Nichts Dramatisches - Lydia Wünsch - E-Book

Nichts Dramatisches E-Book

Lydia Wünsch

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Beschreibung

In diesen Kurzgeschichten der Prosathek ist nichts so wie es scheint: Wem kannst du trauen? Deiner Frau? Deinen Ärzten? Dir selbst? Erwartet dich eine neue Liebe, eine Verschwörung, großes Kino oder ... doch Nichts Dramatisches? Ganz gleich, wie es ausgeht - hier ist jeder Satz auch ein erster Satz, jedes Ende wieder ein neuer Anfang. Alle Kurzgeschichten sind miteinander verkettet, du hangelst dich von einer Welt zur nächsten, und doch fesselt dich jede auf ihre ganz eigene Art und Weise. Versprochen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Erste

Schnell, tun Sie was!

Karmelina Kulpa

Die Zweite

Man hat eben auf mich geschossen.

Lydia Wünsch

Die Dritte

Auf dieser Insel muss ein Irrer sein.

Annika Kemmeter

Die Vierte

Als ich den Weg raufkam, sind mir zwei Kugeln um die Ohren geschossen und haben sich ins Portal gebohrt.

Verena Rabus

Die Fünfte

Ich weiß.

Alexander Wachter

Die Sechste

Wir müssen uns in Sicherheit bringen.

Arina Molchan

Die Siebte

Sie sind hier in Sicherheit.

Martin Trappen

Die Achte

Was ist los?

Victoria B.

Die Neunte

Nichts Dramatisches.

Sara Zinser

Über die Prosathek

Vorwort

Manchmal reicht das geschriebene Wort nicht aus, um ein Enigma zu entschlüsseln. Es bedarf der Vorstellungskraft. Welches Geheimnis birgt wohl dieses Buch? Die Kette auf dem Cover sticht sofort ins Auge. Daneben verwaschene, blutige Spuren. Oder doch ein Feuerwerk? Vielleicht sogar Himbeerjoghurt? Neun Namen, einer neben jedem Kettenglied. Kurzgeschichten schreiben sie. Krimigeschichten? Jedenfalls nicht so dramatische, wenn man dem Titel Glauben schenkt. Aber die Kette, die blutige Kette … Der Titel könnte ein Trugschluss sein. Das ganze Buch könnte ein Trugschluss sein.

Ist es aber nicht. Und du bist schon jetzt, da du es in deinen Händen hältst, ein Teil davon. Schon lange hatten wir die Vision von unserer zweiten Veröffentlichung, haben geschrieben und gezeichnet, diskutiert und abgestimmt. Mit gemeinsamen Kräften verwirklichen wir nun, wovon wir früher nur träumen konnten: die von uns geschaffenen Geschichten als druckfrische Exemplare unter Menschen zu bringen, die daran Freude haben.

Diesmal haben wir uns einer Herausforderung gestellt: Éric-Emmanuel Schmitts erste Sätze aus dem Drama Enigma (Variations Enigmatiques) literarisch zu verweben. Mit ihnen schmiedeten wir eine gusseiserne Kette, einen ewigen Kreislauf, denn jeder Anfang ist auch ein Ende. Dabei gibt es kein übergreifendes Genre, keinen thematischen Bezug und vor allem keine Konventionen. Begib dich auf die Reise durch neun unterschiedliche Welten, die dich alle auf ihre eigene Art und Weise fesseln werden.

Die Erste

von Karmelina Kulpa

„Schnell, tun Sie was!”

Ein junges Mädchen schrie in die umherwirbelnde Menge und sofort eilte ihr ein älterer Mann zur Hilfe. Schon seit einer Weile hatte er sie beobachtet, und dabei ruhig seine Zigarette dandylike weiter geraucht. Er hatte am Geländer des Schießstandes gelehnt, unbeirrt von den ständigen Schüssen, und war dem Geschehen gefolgt. Dabei hatte er sich schon länger überlegt, wie er das Mädchen ansprechen könnte.

„Was ist passiert?“

„Er hat mein Herz gestohlen!“

Mit Tränen in den Augen zeigte sie auf den davonrennenden, blonden Jungen und dann in den Himmel, auf ein Luftballonherz. Welch eine Ironie, dass die Worte so ihre Bedeutung wandeln können. Bevor der Ballon in die Luft geflogen war, hatte sie wie der glücklichste Mensch auf Erden ausgesehen. Verliebt hatte der Junge sie angeschaut, doch irgendetwas veranlasste die beiden dazu, sich zu streiten, plötzlich und heftig wie ein Sommergewitter. Dieser Wetterwandel war es auch, der das Interesse des heimlichen Beobachters geweckt hatte.

„Dann kaufe ich dir ein neues Herz.“

„Ich nehme aber keine Herzen von fremden Menschen an.“ Sie ging los in Richtung Zuckerwattestand, der Rock ihres rosaroten Kleides wehte umher und verschmolz mit der Umgebung. Sie drehte sich nochmal um und lächelte ihn an.

„Mein Name ist Alice.“

„John.“

„Ich habe nicht nach deinem Namen gefragt.“

John folgte ihr an den Zuckerwattestand, doch immer wenn er den Abstand zwischen ihnen ausgleichen wollte, beschleunigte Alice ihren Gang. Am Stand angekommen, erschien auf ihrem Gesicht wieder dieses strahlende Lächeln, als sie den Verkäufer, den Old Cotton Candy Bill, ansah. Dieser erwiderte es.

„Alice, my dear, was bekommst du heute?“

„Das Blaue vom Himmel, so groß wie ein Bienenkorb!“

„Ah, Blaubeeren-Zuckerwatte, einen Foot lang – kommt sofort!“

Kokett lehnte sich Alice an den Wagen und nahm den Kaugummi, auf dem sie bisher genüsslich gekaut hatte, aus dem Mund, rollte ihn zwischen zwei Fingern zu einer Kugel und schmiss ihn in Old Cotton Candy Bills Eimer. Sie verfolgte, wie der Zucker zur Watte wurde und sich langsam um den langen Stock wickelte. John fragte sich, wie oft Alice in diesem Vergnügungspark zu Besuch war und wieso der ganze Park so wirkte, als wäre er für sie geschaffen.

„Möchte der Herr auch etwas?“

„Nein, danke.“

„Das macht 40 Cent.“

Alice drehte sich zu John um und schaute ihn herausfordernd an, so, als ob dies die erste Hürde wäre, die er meistern müsse, um befugt zu sein, sie kennenlernen zu dürfen. Nachdem John gezahlt und noch etwas Trinkgeld hinterlassen hatte, setzten sie ihren Gang fort. Er suchte nach einer Sitzgelegenheit und entdeckt diese auch recht schnell. Mit einer einladenden Geste zeigte er auf die Sitzbank.

„Junge Lady, möchten Sie sich vielleicht zum Verzehr hinsetzten?“

Alice schluckte hastig einen riesigen Bissen Himmelblaues herunter.

„Nein. Ich bin nicht gern lange an einem Ort. Es ist viel aufregender, zwischen den Menschenmassen herum zu irren und sich in ihnen zu verlieren.“ Welch eine artikulierte Art sich Auszudrücken dieses junge Mädchen doch hatte. Alles an ihr wirkte so natürlich, fast zu sehr, so dass es den Anschein hatte, einstudiert zu sein.

„Du liebst also Chaos?“

„Das habe ich nicht gesagt, aber du magst es wohl, Menschen Worte in den Mund zu legen.“

Sie wartete auf eine Antwort. Als sie diese nicht bekam, beschloss sie, sich nun doch hinzusetzen. John gesellte sich zu ihr und steckte sich eine Zigarette an. Er lehnte sich zurück, legte seine Arme um den Hinterkopf und überlegte, was er Alice als Erstes fragen wollte.

„Bist du oft hier?“

Sofort antwortete sie, als ob sie diese Frage erwartet hätte: „Meine Mutter war Seilkünstlerin im Zirkuszelt, ich bin hier aufgewachsen und wurde trainiert, um in ihre Fußstapfen zu treten – bin ich aber nicht.“

„Und wieso nicht?“

„Meine Mutter ist umgekommen und ich wäre sowieso lieber Wahrsagerin geworden.“

„Das tut mir Leid ... Was ist mit deinem Vater?“

„Ich verstehe es nicht, wenn Menschen ‚es tut mir Leid’ sagen. Es ist ja nicht deine Schuld.“

Sie schmiss den Zuckerwattestock weg und rannte los. John hatte das nicht erwartet. Er wollte Alice nicht verlieren und eilte durch die bunten Massen, vorbei an Clowns, Harlequins und Mimen, weiter und weiter, bis er sich vor dem Karussell wiederfand und sich erschöpft auf den Treppen niederließ.

„Ich dachte, du kommst überhaupt nicht mehr! Komm, wir fahren eine Runde!“

Alice stand im Innenbereich des Karussells und winkte John mit zwei Fahrkarten zu. Er mochte Karussellfahren nicht. Es lag nicht an der Geschwindigkeit oder der Drehung, sondern an der Mischung der beiden, zusammen mit den vielen Gerüchen, die ein Jahrmarkt zu bieten hatte. Popcorn, Zuckerwatte, Hot-Dogs, Lakritze und der schwere Duft der Parfüms der Mütter, die vor dem Karussell auf ihre Kinder warteten und sich nach einem Vaterersatz umschauten, da der Vater im Krieg umgekommen war.

John schüttelte den Kopf und griff in seine Jackentasche nach einer Zigarette.

„Du musst. Ich habe schon die Fahrkarten, jetzt gibt es kein Zurück mehr.“ Sie schaute ihn wütend an.

Er wollte sie nicht verlieren, also stand John auf und drängte sich zu Alice durch. Sie sprang vor Freude in die Luft.

„Ich wusste, dass du doch kommst!“

Sie hakte sich bei ihm ein und gemeinsam setzten sie sich in eine sich drehende Tasse. Die Karussellmusik ging wieder los, die Pferde um sie herum setzten sich in Bewegung und drehten sich um ihre eigene Achse. Der Schaffner kassierte ihre Tickets und gab sie Alice zurück. Sie antwortete mit einem merci und der Schaffner wandte sich John mit ernster Miene zu.

„Passen Sie auf die kleine Lady auf.“

Alice lachte ab und zu und Grübchen gaben eine Lücke zwischen ihren Vorderzähnen preis. Ihre blonden Haare wehten umher und der Träger, der zu einer Schleife gebunden war, fiel herunter und entblößte ihre zierliche Schulter. John merkte zunächst gar nicht, dass Alice ihn mit ihren Katzenaugen beobachtete. Er fühlte sich ertappt. Sie rutschte näher zu ihm und legte ihren Kopf auf seine Schulter.

„Was ist mit deinem Vater passiert?“

„Er wurde erschossen.“

John betrachtete Alice: Sie hatte die Augen geschlossen und sah unberührt aus, so als ob es ihr egal gewesen wäre. Diesmal sagte er nichts.

„Danke“ – das war die Antwort für kein ‚Tut mir Leid’.

Das Karussell wurde immer schneller und John verlor seinen klaren Kopf: Er verspürte das Verlangen, Alice zu küssen. Um dies nicht zu tun, schloss er die Augen und probierte auf andere Gedanken zu kommen. Als er sie jedoch wieder öffnete, stand das Karussell still und Alice war weg. War alles nur ein Traum gewesen? In Gedanken versunken stieg er aus und fuhr sich mit der Hand durch die pomadisierten Haare. Er hatte genug von dieser märchenhaften Verfolgungsjagd.

Nach einer Weile landete er an einem Häuschen, dessen Eingang von dichten, schwarzen Theatervorhängen verdeckt war. „Fortuneteller“ besagte das Schild über dem Eingang, das mit einem schlafenden Mond und Sternen verziert war. Es roch nach Räucherstäbchen. Von innen hörte er ein Lachen – Alice.

„Kommen Sie nur herein, wir haben Sie schon erwartet.“ Die raue Stimme gehörte einer Frau mit lockigen, roten Haaren, die von einem Veloursturban gebändigt wurden. Der Opiumgeruch kitzelte Johns Nase, während er sich auf einem Samtsessel neben Alice niederließ. Die Wahrsagerin mischte die Karten.

„Schließen Sie Ihre Augen und ziehen Sie eine Karte aus dem Stapel.“

John musterte die Frau skeptisch, dann wandte er seinen Blick zu Alice, die vor Spannung auf ihrer Unterlippe kaute. Er zog eine Karte und überreichte sie der Wahrsagerin.

„Der Tod. Interessant ... Diese Karte symbolisiert etwas, das Ihr Leben verändern wird. Ich glaube, es ist irgendjemand.“ Sie deutete auf Alice, die diese Nachricht voller Freude annahm und mit einer stolzen Miene antwortete. Die Frau wandte sich mit ernstem Gesicht wieder John zu. „Doch passen Sie auf, die Karte ist auch eine Warnung vor Illusionen.“

„John, wir gehen!“ Alice stand auf und rauschte zur Tür. Er tauschte einen irritierten Blick mit der Wahrsagerin, bevor er Alice nacheilte.

„Wieso willst du so plötzlich weg?“

„Ich muss dir etwas zeigen.“