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Christian Kraus

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Beschreibung

Ein atemberaubend spannender Psychothriller über einen Psychoanalytiker und seinen Wettlauf gegen die Zeit von dem Psychotherapeuten und Psychoanalytiker Christian Kraus. Der Psychoanalytiker Thomas Kern ist geschockt, als er den Freitod einer jungen Patientin mit ansehen muss, ohne eingreifen zu können, und er macht sich Vorwürfe, weil er der jungen Frau nicht helfen konnte. Doch es kommt noch schlimmer: Wenige Tage nach dem Selbstmord erhält er Besuch von der Polizei. Ihm wird vorgeworfen, das Mädchen missbraucht und so erst in den Tod getrieben zu haben. Auf seinem Computer finden sich scheinbar Beweise dafür. Thomas' Frau setzt ihn vor die Tür, Freunde und Kollegen wenden sich ab, seine Tochter Natascha will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Erst als Thomas herausfindet, dass Nataschas neuer Freund Mitglied in einer gefährlichen Sekte ist, ahnt er, welches perfide Netz sich da Stück für Stück um ihn zusammenzieht. Erst langsam wird ihm jedoch klar, vor welch finsterer Macht er seine Familie und sich beschützen muss.

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Seitenzahl: 552

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Über dieses Buch

Ein atemberaubend spannender Psychothriller über einen Psychoanalytiker und seinen Wettlauf gegen die Zeit von dem Psychotherapeuten und Psychoanalytiker Christian Kraus.

Der Psychoanalytiker Thomas Kern ist geschockt, als er den Freitod einer jungen Patientin mit ansehen muss, ohne eingreifen zu können. Doch es kommt noch schlimmer: Wenige Tage darauf erhält er Besuch von der Polizei. Ihm wird vorgeworfen, das Mädchen missbraucht und so erst in den Tod getrieben zu haben. Thomas’ Frau setzt ihn vor die Tür, Freunde und Kollegen wenden sich ab, seine Tochter Natascha will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Erst als Thomas herausfindet, dass Nataschas neuer Freund Mitglied in einer gefährlichen Sekte ist, ahnt er, welches perfide Netz sich da Stück für Stück um ihn zusammenzieht. Erst langsam wird ihm jedoch klar, wie der Sektenführer mit seinem eigenen Leben verbunden ist …

Inhaltsübersicht

MottoWidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel81. Kapitel82. Kapitel83. Kapitel84. Kapitel85. Kapitel86. Kapitel87. Kapitel88. Kapitel89. Kapitel90. Kapitel91. Kapitel92. Kapitel93. Kapitel94. Kapitel95. Kapitel96. Kapitel97. Kapitel98. Kapitel99. Kapitel100. Kapitel101. Kapitel102. Kapitel103. Kapitel104. Kapitel105. Kapitel106. Kapitel107. Kapitel108. Kapitel109. KapitelEpilogNachwort
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Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen; und der Drache stritt und seine Engel, und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel. Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen.

 

Die Bibel, Johannesoffenbarung. Kapitel 12, Vers 7–9

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Für meine Eltern, Lisa und Eugen Kraus

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Prolog

Eine Frau liegt auf einer Pritsche und starrt an die Decke. Wie an vielen ihrer Tage ist die nackte Glühbirne, die dort oben an einem Stromkabel baumelt, das einzig Helle, das einzig Tröstliche in ihrem Leben.

Sie streicht sich mit den Händen über den Bauch. Prall ist er, wie ein riesiger Gummiball.

Nur selten blitzen Worte durch den dichten Nebel, der ihren Verstand umwabert. Worte, die beschreiben, was mit ihr geschieht. Dann liegt sie starr da, atmet, so flach sie kann, und wartet, dass sie sie wieder vergisst.

Vergessen ist gut, der Nebel ist gut, leider verschluckt er nicht ihre Angst vor den Krämpfen, die in immer kürzeren Abständen in ihren Leib schießen.

Eine neue Schmerzwelle rollt heran. Die Frau bäumt sich auf, unterdrückt einen Schrei, ihre Finger krallen sich in die Matratze.

Es soll aufhören, wird aber heftiger. Als würde ihr eine urwüchsige Kraft die Eingeweide zerreißen.

Es ist wieder weg. Sie sinkt zurück, ihr Körper entspannt sich. Sie spürt etwas Nasses, fasst sich zwischen die Beine. Eine warme Flüssigkeit sickert aus ihr heraus.

Dann packt sie eine mächtige Faust, reißt sie in eine Welt von Schmerz und Blut. Sie atmet, tobt, schreit, presst die Hände auf den Unterleib. Es scheint erneut kein Ende zu nehmen.

Aber es endet doch.

Sie stemmt sich hoch, greift nach unten und hebt ein kleines, blutverschmiertes Ding in die Höhe. Es hängt an einer schleimigen Schnur, die sich wie ein Aal aus ihrem Körper herauswindet. Das Ding zappelt mit den Beinchen.

Ein Baby.

Das Wort ist da, klar und strahlend, ihm folgen unzählige Echos.

… ein Baby, ein Baby, ein Baby …

Ein Junge.

… Junge, Junge, Junge …

Sie zieht ihn zu sich. Er sieht ihr aus riesengroßen tiefblauen Augen mitten ins Herz.

Das Glück scheint in ihr zu explodieren. Reines, wahres Glück. Das Baby wackelt mit den Händchen, schürzt die Lippen, macht süße Geräusche. Und sie versteht, dreht sich auf die Seite und schiebt es an ihre Brust. Die Warze gleitet in seinen Mund. Ihr Sohn drückt sein winziges Gesicht in ihren Busen und saugt sich an ihr fest.

Nach Momenten stillen Glücks lässt er sie los. Ihr Junge gluckst zufrieden, schließt die Augen. Sie zieht eine Decke über sich und ihr Kind.

Zum ersten Mal, so kommt es ihr vor, fühlt sie sich nicht allein. Zum ersten Mal ist sie glücklich. Sie wiegt sich in dem Gefühl, taucht darin ein, als wäre sie selbst ein Baby in den sanften Händen einer liebevollen Mutter. Sie dämmert dahin.

Und ist mit einem Schlag wieder wach.

Die Faust kehrt zurück und packt sie ein zweites Mal, rüttelt und zerrt an ihr, sie schreit erneut, presst und atmet.

Als es endet, liegt ein weiteres Baby zwischen ihren Beinen, in einem See aus Blut und Schleim.

Sie schaut es an. Es ist ebenfalls ein Junge, dünner als der andere, die Haut blasser.

Zwei, es sind zwei, oh Gott.

Mit einem kann sie es versuchen, denkt sie. Mit einem kann sie es schaffen. Aber der da ist zu viel. Der da muss weg.

… muss weg, muss weg, muss weg …

Der da verzieht das Gesicht, Blut schießt in seinen Kopf und färbt ihn knallrot, er reißt sein winziges Maul auf und brüllt sie an. Ein zorniger, gieriger Schrei.

Sie zuckt zurück, legt schützend eine Hand um das Köpfchen des Ersten, dass er nicht aufwacht und sich erschreckt.

Sie mag das dünne, schreiende Ding nicht weiter ansehen. Mag es nicht anfassen, nicht länger sein Gebrüll hören.

Aber das Baby zwischen ihren Beinen schreit und schreit.

[home]

1

Er führte sie in einen Raum und schloss die Tür. Tiefe Dunkelheit lag wie ein schwarzes Tuch auf ihren Augen. Die trockene Luft kratzte im Hals.

»Licht!«, sagte ihr Begleiter. Eine Deckenlampe flammte auf und brachte den nackten Putz an den Wänden zum Leuchten.

In der Mitte des Zimmers stand eine Liege, auf der ein junger Mann festgeschnallt war.

Sebastian. Also hatten sie ihn erwischt.

Er war mit einem grünen Hemd bekleidet, wie man es im Krankenhaus trug, und atmete schwer. Die Deckenlampe schien ihn zu blenden. Er kniff die Augen zusammen, nur um sie voll panischer Angst sogleich wieder aufzureißen.

Gurte an den Unterarmen und den Fußknöcheln und weitere um die Hüfte und um den Hals sorgten dafür, dass er allenfalls mit den Händen und Füßen wackeln und den Kopf in Richtung Tür drehen konnte. Nicht einmal lautere Geräusche konnte er von sich geben. In seinem Mund steckte ein Stoffknebel.

Ihr wurde schummerig. Sie befürchtete zu schwanken, oder gar bewusstlos zu werden und umzukippen. Das würde sie verraten. Dann könnte sie sich gleich neben Sebastian auf die Bahre legen.

Reiß dich zusammen!, sagte sie sich. Irgendwie hielt sie sich auf den Beinen.

Der Mann an ihrer Seite umfasste sie mit seinem linken Arm, zog sie an sich. »Kennst du den Jungen?« Die Frage klang so beiläufig, als würde er sich nach der Farbe ihrer Zahnpasta erkundigen.

Der Geruch seines Rasierwassers kroch in ihre Nase. Irgendwas Teures, das einen auf unaufdringliche Weise benebelte.

Sie zuckte mit den Achseln. »Sebastian. Hab ihn ein paarmal gesehen.« Die Worte kamen mit der gebotenen Gleichgültigkeit und Herablassung. »Warum?«, fragte sie.

Statt einer Antwort presste er sie fester an sich. Sie spürte die Rippen seines mageren Oberkörpers und darunter das Pochen seines Herzens. Ruhig und kräftig pulsierte es. Ein mächtiger Motor, der ihn antrieb und Schlag für Schlag seinen Zielen näher brachte. Unaufhaltsam.

Sie hatte keine Ahnung, ob er ihr die Lüge abnahm. So mühelos er in den Motiven und Gefühlen anderer Menschen lesen konnte, so undurchdringlich blieb er selbst. Egal. Wenn er etwas wusste, würde sie es früh genug erfahren.

Er.

Natürlich kannte sie seinen Namen. Sie kannte noch vieles mehr von ihm, was ihr eine privilegierte Stellung verschaffte innerhalb der Organisation, die er wahlweise als seine Firma oder seine Familie bezeichnete. Seinen Namen keinesfalls auszusprechen, ihn nicht einmal zu denken, gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen.

Hinter ihnen trat ein zierlicher Asiat im weißen Kittel ins Zimmer.

Erneut musste sie sich beherrschen. Diesmal, um nicht angewidert zusammenzuzucken. Der Weißkittel wurde von allen Doktor Hu genannt. Ob nach dem englischen Wort für »wer« oder nach dem Laut, mit dem man Kinder erschreckt, wusste niemand genau. Gepasst hätte beides.

Hu war eine lebende Legende. Ihr war nicht bekannt, ob er wirklich Arzt war, aber zweifelsfrei kannte er sich mit der menschlichen Anatomie aus. Nur hatte das, was er tat, nichts mit Heilen zu tun. Der Mann, in dessen Klammergriff sie noch immer gefangen war, hatte angeblich ein Vermögen hinlegen und eine Reihe alter Gefallen einfordern müssen, um ihn von der chinesischen Mafia abwerben und in seinen Dienst stellen zu können. Eine Investition, die sich offensichtlich bezahlt machte. Den meisten reichte die bloße Drohung, den Doktor hinzuzurufen. In Ausnahmefällen musste er persönlich erscheinen, und ganz selten zur Tat schreiten. Eigentlich eine unglückliche Entwicklung für jemanden, der von sich behauptete, nicht wegen seines horrenden Honorars zu arbeiten, sondern aus purer Freude. Paradox. Er war so gut in dem, was er tat, dass er es kaum zu tun brauchte.

Sebastian, der arme Tropf, legte es offenbar darauf an, zu dem überschaubaren Kreis von Menschen zu gehören, an denen der Doktor seine Künste zur Anwendung brachte.

Mit seinem freundlichen Gesicht und den sanften Augen hätte Hu gut den weisen Lehrer in einem Kung-Fu-Film mimen können. Wenn er ging, schien jeder seiner Schritte durch ein Kissen aus Luft abgefedert zu werden. Er konnte fließend Deutsch und beherrschte angeblich ein knappes weiteres Dutzend Sprachen.

»Guten Tag.« Der Doktor nickte ihnen zu. »Wie ich sehe, ist alles trefflich vorbereitet.«

Sie hatte keine Zweifel, dass seine leise, leicht vibrierende Stimme das Angstzentrum im Gehirn eines jeden Menschen in Alarmbereitschaft versetzte – ob er nun Englisch, Chinesisch oder Kisuaheli redete.

»Fangen Sie an, Doktor«, sagte ihr Begleiter.

Hu trat an die Liege, machte sich an Sebastians Ellenbeuge zu schaffen und brachte einen Metallständer in Stellung, an dem eine schwere Glasflasche über einem Plastikschlauch baumelte.

Angst vertrieb das Blut aus Sebastians Gesicht. Er stöhnte, seine geweiteten Augen fixierten den Weißkittel.

Was tun sie dir an, diese Schweine, dachte sie. Sie hielt es nicht mehr aus. Scheiß drauf, wenn sie sich verriet!

Sie wand sich aus dem Griff des Mannes an ihrer Seite, drehte sich Richtung Tür.

»Was ist?«, fragte er.

»Ich will das nicht sehen. Es widert mich an.«

»Ich habe dich nicht gebeten zu gehen.«

Die paar Worte genügten, um sie brav nicken und an ihren alten Platz zurücktrotten zu lassen.

Sie hatte keine Wahl. Keine, bei der sie am Leben bleiben würde.

Hu war ganz in seine Tätigkeit vertieft. »Über diese Infusion verabreiche ich Ihnen ein Relaxans«, sagte er zu Sebastian. »Ein feines Medikament, das Ihre Muskulatur einschließlich Ihrer Atmung vollständig lähmt.« Er überprüfte den Sitz der Kanüle in Sebastians Ellenbeuge, summte zufrieden. »Ein gebräuchliches Mittel. Bei Operationen genauso wie bei Hinrichtungen.« Der Doktor grinste. »Mit dem Unterschied, dass die Personen in den genannten Fällen vorher mit einem Hypnotikum in Tiefschlaf versetzt werden. Darauf verzichten wir heute.« Sein Grinsen verbreiterte sich, und er sah hoch, als erwartete er Beifall. »Sie werden alles bei vollem Bewusstsein erleben.«

Er drehte an einem Plastikrädchen auf halber Höhe des Infusionsschlauchs. Aus der Flasche tropfte eine bräunliche Flüssigkeit in einen daumendicken, durchsichtigen Zylinder und kroch von dort weiter in den dünnen Plastikschlauch. Wie ein sich in die Länge streckender Wurm.

Hu verband den Schlauch mit der Kanüle an Sebastians Arm.

Der rüttelte an den Fesseln, wütete und tobte, aber natürlich waren seine Möglichkeiten beschränkt. Sein Kopf flog hin und her. Vom Doktor an der einen Seite der Liege zu ihr und ihrem Begleiter auf der anderen.

Sie zwang sich, ruhig hinzusehen.

»Sie sollten es zuerst in den Zehen merken. Von dort zieht es langsam die Beine hoch«, sagte Doktor Hu. »Es folgen die Hände und Arme, dann das Gesicht. Das Atmen wird Ihnen schwerfallen, und Sie können die Augen kaum mehr bewegen.« Er lachte. »Also überlegen Sie sich gut, wohin Sie als Letztes sehen wollen. Der Anblick bleibt Ihnen einige Minuten erhalten. Während Sie ersticken.«

Jetzt machte Sebastian doch Geräusche. Trotz des Knebels erreichte sein Stöhnen eine beachtliche Lautstärke.

»Es sei denn …« Doktor Hu zog eine Spritze aus der Kitteltasche und hielt sie dem Jungen vor die Nase. »Dieses Antidot würde Sie vor dem Tod bewahren. Das Gegengift.«

Sebastian schien das schmale Plastikteil mit den Augen greifen zu wollen.

Er wird reden, dachte sie. Keine Frage. Er wird sein Leben retten. Und ihres vernichten.

Der Doktor ließ die Spritze wieder in den Tiefen seines Kittels verschwinden. »Dieses wunderbare Pharmazeutikum hebt die Wirkung des Relaxans innerhalb von Sekunden auf. Sagen Sie unserem Freund, was er wissen will. Dann werde ich die Infusion sofort stoppen und es Ihnen injizieren.«

Hu hob den Kopf, wies auf den Mann, dessen Namen sie nicht denken wollte. »Er hat versprochen, Ihr Leben in diesem Fall zu verschonen. Ihnen ist bekannt, dass er sein Wort immer hält, nicht wahr?«

Das stimmt, dachte sie. Es gehörte zu seinem Spiel. Ein weiteres ungeschriebenes Gesetz. Dieselbe Hand, mit der er einem uneinsichtigen Verräter die Kehle zerdrückte, reichte er dem reuigen Sünder zur Versöhnung.

Er bluffte nicht. Das hatte er nicht nötig. Sie spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte.

»Ach ja«, sagte Doktor Hu. »Falls Sie sich gegen das Ersticken entscheiden, zögern Sie nicht zu lange. Damit Sie noch sprechen können. So, jetzt liegt es allein an Ihnen.«

Mit seinen letzten Worten zog er Sebastian den Knebel aus dem Mund.

Sie hielt den Atem an.

Sebastian machte keinen Mucks. Ob er sich mit seinem Tod abgefunden hatte, oder ob es schon die Wirkung des Medikaments war – er lag schlapp auf der Liege. Lediglich seine Augen regten sich. Ihr war, als suchte er ihren Blick.

[home]

2

Auf dem Boden lag ein schwarzer Briefumschlag. Er lag da, als hätte der Tod persönlich ihn dort hinterlassen.

Thomas Kern stellte seine Teetasse auf das Tischchen neben der Eingangstür. Normalerweise stand dort ein Strauß frischer Blumen in einer Vase und sorgte für einen natürlichen Farbklecks im sonst grauen Flur. Aber der hartnäckige Regen hatte ihn von seinem montagmorgendlichen Gang zum Blumenhändler abgehalten.

Er hob das Kuvert vom Parkettboden auf. Nicht der Tod, jemand aus Fleisch und Blut musste es unter dem Türspalt durchgeschoben haben. In den ein oder zwei Minuten, in denen er sich in der Küche den Tee aufgegossen hatte. Weit konnte dieser Jemand seitdem nicht gekommen sein.

Thomas riss die Praxistür auf und lauschte, und tatsächlich hallten vom unteren Ende des Treppenhauses hastige Schritte zu ihm herauf, gefolgt vom Geräusch der sich öffnenden und schließenden Haustür. Der geheimnisvolle Bote hatte feuchte Schuhabdrücke und eine Tropfspur auf den glatt gebohnerten Holzdielen und Treppenstufen hinterlassen.

Aus dem Fenster gucken brachte nichts. Thomas’ Praxisräume lagen im hinteren Bereich des Hauses. Die Fenster des Behandlungszimmers, der beiden Toiletten und der Küche wiesen zum Innenhof. Wenn er den Kurier zu Gesicht bekommen wollte, müsste er schon hinterherrennen.

Er dachte an den Regen, schloss die Tür und wandte seine Aufmerksamkeit lieber dem Umschlag zu.

Das Kuvert war nicht beschriftet. Es war ein edles Teil aus festem Papier, auf der Rückseite war ein Blumenmuster eingeprägt. Er öffnete es und zog einen gefalteten Zettel aus dem blütenweißen Seidenfutter, das die schwarze Briefhülle auskleidete. Der Text war auf ähnlich schwerem Edelpapier geschrieben, mit blauer Tinte und in graziler Handschrift.

Hallo Doktor Kern,

als Erstes müssen Sie mir versprechen, meinen Brief unbedingt bis zum Ende zu lesen! Bevor Sie irgendetwas anderes tun.

Danke!

Er wusste sofort, wer die Verfasserin war. Die feine Schriftführung, das teure Papier und die Bitte, aus der unverstellter Eigensinn und Dreistigkeit sprachen. Es passte perfekt zu Jennifer Rädler, einer jungen Frau Ende zwanzig, die ihn vor einigen Tagen in seiner Praxis aufgesucht hatte. Auf Empfehlung einer Freundin, hatte sie gesagt.

Thomas war im Laufe seines Berufslebens allen möglichen Patienten in allen erdenklichen Lebenslagen begegnet. Trotzdem hatte ihn ihr Anblick …

Fasziniert, dachte er. Entsetzt traf es vielleicht besser.

Spindeldürr war sie. Die sehnige Gestalt eines Menschen, der sich bis an die Grenze zur Selbstaufgabe verbiegen konnte, ohne zu zerbrechen. Schwarze Schminke um die Augen, schwarze Haare, schwarzer Nagellack, schwarze Nietenlederjacke.

Es war ihre Farbe.

An den Ohren hingen bizarr geformte Steine, klar, ebenfalls in Schwarz.

An ihrem Hals krochen die Ausläufer einer gruseligen Tätowierung Richtung Kopf. Dünne, behaarte Beinchen, die in spitzen Krallen endeten. Die Kreatur, die auf der Haut ihres Oberkörpers hauste und die Fänge in ihren Hals zu bohren schien, musste eine schaurige Kreuzung aus Riesenspinne und Alienmonster sein. Eines der Tentakel war über die linke Wange bis zum unteren Rand des Auges vorgekrochen. Ein Blutstropfen, der wie eine rote Träne aussah, schien an der Stelle auszutreten, wo die Kralle ins Unterlid stach.

Noch bevor sie sich auf den angebotenen Stuhl gesetzt hatte, war ihm jede erdenkliche psychiatrische Diagnose durch das Hirn gerattert: Anorexie, Persönlichkeitsstörung, paranoide Psychose, Drogen. Ja, ganz sicher Drogen.

Vielleicht zu verrückt und süchtig, als dass er ihr in seiner Psychotherapiepraxis weiterhelfen konnte.

Doch dann hatte sie ihn angesehen und begonnen zu reden. Und das hatte alles geändert.

Der Brief, ach ja. Für einen Augenblick hatte er ihn fast vergessen. Er las weiter.

Sie sind in Ordnung, Doktor Kern, das habe ich sofort gecheckt, als wir miteinander gesprochen haben. Aber seitdem ist mein Leben komplett aus den Fugen geraten. Sie können mir nicht helfen. Für mich gibt es nur einen Ausweg.

 

Jennifer

Der Baukran. Verdammt, dachte Thomas. Jennifer hatte ihn erwähnt. Die Kraft schwand aus seinen Beinen. Er schwankte, seine Hand fand den kleinen Tisch zum Abstützen. Durch den seitlichen Druck geriet das Tischchen in Schieflage. Die Tasse mit dem Tee segelte über den Rand, krachte auf den Boden und ergoss ihren dampfenden Inhalt auf das Parkett vor der Tür.

Thomas beachtete das Malheur zu seinen Füßen nicht weiter. Er starrte auf die Zeilen, die er gerade gelesen hatte.

Er wurde nicht schlau aus ihren Andeutungen, aber eines war glasklar. So unmissverständlich wie die grellen Scheinwerfer eines Lastwagens, die einem im nächtlichen Dunkel auf einer schmalen Landstraße, die keinen Platz zum Ausweichen bot, entgegenrasten.

Es würde in einer Katastrophe enden.

Falls er nicht sofort etwas unternahm.

Er könnte die Polizei anrufen, den Sachverhalt schildern und die Beamten alles Weitere erledigen lassen. Das wäre professionell.

Und würde zu lange dauern. Wenn er mit seiner Vermutung richtiglag, Gott bewahre, dass es so war, blieben nur wenige Minuten.

Also hing es an ihm. Er stürzte aus der Tür und hastete das Treppenhaus hinab.

Der Regen stand wie eine Wand vor der Haustür und ließ die Farben und Formen der Welt da draußen verschwimmen. Die dunklen Wolken über den Häusern schienen das Licht aus dem Straßenzug zu saugen. Aber das war jetzt nicht wichtig. Er sprang auf den Gehweg und rannte los. Die Nässe umschloss ihn, und bereits nach ein paar Sekunden konnte er nicht mehr unterscheiden, ob das Wasser von oben auf ihn herabfiel oder von den Füßen zu ihm hochspritzte. Den Gehsteig hatte er für sich. Neben ihm, auf der mit Kopfstein gepflasterten Fahrbahn, kämpfte sich ein einsamer Kleinwagen durch den Regen.

Thomas stolperte hinter dem fahrenden Auto auf die Straße, erreichte den Fußweg auf der gegenüberliegenden Seite, rannte weiter und kam endlich an die Ecke, an der die Gasse in die vierspurige Hauptstraße mündete.

Er stand vor der Baustellenzufahrt.

Der Platz war so groß wie drei oder vier Fußballfelder und mit einem massiven Drahtzaun abgesperrt. Am Rand einer metertiefen Baugrube, aus der in den nächsten Monaten ein Bürogebäude erwachsen sollte, ragte das Skelett des mächtigen Kranturms in den trüben Himmel. Rundherum waren Gittermatten, Plastikrohre und Betonstreben aufgestapelt. Rad- und Schaufelbagger und mehrere Lastwagen ertrugen stumm ihre kalte Dusche. Die Arbeiter mussten in einen der Bauwagen geflüchtet sein.

Thomas sah nur einen einzigen Menschen. Lieber hätte er mit seiner Ahnung nicht recht behalten.

»Jennifer!« Sein Ruf war nicht halb so laut wie beabsichtigt, und erst jetzt merkte er, wie sehr ihn der kurze Sprint aus der Puste gebracht hatte.

Der Anblick der schwarz gekleideten Gestalt, die mit entschlossenen Bewegungen an der Metallleiter des Krans in die Höhe kletterte, ließ ihn den Rest an Luft aus sich herausholen.

»Jennifer!«

Sie hielt inne, drehte den Kopf in seine Richtung. Und kletterte weiter.

»Nein!«, schrie er. Er rannte durch die Zufahrt auf den Platz. Der vom Regen aufgeweichte Sand lutschte an seinen Schuhen. Nach wenigen Schritten stand er am Fuß des Krans.

Er sah nach oben, und ihm wurde schwindelig.

Jennifer Rädler verharrte gute fünfzehn Meter über ihm in den Metallstreben und blickte in die Tiefe. Ob sie ihn ansah oder die Entfernung zum Boden abschätzte, konnte er nicht erkennen. So oder so schien sie nicht höher hinauszuwollen.

»Jennifer, tun Sie das nicht!«

Tun Sie sich das nicht an, dachte er. Und mir auch nicht.

»Wir sollten reden. Kommen Sie da runter. Oder Sie zwingen mich, zu Ihnen raufzukommen.«

Absurder Gedanke. Bei allem, was ihn mehr als einen Meter vom Erdboden entfernte, war bei ihm Schluss. Seine Tochter Natascha hatte sich als Achtjährige darüber lustig gemacht, dass er sich im Schwimmbad gerade einmal auf den Startblock traute, während sie sich mit Begeisterung vom Fünfer gestürzt hatte. Im Gegensatz zum klaren Wasser der Badeanstalt bot der Aufprall auf dem schlammigen Boden der Baustelle eine höchst reale Gefahr.

»Jennifer, bitte!«

Dicke Regentropfen zerplatzten in seinen Augen und verschleierten die Sicht. Er musste blinzeln, sah durch den trüben Film, wie seine Patientin langsam den Kopf schüttelte.

Seine Finger fuhren nach vorn, und ehe er begriff, was er tat, hatte er seine Schuhe aus dem Matsch gezogen und die untersten Sprossen der Leiter erklommen.

Jennifer lehnte sich nach vorn, allein ihre linke Hand hielt noch eine Strebe umschlossen und verhinderte ihren Sturz.

»Hey, was ist da los?« Eine männliche Stimme, für die lautes Brüllen eine gewohnte Ausdrucksform zu sein schien, dröhnte über die Baustelle.

Aus einem der Baustellenwagen drängten Gestalten ins Freie. Drei Bauarbeiter. Sie winkten mit den Armen, rannten Richtung Kran. Jennifer hatte sie ebenfalls bemerkt. Ihr Blick huschte zu den Männern hinüber, dann senkte sie den Kopf. Jetzt war Thomas sicher, dass sie ihn ansah.

Bildete er sich den flüchtigen Ausdruck von Bedauern in ihrem Gesicht nur ein? Falls ja, währte die Einbildung kurz. Jennifer löste den Griff ihrer linken Hand und stieß sich mit den Füßen vom Krangerüst ab. Und in diesem Augenblick, als es kein Zurück mehr gab, veränderte sich ihre Mimik.

Keine Einbildung. Jennifer lächelte.

Sie sauste neben ihm in die Tiefe.

Und schlug mit einem widerlichen, vom matschigen Schlamm gedämpften Geräusch auf dem Boden auf.

Thomas hing keine zwei Meter über ihr an der Leiter und ertrug nicht, was er sah und hörte. Gerne hätte er die Augen geschlossen und sich die Ohren zugehalten, selbst wenn er dabei selbst vom Kran gefallen wäre. Aber es ging nicht. Die Eindrücke fluteten auf ihn ein und überschwemmten seinen Verstand. Mit einem letzten Rest an Willen zwang er sich von der Leiter herunter. Der Boden, den Thomas betrat, hatte sich verändert. Es war derselbe Schlamm wie vor wenigen Minuten, klar, aber es war, als könnte er jetzt jederzeit nachgeben und ihn selbst in eine namenlose Tiefe stürzen lassen. Seine Beine zitterten. Er klammerte sich mit der Hand an eine der unteren Sprossen.

Jennifer lag regungslos auf dem Rücken im Matsch und rührte sich nicht. Ihr Kopf war widernatürlich zur Seite abgeknickt, in den Augen keine Spur mehr von Leben. Ihre rechte Schulter und der dazugehörige Arm hatten sich ins Erdreich gebohrt und schienen nur noch durch die Lederjacke ihre normale Form zu bewahren.

Thomas war unfähig, sich zu rühren. Er sah und hörte alles, aber sein Körper fühlte sich taub an, als wäre er eine Puppe, auf der zufällig ein echter Kopf saß. Regenwasser lief ihm in kalten Rinnsalen über das Gesicht. Sogar das nasse Gefühl endete unterhalb des Hemdkragens.

Die Arbeiter erreichten den Kran, bauten sich um die leblose Frau herum auf, warfen sich hilflose Blicke zu. Wortfetzen fielen. Jemand zückte sein Telefon. Einer beugte sich über sie, tastete am Handgelenk und am Hals nach einem Puls, öffnete schließlich den Reißverschluss der Lederjacke und drückte halbherzig auf ihren Brustkorb.

Es vergingen Minuten, bis einer der Männer Thomas ansprach. »Sind Sie … ihr Vater oder so?«

Er war unfähig zu sprechen. Zumindest konnte er den Kopf schütteln.

Irgendwann blitzte Blaulicht über den Platz. Zwei Sanitäter in roten Jacken mit Koffern in den Händen hetzten heran, ihnen folgte ein dritter Mann, den ein Aufnäher auf der Brust als Notarzt auswies. Er kniete sich neben Jennifers leblosen Körper und tastete an ihrem Hals und Kopf herum, während er sich von den Bauarbeitern das allzu Offensichtliche schildern ließ. Er zückte erst ein Lämpchen und leuchtete ihr damit in die Augen, dann ein Stethoskop, das er unter dem Shirt auf ihrem Brustkorb hin und her schob.

»Intubieren?«, fragte einer der Roten. »Reanimation?«

Der Notarzt schüttelte müde den Kopf.

[home]

3

Er hatte Jennifers Brief zusammen mit dem schwarzen Umschlag auf dem Tischchen im Flur zurückgelassen. Dort lag er noch immer, als Thomas in seine Praxis zurückkehrte, über die Teepfütze stieg und die Tür hinter sich schloss.

Ihr Abschiedsbrief. Als sie ihn geschrieben und unterm Türspalt durchgeschoben hatte, war sie noch am Leben gewesen. Jetzt befand sie sich, wenn er die Polizisten richtig verstanden hatte, die kurz nach dem Notarztteam auf der Baustelle eingetroffen waren, in einem Behelfssarg auf dem Weg ins rechtsmedizinische Institut.

Mit zitternden Fingern nahm er den Zettel erneut zur Hand.

Hallo Herr Doktor Kern,

als Erstes müssen Sie mir versprechen, meinen Brief unbedingt bis zum Ende zu lesen! Bevor Sie irgendetwas anderes tun.

Danke!

Mist, dachte er. Er hatte als Jennifers Psychotherapeut versagt. Ebenso als ihr Lebensretter. Und er hatte offenbar nicht einmal das befolgt, was sich jetzt als ihr letzter Wunsch an ihn herausstellte.

Die junge Frau hatte an den unteren Rand des Briefpapiers einige weitere Sätze gequetscht. Sie musste sich mit dem verbliebenen Platz verschätzt haben, denn von Zeile zu Zeile wurde ihre Schrift kleiner. Er las:

PS:

Es ist extrem wichtig, dass Sie

1. mir nicht hinterherlaufen.

2. auf keinen Fall die Polizei einschalten.

3. mich vergessen, so schnell Sie können.

Sofort war das taube Gefühl wieder da und die Angst, sich auf nachgiebigem Grund zu befinden. Er widerstand der Versuchung, sich irgendwo festzuhalten. Die Sätze purzelten durch seinen Verstand, ohne im Entferntesten einen Sinn zu ergeben. Er las die Nachricht erneut, diesmal von Anfang bis Ende. Das Resultat blieb dasselbe.

Er legte den Brief zurück auf den Flurtisch. Er würde ihn der Polizei übergeben, das stand außer Frage. Zumindest etwas, das er tun konnte. Auch, wenn er damit ein weiteres Mal gegen ihre Wünsche verstieß.

 

Die Taubheit wich dem Gefühl von Kälte. Kein Wunder, er war komplett durchnässt. Seine Hose und sein Hemd klebten an ihm wie eine schlammige Haut, und statt Schuhen trug er matschige Klumpen an den Füßen.

Noch eine Sache, die er machen konnte. Er befreite sich von Schuhen und Socken, stapfte ins Bad und trocknete Gesicht, Haare und die nackten Füße notdürftig mit einem Handtuch.

Heißer Tee, fiel ihm als Nächstes ein.

Gott! Jennifer war lebendig gewesen, als er seinen letzten Tee samt Tasse auf dem Fußboden verteilt hatte.

Er warf das Handtuch auf die Pfütze im Flur, hob die Tasse auf und nahm sie mit in die Küche. Dort setzte er neuen auf.

Die ersten Schlucke spülten einen Hauch von Wärme in seine klammen Eingeweide und schienen auch sein Gehirn wieder auf Betriebstemperatur zu bringen.

Erstens: Er würde seinen Patienten für diesen Tag absagen müssen. Zweitens: Er brauchte eine Dusche und frische Klamotten. Und drittens: Er musste mit jemandem über all das reden. Mehr als alles andere. Sonst zersetzte es seinen Verstand.

Sein Mobiltelefon lag auf dem Schreibtisch in seinem Behandlungsraum.

Er wählte Leas Handynummer. Er hatte kaum Hoffnung, sie zu erreichen. Und falls er sie erreichte, hätte er nicht gewusst, was er sagen sollte. Trotzdem tat es gut, die Stimme seiner Frau zu hören. Selbst wenn es nur ihre Mailboxansage war.

Laut Handyuhr war es Viertel nach zehn. Klar, Lea war in einem Meeting, einem Kundengespräch oder einer Strategiekonferenz. In Frankfurt, München oder Düsseldorf, irgendwo, wo sie ihren Beitrag zum Wohlergehen der Finanzwirtschaft leistete.

Sinnlos, ihr eine Nachricht zu hinterlassen.

Nach kurzem Zögern probierte er eine zweite Nummer. Diesmal hatte er mehr Glück.

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4

Bis zum verabredeten Termin blieb etwas Zeit, um seinen Patienten für den Rest des Tages abzusagen, rasch mit dem Auto nach Hause zu fahren und sich zumindest äußerlich in einen menschenwürdigen Zustand zu versetzen.

Thomas legte ein zweites Handtuch aus der Praxis auf den Fahrersitz seines Hyundai, um mit der Nässe und dem Dreck der Baustelle nicht auch noch den Wagen zu besudeln, und fuhr an den westlichen Stadtrand Hamburgs. Als sie vor knapp fünfzehn Jahren hierhergezogen waren, war ihnen die verkehrsberuhigte Straße mit den kleinen Einfamilienhäusern und den gepflegten Vorgärten wie ein grünes Idyll inmitten einer lärmenden Betonwelt erschienen. Perfekt für die kleine, glückliche Familie, die sie damals gewesen waren.

Inzwischen gehörten Worte wie »Rentnergetto« oder »Resterampe« zu den vornehmeren Beschreibungen, mit denen Lea und Natascha über die Siedlung herzogen.

Tascha erlebte die Zeit bis zum Abi ihrem Verhalten nach als Schikane ihrer Eltern an der siebzehnjährigen Tochter. Sie träumte von einem Internat und einem Auslandsstudium in den Staaten oder in Australien. Hauptsache, weit weg.

Und auch Leas Träume waren in den letzten Jahren auf Reisen gegangen. Ohne ihn.

Die Reifen des Wagens rollten über eine dicke Schicht Laubblätter, mit denen der Herbst den Autostellplatz garniert hatte. Der verwilderte Vorgarten, der bröckelnde Putz an der Außenfassade und ein paar lose Dachschindeln riefen nach Handwerkern, zumindest nach engagierten Hausbesitzern. Er und Lea ignorierten die Rufe schon seit Jahren.

Immerhin hatte der Regen nachgelassen.

Thomas stieg aus dem Auto, eilte zum Haus, schloss die Haustür auf. Bevor er in den Flur trat, zog er die Schuhe von den Füßen und hielt sie in die Höhe. Er hatte sie nur notdürftig vom Matsch befreien können.

Handgenähte Wildlederschuhe, Lea hatte sie ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt. Noch während er sie aus der edlen Schmuckbox gezogen hatte, hatte sie seine ausgetretenen Görtzlatschen im Restmüll entsorgt. »Jemand muss ja dafür sorgen, dass man mit dir unter Leute kann«, hatte sie gesagt und dabei süffisant gelächelt. Das Lealächeln. »Glückwunsch zum Fünfundvierzigsten, Schatz.«

Das konnte niemand so gut wie sie. Einem bitteres Gift in den Rachen träufeln und dann einen Zuckerwürfel hinterherschmeißen. Früher hatte er es an ihr geliebt. Wenn sie sich mit beißender Ironie über spießige Nachbarn oder die trutschigen Mütter von Nataschas Freundinnen lustig gemacht hatte.

Thomas deponierte die Matschschuhe auf der Fußmatte, legte die durchnässte Kleidung an die Kellertreppe und huschte nackt ins Badezimmer im ersten Stock.

Fast hoffte er, dass das warme Duschwasser zusammen mit der Kälte und dem Dreck auch einen Teil der Erinnerungen vom Vormittag wegspülte. Aber so einfach war es natürlich nicht. Hoffentlich konnte das Gespräch, das er gleich führen würde, dazu beitragen.

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5

Thomas hatte Doktor Oberhauser vor über zwanzig Jahren kennengelernt. Nach Jahren als Assistenz- und später Oberarzt in der Psychiatrie war es für ihn damals Zeit gewesen für etwas Neues. Lea hatte nach ihrem BWL-Studium erste Karriereluft in der Finanzwelt geschnuppert, und Natascha hatte allenfalls als vage Zukunftsvorstellung in ihrer beider Köpfen existiert. Psychoanalyse hatte Thomas schon lange fasziniert, also hatte er sich an Oberhausers Institut beworben, war angenommen und dessen Lehranalysand geworden. Sein Lehranalytiker hatte da noch mindestens achtzig Pfund weniger auf die Waage gebracht und war seinem biologischen Alter höchstens um wenige Monate vorausgeeilt. Inzwischen war Doktor Oberhauser nicht nur in Sachen Psychoanalyse, sondern auch physisch ein Schwergewicht, was seiner uneingeschränkten Autorität keinerlei Abbruch tat. Er trug seinen stattlichen Bauch wie eine Auszeichnung für ein sattes Leben vor sich her. Thomas sah in dessen Gesicht weniger die dicken Tränensäcke und das dichte Netz aus roten Äderchen, sondern hellwache Augen, hinter denen ungetrübte Vitalität und Neugierde vibrierten. »Dann erzählen Sie mal, warum ich heute auf den Mittagstisch im Borchers verzichte«, begrüßte er ihn.

Es kostete Thomas Überwindung, die schrecklichen Bilder des Vormittags in Sprache zu kleiden. Mehrmals stockte er, rang nach Worten und kämpfte gegen Tränen. Als die Rohfassung geschafft war, stemmte Oberhauser sich aus seinem Ledersessel. »Ein Glas Wasser? Oder lieber einen Cognac?«

»Für mich bitte nur Wasser.«

Der alte Analytiker füllte ein Wasserglas aus einer Karaffe und ein Schnapsglas aus einer rotbraunen Flasche, die er aus einem Schrank neben dem Schreibtisch gezogen hatte und sogleich wieder darin verschwinden ließ.

Er wartete geduldig, bis Thomas getrunken hatte.

»Schreckliche Sache«, sagte er dann. »Es ist furchtbar, eine Patientin auf diese Weise zu verlieren. Und Sie hatten wirklich nur eine einzige Sitzung? Was wissen Sie denn von ihr?«

Thomas versuchte, die Informationen aus dem Gespräch in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, bevor er weitersprach. »Sie ist ein Wildwuchs, im wahrsten Sinne des Wortes.« Beiläufig stellte er fest, dass er noch immer in der Gegenwartsform von ihr sprach. »So alltägliche Basics – ein Dach überm Kopf, medizinische Versorgung, Sportverein und vieles andere hat sie erst kennengelernt, als sie im Vorschulalter nach Deutschland kam. Ist ihr schwergefallen, sich in alldem zurechtzufinden, aber gleich mehrere Lehrer hatten einen Narren an ihr gefressen. Wundert mich nicht.«

Oberhauser brummte. »Dieselben Eigenarten, die Sie an ihr faszinieren … fasziniert haben?« Für eine Sekunde schien auch er vergessen zu haben, dass Jennifer mitsamt ihren Eigenarten von einem Kran in den Tod gesprungen war.

Thomas nickte. »Sie hatte eine wundervolle Stimme. Glasklar, weich, sie hätte es sicher zu was bringen können als Sprecherin oder Sängerin. Ihr Aussehen war tiefste Dunkelheit, aber ihre Stimme war das reine Licht. Sie hatte eine ungewöhnliche Art zu sprechen. Sehr einfach, auf den Punkt, oft schnodderig und frech. Aber auf eine Weise, die man ihr nicht übel nehmen konnte.«

»Verstehe«, sagte Oberhauser und nippte an seinem Cognac. »Wo ist sie denn groß geworden?«

»Ihren Vater hat sie nie kennengelernt, so hat sie es erzählt«, sagte er. »Ihre Mutter hat in einer Art Hippie-Kolonie auf einer kanarischen Insel gelebt. La Gomera, glaube ich. Ein Sammelbecken von Aussteigern, Esoterikern und, na ja, Verrückten.«

»Die waren ja spät dran.Wissen Sie mehr über die Mutter?«

»Eine Hippiefrau, die als Jugendliche alle Zelte in Deutschland abgebrochen hatte. Sie hat Jennifer in dem Camp zur Welt gebracht und dort großgezogen.«

»Geschwister?«

»Sie hat eine ältere Schwester erwähnt.« Thomas zuckte die Achseln. »Jennifer hat … hatte an die Zeit durchweg positive Erinnerungen. Es gab keinen Spielplatz und keinen Sportverein, natürlich nicht. Aber die Mutter hat sich offenbar sehr liebevoll um ihre Töchter gekümmert. Sie und eine Handvoll andere Hippies haben sie unterrichtet.«

»In was denn?« Oberhauser schmunzelte. »Handauflegen und Geisterbeschwörung?«

»Das Ganze hat ein jähes Ende gefunden. Die Mutter ist verunglückt, und die spanischen Behörden haben das Camp aufgelöst und die Mädchen nach Deutschland gebracht. In eine Pflegefamilie.«

»Hm.« Der Dicke ruckte schwerfällig auf seinem Sessel herum, versenkte seinen massigen Körper tiefer in dem weichen Lederpolster. »Erzählen Sie mal, wie Ihre erste Begegnung war.«

Thomas dachte an den Augenblick des Aufeinandertreffens. Er beschrieb sein stilles Entsetzen über Jennifers Äußeres und die Tätowierung sowie seine intuitive Abneigung gegenüber der jungen Frau, die schlagartig in Sympathie umgeschlagen war, als sie begonnen hatte zu sprechen. »Was kostet es, mit Ihnen zu reden?«, hatte sie gefragt.

Er hatte ihr seinen Stundensatz genannt. »Wir können das Gespräch über die Krankenkasse abrechnen«, hatte er gesagt. »Dazu bräuchte ich Ihre Versichertenkarte.«

Sie fasste in die Innentasche ihrer Lederjacke und zog einen Briefumschlag mit Geldscheinen daraus hervor, zählte neunzig Euro ab und legte sie auf den Tisch. »Keine Krankenkasse. Und das hier muss unter uns bleiben. Sie unterliegen doch der Schweigepflicht, oder?«

Thomas nickte. »Sieht ja aus, als hätten Sie eine Bank ausgeraubt.« Er musterte die Scheine, als könnte er an ihrem Aussehen erkennen, woher sie stammten. Und ob Dreck an ihnen klebte.

»Die Kohle ist sauber, wenn Sie das meinen. Sie gehört mir. Klar so weit?«

»Okay.« Er schlug die Beine übereinander. »Also, Frau Rädler, was kann ich für Sie tun?«

»Sagen Sie Jennifer. Das ist mein Name. Der Name Rädler gehört meiner Mutter. Ihr allein. Ich werde Ihnen nicht vertrauen können, wenn Sie mich so nennen. Und darum geht es doch, oder? Dass ich Vertrauen zu Ihnen aufbaue.«

»Also gut. Jennifer.« Er fand sie gerade noch jung genug, um sie mit ihrem Vornamen anzureden.

Sie nickte. Als Nächstes sah sie sich aufmerksam in seinem Behandlungszimmer um. Thomas versuchte, von ihrer Mimik auf ihre Eindrücke zu schließen, aber ihr ernster Gesichtsausdruck ließ wenig nach außen dringen. Sie musterte den Schreibtisch (ordentlich aufgeräumt, fast etwas zwanghaft, riet er ihre Gedanken), die Behandlungscouch (schlichtes Teil aus Naturleder, liegen da wirklich Patienten drauf?) und das bis zur Zimmerdecke aufragende Bücherregal (bis zum Rand vollgestopft mit Büchern; hat der die alle gelesen?).

Die Musterung endete bei ihm. »Sie sind verheiratet.«

Es war eine Feststellung, keine Frage. Der schlanke Goldring an seiner rechten Hand war ihr offenbar nicht entgangen. »Haben Sie Kinder?«

Inzwischen hatte er sich auf ihre nassforsche Art eingestellt. »Sie scheinen sehr interessiert an meinen persönlichen Verhältnissen«, sagte er.

»Das war keine Antwort.«

»Ich werde Ihnen auf vieles antworten. Auf manches aber nicht. Zum Beispiel, wenn es um mein Privatleben geht.«

Ihre Augen scannten ihn noch etliche Sekunden. »Na gut«, sagte sie dann.

»Also noch mal. Was kann ich für Sie tun?« Er griff nach seinem Schreibblock, auf dem er sich während der Vorgespräche Notizen machte.

»Nein!«, sagte sie. Ihre Körperhaltung versteifte sich.

»Bitte?«

»Keine Aufzeichnungen! Sie dürfen nichts aufschreiben, weder jetzt noch später! Ich will auch keine Quittung oder so.«

»Warum ist das so ein Problem?«

»Ist halt so. Wenn Sie mitschreiben, werde ich nichts sagen.«

Sie nahm ihn mit einem entschlossenen Blick ins Visier. Auch über diesen Punkt würde sie nicht mit sich verhandeln lassen.

Thomas legte den Block zur Seite. »Ich schlage Folgendes vor: Ich biete Ihnen bis zu drei Terminen an. Zu Ihren Bedingungen. Sie zahlen bar, ich schreibe nichts auf. Sie können alles ansprechen, was Sie bewegt. Ich kann Sie kennenlernen und Sie mich. Aber wenn wir danach weiterarbeiten wollen, müssen wir uns noch mal über die Regeln einer Therapie unterhalten. Einverstanden?«

Sie dachte kurz nach. Dann zückte sie erneut ihren Briefumschlag, packte weitere hundertachtzig Euro auf den Tisch und lehnte sich in ihrem Sitz zurück.

»Vielleicht brauche ich Hilfe«, sagte sie. Ihre Stimme hatte auf einmal leise und zerbrechlich geklungen.

 

»Sie hat Sie offensichtlich getestet«, sagte Oberhauser. »Und verlangte absolute Kontrolle.« Er schwenkte das Cognacglas fachmännisch in der rechten Hand. »Was war ihr Problem?«

»Sie hat lange herumgedruckst und letztlich nur Andeutungen gemacht. Sie sei in eine große Sache verstrickt. Das richte sie zugrunde. Sie sehe keinen Weg, sich da herauszulösen. Sie habe Angst vor dem, was passieren könne. So etwas. Und dann immer wieder die Frage, ob unser Gespräch wirklich vertraulich sei.«

»Was haben Sie gedacht, was mit ihr ist?«

»Ich dachte an eine schwierige Beziehung, eine sadomasochistische Verstrickung. Vielleicht ein Zuhältertyp, der sie bedrohte und beherrschte. Jemand, der sie in ähnlicher Weise kontrollierte, wie sie es mit mir versucht hat.«

»Ergibt Sinn.« Oberhauser nickte, dachte nach. »Wissen Sie, wie die Mutter ums Leben gekommen ist?«

Thomas war, als würde ihm eine Hand ins Genick greifen. Eine, die vorher stundenlang in einem Eisfach gelegen hatte. »Sie ist auf Gomera von einer Klippe ins Meer gestürzt. Angeblich ein Unfall.« Es war ein offensichtlicher Zusammenhang, aber er hatte ihn bisher übersehen.

»Angeblich!« Oberhauser schnalzte mit der Zunge. »Also womöglich ein Suizid? Dann ist die junge Frau ihrer Mutter quasi hinterhergesprungen.«

Thomas nickte. Das eisige Gefühl im Nacken hielt sich hartnäckig. Er rollte mit dem Kopf und den Schultern dagegen an. »Ich hatte sie nach Selbstmordgedanken gefragt. Sie hat das glaubhaft verneint. Den Baukran hat sie allerdings gegen Ende der Stunde einmal erwähnt. Sie war auf dem Weg in die Praxis daran vorbeigekommen.«

»Was hat sie gesagt?«

»Dass man von dort oben, wie hat sie sich ausgedrückt, ganz anders auf alles gucke. Verdammt.« Die kalte Hand wanderte seinen Rücken runter. »Ich hätte sie intensiver befragen müssen.«

»Na, na, na!« Oberhauser hob den Zeigefinger in die Höhe, als wollte er Thomas ermahnen. »Fangen Sie damit nicht an. Oder wenn Sie bereits angefangen haben, hören Sie sofort auf.« Er hob und senkte den Finger im Takt seiner Worte. »Sie trifft keine Schuld. Sie haben vieles richtig gemacht. Das allermeiste, möchte ich meinen.«

Thomas nickte. Die Absolution aus dem Mund seines Lehranalytikers tat gut.

»Ich tippe auf wahnhafte Psychose.« Oberhauser zog den Finger wieder ein. »Gewürzt mit realen Zutaten.«

Er schob ein paar allgemeine Gedanken hinterher, erzählte von einer eigenen Patientin, die sich vor Jahren das Leben genommen hatte. Aber aus seiner belehrenden Stimme und seinen zunehmend unruhigeren Beinen sprach vor allem, dass er Thomas allmählich loswerden wollte. Vermutlich, um doch noch was vom Mittagstisch seines Lieblingsrestaurants abzukriegen.

Das war okay. Thomas fühlte sich tatsächlich besser, er bekam sogar selber Hunger. Oberhauser entließ ihn mit einem aufmunternden Schulterklopfen.

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6

Thomas öffnete die Haustür. Aus dem Obergeschoss dröhnte die monotone Bassfolge dessen, was Natascha als ihre Lieblingsmusik bezeichnete. Lea hielt dagegen, indem sie lautstark mit Küchengeschirr klapperte. Trotz des Krachs hörte sie offenbar, wie er die Tür zuzog. Denn sie donnerte etwas, das nach der Eisenpfanne klang, in die Spüle, rauschte an ihm vorbei durch den Flur und zog die Tür des Gästeklos auf, aus dem unverkennbar Zigarettengeruch drang.

»Kannst du unserer Tochter bitte klarmachen, dass sie im Bad nicht rauchen darf? Dass sie überhaupt nicht rauchen darf?«

Trotz der nervösen Flecken auf ihrer Stirn und ihren Wangen, trotz der zusammengekniffenen Augen, die die Falten betonten, die in den letzten Jahren in ihrem Gesicht aufblühten, trotz Kittelschürze und Gummihandschuhen sah Lea toll aus.

Einzelne Strähnen ihrer braunroten Haare tanzten vor ihren Augen und fielen verspielt auf ihre Schultern. Sie erinnerten ihn an die Leichtigkeit, die jahrelang ihr Zusammensein geprägt hatte.

Zu gerne hätte er sie in die Arme genommen. Ihren Körper gespürt, der am Strand im Bikini ebenso Blicke auf sich zog wie im schicken Kostüm auf einem Vorstandsmeeting. Ihren ureigenen Duft geatmet, den er unter ihren teuren Parfüms sofort herausroch. Ihre Nähe genossen, nach der er sich noch immer sehnte.

Er hätte sagen wollen, dass Natascha seit der Grundschulzeit auf derlei plumpe Ermahnungen nur mit umso stärkerer Renitenz reagierte. Dass Nataschas Provokation ihr Versuch war, mit ihrer Mutter in Kontakt zu treten. Und dass der Streitmodus momentan wohl die einzige Möglichkeit war, die ihrer Tochter zur Verfügung stand.

Es gab vieles mehr, was er ihr sagen wollte. Aber seine Worte erreichten sie schon lange nicht mehr.

Lea stapfte Richtung Küche.

Thomas entschied sich für den einfacheren Weg. Rauf ins Obergeschoss.

Natascha antwortete nicht auf sein Klopfen, also betrat er ihr Reich ohne ausdrückliche Erlaubnis.

»Hey, Tascha!« Er musste schreien, um den Krach zu übertönen. Sie saß in einem dünnen Feinripphemd und Leggins auf ihrem Bett und war komplett auf ihr Smartphone fixiert. Die knallroten Riesenkopfhörer dienten offenbar allein dem Zweck, ihre dunkle Mähne in Form zu halten.

Seine Tochter sah nicht einmal vom Handy auf.

Thomas kniete sich vor eine der Bassboxen, bewegte stumm die Lippen und gestikulierte mit den Händen, als würde er etwas sagen.

Tascha sah ihn an, erst genervt, dann amüsiert. Sie zog die Kopfhörer herunter und warf ihr Telefon neben sich auf die Bettdecke, die mit dem schwarz-weißen Konterfei von Che Guevara bedruckt war. Das Mobiltelefon landete knapp unter Ches rechtem Auge.

»Hi, Daddy!« Sie sprang auf, drehte die Musik zumindest so weit runter, dass er die Bässe nicht mehr in den Eingeweiden spürte, und fiel ihm in die Arme.

»Alles klar so weit?«, fragte er.

Sie löste sich von ihm, kraulte ihm wie beiläufig durch seine dichten, lockigen Haare, in deren schwarze Farbe sich in den letzten Jahren unverkennbare Grautöne geschlichen hatten, und erzählte von den Bereichen ihres Lebens, an denen sie ihre Eltern noch teilhaben ließ: Drei in Mathe (»Hätte besser sein können. Ich hatte es drauf.«), Fahrrad hat ’nen Platten (»Kannst du das reparieren? Bitte, Papa!«) und Konzertpläne fürs Wochenende (»Rebecca hat Karten. Ich darf doch mit, oder? Wir sind spätestens um eins zurück.«).

Thomas genoss die seltene Vertrautheit mit seiner Tochter, hörte geduldig zu und nickte an den passenden Stellen.

»Mama fliegt heute Abend nach Frankfurt«, sagte sie unvermittelt. »Wollen wir Pizza bestellen?«

Schön, dass ich das auch erfahre, dachte er. Er schluckte herunter, was in seinem Inneren schon lange zu einem Kloß aus Enttäuschung, Traurigkeit und Wut verschmolzen war.

»Pizza? Klingt gut!«, sagte er. »Ich kümmere mich drum.«

»Bist ein Schatz, Daddy.« Tascha drückte ihm einen feuchten Schmatzer auf die Stirn.

Er ging wieder runter. Lea stand im Flur. Sie hatte ihr Küchenoutfit abgestreift und checkte den Inhalt ihrer Handtasche.

»Im Kühlschrank ist gedünstetes Gemüse«, sagte sie. »Könnt ihr euch in der Mikrowelle aufwärmen. Mein Taxi kommt in zwanzig Minuten, und ich muss mich noch frisch machen.«

»Du fährst weg? Wusste ich gar nicht.« Inzwischen wusste er es zwar, aber so leicht wollte er es ihr nicht machen.

»Nach Frankfurt«, sagte sie. »Heute Abend landet die Delegation aus Südkorea.« Sie legte das Täschchen auf die Flurkommode. »Morgen ist den ganzen Tag Meeting. Das geht nicht mit dem Computer von zu Hause aus. Karsten meinte, es wäre gut, wenn ich gleich bei der Begrüßung dabei wäre.«

Von einem Computer kann man sich zwischen zwei Terminen nicht vögeln lassen, dachte er bitter. Obgleich Thomas kaum daran zweifelte, hatte Lea nie zugegeben, dass mit ihrem Chef mehr lief, als in ihrer Stellenbeschreibung stand. Für ihn wäre ein solches Geständnis allenfalls der noch ausstehende letzte Beweis, dass er sie verloren hatte. Für sie wäre es ein ungeschickter Schachzug, mit dem sie unnötige Schuld für das schleichende Verenden ihrer Ehe eingestanden und ihr gleichzeitig den Gnadenschuss verpasst hätte. Das war nicht ihr Stil. Lea tötete mit Gift.

»Warst du am Vormittag noch mal hier? Was ist mit deinen Schuhen passiert?«

»Ich hatte … einen schlimmen Tag.« Er wollte nicht, dass sich Tränen in seinen Augen sammelten. Aber die fragten nicht nach seiner Erlaubnis.

»Thomas! Was ist denn los?« Sie trat an ihn heran. Ihr mitfühlender Blick, der Geruch und ihre Stimme stachen ihm ins Herz.

»Eine Patientin … sie hat sich heute …«

Die Haustürklingel zerriss den Moment alter Vertrautheit. Lea schaltete augenblicklich in den Businessmodus. Offenbar dachte sie, dass ihr Taxi schon gekommen sei.

Tascha sprang die Treppe herunter. »Das ging ja schnell mit der Pizza!«

Im Sichtfenster der Haustür erkannte Thomas die Umrisse zweier Gestalten.

Er stutzte. Taxifahrer und Pizzaboten rückten nicht mit Verstärkung an.

Er trat an die Tür, öffnete. Zwei Männer standen vor ihm, einer in den Fünfzigern, der andere noch keine dreißig. Der Jüngere, ein dicklicher Typ mit teigiger Haut und rotblondem Wuschelkopf, hielt einen zusammengerollten Zettel wie einen kleinen Schlagstock in der Hand. Der Ältere war ein hageres Kerlchen mit großer, krummer Nase und dünnem Haar. Er schwenkte am lang gestreckten Arm einen Ausweis durch die Luft. »Kriminalpolizei«, sagte er. »Sie sind Doktor Kern, nicht wahr? Ich bin Hauptkommissar Hensel. Der da ist mein Kollege, Kommissar Barbe. Wir haben einen Hausdurchsuchungsbeschluss. Hätten Sie die Freundlichkeit, uns reinzulassen?«

»Thomas, was ist los?«

Ehe er auf Leas Frage antworten konnte, rauschten die beiden Kripoleute an ihm vorbei in den Flur. Ihnen folgten drei weitere Beamte, die neben der Tür gewartet hatten.

»Wow!« Tascha fand den Polizeiaufmarsch wohl eher spannend als beängstigend. Fehlte nur, dass sie ein Foto machte, um es auf Instagram zu posten.

Lea schaltete zwei Gänge hoch. »Was hat das zu bedeuten? Das dürfen Sie nicht.« Sie stellte sich in die Flurmitte und breitete die Arme aus. Wie eine Adlermutter, die ihr Nest gegen Eierdiebe verteidigen wollte. Tatsächlich stoppte sie damit den Vormarsch der Beamten. Der hagere Hauptkommissar hätte sie um ein Haar angerempelt.

»Doch!«, sagte er. »Zumindest steht das auf dem Zettel, den Kommissar Barbe bei sich trägt.«

Lea riss dem jungen Polizisten den zusammengerollten Bogen aus der Hand. »Mein Bruder ist Anwalt«, sagte sie. »Ich werde ihn das überprüfen lassen!«

»Natürlich.« Der Beamte nickte. »Und während Sie das tun, machen wir uns an die Arbeit.«

Seine Leute schoben sich zu beiden Seiten an ihr vorbei. Lea rollte das Papier auseinander.

Thomas löste sich aus seiner Erstarrung, trat von der Tür in die Mitte des Flurs. »Worum geht es überhaupt?«, fragte er. Er hatte am Vormittag auf der Baustelle den hinzugerufenen Polizisten seine Personalien genannt und beschrieben, was passiert war. Aber warum eine Hausdurchsuchung?

Hensel drehte sich zu ihm. »Sagt Ihnen der Name Jennifer Rädler etwas?«

»Sie war meine Patientin«, sagte er. »Sie hat sich heute Morgen das Leben genommen. Das habe ich Ihren Kollegen bereits gesagt.«

»Wir haben in der Wohnung der Frau einen Brief gefunden«, sagte der Hauptkommissar. »Jennifer Rädler beschuldigt Sie darin, sie vergewaltigt zu haben.«

»Thomas!« Lea starrte ihn an. Sie stand hinter dem Kripomann, hielt den Durchsuchungsbeschluss in die Höhe. Das Blut schien aus ihrem Gesicht zu verdampfen. »Was hast du getan?« Ihr Blick war ein Fallbeil, das in Thomas’ Brust niedersauste und sein Herz in zwei Hälften hackte.

»Ich habe gar nichts …« Er stammelte. Sein Mund war so trocken, als hätte er einen Löffel Sand gegessen. »Sie hat einen Abschiedsbrief unter den Türspalt meiner Praxis geschoben. Deswegen bin ich ihr nachgerannt.«

»Aha.« Hensel schob seinen Kopf dichter an Thomas heran. »Und wo ist dieser Brief?« Er sah aus wie ein hungriger Geier, der ein verwundetes Tier näher in Augenschein nahm. War es schon Zeit, mit dem Schnabel zuzustoßen und ein Stück Fleisch herauszureißen?

»In meiner Praxis.« Thomas wich einen Schritt zurück.

»Wir waren eben da«, sagte der Kripomann. »Ursprünglich hatten wir gehofft, Sie dort anzutreffen. Um Sie zu bitten, uns für eine Durchsuchung hineinzulassen.«

»Das ist kein Problem. Fahren wir doch gleich hin!«

Hensel schüttelte den Kopf. »Dafür ist es zu spät.«

»Ich verstehe nicht. Wie meinen Sie das?«

»Es ist nichts da. Computer, Aktenordner, Aufzeichnungen. Briefe. Alles weg. Die Tür war aufgebrochen.« Der Hauptkommissar zuckte vor, hing mit seiner Geiervisage wieder vor Thomas’ Gesicht. »Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall?«

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7

Der Schwarze Turm lag im südlichen Teil der Hamburger Hafencity. Es war ein Gebäude von unheimlicher Eleganz. Im Bedeutungsschatten so berühmter Bauwerke wie der Elbphilharmonie und dem Marco-Polo-Tower wurde er in den wenigsten Reiseführern erwähnt. Falls doch, nannten ihn die Autoren ehrfürchtig »den Monolithen«. Wenn man von unten auf die emporragenden Glasfronten hochschaute, wurde man fast automatisch neugierig, was sich in den sieben Stockwerken jenseits der dunklen Fassade abspielen mochte. Und war eigentlich ganz froh, es nicht so genau zu wissen.

Hinter einem dieser Fenster stand Jessica und blickte auf die Welt da draußen. Die Hafencity am frühen Vormittag – das waren Singles oder junge Paare im Businesslook, die aus einem der angesagten Wohnhäuser auf die sauber gefegten Straßen traten und sich erst mal einen Coffee to go holten, bevor sie weiterzogen, um die Welt zu retten. Das waren Pendler, die aus der Stadt oder dem Umland kamen und hier zur Arbeit gingen. Das waren Linien- und Touristenbusse, die durch die Hafencity kurvten. Jessica sah eine Schulklasse von vielleicht zwanzig Kindern. Zwei Lehrerinnen gaben ihr Bestes, um die Horde vom U-Bahnhof Überseequartier in Richtung Elbphilharmonie zu bugsieren.

Auch die ersten Touristen stapften über die nahe gelegenen Plätze und durch die Straßen. Diejenigen, die auf den Schwarzen Turm aufmerksam wurden, warfen meist ein paar verstohlene Blicke auf das Gebäude, trollten sich aber rasch wieder. Als ob sie spürten, dass es nicht ratsam war, sich zu lange seinem Einfluss auszusetzen. Selten schaute jemand zurück.

Jessica beneidete diese Leute. Sie waren frei. Sie konnten sich einfach umdrehen und ihrer Wege gehen.

Nur widerwillig beendete sie ihre stille Betrachtung und wandte sich um. Nicht alles, was hier drinnen passierte, war dunkel. Es gab eine lichte Seite, und für die mussten E-Mails verfasst, Telefonate geführt, Seminarkonzepte ausgearbeitet, Termine organisiert und Rechnungen geschrieben werden. Trotz allem, was in den letzten Tagen geschehen war.

Sie trat vom Fenster weg, setzte sich hinter ihren Schreibtisch und zog die Computertastatur zu sich heran.

Von der Tür kam ein Geräusch. Es sollte wohl ein Klopfen sein, war aber eher ein vorsichtiges Kratzen.

»Ja?«

Die Tür ging auf, und Jessica sah einen Toten. Vor Schreck presste sie sich die Hände vor den Mund.

Sebastian. Sie hatte ihn doch sterben sehen. Doktor Hu hatte ihm ein Medikament gespritzt, und er war bei vollem Bewusstsein erstickt.

Nein, tot war er nicht. Er hing in der Tür, dünn und zittrig. Der fehlenden Farbe in seinem Gesicht und den hervorquellenden Augen nach hatte nicht viel gefehlt. »Verdammt!«, brachte sie hervor.

Sie stand vom Schreibtisch auf und trat auf ihn zu. Unentschlossen, ob sie ihn in die Arme schließen oder ihm mit der gläsernen Wasserflasche auf dem Beistelltisch den Schädel zertrümmern sollte. Um das zu vollenden, was der Doktor offenbar in der allerletzten Sekunde abgebrochen hatte.

»Ich habe ausgepackt.« Sebastians krächzende Stimme klang auch mehr tot als lebendig. »Nachdem du rausgegangen warst. Hu hat mir das Gegengift gespritzt, und ich habe ihnen erzählt, was ich weiß.« Er torkelte einige Schritte Richtung Schreibtisch. »Ist noch nicht lange her, dass ich meine Füße wieder bewegen kann.«

»Du hast Jennifer verraten«, platzte es aus ihr heraus. »Es ist deine Schuld, dass sie sich umgebracht hat.«

Sebastian zuckte zusammen. Er schwankte, und für einen Moment sah es aus, als würde die Wucht ihrer Worte ihn zu Boden schleudern. »Ich habe sie geliebt.« Er hielt sich wacker auf den Beinen. »Sie haben eh alles gewusst.«

»Das ergibt doch keinen Sinn.« Sie schüttelte den Kopf. »Jennifer wollte von hier weg, okay. Sie wusste, dass er das nicht dulden würde. Aber deswegen wäre Jennifer nicht von einem Kran gesprungen.«

»Und doch hat sie es getan.« In Sebastians Augen bildete sich ein roter Glanz. »Jenni war zu unvorsichtig. Es hätte nichts geändert, wenn ich geschwiegen hätte. Mein Tod hätte sie nicht gerettet.«

»Rede dir das ruhig ein. Dadurch wird es nicht wahrer.« Sie schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte sie seinen gepackt und mit einem festen Ruck vom Hals gerissen. »Du hast sie ans Messer geliefert. Und mich gleich mit.« Sie feuerte einen eisigen Blick auf ihn ab. »Warum bist du nicht einfach gestorben?«

Sebastian stieß einen Schwall Luft aus. »Ich bin hier, um dich zu warnen.«

»Zu warnen? Vor ihm? Vor Mr Krake?«

Sebastians Augen weiteten sich vor Schreck. »Du darfst ihn so nicht nennen. Du solltest ihn überhaupt nicht beim Namen nennen.« Unwillkürlich blickte er zur Tür. Als könnten Jessicas Worte Mr Krake heraufbeschwören wie einen rachsüchtigen Geist.

»Deine Fürsorge bricht mir das Herz«, sagte sie. »Was weiß er?«

»Dass Jennifer dich in ihre Pläne eingeweiht hat. Dass du ihr Geld gegeben hast.«

Genug für Mr Krake, um ihr ein Date mit seinem chinesischen Folterdoktor zu verschaffen. Sie musste sich dringend etwas einfallen lassen, um ihn zu besänftigen. Jessica atmete tief durch.

Sebastian beugte sich zu ihr vor. »Er ist außer sich«, flüsterte er. »So habe ich ihn noch nie erlebt. Du weißt, wie viel Jenni ihm bedeutet hat.«

Es reichte. Sie ging auf ihn los, Sebastian zuckte zurück. »Wie viel sie ihm bedeutet hat, sagst du?« Sie packte ihn am Hemdkragen und schüttelte ihn. Allein ihre anflutende Angst hielt sie davon ab, seinen Hals zu packen und zuzudrücken. Wie hatte Jennifer sich in so einen Jammerlappen verlieben können? »Und was, glaubst du, hat sie mir bedeutet?« Sie ließ ihn wieder los.

»Es tut mir echt leid.« Sebastian starrte auf den Boden, knetete die Finger.

»Was hast du noch?«, fragte sie.

Er blickte hoch. »Er ist hier. Im Turm. Und er hat Hu zu sich gerufen.«

Die Nachricht vertrieb schlagartig ihre Wut. Jessicas Herzschlag schien auszusetzen, und unwillkürlich fing sie an, die Sekunden zu zählen, bis sie tot oder bewusstlos vor Sebastian auf den Teppich sinken würde. Es wäre nicht das Schlechteste. Ein schnelles, sauberes Ende. Keine dieser endlosen Sauereien, auf die Doktor Hu sich spezialisiert hatte.

Aber ihr Herz schlug weiter. Also würde sie eine Lösung finden müssen. »Scheiße«, flüsterte sie. Jetzt huschte ihr eigener Blick Richtung Tür.

Sebastian nickte. »Du musst sofort verschwinden«, sagte er. »Noch ist es nicht zu spät.«

»Natürlich ist es zu spät. Es war schon immer zu spät.« Sie konnte sich ein hysterisches Lachen nicht verkneifen. »Wie stellst du dir das vor? Ich kann hier nicht einfach rausmarschieren und dem Wachdienst unten einen schönen Tag wünschen.«

Ihr Telefon brummte auf dem Schreibtisch. Es war ein dezentes, freundliches Geräusch, doch in ihrem Kopf verwandelte es sich in einen schrillen Alarmton.

Das war er. Mr Krake. Daran gab es keinen Zweifel. »Jessica«, würde er sagen. Mit seiner Schmeichelstimme, die sich einem in die Gehirnwindungen schlich und an der Stelle festsaugte, wo der freie Wille zu Hause war. »Hast du bitte eine Minute Zeit für mich?«

Wenn sie da ranging, hatte sie verloren.

»Das Treppenhaus«, sagte Sebastian. »Im Erdgeschoss gibt es einen Notausgang, der hinten aus dem Gebäude herausführt. Du musst dich beeilen.«

Die Farben und Formen um sie herum schienen sich aufzulösen. Als wäre ihre gesamte Existenz ein Bild aus Wasserfarbe, über das Sebastian gerade einen Eimer Wasser ausschüttete. Er hatte recht. Natürlich. Aber …

»Wo soll ich denn hin?« Ihre Stimme zitterte. »Er wird mich überall finden.«

»Hier. Nimm das!« Sebastian zog einen Briefumschlag aus der Gesäßtasche seiner Hose und reichte ihn ihr. Ein paar Fünfeuroscheine, ein paar Zehner und Zwanziger. Und sehr viele Fünfziger.

»Das ist alles, was ich auf die Schnelle auftreiben konnte.«

»Danke!« Es rutschte ihr heraus, und sie hasste sich dafür. Ihm dankbar sein zu müssen für das Geld, mit dem er sich allzu offensichtlich von seiner Schuld freizukaufen versuchte. Aber sie brauchte Bargeld. Sonst könnte sie auch gleich in Mr Krakes Büro gehen und Doktor Hu die Hände schütteln.

»Schon gut.« Sebastian nickte, trat einen Schritt zur Seite und machte so den Weg zur Tür frei. Den Weg raus aus dem Büro. Raus aus dem Schwarzen Turm, raus aus ihrem bisherigen Leben. »Benutze falsche Namen!«, sagte er. »Geh nicht zurück in deine Wohnung! Schmeiß dein Handy weg! Vergiss deine Kreditkarten, E-Mail-Accounts und all das! Damit lockst du ihn auf deine Fährte.«

Jessica nahm ihre Jacke, steckte den Umschlag mit dem Geld in die Innentasche und ging. Das Treppenhaus war menschenleer. Sie fand den Notausgang im Erdgeschoss. Er war mit einem Alarm gesichert, den sie auslösen würde, wenn sie das Gebäude verließ.

Egal. Es würde einige Minuten dauern, bis die Wachen auftauchten. Bis dahin war sie weg.

Sie trat durch die Tür ins Freie, und es schien so einfach zu sein. Sie marschierte seitlich um den Schwarzen Turm herum. Auf der Freifläche vor dem Haupteingang sah sie eine Touristengruppe, die sich offenbar sattgesehen hatte und gerade aufbrach. Jessica mischte sich unter sie und ging mit ihnen. Jeder Schritt, der sie von diesem Ort entfernte, fühlte sich ein wenig leichter an. Sie schaute nicht zurück.

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