»Nichts ist, wie es scheint« - Michael Butter - E-Book

»Nichts ist, wie es scheint« E-Book

Michael Butter

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Beschreibung

Seit 2015 Hunderttausende Flüchtlinge in die Bundesrepublik kamen, kursiert im Netz die Theorie vom »Großen Austausch«: Das Land solle von einer globalen »Finanzoligarchie« mittels der »Migrationswaffe« ausgeschaltet werden. Neben mangelndem Vertrauen in die Politik ist der Glaube an Verschwörungstheorien ein Merkmal des populistischen Brodelns. Doch was macht eine Erklärung zu einer Verschwörungstheorie? Warum sind sie für viele so attraktiv? Und was kann man dagegen unternehmen?

Antworten auf solche Fragen findet man seltener als Verschwörungstheorien selbst. Michael Butter erläutert, wie solche Erzählungen funktionieren, wo sie herkommen und welche Auswirkungen sie haben können. Da sie die Eigenlogik sozialer Systeme unterschätzten, seien solche Theorien zwar immer falsch; als Symptom müsse man sie dennoch ernstnehmen. Gegenwärtig seien sie ein Indikator für die demokratiegefährdende Fragmentierung der Öffentlichkeit.

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Seitenzahl: 315

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Inhalt

Einleitung oder Was ist der Plan?

1. »Alles ist geplant« oder Was ist eine Verschwörungstheorie?

2. »Nichts ist, wie es scheint« oder Wie argumentieren Verschwörungstheorien?

3. »Alles ist miteinander verbunden« oder Warum glauben Menschen an Verschwörungstheorien?

4. Was bisher geschah oder Wie haben sich Verschwörungstheorien historisch entwickelt?

5. Was derzeit geschieht oder Wie verändert das Internet Verschwörungstheorien?

7

9Einleitung oder Was ist der Plan?

Am 31. August 2015 sprach Angela Merkel angesichts Tausender Flüchtlinge, die täglich nach Deutschland kamen, ihren berühmten Satz »Wir schaffen das«. Just an diesem Tag veröffentlichte das Magazin Compact einen Text der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Herman, der sich mit diesem Thema beschäftigte. Der etwa zehnseitige Aufsatz war bereits einige Tage zuvor unter dem Titel »Einwanderungs-Chaos: Was ist der Plan?« auf der Seite der Wissensmanufaktur erschienen, deren Medienbeirat Herman damals angehörte. Compact, das wie die Wissensmanufaktur zu den rechtspopulistischen Alternativmedien gehört, die in den letzten Jahren so viel Auftrieb erfahren haben, publizierte ihn unter dem Titel »Flüchtlings-Chaos: Ein merkwürdiger Plan«. Der Artikel ist in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu Merkels Aussage. Wo die Kanzlerin Optimismus verbreitete, sah Herman nichts weniger als den Untergang des Abendlandes unmittelbar bevorstehen. »Wir schaffen das nicht«, schreit es aus jedem ihrer Sätze.1

»Europa«, so Herman, »wird geflutet mit Afrikanern und Orientalen. Unsere alte Kraft, unsere christliche Kultur, Glaube und Tradition, werden zerstört, die Identität der einzelnen Völker aufgeweicht und, Schritt für Schritt, abgeschafft.« Während sie hier für einen Moment das Bild einer Naturkatastrophe bemüht, dominiert insgesamt eine ganz andere Metaphorik: Für Herman ist die Flüchtlingskrise ein »Feldzug gegen Europa« und Deutschland entsprechend »ein Schlachtfeld«, ein »Kriegsgebiet […], welches nun von unzähligen Asylsuchenden, Stück für Stück, eingenommen 10wird«. Die Geflüchteten, angeblich »überwiegend junge, starke Männer«, sind für sie »der Sprengstoff«, der sich »zunehmend zur Waffe gegen die einheimische Bevölkerung« entwickelt.

Diese Bildlichkeit von Krieg und Invasion passt zum Argument, denn für Herman handelt es sich bei der Migrationskrise nicht nur um eine von Menschen gemachte, sondern um eine ganz bewusst herbeigeführte Katastrophe. Gleich im ersten Absatz betont sie, der eigentliche »Widersacher« sei »nicht in den Millionen fliehenden Migranten zu suchen«. Die Geflüchteten seien nur die sichtbaren Werkzeuge, denn: »[D]er Feind arbeitet in vielerlei subtiler Form an bislang für die meisten Leute unbekannten Nahtstellen.« Letztendlich verantwortlich, so Herman, sei »eine bestimmte Gruppe von Machtmenschen des globalen Finanzsystems […], die sich die Welt aus ihrem Kapitalsammelbecken heraus untertan machen will«. Sie erklärt allerdings an keiner Stelle, wie die Zerstörung des christlichen Europa, die sie prognostiziert, zur Agenda dieser »mächtigen Globalbestimmer« beitragen soll. Immer wieder betont sie jedoch, dass diese mysteriösen Strippenzieher die Politik und die Medien kontrollieren. Wiederholt kommt sie auf das »Brüsseler Marionettentheater«, die »eingesetzten Politikdarsteller« und »die gleichgeschalteten Massenmedien« zu sprechen, die, statt dem Volk zu dienen, »die Hirne der Menschen« verwirren, um »das Volk in den Untergang [zu] führen«.

Eva Hermans Ideen verbreiteten sich schnell in den alternativen Öffentlichkeiten des Internets, wo sie breite Zustimmung fanden, wie die Kommentare unter dem Essay zeigen. Da Herman bis zu ihren kontroversen Äußerungen zu Feminismus, Genderrollen und Nationalsozialismus einige Jahre zuvor eine beliebte Fernsehfi11gur gewesen war, griffen auch die »Mainstreammedien« das Thema auf. Ebenfalls am 31. August widmete zum Beispiel die Website des Stern ihren »umstrittenen Aussagen« einen Artikel. Fazit: Herman habe Angst, »dass unser Land durch die vielen Migranten zerstört werde«, und verbreite »allerlei Verschwörungstheorien«.2

Im gegenwärtigen Kontext ist dieses Urteil ebenso erwartbar wie einleuchtend, schließlich sind Verschwörungstheorien in den letzten Jahren ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Nachdem sie lange Zeit ein Nischendasein gefristet hatten, sind sie seit einiger Zeit allgegenwärtig: Die USA haben die Anschläge des 11. September 2001 selbst durchgeführt; wir werden heimlich von einer Neuen Weltordnung kontrolliert, die uns über Chemtrails und Impfungen gefügig hält; die Ukrainekrise wurde von der Nato orchestriert; Barack Obama wurde wahlweise nicht in den USA geboren oder er ist – wie Angela Merkel und George W. Bush – Teil einer Elite außerirdischer Reptilien, die sich von unserer negativen Energie ernährt; die Mondlandung hat natürlich nie stattgefunden, und John F. Kennedy wurde von der CIA ermordet. Enthüllungen über vermeintliche Komplotte der USA, der EU, der Geheimdienste, der Juden, der Illuminaten und anderer Gruppen zirkulieren nicht mehr nur in Subkulturen, sondern erreichen inzwischen eine breite Öffentlichkeit.

Viele Beobachter kommen daher zu dem Schluss, Verschwörungstheorien seien heute salonfähiger als je zuvor und die Zahl derjenigen, die an sie glauben, habe sprunghaft zugenommen. Dies wiederum alarmiert diejenigen, die ihnen weiterhin skeptisch gegenüberstehen – und das ist noch immer der größere Teil der Bevölkerung und die überwältigende Mehrheit der Medienvertreter. Entsprechend ist der Begriff »Verschwörungstheorie« 12zu einem festen Bestandteil des alltäglichen gesellschaftlichen Diskurses geworden: Man begegnet dem Wort mittlerweile beinahe wöchentlich in den Abendnachrichten oder in der Zeitung. Eine Erklärung, warum eine bestimmte Idee als »Verschwörungstheorie« bezeichnet wird, gibt es in solchen Fällen allerdings nicht. Offensichtlich haben wir alle ein intuitives Verständnis davon, was eine Verschwörungstheorie ist. »Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe«, hat ein amerikanischer Richter bekanntlich einmal über Pornografie gesagt, und genauso geht es den meisten von uns mit Verschwörungstheorien. Daher würde – außer denjenigen, die den Anschuldigungen zustimmen und die Bezeichnung »Verschwörungstheorie« daher als Diffamierung zurückweisen – wohl jeder Leser Hermans Text als Verschwörungstheorie einstufen.

Doch was genau macht Hermans Text zu einer Verschwörungstheorie? Und stimmt es, dass Verschwörungstheorien immer populärer und einflussreicher werden? Was hat das Internet damit zu tun? Seit wann gibt es überhaupt Verschwörungstheorien? Wie hängen Verschwörungstheorien und Populismus zusammen? Wer glaubt eigentlich an Verschwörungstheorien und warum? Sind Verschwörungstheorien gefährlich? Und was kann man gegen sie tun?

Antworten auf diese Fragen findet man deutlich schwerer als Verschwörungstheorien selbst. Es besteht ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Aufgeregtheit, mit der das Thema derzeit diskutiert wird, und dem Wissen, das diese Diskussionen in den allermeisten Fällen informiert. Oft genug werden Ideen als Verschwörungstheorien bezeichnet, die keine sind. Impfgegner mögen falschliegen, aber nicht alle sind Verschwörungstheoretiker. Immer wieder werden verschie13dene Typen von Verschwörungstheorien in einen Topf geworfen, unabhängig davon, ob sie sich gegen Eliten oder gegen Minderheiten richten, ob sie rassistisch sind oder nicht. Auch wird oft pauschal ein Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und Gewalt(bereitschaft) behauptet – ein Thema, dem der deutschsprachige Wikipedia-Artikel zum Thema einen ganzen Abschnitt, aber nur zwei sehr spezifische Belege widmet.3

In den letzten Jahren hat die Konfusion vor dem Hintergrund des erstarkenden Populismus in Europa und den USA weiter zugenommen. Insbesondere die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat die öffentliche Debatte über Verschwörungstheorien noch aufgeregter und unpräziser gemacht, weshalb zum Beispiel die Grenze zwischen Verschwörungstheorien und Fake News verschwimmt. Verschwörungstheorien können Fake News sein, also absichtlich verbreitete Fehlinformationen, die darauf angelegt sind, bestimmte Personen zu diskreditieren und/oder ein anderes Ziel zu erreichen. Allerdings sind nicht alle Verschwörungstheorien Fake News und umgekehrt. Viele Verschwörungstheoretiker sind genuin überzeugt, einem Komplott auf die Schliche gekommen zu sein; und nicht jede bewusst verbreitete Fehlinformation behauptet eine Verschwörung.

Doch nicht nur die unscharfe Begriffsverwendung ist ein Problem. Denjenigen, die sich mit Verschwörungstheorien auseinandersetzen – und das gilt gleichermaßen für den wissenschaftlichen wie für den medialen Diskurs –, fehlt es oft an einem adäquaten Verständnis davon, wie Verschwörungstheorien entstehen, was sie für diejenigen, die an sie glauben, leisten und welche Folgen sie haben können. Das liegt nicht zuletzt daran, 14dass es bis heute nur eine einzige Studie zum Thema ins öffentliche Bewusstsein geschafft hat: Richard Hofstadters berühmter Aufsatz über den »paranoiden Stil in der amerikanischen Politik« von 1964.4 Selbst in den USA, wo seit den neunziger Jahren ein knappes Dutzend spannender Untersuchungen zum Thema erschienen ist, fiel und fällt den Medien angesichts von Donald Trumps täglichem Flirt mit dem Konspirationismus nichts anderes ein, als wieder und wieder Hofstadters Aufsatz zu bemühen.

Hofstadter, einer der angesehensten Historiker seiner Zeit, rückte einerseits den Glauben an Verschwörungstheorien in die Nähe klinischer Paranoia; andererseits behauptete er, in den USA habe immer nur eine Minderheit an den Rändern der Gesellschaft überall Verschwörungen gewittert. Die New York Times, die Washington Post, Salon.com, die New Republic und viele andere Medien benutzten im Verlauf des Wahlkampfs Hofstadters Begrifflichkeit, um Trump zu charakterisieren, und tun dies teilweise bis heute. Selbst Hillary Clinton bezog sich auf Hofstadter, als sie einmal ungewöhnlich direkt auf Trumps Gedankenwelt einging. Bei einem Wahlkampfaufritt in Reno, Nevada, im August 2016 warf sie Trump vor, Vorurteile und Paranoia auszuschlachten, und sie rief gemäßigte Republikaner auf, sich der Übernahme ihrer Partei durch die radikalen Ränder zu widersetzen.5 Auch außerhalb der USA ist Hofstadters Text bis heute zweifellos die einflussreichste Analyse von Verschwörungstheorien; deutsche Medien wie Die Zeit oder Die Welt bemühten sie ebenfalls, als es darum ging, das Phänomen Trump zu verstehen. Selbst der Politologe Christian Lammert, ein ausgewiesener Amerika-Experte, verwies in einer Analyse von Trumps Verhalten noch im März 2017 auf Hofstadter.615

Dabei gilt der Text in der Forschung mittlerweile als überholt. Hofstadter erkennt zwar vieles richtig, seine Pathologisierung von Verschwörungstheoretikern als paranoid ist jedoch hochproblematisch. Angesichts der Tatsache, dass laut neuesten empirischen Studien die Hälfte der Amerikaner und ein geringerer, aber nicht unwesentlicher Teil der Deutschen an mindestens eine Verschwörungstheorie glauben, ist sie überdies völlig sinnlos.7 Auch andere Aspekte von Hofstadters Argument haben sich als falsch herausgestellt. Um zu verstehen, was Verschwörungstheorien sind und wie sie funktionieren, helfen uns also weder unsere Intuition noch diejenige Studie, die bis heute das öffentliche Verständnis des Themas bestimmt.

Insofern ist der Titel dieses Buches – »Nichts ist, wie es scheint« – doppeldeutig, und wenn dies technisch möglich wäre, müssten die ihn rahmenden Anführungszeichen immer für einen Moment da sein und dann für einen Augenblick verschwinden. Denn »Nichts ist, wie es scheint« ist zum einen, wie ich im ersten Kapitel zeige, eines der Grundprinzipien konspirationistischen Denkens. Wo andere Zufall und Chaos sehen, entdecken Verschwörungstheoretiker einen perfiden Plan. Zum anderen aber bezieht sich der Titel auch auf die Mythen, die über Verschwörungstheorien im mitunter sehr aufgeregten medialen, aber eben auch im wissenschaftlichen Diskurs in Umlauf sind.

Mit diesen Mythen will dieses Buch aufräumen. Es soll zu einem besseren Verständnis des Phänomens beitragen, indem es die Grundlagen, Funktionen, Effekte und die Geschichte verschwörungstheoretischen Denkens vorstellt. Der Fluchtpunkt der Argumentation sind natürlich die aktuellen Entwicklungen, insbesondere die Verbindungen von Verschwörungstheorien zur popu16listischen Rhetorik sowie ihre Verbreitung durch das Internet und die Wirkung, die sie auf diesem Weg entfalten. Allerdings ist die Gegenwart nur vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung verständlich, schließlich ist die Geschichte der Verschwörungstheorien immer auch die Geschichte der sich wandelnden Öffentlichkeiten, in denen diese Theorien zirkulieren, und der medialen Gegebenheiten, die diese Zirkulation bedingen. Will man verstehen, wie das Internet – wo sich Gegenöffentlichkeiten so viel leichter formieren als außerhalb des virtuellen Raums und wo Verschwörungstheorien jederzeit aktualisiert werden können – die Formen und Funktionen konspirationistischer Verdächtigung beeinflusst, muss man wissen, wie es vorher war, welchen Einfluss also andere mediale Regimes in früheren Zeiten hatten.

Vor allem aber hat sich der Status von Verschwörungstheorien im öffentlichen Diskurs im Lauf der Zeit radikal gewandelt, und er verändert sich derzeit erneut. Auch wenn es sich bisweilen so anfühlen mag, leben wir nicht im goldenen Zeitalter der Verschwörungstheorien. Der Konspirationismus ist derzeit nicht populärer und einflussreicher als jemals zuvor. Im Gegenteil: Über Verschwörungstheorien wird momentan so viel geredet, weil sie noch immer stigmatisiertes Wissen sind, dessen Prämissen von vielen äußerst skeptisch gesehen werden. Und genau das war in der Vergangenheit anders. Bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren Verschwörungstheorien in der westlichen Welt eine vollkommen legitime Wissensform, deren Grundannahmen nicht hinterfragt wurden. Entsprechend normal war es, an Verschwörungstheorien zu glauben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann in den USA und in Europa ein komplexer Prozess der Delegitimierung von ver17schwörungstheoretischem Wissen, der konspirationistische Ideen aus dem öffentlichen Diskurs in Subkulturen verbannte.

Die aktuelle »Renaissance« von Verschwörungstheorien hängt einerseits mit dem Erstarken populistischer Bewegungen zusammen, weil es strukturelle Parallelen zwischen populistischen und konspirationistischen Argumentationsweisen gibt; andererseits spielt das Internet eine entscheidende Rolle, weil es Verschwörungstheorien, die nie völlig verschwunden waren, wieder sichtbarer macht und weil es in nicht unerheblichem Maße zu einer Fragmentierung der Öffentlichkeit beiträgt. Was wir im Moment erleben, ist eine Situation, in der Verschwörungstheorien in manchen Teilöffentlichkeiten, insbesondere in derjenigen, die wir weiterhin als Mainstream bezeichnen, noch immer stigmatisiert sind; in anderen Teilöffentlichkeiten sind sie mittlerweile hingegen wieder als legitimes Wissen akzeptiert. Es ist das Aufeinanderprallen dieser Öffentlichkeiten und ihrer unterschiedlichen Wahrheitsbegriffe, das die derzeitige Debatte über Verschwörungstheorien bedingt. Denn während die einen sich (wieder) vor Verschwörungen fürchten, sorgen sich die anderen (noch immer) um die fatalen Auswirkungen von Verschwörungstheorien. Insofern könnte man von einer dritten Phase in der Geschichte der Verschwörungstheorien sprechen.

Dieses Argument entwickle ich in sechs Kapiteln, die dabei so angelegt sind, dass sie auch einzeln oder in einer anderen Reihenfolge gelesen werden können. Im ersten Kapitel diskutiere ich verschiedene Definitionen und Typologien von Verschwörungstheorien. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Tatsache, dass der Begriff nicht nur neutral beschreibend, sondern zumindest im Alltagsdiskurs immer auch wertend ist. Das 18zweite Kapitel behandelt die Beweisführung von Verschwörungstheorien. Wie argumentieren diejenigen, die an sie glauben, und wie erzählen sie von den vermeintlichen Komplotten? Die unterschiedlichen Funktionen von Verschwörungstheorien für Individuen und Gruppen analysiere ich im dritten Kapitel, in dem es auch um die Frage geht, wer tendenziell eher an solche Theorien glaubt als andere. Das vierte Kapitel skizziert die historische Entwicklung von Verschwörungstheorien von der Antike bis in die Gegenwart. Es endet mit einer Diskussion des Verhältnisses von Verschwörungstheorien und Populismus. Das fünfte Kapitel ist dem Einfluss des Internets auf die Sichtbarkeit, den Status, aber auch die Rhetorik und Argumentation von Verschwörungstheorien gewidmet. Der Schlussteil schließlich erörtert, ob und wann Verschwörungstheorien gefährlich sind, und greift die derzeit kontrovers diskutierte Frage auf, was man gegen sie tun kann.

Da ich ein deutscher Amerikanist bin, stammen meine Beispiele vor allem aus Deutschland und den USA

Kapitel 1»Alles ist geplant« oder Was ist eine Verschwörungstheorie?

Verschwörungstheorien behaupten, dass eine im Geheimen operierende Gruppe, nämlich die Verschwörer, aus niederen Beweggründen versucht, eine Institution, ein Land oder gar die ganze Welt zu kontrollieren oder zu zerstören. Das englische Wort für Verschwörungstheorie, conspiracy theory, stammt vom lateinischen Verb conspirare, das übereinstimmen oder zusammenwirken bedeutet. Eine Verschwörung, egal ob real oder imaginiert, ist also niemals das Werk eines Einzelnen, sondern immer das einer kleineren oder größeren Gruppe von Menschen. Doch Verschwörungstheorien besitzen noch weitere typische Charakteristika, die ich im ersten Teil des Kapitels vorstelle. Dabei dient mir erneut Eva Hermans Text zur Flüchtlingskrise als Beispiel. Danach diskutiere ich einige Typologien, die für die Einordnung von Verschwörungstheorien vorgeschlagen wurden. Insbesondere unterscheide ich zwischen vermeintlichen Verschwörungen von unten und von oben, von außen und von innen sowie zwischen Szenarien, die sich um ein bestimmtes Ereignis, eine bestimmte Gruppe von Verschwörern oder eine Kombination solcher Varianten drehen. Anschließend widme ich mich der Frage, was denn eigentlich die von Verschwörungstheoretikern behaupteten Komplotte von realen Verschwörungen unterscheidet. Ich werde zeigen, dass Verschwörungstheorien fast immer viel umfassendere und ambitioniertere und daher unmöglich zu realisierende Komplotte imaginieren, während tatsächliche Verschwö22rungen sehr begrenzt sind, was Umfang und Ziele anbelangt. Vor allem gehen Verschwörungstheorien von einem falschen Menschen- und Geschichtsbild aus, wenn sie behaupten, dass Geschichte über einen längeren Zeitraum plan- und kontrollierbar ist. Dies wird mich zu der Beobachtung führen, dass der Terminus »Verschwörungstheorie« im alltäglichen wie auch im wissenschaftlichen Diskurs fast immer ein wertender Begriff ist, der benutzt wird, um die Ideen anderer zu disqualifizieren – und zwar auch dann, wenn diese gar nicht die typischen Charakteristika von Verschwörungstheorien aufweisen. Wie ich im vierten Teil des Kapitels argumentiere, ist es meines Erachtens aber durchaus möglich, ihn wissenschaftlich-neutral zu verwenden. Im letzten Schritt werde ich dann auf Forderungen eingehen, den Begriff »Verschwörungstheorie« durch den der »Verschwörungsideologie« zu ersetzen, weil Verschwörungstheorien keine Theorien im wissenschaftlichen Sinne seien. Das mag auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, doch der Sachverhalt ist, wie wir sehen werden, etwas komplexer.

Die typischen Charakteristika

Folgt man dem amerikanischen Politikwissenschaftler Michael Barkun, sind über das Vorhandensein einer Gruppe hinaus drei Grundannahmen konstitutiv für Verschwörungstheorien: 1.) Nichts geschieht durch Zufall. 2.) Nichts ist, wie es scheint. 3.) Alles ist miteinander verbunden. Der englische Historiker Geoffrey Cubitt, der ebenfalls eine einflussreiche Verschwörungstheorie-Definition formuliert hat, sieht dies ganz ähnlich. Für ihn bestimmen Intentionalismus, Heimlich23keit und der Dualismus von Gut und Böse das Wesen der Verschwörungstheorie. Intentionalismus und Heimlichkeit entsprechen recht genau Barkuns ersten beiden Komponenten: Die Verschwörer agieren im Geheimen und verfolgen einen Plan; der Dualismus wird von Barkun an anderer Stelle ebenfalls betont. Die Verschwörer werden unweigerlich als böse imaginiert. Ihre Taten schaden unschuldigen Menschen.1

Tatsächlich finden sich bereits im ersten Absatz von Eva Hermans Text alle diese Merkmale:

Wer in diesen Tagen den immer stärker werdenden Flüchtlingszustrom nach Deutschland, nach ganz Europa, mit wachsender Sorge betrachtet, der wird gewiss viele Fragen haben. Doch er wird nur wenige schlüssige Antworten von den offiziellen Meinungsmachern erhalten. Lediglich einer geringen Anzahl von Menschen dürfte dabei klar sein, dass sie inzwischen selbst als Betroffene in einem zum Kriegsgebiet erklärten Land leben, welches nun von unzähligen Asylsuchenden, Stück für Stück, eingenommen wird. Eine subversive, perfide Kriegsstrategie, die auch schon das alte Rom einst vernichtete. Auch damals sah die Bevölkerung ihrem Untergang gleichermaßen tatenlos zu. Unsere herkömmlichen Lebensstrukturen werden jetzt vernichtet, die alte Ordnung bricht auseinander. Die Verzweiflung Einheimischer wächst, doch noch erahnen die meisten den Plan nicht. Ihr Ärger richtet sich entweder gegen die Politiker oder gegen die Flüchtlinge. Erste Unruhen unter den verschiedenen Glaubenskulturen malen hässliche Gesichter der Zukunft. Doch wichtig ist: Der Widersacher ist nicht in den Millionen fliehenden Migranten zu suchen – der Feind arbeitet in vielerlei subtiler Form an bislang für die meisten Leute unbekannten Nahtstellen. Wohl, weil dies ein Schatten bisher nur von der Gewalt des wirklichen Geschehens ist, scheint es allgemein schwerzufallen, die Zusammenhänge zu erkennen.2

Diese einleitenden Sätze liefern natürlich noch keine abschließenden Antworten, aber sie stellen in einem Absatz die Gedanken vor, die Herman im Rest des Texts entwickelt: Die Flüchtlingskrise ist kein Zufall; sie ist nicht das ungewollte Resultat komplexer geopolitischer Verstrickungen, sondern das Ergebnis eines in die Tat 24umgesetzten »Plans«, hinter dem ein »Feind« steckt. Dieser Feind bleibt hier noch äußerst vage, aber da in seine Reihen zumindest »die Politiker« gehören, handelt es sich auf jeden Fall um ein Kollektiv. Nicht ins Lager des Feindes gehören dagegen diejenigen, die man vielleicht zuerst verdächtigen würde, nämlich die »Flüchtlinge« selbst. Es ist also nicht so, wie es auf den ersten Blick aussehen mag. Vielmehr wirkt der wahre Feind im Verborgenen »in vielerlei subtiler Form an bislang […] unbekannten Nahtstellen«. Es ist vielleicht nicht – wie Barkun etwas überspitzt formuliert – alles miteinander verbunden, aber wenn man einmal akzeptiert hat, dass es den Feind gibt, der heimlich einen Plan verfolgt, ergeben sich plötzlich zahlreiche Verbindungen, die man vorher nicht gesehen hat. Und diese Verbindungen »entlarvt« Herman im Folgenden.

Typisch für die allermeisten Verschwörungstheorien, zeichnet sie das Bild einer hierarchisch organisierten, mehrere Ebenen bzw. Abteilungen umfassenden Verschwörergemeinschaft. Ebenso typisch gerade für zeitgenössische Verschwörungstheorien ist, dass die Führungsriege der Verschwörung letztendlich nicht genau identifiziert wird. Herman schreibt einigermaßen nebulös von »eine[r] bestimmte[n] Gruppe von Machtmenschen des globalen Finanzsystems […], die sich die Welt aus ihrem Kapitalsammelbecken heraus untertan machen will«. Wer genau aber diese mysteriösen Verschwörer sind und wie die Inszenierung der Flüchtlingskrise zur Erfüllung ihres Plans beiträgt, bleibt unklar. Diese Vagheit ist vermutlich einerseits strategisch, weil sie es den Lesern erlaubt, ihre eigenen Ängste in den Text zu projizieren; sie ist andererseits aber auch darin begründet, dass Herman sich auf die niedrigeren Ränge der Verschwörung konzentriert, nämlich die »Politik- und Me25diendarsteller« auf nationaler Ebene – und auf die Geflüchteten selbst.

Klar ist, dass die Verschwörung »Migranten als Waffe« benutzt, doch Herman macht widersprüchliche Aussagen dazu, ob die Migranten in den Plan eingeweiht sind. Die eben zitierte Passage aus dem ersten Absatz suggeriert, dass sie es nicht sind, eine spätere Textstelle – »Warum, um alles in der Welt, erreichen uns überwiegend junge, starke Männer aus den heißen Kontinenten, welche durch unbekannte Schleuserbanden hierhergebracht werden? Woher haben sie das Geld – man spricht von etwa 11 ‌000 Euro pro Flüchtling? Warum kommen sie hier alle mit einem Smartphone an? Wer gab es ihnen wozu?« – impliziert dagegen, dass die Geflüchteten gezielt rekrutiert wurden und somit zumindest eine Ahnung davon haben, wozu sie eingesetzt werden sollen. Dem kritischen Leser mag dies als Manko in der Argumentation erscheinen; diejenigen, die Hermans Ideen eher zugeneigt sind, haben die Möglichkeit, ihre persönliche Einstellung zu Migranten bestätigt zu sehen.

Auf jeden Fall strukturiert der von Cubitt betonte Dualismus von Gut und Böse in doppelter Hinsicht Hermans Text. Zum einen nämlich sieht sie einen unauflösbaren Gegensatz zwischen dem »Volk«, zu dem sie auch sich selbst zählt, wie das »wir« zeigt, das sie mitunter verwendet, und den Politikern, die dieses »wie ferngesteuert [also gelenkt von der Führungsriege der Verschwörung] in den Untergang führen«. Zum anderen diagnostiziert sie einen Kampf der Kulturen bzw. der Religionen. Mit kaum verhülltem Rassismus bezeichnet sie wieder und wieder »[u]nsere abendländische Heimat« als von »den Fremden« bedroht, sie positioniert »Europa« gegenüber »Afrikanern und Orientalen« und 26»unsere christliche Kultur« gegenüber dem Islam. Die Migranten mögen nicht wissentlich Teil der Verschwörung sein, sondern lediglich deren Marionetten. Positiv sind sie in keinem Fall.

Überhaupt erscheint der Islam als die größte Bedrohung »unserer abendländischen Kultur«, auch wenn er im Text nie explizit erwähnt wird. Dass es Herman aber vor allem um den Islam geht, wird klar, wenn sie rhetorisch fragt: »Warum nehmen eigentlich nicht die wohlhabenden Ölstaaten ihre leidenden Landsleute auf, die doch viel leichter für die hilfesuchenden Menschen erreichbar wären, die sie aufgrund desselben Glaubens auch viel besser verstehen können als wir, die wir den Koran nie lasen?« Die Antwort liefert sie selbst wenig später: »Man weiß genau, mit welchen Folgen zu rechnen ist, wenn derart verschiedene Glaubenskulturen auf engstem Raume aufeinander losgelassen werden.« Der so provozierte Konflikt ist das zentrale Element des Plans der Verschwörer, auch wenn nie gesagt wird, was genau sie damit bezwecken wollen.

Herman betont nicht nur immer wieder, dass es sich um intendierte Entwicklungen handelt – das Wort »Plan« kommt in verschiedenen Formen zwölfmal im Text vor –, sondern auch, dass diese von langer Hand vorbereitet wurden. Dies ist ein weiteres typisches Merkmal von Verschwörungstheorien: Die Komplotte sind häufig schon sehr lange im Gang, in diesem Fall »seit Jahren und Jahrzehnten«, und die einzelnen Puzzleteilchen ergeben nun mit beunruhigender Geschwindigkeit ein Ganzes. Gleichzeitig bleibt Herman auch hier bei aller Konkretheit wieder einigermaßen vage. Nachdem die Mächtigen die Kulturen und Religionen um des lieben Friedens willen lange Zeit voneinander getrennt hatten, »wurde dann irgendwann ein Bewusstseinswan27del für unsere Politik- und Mediendarsteller beschlossen, als der Plan zur Reife kam. Das Tempo der Zuwanderung wurde angezogen, Schlagbäume und Grenzen durch Schengen und andere ›Erleichterungen‹ abgebaut.« Die Passivkonstruktion lässt das Subjekt verschwinden, was wiederum Vagheit ermöglicht, was aber auch daran liegt, dass Herman die eigentlichen Verschwörer zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht identifiziert. Und auch das »irgendwann« ist natürlich äußerst schwammig. Macht man sich allerdings bewusst, dass das erste der Schengener Abkommen 1985 geschlossen wurde, wird klar, dass der Plan der Verschwörer seit dreißig Jahren Schritt für Schritt umgesetzt wird und die Verschwörung an sich entsprechend noch älter ist.

Die Geschichte der europäischen Einigung wird von Herman so zur Entfaltung einer gigantischen Verschwörung gemacht. Hat man deren Existenz erst einmal akzeptiert, erkennt man, dass alles, was die »finanzsystemgesteuerten EU-Kraken«, und das sind sowohl die Politiker in Brüssel als auch die in Berlin, in den letzten Jahrzehnten getan haben, Teil des langfristig angelegten Komplotts war. Die Einführung des Euro war ebenso ein »Vorbereitungs-Instrument« für die derzeitige Krise wie die »für alle Lebensbereiche der Menschen neu geschaffenen Gleichmachungsgesetze«. Und damit nicht genug: Durch »Feminismus und Gender Mainstreaming wurde sowohl den deutschen Frauen als auch ihren Männern der natürliche Kinderwunsch aus- und die Seligmachung durch Karriere eingeredet« – und so die Bevölkerung geschrumpft. Gleichzeitig wird »unsere eigene Gesellschaft umerzogen, den Menschen im Land wird vorsätzlich falsch vorgerechnet, dass die zunehmenden Migrantenwanderungen eine Bereicherung seien«. Hermans Fazit angesichts der nun anstehenden Konfronta28tion mit den zahlenmäßig angeblich so überlegenen Migranten überrascht da kaum noch: »Keine Überlebensmöglichkeit!«

Die Verschwörung ist aber beileibe nicht auf Europa beschränkt: »Wie es vor kurzem hieß, sollen es vor allem amerikanische Organisatoren sein, die die Schlepper- und Schleuserbanden finanzieren, welche die Asylanten von Afrika und Arabien nach Europa bringen.« Und es sind die Nato und vor allem wieder einmal die USA, die all die Kriege angezettelt haben, die überhaupt erst zur Flüchtlingskrise geführt haben. In bester verschwörungstheoretischer Manier sieht Herman dies ebenso wie den Aufstieg des Islamischen Staates oder die katastrophale Lage in Syrien nicht als eine ungewollte Konsequenz der Handlungen des Westens, sondern als deren eigentliches Ziel: »Waren diese vorauszusehenden Probleme am Ende gar eine der wichtigen Voraussetzungen für diesen nun stattfindenden bemerkenswerten Feldzug gegen Europa? Planmäßig fielen nach dem qualvollen Libyen-Massaker dann die Schlagbäume, die Migrantenmassen begannen, nach Europa herüberzuquellen.« Für Zufall und nichtintendierte Folgen ist in dieser Argumentation kein Platz.

In Hermans Text erscheint somit (fast) die gesamte Globalgeschichte der letzten Jahrzehnte als Ergebnis eines Komplotts. Die Idee, dass Geschichte plan- und kontrollierbar ist, die allen Verschwörungstheorien zugrunde liegt, wird hier beispielhaft artikuliert. In der Welt, die Herman sieht, bestimmt eine kleine Gruppe von Verschwörern mithilfe ihrer Marionetten den Gang der Historie, um die Macht über die gesamte Menschheit zu übernehmen. Und so geschieht wirklich nichts zufällig, nichts ist, wie es scheint, und ganz viel, von dem man es vorher nie vermutet hätte, ist miteinander ver29bunden. Wir werden unten im Abschnitt zu den Unterschieden zwischen realen und imaginierten Verschwörungen sehen, warum dieses Weltbild absurd ist.

Typologien von Verschwörungstheorien

Es gibt Verschwörungstheorien, die behaupten, dass die Mondlandung von der amerikanischen Regierung in einem Fernsehstudio inszeniert wurde oder dass die CIA hinter den Anschlägen des 11. September 2001 steckt. Andere beschuldigen den Geheimbund der Illuminaten, seit Jahrhunderten im Geheimen die Geschicke der Welt zu lenken; die Nationalsozialisten sahen eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung am Werk, und im 19. Jahrhundert glaubten viele Franzosen, dass die Jesuiten langsam, aber sicher die staatlichen Institutionen unter ihre Kontrolle brächten. Verschwörungstheorie ist offensichtlich nicht gleich Verschwörungstheorie. Es gibt signifikante Unterschiede, was die Reichweite, den Stand der Verschwörung, aber auch die Gruppe der Verschwörer angeht, und einige besonders hilfreiche Unterscheidungen zur Klassifikation von Verschwörungstheorien sollen hier vorgestellt werden. Man darf allerdings nicht vergessen, dass es sich bei Typologien um heuristische Instrumente handelt, die den Blick auf bestimmte Phänomene schärfen sollen. Natürlich wird es immer Mischformen geben, die nicht genau ins Raster passen und die gewählten Kategorien infrage stellen.

Eine erste wichtige Unterscheidung betrifft die Frage, in welcher Position sich die Verschwörer befinden. Haben sie bereits die Kontrolle über die Institution oder das Land, gegen das sie sich verschworen haben, oder gar die ganze Welt gewonnen? Dienen ihre Komplotte 30vor allem dazu, ihre Macht zu sichern oder auszubauen? Oder sind sie erst dabei, diese Macht zu übernehmen, indem sie Institutionen infiltrieren und die Gesellschaft subvertieren? In anderen Worten: Handelt es sich um eine Verschwörung »von oben« oder »von unten«?3

Die populärsten Verschwörungstheorien, die in Deutschland zwischen dem späten 18. und der Mitte des 20. Jahrhunderts zirkulierten, drehten sich alle um Verschwörungen »von unten«, wie der deutsche Historiker Johannes Rogalla von Bieberstein bereits in den siebziger Jahren gezeigt hat. Freimaurer und Juden, aber auch Sozialisten und Liberale wurden als »Verschwörer gegen die Sozialordnung«, so der Untertitel seines Buchs, gesehen, deren Machtübernahme aus Sicht der damaligen Autoritäten mit allen Mitteln verhindert werden musste.4 So sah das auch der amerikanische Senator Joseph McCarthy während der »Red Scare« in den fünfziger Jahren. Er entdeckte zwar Kommunisten in den Schulen, Colleges und im Außenministerium, aber die eigentlichen Zentren der Macht – der Kongress und das Weiße Haus – waren für ihn noch in den Händen von »echten«, patriotischen Amerikanern.

Ganz anders argumentierten dagegen hundert Jahre vorher die Gegner der sogenannten »Slave Power«-Verschwörung, denn sie sahen den Staat bereits völlig in der Hand eines Komplotts von radikalen Befürwortern der Sklaverei, die diese angeblich im gesamten Land obligatorisch machen wollten. Die Verschwörungstheoretiker diagnostizierten hier also ein Komplott »von oben«. In einer seiner berühmtesten Reden, in der er die USA als ein »geteiltes Haus« bezeichnete, beschuldigte zum Beispiel der spätere Präsident Abraham Lincoln 1858 den damaligen Präsidenten James Buchanan, dessen Vorgänger Franklin Pierce, den Vorsitzenden des Obersten 31Gerichtshofs Roger Taney sowie den einflussreichen Kongressabgeordneten Stephen Douglas, an der Spitze der gigantischen Verschwörung der Sklavenhalter zu stehen. Diese habe sämtliche Krisen der letzten Jahre orchestriert, um ihr wahres Ziel zu erreichen: die Einführung der Sklaverei in den gesamten Vereinigten Staaten.5

Die Unterscheidung zwischen Verschwörungen von unten und solchen von oben ist in vielen Fällen eng verknüpft mit der Unterscheidung zwischen Verschwörungen »von außen« oder »von innen«. Sind es Verschwörer, die eigentlich gar nicht in das Land oder die Organisation gehören, die sie nun unterwandern? Oder haben sie schon immer dazugehört und einfach irgendwann angefangen, ihre eigenen Ziele zu verfolgen? Tendenziell werden Verschwörungen von außen fast immer auch als Verschwörungen von unten imaginiert, denn der Staat und seine wichtigsten Institutionen sind dann ja offensichtlich noch nicht in der Hand der Verschwörer. Verschwörungen von innen dagegen können sowohl von oben als auch von unten geschehen. Die Regierung kann die Bevölkerung manipulieren, und Teile der Bevölkerung können im Geheimen versuchen, die Macht zu übernehmen. In den letzten Jahrzehnten gibt es in der westlichen Welt allerdings zunehmend die Tendenz, Verschwörungen von innen und oben zu identifizieren.

Ein Beispiel für eine Verschwörungstheorie, die sich um ein Komplott von unten und außen dreht, ist die in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den USA weitverbreitete Behauptung, der Papst und die gekrönten Häupter Europas steuerten im Geheimen die katholische Einwanderung in die USA. Ziel sei es, so glaubten zahlreiche protestantische Geistliche und Intellektuelle zu dieser Zeit, letztendlich einen Um32sturz anzuzetteln, um so das leuchtende Beispiel von Freiheit und Demokratie zu zerstören, da die USA auf der Seite der unterdrückten Massen Europas stehe und daher den absolutistischen Herrschern ein Dorn im Auge sei. Nach allem, was wir wissen, waren die Stimmen, die vor der katholischen Infiltration warnten, genuin von der drohenden Gefahr überzeugt. Anders verhält es sich vermutlich beim ehemaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, der während seiner achtjährigen Amtszeit (2005-2013) ständig Komplotte der USA und Israels für Missstände, Unglücke und Anschläge in seinem Land verantwortlich machte. Bewusst oder unbewusst diente jedoch in beiden Fällen die Chimäre einer Verschwörung von außen dazu, innere Spannungen zu entschärfen. In Verschwörungstheorien, die sich gegen äußere Feinde richten, erscheint die Nation meist als organische Einheit, deren wahre Feinde sich nur außen befinden können.

Die oben bereits erwähnten, ganz unterschiedlichen Gruppen von vermeintlichen Verschwörern, vor denen sich deutsche Konservative im 19. Jahrhundert fürchteten, waren dagegen vielleicht von ausländischen Ideologien beeinflusst, wurden aber, so zumindest die vorherrschende Meinung, nicht aus dem Ausland gesteuert. Es handelte sich also um eine Verschwörung von innen und von unten. Die Verschwörungsszenarien schließlich, die seit einigen Jahrzehnten in der westlichen Welt besonders populär sind, ranken sich um Verschwörungen von innen und oben. Wo es um das Attentat auf John F. Kennedy, die Mondlandung oder die Anschläge des 11. September 2001 geht, nehmen die meisten Verschwörungstheoretiker an, dass die US-Regierung dahintersteckt. Die Tendenz, die eigenen Eliten als Verschwörer zu sehen, weist dabei bereits auf die große Nähe von Ver33schwörungstheorien und Populismus hin, die ich im vierten Kapitel diskutiere.

Natürlich sind Kategorien wie »von oben« und »von unten« oder »von außen« und »von innen« in der Praxis nicht immer so scharf voneinander abzugrenzen, wie die letzten Absätze dies vielleicht suggeriert haben. Das liegt daran, dass die Bewertung einer Verschwörung oft davon abhängt, wann bzw. in welcher Phase man auf das vermeintliche Komplott blickt, schließlich besteht das Ziel der Verschwörer in allen entsprechenden Theorien stets darin, die Macht zu erlangen und diese dann auch zu bewahren. Insofern ist die kommunistische Verschwörung, die Senator McCarthy entdeckte, eine von unten – das Weiße Haus ist noch nicht erobert. Die kommunistische Verschwörung, die John Welch, der Gründer der rechtsextremen John-Birch-Gesellschaft, wenige Jahre später in seinem Buch The Politician zu entlarven meinte, war dagegen eine von oben – denn Präsident Eisenhower war für ihn Teil der Verschwörung. Die Verschwörer hatten mittlerweile die Kontrolle über das Weiße Haus erlangt. Ein Grund, warum das Attentat auf John F. Kennedy in groß angelegten Verschwörungstheorien so häufig eine zentrale Rolle einnimmt, ist, dass es vielen Verschwörungstheoretikern als der Moment erscheint, in dem der Umschlag erfolgt, in dem die Verschwörer die Macht endgültig übernehmen und aus dem Komplott von unten eines von oben wird.

Auch bei Eva Herman haben wir es, typisch für unsere Zeit, mit einer angeblichen Verschwörung von oben zu tun, denn die dunklen Strippenzieher haben längst die Macht übernommen und wollen diese nur weiter ausbauen. Die Verschwörung kontrolliert die Politiker in den USA und Deutschland, die Europäische Union 34und die Medien. Der Singular »die Verschwörung« ist übrigens bewusst gewählt, denn Herman verbreitet strenggenommen nicht »Verschwörungstheorien«, wie der Stern ihr vorwarf, sondern eine Verschwörungstheorie, in der zahlreiche Elemente, die für sich genommen schon eine Verschwörungstheorie wären, wie in einem Uhrwerk ineinandergreifen. Mit Michael Barkun gesprochen, handelt es sich bei Hermans Vision um eine Superverschwörungstheorie, in der verschiedene Ereignis- und Systemverschwörungstheorien verschmelzen.6

Ereignisverschwörungstheorien drehen sich, wie der Begriff schon andeutet, um ein bestimmtes, einigermaßen klar eingrenzbares Ereignis und behaupten, dass es das Ergebnis eines Komplotts ist. 9/11, die Mondlandung, das Kennedy-Attentat, der Selbstmord Uwe Barschels oder der Tod des polnischen Präsidenten Lech Kaczyński beim Absturz seines Flugzeugs in Smolensk im April 2010 sind Ereignisse, um die sich solche Verschwörungstheorien ranken. Systemverschwörungstheorien dagegen nehmen eine bestimmte Gruppe von Verschwörern ins Visier und unterstellen ihnen, für eine ganze Reihe von Ereignissen verantwortlich zu sein, um ihre dunklen Ziele zu erreichen oder sich an der Macht zu halten. Solche Theorien ranken sich um Gruppen wie die Kommunisten, die Illuminaten, die Juden oder die CIA.

Superverschwörungstheorien schließlich sind Konglomerate aus Ereignis- und Systemverschwörungstheorien. Die nationalsozialistische Theorie von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung ist eine Superverschwörungstheorie, weil in ihr zwei Systemverschwörungstheorien, diejenige von der jüdischen und die von der kommunistischen Verschwörung, verschmel35zen. Ähnlich verhält es sich mit dem Szenario, das John Welch in The Politician entwirft. Er führt die kommunistische Weltverschwörung letztlich auf den Geheimbund der Illuminaten im späten 18. Jahrhundert zurück. Noch deutlich extremer ist die Verschwörungstheorie des ehemaligen Fußballprofis David Icke, die vor allem im englischsprachigen Raum viele Anhänger hat. Icke glaubt, dass die Welt von einer Elite ursprünglich außerirdischer Reptilien regiert wird, die sich vor Urzeiten auf der Erde niedergelassen haben und sich von der negativen Energie der Menschen ernähren. Diese extraterrestrischen Verschwörer stecken für ihn hinter praktisch allen Ereignissen und Gruppen, um die sich Verschwörungstheorien ranken. Die Idee, dass alles miteinander verbunden ist, kommt hier besonders prägnant zum Tragen.

Ganz so überbordend ist Eva Hermans Verschwörungstheorie nicht, aber auch bei ihr werden eine ganze Reihe an Ereignissen und Gruppen verknüpft. Das beginnt bei den Anschlägen von 9/11, bei denen Herman quasi voraussetzt, dass ihre Leserschaft sie für von der US-Regierung durchgeführt hält, denn: »Es gehört nur wenig Rechercheaufwand dazu, die offizielle Sprachregelung der westlichen Welt zu widerlegen, zu ungeschickt war der Anschlag damals durchgeführt worden.« Der Feminismus ist ein weiterer Baustein in ihrem Komplottbaukasten, eine bewusst gestreute Ideologie, die dazu dient, die natürliche Geschlechterordnung ins Wanken zu bringen und die Geburtenrate zu senken. Und die Flüchtlingskrise ist natürlich, wie sämtliche Kriege der letzten Jahrzehnte, nur inszeniert worden, um die Macht der Verschwörer zu sichern.

Überhaupt wimmelt es in ihrem Text von Gruppen – den Amerikanern und der EU, den Medien und den Po36litikern in Berlin –, die jede für sich schon lange im Visier der Konspirationisten ist. Bei Herman aber sind all dies nur Elemente des Komplotts, das von einer mysteriösen Gruppe von »Machtmenschen des globalen Finanzsystems« gesteuert wird – eine äußerst vage Bezeichnung, die sowohl die bei Verschwörungstheoretikern seit dem Ende des Kalten Kriegs sehr beliebte Idee einer Neuen Weltordnung als auch jahrhundertealte antisemitische Stereotype evoziert. Das Bild von den »EU-Kraken«, das sie einmal bemüht, hat eine lange antisemitische Tradition. Wer den Juden die Schuld an den »Untaten« der EU