie wohl erst nach den freien Tagen erfahren. Und wenn es etwas Wichtiges war, hätte der Professor es doch sicher gleich angesprochen, oder?

Ein Blick auf die Zeitanzeige des Holoscreens bestätigte ihr, dass es inzwischen zu spät war, um vor der Eröffnungsrede der Großen Feier zu ihrer Wohneinheit zurückzukehren. Sie hätte gern nach Malcom geschaut, bevor sie sich mit ihren Freunden traf. Seit dem Vorfall gestern früh hatte sie jedes Mal ein komisches Gefühl gehabt, wenn sie ihren Kater betrachtet hatte. Es waren immer nur Kleinigkeiten gewesen. Hier ein Straucheln, da ein Blinzeln. Dennoch verstärkte sich der Verdacht, dass irgendetwas mit Malcom nicht stimmte. Aber nun würde sie sich ein paar Stunden länger gedulden müssen, bevor sie nach dem Rechten sehen konnte.

5

Die Sonne war bereits untergegangen, als Lika sich zu ihren Freunden gesellte. Das kleine Grüppchen aus fünf Leuten wartete am Eingang des Kulturparks, in dem sie die Übertragung der Eröffnungsrede anschauen wollten.

Yavis, neben Oclay ihr engster Freund, begrüßte sie mit Luftküsschen auf beide Wangen. Seine Haut glänzte bronzefarben und in seinem verwuschelten, dunklen Lockenkopf blitzten Silberpunkte wie Sterne am Nachthimmel. Dazu passend trug er eine enge silberfarbene Hose und ein ärmelloses schwarzes Oberteil, das seine sportliche Figur betonte.

»Jetzt fehlt nur noch Oclay, dann sind wir vollzählig«, verkündete er. »Aber wir haben ja noch Zeit.«

Lika winkte ihren Freunden zur Begrüßung zu. Manoo gab eine ihrer Geschichten zum Besten. Die Aufmerksamkeit der drei anderen fokussierte sich auf die quirlige junge Frau. Sie steckte in einem knappen Kleid, das aussah, als wäre es über und über mit glitzernden Tautropfen bedeckt. Dunkler Lidschatten betonte ihre Augenpartie und ihre Nägel glänzten in einem passenden Farbton. Die Gruppe brach in glucksendes Gelächter aus und Yavis verdrehte theatralisch die Augen.

Lika grinste ihrem Freund verschwörerisch zu. »Da haben wir bei der letzten Party ja einiges verpasst.«

»Ja. Vielleicht solltest du dich morgen Abend doch lieber Manoo und ihrer Truppe anschließen, anstatt mit Oclay und mir zu einem Konzert zu gehen.«

Mit einem Blick auf das gackernde Grüppchen schüttelte Lika den Kopf. »Nein, lass mal. Ich werde auch so Spaß haben. Anderen Spaß, aber das ist auch gut so.«

Ein mobiler Server schwebte aus dem Halbdunkel auf die Gruppe zu und bot Getränke und Häppchen zur Selbstbedienung an. Die Cocktails sahen verlockend aus. Es fiel Lika schwer, sich zu entscheiden. Yavis griff nach einem schmalen Stielglas, aus dem weiße Nebelschwaden quollen. Die Flüssigkeit darin strahlte ein sanftes, orangefarbenes Licht ab. Er setzte das Glas an seine Lippen und nahm einen Schluck des exotisch aussehenden Trankes. Er schloss die Augen und seufzte verzückt, während er sich einen letzten Tropfen von der Unterlippe leckte.

Lika schluckte und griff nach einem identischen Glas. Eine kleine Kostprobe reichte, um eine wahre Geschmacksexplosion in ihrem Mund auszulösen. Fruchtig, aber nicht süß, eine dezente Schärfe und etwas, das Lika nicht zu benennen vermochte. Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus. Ihr Körper wurde leicht, und sie hatte das Gefühl, als höbe sie ein paar Zentimeter vom Boden ab. Ihr entschlüpfte ein Kichern. Sie sah Yavis über den Rand ihres Glases hinweg an. Er blinzelte ihr verschwörerisch zu. Bevor Lika etwas zu ihm sagen konnte, drängte Manoo sich zwischen sie.

»Es wird immer später. Wir sollten langsam losgehen. Oclay weiß, wohin wir wollen. Sie wird uns dort schon finden.«

Lika schaute sich ein letztes Mal suchend um. Durch den Eingang strömten immer mehr Menschen in den Kulturpark, doch keine der herausgeputzten Gestalten war Oclay. Schweren Herzens drehte sie sich um und folgte ihren Freunden.

Das Herzstück des Parks bildete das Kulturzentrum, dem die Anlage ihren Namen verdankte. Das Gebäude erhob sich auf einer kleinen Anhöhe am Rande eines Sees. Die filigranen Elemente, aus denen das Bauwerk zusammengesetzt war, reckten sich wie dünne Stämme dem Himmel entgegen. Weitläufige Terrassen erstreckten sich vom Eingang bis hinunter zum Ufer. Auf der dem Gewässer abgewandten Seite wuchsen Bäume und Sträucher bis an das Zentrum heran. Durch die hohen Glasflächen war zu erkennen, dass sich die Vegetation im Gebäudeinneren fortsetzte. So entstand der Eindruck, das Bauwerk wäre um die Pflanzen herum gebaut worden. Diese Wirkung wurde von einem Bach verstärkt, der sich aus dem Park auf das Gebäude zu schlängelte, wie durch Magie ins Innere gelangte, sich durch die große Empfangshalle wand, um dann auf der gegenüberliegenden Seite wieder ins Freie zu treten. Dort führten glitzernde Kaskaden das Wasser die Uferböschung hinunter, wo es leise plätschernd mit dem tiefblauen See verschmolz. Das Kulturzentrum bot einen luftigen Rahmen, in dem viele Kunstwerke der Alten und Neuen Welt präsentiert wurden.

An diesem Abend erleuchteten Lichtkugeln aus einigen Metern Höhe den Kulturpark, das Gebäude und den See. Vom Ufer aus führte ein schwimmender Steg weit auf das Wasser hinaus, wo er sich zu einer Plattform weitete, auf der Hunderte Feierlustige tanzten. Die Musik schallte vom See aus bis in den Park. Auch dort standen festlich zurechtgemachte Neuweltler dicht beieinander und warteten auf den Beginn der Rede.

Die Gruppe blieb auf der Terrasse stehen. Durch die erhöhte Lage bot sich ihnen eine ungestörte Aussicht auf die Umgebung, und Oclay würde sie ohne Schwierigkeiten finden können. Lika sog die Atmosphäre auf. Sie nippte an ihrem Getränk und ließ ihren Blick schweifen. Am Rande des Parks stand die riesige Projektionswand, auf der die Rede des Oberen Rates übertragen werden sollte. Noch waren auf der hellen Leinwand Liveübertragungen der anderen Veranstaltungsorte zu sehen. In der Prachtallee, auf dem Großen Platz und in den übrigen Parks hatten sich Menschen versammelt. Überall warteten sie auf den offiziellen Beginn der Feier. Im Alltag beschränkte sich Likas Kontakt auf die immer gleichen Neuweltler, die sie zumindest vom Sehen alle kannte. Bei Anlässen wie diesem wurde ihr bewusst, wie groß die Bevölkerung ihrer Heimat war. Ein Schauer lief ihren Rücken herunter. Bei dem Gedanken, zu diesen Menschen zu gehören, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf.

»Da! In der Prachtallee! Seht ihr diese riesigen schwarzen Quader?«

Manoos Stimme riss Lika in die Gegenwart zurück. Ihre Kollegin hüpfte auf und ab und zeigte mit ausgestrecktem Arm Richtung Leinwand. »Das sind die Viewbacks!«

»Die wurden doch als die Überraschung der Großen Feier angekündigt«, erinnerte Lika sich. Sie betrachtete die schwarzen Gebilde auf der Übertragung, die in regelmäßigem Abstand aus dem Menschenmeer ragten. »Sind das nicht so etwas wie ein Holospace in einer Box?«

»Holospace in einer Box?«, wiederholte Manoo empört. »Diese Viewbacks sind viel mehr.« Die Stimme ihrer Freundin gluckste vor Aufregung. »Ich war gestern in der Prachtallee unterwegs«, berichtete sie mit glänzenden Augen. »Die ganze Straße entlang stehen sie wie riesige Kartons. Ich kann es kaum noch erwarten, in eine dieser Viewbacks zu gehen. Außen laufen ununterbrochen Filmsequenzen ab. Von den Jahren unmittelbar nach der Errichtung der Neuen Welt, von der Verriegelung, von der ersten Großen Feier, von der Eröffnung des Wissenschaftlichen Zentrums … Alles, was in den letzten zweihundertfünfzig Jahren wichtig war, soll dort zu sehen sein. Aber nicht wie in einem gewöhnlichen Holospace.« Manoo legte eine Kunstpause ein und betrachtete nacheinander die Gesichter ihrer Freunde, die anscheinend keine näheren Informationen zu den Viewbacks hatten und nun an ihren Lippen klebten. »Ein Bekannter hat mir verraten, dass diese Hologramme mittels Gedankensteuerung programmierbar sind. Sie funktionieren ähnlich wie die Servunits. Man soll seinen Fokus auf jedes winzige Detail richten können. Oder aber man spult die Zeit in beliebigem Tempo vor und zurück. Wie bei einer eigenen kleinen 3-D-Doku.«

»Das heißt, ich kann einen Prozess, der sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren oder Jahrzehnten hinzog, innerhalb weniger Minuten miterleben?«, hakte Yavis verwundert nach.

»Du hast es erfasst«, bestätigte Manoo und löste damit einen Begeisterungssturm unter den Freunden aus.

Sie redeten laut durcheinander und schmiedeten Pläne, mit wem sie am nächsten Tag in welche Viewbacks gehen würden. Die aufgeregten Stimmen klingelten in Likas Ohren. Yavis lehnte sich zu Lika, damit sie ihn über den Lärm der anderen hinweg verstehen konnte.

»Erinnerst du dich an unseren Ausflug zum Ressourcensektor? Ähneln sie nicht erstaunlich diesen lauten Vögeln, die wir dort gesehen haben?«, fragte er mit Fingerzeig auf die drei Freunde. »Wie hießen sie noch gleich? Hühner oder so.«

»Du meinst wohl eher die Gänse.«

Bei der Erinnerung an die schnatternde Schar prusteten beide los.

Jemand tippte Lika auf die Schulter. Sie drehte sich um und sah sich Oclay gegenüber.

»Endlich! Wo warst du nur so lange?«

Ein fanfarenartiges Signal ertönte. Schlagartig verstummte die wartende Menschenmenge.

Oclay flüsterte Lika ins Ohr: »Die Rede des Oberen Rates beginnt. Ich erkläre es dir später, ja?«

Sphärische Klänge durchdrangen die erwartungsvolle Stille. Blaue, grüne und goldene Laserblitze durchzuckten die Nacht. Sie malten eine Geschichte an das Himmelszelt. Fasziniert verfolgten die Zuschauer die Show. Der Umriss ihrer Insel erschien am Himmel. Winzige Punkte lösten sich aus dem fernen Reigen der Sterne, kamen näher, wurden größer, bis sie wie Schatten von Menschen wirkten. Tausenden von Menschen. Von allen Richtungen strömten sie auf die Insel zu. Die Kontur ihrer Welt füllte sich. Die Leiber verschmolzen zu einer bunten Masse. Als auch der letzte Fleck ausgefüllt war, zeichnete ein Silberstrahl ein Schutznetz in die Nacht, das sich wie eine Kuppel über das Eiland spannte. Bevor das Werk vollendet war, explodierten die Sterne außerhalb der Schutzhülle und verglühten in einem grellen Funkenregen. Nun erstrahlte nur noch das Bild der Neuen Welt am Himmel. Die Musik verstummte und auf der Projektionsfläche erschien das ernste Gesicht von Custos. Einige Zuschauer reagierten mit Applaus auf die Entscheidung des Oberen Rates, ausgerechnet diesen Mentor für die Festrede zu wählen. Er war Ingenieur. Ohne seine zahlreichen Entwicklungen wäre die Errichtung der Neuen Welt nicht realisierbar gewesen. Er strahlte Verlässlichkeit und Souveränität aus. Die Neuweltler achteten seine besonnene Art.

Die Kameraperspektive veränderte sich, bis Custos in voller Gestalt auf der Leinwand zu sehen war. Ein Raunen breitete sich in der Menge aus, als ersichtlich wurde, dass er sich außerhalb der Neuen Welt aufhielt. Überbleibsel von Gebäuden ragten empor. Sie bildeten im gelblich trüben Licht eines Scheinwerfers einen gespenstischen Rahmen für den Mentor. Die Umgebung wirkte kalt und abweisend. Ein Kloß bildete sich in Likas Hals. Sie knetete die Hände und starrte auf das Bild vor ihr. War es nicht zu riskant für Custos, sich außerhalb der Schutzzone aufzuhalten? Seit der Verriegelung ihrer Insel hatte es niemand mehr gewagt, die Alte Welt zu betreten. Warum setzte man ihn dieser Gefahr aus? Doch dann wurde ihr klar, dass es sich bei dem Hintergrund nur um eine Projektion handeln konnte. Erleichterung durchflutete sie.

»Liebe Freunde!« Die Stimme des Mentors erfüllte die Luft. Diese zwei Worte genügten, um die Menge verstummen zu lassen und die Aufmerksamkeit der Neuweltler zu fesseln. »Zweihundertfünfzig Jahre sind vergangen, seit der Größenwahn der Menschen mit der Zerstörung des Lebensraumes Erde endete. Dreck, Gestank, gähnende Leere. Das ist alles, was von dem einst Blauen Planeten übriggeblieben wäre.« Er hielt einen Moment inne, um dann mit Nachdruck fortzufahren: »Wären nicht die wagemutigen Visionäre von damals gewesen.«

Mit diesen Worten lief ein Flackern über den Bildschirm und Custos stand nun vor dem Sitz des Oberen Rates. Ein Lächeln umspielte seinen Mund, als er fortfuhr.

»Ihr alle wisst von den Ereignissen, die zur Gründung unserer Welt geführt haben. Dennoch ist es wichtig, uns immer wieder zu erinnern. Es liegt in der Natur des Menschen zu vergessen, zu verdrängen. Nur durch die Erinnerung verhindern wir, dass Geschehnisse wie damals sich wiederholen.«

Custos legte erneut eine Pause ein. Er schien seinen Blick über die Menschenschar schweifen zu lassen. Fast war es Lika, als schaute er einem nach dem anderen in die Augen. Sie sah sich verstohlen um. Jeder Einzelne in ihrem Umfeld starrte gebannt auf die Leinwand. Begierig darauf, Custos’ Worte aufzusaugen.