Tief wirst du schlafen - Christian Kraus - E-Book + Hörbuch

Tief wirst du schlafen Hörbuch

Christian Kraus

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Beschreibung

Atemlose Psychospannung vom Psychiater und Psychoanalytiker Christian Kraus über ein Video, das Menschen zu Mördern macht, und einen Psychiater, der Schritt für Schritt den Verstand verliert Die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit ist schmaler, als du denkst … In den sozialen Medien kursiert angeblich ein Hypnosevideo, das normale Menschen zu Mördern werden lässt. Und tatsächlich soll eine junge Frau, die das Video gesehen hat, direkt danach und völlig grundlos ihren Freund ermordet haben. Der renommierte forensische Psychiater und Gerichtsgutachter Christoph Kerber hält das für blanken Unsinn – bis er während einer Gerichtsverhandlung ohne erkennbaren Grund mit einem Bleistift attackiert und am Hals verletzt wird. Als sich in Christophs Umfeld unerklärliche Vorfälle häufen, wachsen seine Zweifel. Doch wie weit würde er gehen, um das alles zu beenden?

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Zeit:9 Std. 45 min

Sprecher:Frank Stieren

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Über dieses Buch

Die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit ist schmaler, als du denkst ...

In den sozialen Medien kursiert angeblich ein Hypnosevideo, das normale Menschen zu Mördern werden lässt. Und tatsächlich soll eine junge Frau, die das Video gesehen hat, direkt danach und völlig grundlos ihren Freund ermordet haben. Der renommierte forensische Psychiater und Gerichtsgutachter Christoph Kerber hält das für blanken Unsinn – bis er während einer Gerichtsverhandlung ohne erkennbaren Grund mit einem Bleistift attackiert und am Hals verletzt wird. Als sich in Christophs Umfeld unerklärliche Vorfälle häufen, wachsen seine Zweifel. Doch wie weit würde er gehen, um das alles zu beenden?

Inhaltsübersicht

WidmungInduktion1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. KapitelDanksagung und Nachwort
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Für Inken. In Liebe.

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Induktion

Bist du ein Verlierer? Kommst im Leben zu kurz, fühlst dich abgehängt?

Dann habe ich eine gute Nachricht: Du kannst das ändern. Jetzt gleich. Willst du das?

Ja?

Ich bin nicht überzeugt. Deswegen frage ich noch mal:

WILLST DU DAS WIRKLICH ÄNDERN?

Okay.

Wenn du sicher bist …

und nur dann … machen wir weiter.

Die erste Lektion dauert nur wenige Minuten. Sie ist die wichtigste. Wenn du dich darauf einlässt, gehst du bereits die ersten Schritte auf der Gewinnerstraße.

Also: Setz dich entspannt hin! Nimm ein paar tiefe Atemzüge und spüre in deinen Körper hinein! Ist es bequem?

Gut. Jetzt zähle ich langsam rückwärts von fünf bis eins. Versuche, dich allein auf das Zählen zu konzentrieren!

Fünf.

Höre meine Worte! Lass dich von ihnen führen. In einen Zustand angenehmer Entspannung.

Vier … drei …

Vielleicht spürst du es bereits. Als Gefühl von Schwere oder auch Leichtigkeit in den Füßen, den Waden, den Oberschenkeln. Als Wärme oder angenehme Kühle, die sich von den Händen über die Arme und Schultern allmählich in dir ausbreitet. Dein Bauch, dein Rücken und dein Nacken, sogar dein Gesicht, alles entspannt. Wohlige Gleichmut erfüllt dich.

… zwei … eins. Fertig.

Gut gemacht. Du befindest dich in einem Zustand leichter Trance. Eventuell bemerkst du es nicht einmal, aber das macht nichts. Die Trance wirkt bereits. Dein Denken, dein Fühlen, deine Körperfunktionen beruhigen sich. Atme weiter! Folge meinen Worten!

Und jetzt stell dir einen Menschen aus deinem Leben vor. Nimm einfach denjenigen, der dir als Erstes in den Sinn kommt. Mal dir im Kopf aus, wie er oder sie aussieht, spricht, sich bewegt. Wie ist deine emotionale Beziehung zu diesem Menschen? Gibt es Gefühle von Sympathie oder sogar Liebe? Den Wunsch nach Nähe? Oder magst du die Person eigentlich nicht, ärgerst dich über sie? Steht sie dir bei etwas im Weg?

Lass dich einfach ein auf die Gefühle, die derjenige oder diejenige genau jetzt in dir wachruft.

Gut.

Und nun stell dir vor, wie es wäre, diesen Menschen zu töten!

Ups. Habe ich dich erschreckt? Alles in dir sträubt sich gegen die Vorstellung, nicht wahr? Du willst das nicht, kannst es nicht. Du bist doch kein Mörder!

Nun, du hast recht. Und ich kann dich beruhigen, ich verlange nichts Unrechtes von dir. Ich möchte dir lediglich helfen, deine Kraft zu befreien. Dich mit deiner Wut, mit deinem gerechten Zorn in Berührung bringen. Wer weiß? Vielleicht wirst du auf dem Weg dorthin auch noch jemanden töten müssen.

Zumindest in der Fantasie.

Willst du das? Willst du die geballte Kraft spüren, die in dir steckt?

Gut. Dann folge mir!

Ich zähle erneut von fünf rückwärts. Währenddessen leerst du deinen Geist, vertiefst deine Entspannung. Und dann zeige ich sie dir. Die Kraft.

Fünf … vier … drei … zwei … eins.

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Wer an die Freiheit des menschlichen Willens glaubt, hat nie geliebt und nie gehasst.

Marie von Ebner-Eschenbach

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1

Der Mann mit den kurzen blonden Haaren und dem markigen Kinn steckte in der Klemme. Er stand in einem riesigen Raum mit nackten Betonwänden, über denen das Licht einer defekten Halogenlampe flackerte. Von allen Seiten des Gemäuers gähnten ihm dunkle Tür- und Fensteröffnungen entgegen. Der kahle Boden war mit Bauschutt übersät.

Der Typ hielt den Atem an. Durch die Stille drang das Geräusch schlurfender Schritte. Er kniff die Augen zusammen, zog sein Gewehr von der Schulter – eine Pumpgun, die ihm locker in den Händen lag –, lud es durch und drehte sich langsam im Kreis. Die Sohlen seiner Stiefel knirschten über das Geröll.

Karina stand in der Wohnzimmertür. Ihr Blick wanderte vom Flachbildfernseher rüber zum Sofa. Dort saß Gunnar mit einer Flasche Bier, neben sich eine Tüte Chips, und starrte auf den Bildschirm.

Er hatte den Gürtel seiner Jeans gelöst und zusätzlich den obersten Knopf geöffnet. Sein wabbeliger Bauch hatte das erweiterte Platzangebot dankbar angenommen und quoll aus dem Hosenbund. Gunnars Augenbrauen zuckten vor Anspannung. Als ob er diesen Scheiß nicht schon tausendmal gesehen hätte. Seine Futterluke stand offen, aber der Nachschub war ins Stocken geraten. Seine Chipshand schwebte schwer beladen in der Luft.

Merkwürdig, dachte Karina. Gunnar verwandelte sich beim Gucken dieser Zombieserie selbst in eine Art lebenden Toten.

Sie trat zum Sofa. »Ich könnte Frikadellen machen«, sagte sie und ahnte, dass der Zeitpunkt für ihre Bemerkung nicht allzu günstig war. »Die kannst du dir morgen in der Mikrowelle aufwärmen.«

Gunnar beachtete sie gar nicht. Natürlich nicht, denn es ging gerade los. Was waren frische Burger gegen das Gehackte, das sich auf der Mattscheibe anbahnte? Der erste Zombie kam nicht aus einer der dunklen Öffnungen geschlurft, sondern fiel kreischend von oben herab. Woher auch immer der gekommen war. Knochige Finger krallten sich am Oberkörper des Helden fest, braune Zähne in einem Gammelgesicht versuchten, ihm in den Hals zu beißen. Mensch und Zombie rangen sekundenlang miteinander. Dann löste sich ein Schuss aus der Pumpgun, die Ekelfratze explodierte und verspritzte allerlei schleimige Brocken. Kurz sah es aus, als klebten welche an der Innenseite des Fernsehers. Krank, dachte Karina. Einfach nur krank.

Jetzt krochen die anderen Untoten aus den Löchern. Der Blonde wischte sich Zombiehirn, Zombieblut und Zombiesonstwas aus dem Gesicht und ballerte wild drauflos. Auch Gunnar geriet in Aktion. Er nahm einen Schluck Bier und stopfte sich eine satte Ladung Chips in den Mund.

»Gunni!«, sagte sie. »Was ist mit den Buletten?« Sie legte ihm die Hand auf den Oberarm.

»Pscht«!, machte er, ohne sich zu ihr umzudrehen. Chipskrümel flogen ihm aus dem Mund. Seine Linke kümmerte sich bereits um Nachschub. Er wackelte mit der Schulter, um ihre Hand abzuschütteln.

Karina tapste zurück in ihre Küche.

War sie wütend? Verletzt? Zumindest traurig? Grund genug hätte sie. »Er behandelt dich wie den letzten Dreck. Gunnar ist ein Arschloch«, hatte ihre beste Freundin Anni gesagt. Erstmals vor fünf Jahren, seitdem wiederholte sie es alle paar Wochen. Anni kannte sich gut mit Arschlöchern aus, dank ihrer zehnjährigen Ehe mit Hendrik. »Du machst es ihm viel zu leicht«, ging die Predigt weiter. »Du kaufst ein, schmeißt den Haushalt. Er furzt tagsüber das Sofa voll und glotzt Zombieserien, während du im Supermarkt hinter der Fleischtheke schuftest und das Geld ranschaffst. Du musst dich wehren.«

Er steht dir im Weg. Auf der Gewinnerstraße.

Karina stutzte. Was war denn das? Hatte sie das wirklich gerade gedacht? Von Anni hatte sie das nicht mit der Gewinnerstraße, aber woher dann? Egal.

Obwohl es stimmte. Gunni war ein faules Arschloch. Und sie sollte sich von ihm trennen. Aber …

Ihre Gedanken stockten. Weiter kam sie nie. Sie wusste nicht, warum sie trotz allem bei ihm blieb. Dieses ›Aber‹ hing in ihrem Gehirn wie ein Vorhang aus dickem Stoff, hinter den sie nicht gucken konnte. Sie hatte keine Ahnung, was sich dahinter verbarg.

Die Frikadellen, dachte sie mit einem Gefühl der Erleichterung, nicht länger über so komplizierte Sachen nachgrübeln zu müssen. Die Zubereitung beherrschte sie im Schlaf. Wahrscheinlich würde sie selbst als Zombie noch leckere Burger machen.

Sie zog eine eingeschweißte Packung Hackfleisch aus dem Kühlschrank, prüfte das Verfallsdatum (es lief morgen ab, also war es höchste Zeit). Sie riss die Folie herunter, hackte eine Zwiebel, schob die kleinen Stücke in eine Rührschüssel und vermischte sie mit dem Fleisch. Dazu kamen ein eingeweichtes Brötchen, die Gewürzmischung aus der Tüte und eine Extraportion Salz und Pfeffer (Gunni mochte es gut gewürzt). Als Letztes schlug sie ein Ei auf. Der Dotter schwamm im glibberigen Eiweiß auf dem Hack und glotzte sie an wie ein höhlenloses Auge.

Sie holte den Akku-Handmixer aus der Schublade, steckte die Knethaken in die Öffnungen, schaltete auf Stufe eins und drückte die rotierenden Spiralen in das gelbe Glubschauge. Das glänzende Häutchen platzte, der Dotter zerfloss und verpasste dem rosa Fleischbrei für eine Sekunde eine kräftige Gelbfärbung. Sie ging hoch auf zwei. Der Mixer gab Gas, die Haken pflügten durch die Hackmischung.

Es hatte etwas Befreiendes. Kraft, in dem Mixer steckte jede Menge Kraft, dachte Karina, und das Wort hallte wie ein Echo in ihrem Kopf.

Sie stieß fest zu und entlockte dem Plastikgefäß ein nervöses Brummen. Aber da ging noch mehr. Stufe drei, volle Power. Die Maschine kreischte. Die herumwirbelnden Spiralen schleuderten Fleischfetzen über den Rand der bebenden Schüssel und sprenkelten die Küchenverkleidung und die weiter links stehende Mikrowelle mit blassroten Fetzen. Wow, was war das? Ihr war, als lupfte sich der Vorhang in ihrem Gehirn. Aber statt Zweifeln, Unsicherheit und Angst kroch darunter etwas komplett Unerwartetes hervor. Und es fühlte sich gut an.

Eine Hand packte sie am Oberarm. Karina zuckte zusammen. Gunnar stand in der Küchentür. Seine Jeans war noch immer offen, die losen Enden seines Gürtels baumelten zu beiden Seiten neben dem Hosenschlitz. An seinem Pullover klebten Chipskrümel. In der linken Hand hielt er die Fernbedienung und fuchtelte damit in der Luft herum.

Sie schaltete den Mixer ab.

»Sag mal, geht’s noch? Drehst du jetzt komplett durch?«, raunzte er. Seine Finger quetschten ihre Armmuskeln so fest zusammen, dass es wehtat. Er schleuderte ihr einen zornigen Blick entgegen, dann ließ er ihren Arm los, knallte die Küchentür zu und war schon wieder weg.

Karina nahm sich Zeit beim Braten der Frikadellen und vermied jedes unnötige Geräusch. Während die Buletten abkühlten, beseitigte sie den Schweinkram in der Küche, und als alles picobello war, verstaute sie die Bratlinge in einer Plastikbox im Kühlschrank. Lediglich der Handmixer mit den Knethaken lag noch auf der Arbeitsfläche. Sie hob ihn auf, das Gerät fühlte sich gut an in ihrer Hand. Kraftvoll. Sie betrachtete es von allen Seiten. An der Unterseite und den Spiralen hafteten getrocknete Hackreste. Sie zog einen der Metallhaken heraus, legte ihn beiseite, öffnete die Küchentür und trat mit dem Akkumixer in der Hand durch den Flur ins Wohnzimmer.

Der Fernseher lief noch immer. Der blonde Held war, o Wunder, irgendwie aus dem verfallenen Haus entkommen und brauste im offenen Geländewagen über eine weitläufige Wüstenlandschaft, begleitet von einer Frau im bauchfreien Tanktop auf dem Beifahrersitz und einem Schäferhund, der auf der Ladefläche stand und in den Fahrtwind hechelte.

Gunnar hing rücklings auf dem Sofa und schnarchte. Sein Mund war leicht geöffnet. Ein weißer Speichelfaden zog sich von der Ober- zur Unterlippe und zitterte, wenn er die Luft ausstieß. Die Bierflasche war ihm aus den Fingern geglitten, ein Rest Bier hatte einen feuchten Fleck auf seiner Jeans und dem Sofabezug hinterlassen. Es sah aus, als hätte er sich in die Hose gepisst.

Karina stellte sich vor ihn, packte den Handmixer mit beiden Händen. Sie schwenkte den einzelnen Knethaken vor Gunnis Gesicht, brachte ihn vor seinem geschlossenen rechten Auge in Position.

Diesmal schaltete sie gleich auf Stufe drei, das Gerät heulte auf.

Gunnar riss die Augen auf. »Was zur Hölle …«, konnte er noch sagen.

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2

»Na, wie sehe ich aus?« Der Mann im Spiegel schob den Knoten der anthrazitfarbenen Krawatte hoch in den Hemdkragen. Perfekt. Nicht der Hauch einer Falte.

»Du hast ein bisschen angesetzt. Um die Hüften.«

Mund und Augen des Gesichts oberhalb des Schlipses verzogen sich zu einem missmutigen Ausdruck. »Im Ernst?« Christoph fasste mit den Händen an die vermeintliche Problemzone, tastete unter dem Hemd allerdings nichts als dünne Haut über festen Muskeln. Er drehte sich herum. Eva saß im Bett und lächelte ihn an. Das Eva-Lächeln. Achtung! Höchste Ansteckungsgefahr!

Er trat vom Spiegel weg, setzte sich neben sie.

»Das sagt die Richtige.« Seine Hände fuhren unter die Bettdecke und streichelten über die pralle Rundung ihres Bauchs. Er spürte eine Bewegung. Ein winziges Körperteil knuffte von innen an seine Handfläche. »Die Kleine ist wach.«

»Eine Frühaufsteherin. Genau wie ihr Papa.«

»Ich liebe es, wenn du dieses Wort sagst.«

»Ich sage es, sooft du willst. Pa…«

Er beugte sich vor, küsste es von ihren Lippen. Sie erwiderte den Kuss. Er ließ sich neben sie auf das Laken sinken.

»Du kommst zu spät zur Verhandlung.« Eva löste ihren Mund von seinem. »Der große Showdown. Dein wichtigster Fall und so.«

»Lieber würde ich den ganzen Vormittag hier mit euch im Bett verbringen.«

»Du bist ein schlechter Lügner!« Eva schmunzelte, gab ihm einen weiteren Kuss. Und schob ihn von sich weg. »Los, zisch ab. Draußen wartet eine Welt, die gerettet werden muss.«

Er gehorchte, stellte sich neben das Bett, strich Hose und Hemd glatt, nahm die Anzugjacke vom Kleiderbügel und zog sie über. »Passt der Anzug? Sitzt die Krawatte?«

»Du hast eine halbe Stunde vor dem Spiegel gestanden. Du siehst blendend aus.«

Das war ungefähr die Antwort, die er sich vorgestellt hatte. Er verließ das Schlafzimmer, ging die Treppe hinunter. Im Flur lag Lucky, Evas Border Terrier, in einem kleinen Körbchen auf seiner heiß geliebten Schmusedecke und begrüßte ihn mit einem müden Augenaufschlag.

In der Küche erweckte Christoph den Kaffeevollautomaten aus dem Tiefschlaf, schaltete das Radio ein, aus dem der neueste Hit von Mark Forster dudelte, und trat mit seiner dampfenden Espressotasse an die Terrassentür. Ein Tag zum Umarmen. Der winzige Garten auf der anderen Seite der Glasscheibe erblühte unter den morgendlichen Sonnenstrahlen. Christoph lächelte in sich hinein. Für das kleine Beet neben der Terrasse, aus dem die Tulpen ihre bunten Köpfe reckten, wäre es der letzte Frühling. Schon bald würde es einem Sandkasten weichen müssen. Ein oder zwei Jahre später wäre die Zierpflaume an der hinteren Grundstücksgrenze dran. Dort war der perfekte Platz für eine Schaukel oder ein Klettergerüst.

Im Radio verstummte die Popballade, und der Moderator holte Luft.

»Vor dem Hamburger Landgericht geht heute der Prozess gegen Bogdan Draganescu in die entscheidende Phase«, verkündete die Stimme.

Christoph drehte den Kopf in Richtung der Lautsprecher, um besser hören zu können.

»Der Immobilieninvestor und Angehörige eines stadtbekannten Familienclans wird angeklagt, Anfang November letzten Jahres seinen Cousin Silvio im Keller eines unter Denkmalschutz stehenden Luftschutzbunkers erschossen zu haben.«

Drei Schüsse in den Kopf, fünf in die Brust, abgefeuert aus einer halbautomatischen Pistole, dachte Christoph. Ein Bogdan Draganescu machte keine halben Sachen. Der Mann im Radio ersparte den Hörern die blutigen Details.

»Der Beschuldigte hat die Tat in einer von seinem Anwalt verlesenen schriftlichen Erklärung eingeräumt«, ertönte es, und Christoph konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Tat war unstrittig. Bogdan hatte doppeltes Pech gehabt, denn eine Hamburger Zeitung hatte am Tag vor der Tat in einem umfangreichen Leitartikel über die aus Rumänien stammende Familie und deren undurchsichtiges Firmengeflecht berichtet. Mit einem Foto Bogdans auf der Titelseite. So hatte ihn eine Krankenschwester auf dem Weg zur Frühschicht erkannt, als er gerade aus dem Bunker geschlichen war. Nachdem die Leiche Silvio Draganescus am Vormittag aufgefunden und eine Meldung darüber im Radio gesendet worden war, hatte sie sich sofort bei der Polizei gemeldet. Der rumänische Unternehmer war kurz darauf verhaftet worden. Die Tatwaffe hatte er entsorgt, aber an seiner rechten Hand und seiner Kleidung hatten die Ermittler Schmauchspuren nachweisen können.

»Der Anwalt des Beschuldigten plädiert auf Schuldunfähigkeit«, klang es aus den Lautsprechern. »Ist Bogdan Draganescu ein eiskalter Mörder oder ein psychisch Kranker, der Hilfe und Behandlung benötigt? Ein psychiatrischer Sachverständiger wird dazu heute sein Gutachten erstatten.«

»Hey, du bist im Radio.« Eva trat neben ihn. Sie hatte sich einen Morgenmantel umgeworfen, unter dem sich ihr prächtiger Bauch wölbte. Sie hielt Lucky auf dem Arm und kraulte dem Hund den Nacken. »Willst du nicht frühstücken?«, fragte sie ihn.

Christoph schüttelte den Kopf. »Keinen Hunger.« Er leerte die Espressotasse, knallte sie auf die Anrichte. »Na denn. Auf in den Kampf.«

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Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Paragraf 20, Deutsches Strafgesetzbuch

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3

Christoph zählte drei Fernsehübertragungswagen, die dem Halteverbot zum Trotz auf der Straße vor dem Gerichtsgebäude parkten. Mindestens vier Kamerateams und unzählige einzelne mit einem Mikrofon oder einem Fotoapparat bewaffnete Männer und Frauen drängten sich auf der breiten Treppe, die zum Eingangsportal des Strafjustizgebäudes führte.

Er widerstand der Versuchung, zum wohl hundertsten Mal an seiner Kleidung herumzuzupfen, bezahlte den Taxifahrer, stieg aus dem Wagen und schritt auf die Reportermeute zu. Die Menge geriet augenblicklich in Bewegung. Fernsehkameras und Fotoapparate richteten sich auf ihn. Christoph schaffte die erste Treppenstufe, dann versperrte ihm ein Mikrofon mit blauer Windschutzkappe und dem Aufdruck eines Hamburger Radiosenders den Weg. Es gehörte zu einem hochgewachsenen Reporter mit Wuschelbart und kahl rasiertem Schädel. »Professor Kerber, ist der Angeklagte schuldfähig oder nicht?«

Eine gute Steilvorlage für eine unverfängliche Antwort. »Ich nehme als psychiatrischer Gutachter an dem Verfahren teil«, sagte er und nickte dem Bartträger zu. »Als solcher berate ich das Gericht. Ob die Richter meiner Einschätzung folgen, liegt allein in deren Ermessen.«

Zu dem Mikro vor seinem Gesicht gesellten sich drei weitere.

»Und wie lautet Ihre Einschätzung?«, fragte der Reporter.

»Die werde ich in Kürze mitteilen. Allerdings im Gerichtssaal. Nicht hier.«

»Entschuldigung.« Eine grauhaarige Frau im dunklen Blazer riss das spontane Interview an sich. »Erika Kastner, von der Hamburger Tageszeitung. Halten Sie es für möglich, dass der Angeklagte seine psychische Erkrankung lediglich vortäuscht, um einer Haftstrafe zu entgehen?«

»Wie gesagt, das Verfahren findet dort drin statt. Bitte entschuldigen Sie mich.« Er drängelte sich an den Mikrofonen vorbei Richtung Eingang.

Die Aufmerksamkeit der Reporter richtete sich auf die Straße vor dem Gebäude, auf der ein weiteres Taxi vorfuhr. Dem cremefarbenen Benz entstieg ein schlanker, hochgewachsener Mann mit glatt frisierten grauen Haaren. Sein schmales Gesicht und der dünne Schnurrbart hätten ihm die tragende Rolle in jedem Mafiafilm eingebracht – zumindest wenn Ansgar van Golderbloom, so der Name des Mannes, nicht bereits seine Bestimmung gefunden hätte. Die Medien bezeichneten ihn als einen der drei gewieftesten Strafverteidiger, die man in Deutschland für Geld – in seinem Fall sehr viel Geld – verpflichten konnte. Christoph hatte seine eigene Meinung zu van Golderbloom. Er hielt ihn schlicht für den Besten seiner Zunft.

In den bisherigen sieben Verhandlungstagen hatte der Anwalt sich mit nahezu jedem angelegt. Er hatte zwei der drei Berufsrichter und einen der Schöffen mit Befangenheitsanträgen eingedeckt, dem Oberstaatsanwalt eine wahlweise schlampige oder einseitige Ermittlungsführung vorgeworfen und mehrere Zeugen mit scharfen Fragen und Kommentaren an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. Seine Krawallstrategie war so durchschaubar wie effektiv, und Ansgar beherrschte sie meisterlich. Der Vorsitzende Richter Bromm, ein alter Hase, dessen tief liegende, von dunklen Ringen umränderte Augen bereits in jede Art menschlicher Abgründe geblickt zu haben schienen, hatte seine liebe Not gehabt, die Ordnung im Prozess aufrechtzuerhalten. Und dabei keine Fehler zu machen, die dem findigen Verteidiger einen Revisionsgrund boten für den Fall, dass das Urteil nicht das von ihm gewünschte Ergebnis erbrachte. Ansgar van Golderbloom war der Endgegner für jeden Prozessbeteiligten. Und er war der Mann, dem Christoph heute gewaltig in die Quere kommen würde.

Die Reporter drängten runter zur Straße, und Christoph nutzte die Gelegenheit, um unbehelligt die letzten Stufen der Treppe zu erklimmen. Oben angekommen wandte er sich zurück. Die Pressemeute scharte sich um den Anwalt, der unter dem Blitzlichtgewitter zu doppelter Körpergröße anzuwachsen schien. Als Verteidiger brauchte van Golderbloom sich mit seinen Äußerungen nicht zurückzuhalten und sprach bereitwillig in die Mikrofone. Seine Augen wanderten beim Reden über die Köpfe der Reporter hinweg und blieben an Christoph hängen. Der Anwalt sah ihn an wie ein Haifisch eine Makrele. Heute bist du dran, Kerber, sagte sein Blick. Christoph verzog keine Miene. Er nickte dem Strafverteidiger zu und wandte sich zur Tür.

[home]

4

Im Großen Verhandlungssaal des Landgerichts im zweiten Stock des Strafjustizgebäudes nahm der mächtige, mit dunklen Holzblenden verkleidete Richtertisch fast die gesamte Breite des Raums in Anspruch. Dort thronten die drei Berufsrichter in ihren schwarzen Roben, umrahmt von zwei Schöffen in Zivilkleidung. Ihr gemeinsamer Sitzbereich war durch eine Stufe im Boden um einen knappen halben Meter hochgesetzt und unterstrich allein dadurch, wer hier im Saal das letzte Wort hatte.

Der Zuschauerraum lag auf der gegenüberliegenden Raumseite, er war durch ein Geländer vom eigentlichen Gerichtssaal abgetrennt und nur über einen separaten Nebeneingang zu erreichen. Auf den kargen Holzbänken drängelten sich die Reporter. Etliche hatten keinen Sitzplatz abbekommen und quetschten sich in die Ecken.

Christoph saß an der Seite des Oberstaatsanwalts unter einer ausladenden Fensterfront an einem im Vergleich zum Richterpult deutlich bescheideneren Tischchen. Schräg gegenüber, neben der Eingangstür, hatten zwei Wachleute Platz genommen und schienen sich auf einen ereignislosen Vormittag einzustellen. Ihr Job war vorerst erledigt, nachdem sie den Angeklagten von der Untersuchungshaftanstalt in den Verhandlungssaal geleitet, ihn von den Hand- und Fußfesseln befreit und an den Tisch seines Strafverteidigers gesetzt hatten.

Dort hockte nun der Mann, an dem sich die Mühlen der Hamburger Justiz seit Wochen abarbeiteten.

Bogdan Draganescu hatte sich ordentlich herausgeputzt. Aber sein schwarzer Maßanzug, sein blütenweißes Designerhemd und die Seidenkrawatte konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mann nach monatelanger Untersuchungshaft und sieben Verhandlungstagen körperlich und seelisch am Ende war. Sein Gesicht war verquollen und blass, der Blick stumpf, er hing wie ein Sack über dem Tisch. In den ersten Prozesstagen hatte er unermüdlich mit einem Bleistift Notizen in einen Schreibblock gekritzelt. Ob er die Zeugenaussagen und Fragen von Gericht und Staatsanwalt festgehalten oder ohne Unterlass Strichmännchen gezeichnet hatte, blieb sein Geheimnis. Inzwischen schien seine Kraft kaum noch auszureichen, um den Kopf zu heben und Christoph misstrauische Blicke zuzuwerfen. Bogdans öffentlicher Ruf hatte nicht weniger gelitten als sein äußeres Erscheinungsbild. Selbst ein Ansgar van Golderbloom hatte nicht verhindern können, dass der ehemals stolze Unternehmer, Investor und Partylöwe in den Medien nur noch »Bogdan, der Bunkermörder« genannt wurde.

Der Anwalt hatte früh erkannt, dass kein Gericht der Welt seinen Mandanten aus Mangel an Beweisen freisprechen würde. So hatte er bereits am ersten Verhandlungstag eine Erklärung des Angeklagten verlesen, in der dieser die Tat faktisch einräumte, aus tiefstem Herzen bedauerte – und jegliche Verantwortung für sein Handeln abstritt.

Zum Mörder wurde man nicht allein durch die Tat, sondern durch die Gesinnung. Mordlust, Habgier, Heimtücke, sprich niedere Beweggründe, machten die willentliche Tötung eines Menschen zum Mord und veranlassten das Gericht, den Täter lebenslang wegzusperren.

Ansgar van Golderbloom kassierte von seinem Mandanten einen vermutlich sechsstelligen Betrag, um ebendies zu verhindern. Der findige Rechtsanwalt hatte in der Lebensgeschichte Bogdan Draganescus herumgegraben und etwas gefunden, worauf er seine gesamte Verteidigungsstrategie aufbaute: Eine psychische Störung, die, so sein Kalkül, aus dem kaltblütigen Bunkermörder einen psychiatrischen Patienten werden ließ. Jemanden, der nicht gewusst hatte, was er tat, als er die Waffe auf seinen Cousin Silvio gerichtet und achtmal abgedrückt hatte.

Die Strafgesetze sahen in so einem Fall die Möglichkeit einer erheblichen Strafmilderung oder sogar Straffreiheit vor. Statt als verurteilter Mörder lebenslang hinter Gittern zu verschwinden, würde Bogdan Draganescu im psychiatrischen Maßregelvollzug untergebracht. So lange, bis Gutachter und Richter ihm attestierten, dass von ihm keine Gefahr mehr ausging. Auch das konnten rasch einige Jahre werden. Aber diese Art der Unterbringung wäre in jedem Fall kürzer und komfortabler als lebenslanger Knast.

Die größte Hürde, die Ansgar van Golderbloom bei seinem Plan im Weg stand, war der vom Gericht bestellte psychiatrische Gutachter.

Christoph.

Der Vorsitzende Richter Bromm blickte durch die Reihen der Prozessbeteiligten. Seine Tränensäcke hatten im Verlauf der Verhandlung ebenso an Volumen zugenommen wie die Aktenordner, die vor ihm auf dem Richtertisch verteilt lagen. »Wenn keine weiteren Anträge vorgebracht werden …« Der Richter schaute in die Runde. Ansgar van Golderbloom, dem die Frage hauptsächlich galt, blieb stumm und blätterte durch seine Notizen.

»Dann kommen wir zur Erstattung des psychiatrischen Gutachtens. Professor Kerber?«

Bromm sah ihn aus der Tiefe seiner Augenhöhlen an, und Christoph verspürte ein aufgeregtes Kribbeln im Nacken. Gut so! Er kam auf Betriebstemperatur.

»Wie Ihnen bekannt ist«, sagte der Richter, »muss ich Sie gemäß Strafprozessordnung belehren, dass Sie als Sachverständiger Ihr Gutachten neutral und unabhängig und nach bestem Wissen und Gewissen zu erstatten haben.«

Christoph nickte. Bromm fragte ihn, wie es das Protokoll vorsah, nach seinem Namen, seinem Alter und seiner Berufsbezeichnung.

»Professor Doktor Christoph Kerber. Dreiundvierzig Jahre alt. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Zusatzbezeichnung Forensische Psychiatrie. Seit Kurzem tätig in eigener Gutachtenpraxis, vorher etliche Jahre Oberarzt im Forensischen Institut der Hamburger Uniklinik.«

»Moment!« Van Golderbloom sah von seinen Akten auf, hob die Hand. Seine typische Geste, mit der er ein ums andere Mal einen Befangenheitsantrag, eine nervenaufreibende Zeugenbefragung oder einen missmutigen Kommentar eingeleitet hatte.

Der Oberstaatsanwalt sog hörbar Luft durch die Nase, aber Richter Bromm verzog keine Miene. »Der Verteidiger hat eine Frage?«

Der Anwalt nickte, wandte sich an Christoph. »Herr Kerber, sind Sie Inhaber eines Lehrstuhls, oder worauf gründet sich Ihr Professorentitel?«, fragte er.

»Warum sollte das wichtig sein?« Oberstaatsanwalt Rieper war auf dem Posten und sprang Christoph bei. Der knurrige Ankläger hatte sich wiederholt mit der breiten Brust seiner zwanzigjährigen Berufserfahrung zwischen den kampfeslustigen Strafverteidiger und sein nächstes Opfer geworfen. Rieper bedachte den Anwalt mit einem betont lässigen Blick.

»Es geht natürlich um die Reputation des Sachverständigen«, sagte der. »Seine Stellungnahme wird maßgeblich den Ausgang des Verfahrens und damit die Zukunft meines Mandanten beeinflussen. Da sollten wir doch genau wissen, mit wem wir es zu tun haben.«

Nicht nur Christophs Augen wanderten zum Richtertisch. »Die Strafkammer kennt Professor Kerber aus diversen Strafprozessen«, sagte Bromm. »Wir hegen keinerlei Zweifel an seiner Fachkompetenz. Aber wenn es den Verteidiger beruhigt …« Er nickte Christoph zu.

»Ich bin im Fach Forensische Psychiatrie habilitiert«, sagte er. »Zum Thema freie Willensbildung bei psychiatrischen Erkrankungen. Der Professorentitel wurde mir von der Universität Hamburg außerplanmäßig verliehen.«

»Das heißt, Sie besetzen keinen regulären Lehrstuhl? Sind nicht Institutsdirektor oder Leiter eines Krankenhauses? Und waren es auch nie?«

Bogdan Draganescu hob seinen Kopf, und Christoph meinte, einen Hauch von Genugtuung in den dunklen Augen zu erkennen. Der Angeklagte zückte seinen Bleistift und kritzelte etwas in seinen Notizblock.

»Ich hatte einen Ruf als Professor für Forensische Psychiatrie an die Charité, als Leiter des dortigen Instituts«, sagte Christoph. »Ich habe abgelehnt. Aus persönlichen Gründen.« Jetzt musste er doch schlucken. Der persönliche Grund hatte einen Namen: Eva. Liebend gern wäre er nach Berlin gegangen. Aber sie hatte um keinen Preis der Welt aus Hamburg weggewollt. Weg von ihren Freunden, ihrer Familie. Sie hatten lange und heftig darüber gestritten, sogar eine räumliche Trennung hatte im Raum gestanden. Als Eva dann schwanger geworden war, hatte er schweren Herzens nachgegeben und die begehrte Professorenstelle sausen lassen.

Richter Bromm taxierte den Strafverteidiger mit einem ungeduldigen Blick. Der hatte offenbar genug. Vorerst. Dessen Mandant griff nach einem Bleistiftanspitzer und bearbeitete damit sein Schreibgerät.

Christoph nahm seine vorbereiteten Zettel zur Hand und legte los: »Wie Ihnen bekannt ist, hat der Beschuldigte es abgelehnt, sich von mir befragen und untersuchen zu lassen. Deswegen stützt sich mein Gutachten allein auf die mir vom Gericht zur Verfügung gestellten Unterlagen sowie meine persönlichen Eindrücke aus der Hauptverhandlung.«

Christoph optimierte seine Sitzposition, bevor er weitersprach. Über Bogdan Draganescus Lebensgeschichte war wenig Persönliches bekannt. Der Angeklagte hatte durch sein Schweigen vor Gericht maßgeblich dazu beigetragen, dass es so geblieben war. Richter und Staatsanwalt hatten aus Zeitungsberichten und Zeugenaussagen zusammengetragen, dass die Draganescus in dritter Generation in Deutschland lebten. Der Familienclan bestand je nach Zählart aus fünfundzwanzig bis vierzig Mitgliedern. Der vor Jahren verstorbene Gründungsvater Fiodor war in den Siebzigerjahren durch den Eisernen Vorhang von Rumänien nach Deutschland geflüchtet. Mitgenommen hatte er laut der Familienlegende lediglich eine Flasche selbst gebrannten Obstschnaps und seine vier Kinder: den ältesten Sohn Dragan, den zweitältesten Bogdan und dessen Zwillingsschwester Elena sowie den jüngsten Spross Pjotr. Etliche Verwandte waren im Verlauf der Jahrzehnte nachgeholt worden, mindestens ebenso viele in Deutschland zur Welt gekommen. Bogdan galt in der streng patriarchalischen Hierarchie als die Nummer zwei nach seinem Bruder Dragan. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Clan hinter der Fassade eines komplexen Firmengeflechts an allerlei schmutzigen Geschäften beteiligt war. Dies hatte der Oberstaatsanwalt wiederholt erwähnt und war jedes einzelne Mal noch im Ansatz dafür von van Golderbloom abgewatscht worden. Es gab schlicht keine Beweise für kriminelle Machenschaften im großen Stil.

»Für die Frage der Schuldfähigkeit von Belang sind zwei mutmaßliche Krankheitsepisoden des Beschuldigten«, sprach Christoph weiter, und damit kam er zum Kern seiner Ausführungen. »Allen Prozessbeteiligten liegen die Aussage und die schriftlichen Berichte des Psychiaters Dr. Beyer sowie ein dazugehöriger Klinikbericht vor. Demnach litt der Angeklagte mehrmals im Laufe seines Lebens unter innerer Unruhe, Schlafstörungen und Anzeichen eines Verfolgungswahns. Erstmals im Alter von circa neunzehn Jahren, nachdem seine Zwillingsschwester Elena tödlich verunglückt war, zuletzt vor etwa fünf Jahren. Laut Unterlagen fühlte er sich von ehemaligen Angehörigen der Securitate verfolgt und bedroht. Er wurde damals für drei Wochen auf der Privatstation einer psychiatrischen Klinik behandelt und nahm nach der Entlassung für weitere vier Monate das Neuroleptikum Olanzapin ein. Der behandelnde Krankenhausarzt äußerte in dem Bericht den Verdacht auf eine schizophrene Erkrankung, wies jedoch darauf hin, dass die starken Ängste des Patienten aufgrund dessen undurchsichtiger Geschäftsverbindungen einen realen Kern haben könnten.«

Christoph spürte van Golderblooms Blick, konnte der Versuchung nicht widerstehen und sah hoch. Tatsächlich saß der Verteidiger weit vorgebeugt auf seinem Stuhl, sah zu ihm herüber und lauerte offenbar auf ein unbedachtes Wort. Den Gefallen würde Christoph ihm nicht tun. »Das war ein nahezu wörtliches Zitat aus dem Entlassungsbericht«, schob er hinterher. »Blatt dreihundertsiebenundzwanzig der Akte.«

Van Golderbloom musterte ihn weiter stumm. Sein Mandant jagte den Bleistift über eine frische Seite des Schreibblocks.

Christoph senkte den Blick zurück auf seine Notizen. »Der Beschuldigte wurde am dritten November letzten Jahres verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. In der zweiten Woche klagte er gegenüber dem Gefängnisarzt über innere Unruhe, Schlafstörungen und Ängste. Er fühle sich von Mitgefangenen und dem Sicherheitspersonal bedroht, man wolle ihm an den Kragen, etwas sei gegen ihn im Gange. Der Gefängnispsychiater äußerte den Verdacht auf eine paranoide Psychose, verordnete erneut Olanzapin und wies den Angeklagten zur weiteren Behandlung und Beobachtung auf eine besonders gesicherte Station des Klinikums Nord ein. Dort gab Herr Draganescu gegenüber dem Stationsarzt an, bereits Wochen vor der Tat unter Unruhe und Ängsten gelitten zu haben.

Dies alles könnte den Verdacht erhärten, dass der Beschuldigte an einer psychotischen Störung erkrankt war, beispielsweise einer Schizophrenie, die mit Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Beeinflussungserleben und Denkstörungen einhergehen kann. Falls Herr Draganescu psychotisch gewesen wäre, als er auf seinen Cousin Silvio schoss, hätte dies mit großer Wahrscheinlichkeit Einfluss auf seine Schuldfähigkeit. Wenn er sich beispielsweise als Ziel einer Verschwörung erlebt und seinen Cousin als Kopf ebendieser Machenschaften verkannt hätte, dann hätte er sich in seinem subjektiven Erleben verzweifelt gegen einen gefährlichen Gegner gewehrt, der ihm an den Kragen wollte. Seine Realitätswahrnehmung wäre aufgehoben gewesen, er hätte keine Einsicht in das Unrecht seiner Tat gehabt und wäre in diesem Fall wegen einer krankhaften seelischen Störung schuldunfähig im Sinne des Paragrafen zwanzig des Strafgesetzbuches.«

Christoph hielt inne und blickte in die Runde.

Bogdan gönnte seinem Bleistift eine Verschnaufpause.

Ansgar van Golderbloom nickte zufrieden. Diese Sichtweise auf die Tat würde der Anwalt zu gern in der Urteilsschrift wiederfinden.

»Könnte, hätte, wäre«, sagte Richter Bromm. »Wie bewerten Sie die Sachverhalte, wenn Sie den ganzen Konjunktiv weglassen?«

»Ich schließe nicht aus, dass der Beschuldigte zweimal unter den beschriebenen Symptomen gelitten hat«, sagte Christoph, »sodass bei ihm zumindest der Verdacht auf eine wiederkehrende seelische Erkrankung besteht. Aber ich bezweifle, dass Herr Draganescu zum Zeitpunkt der Tat akut psychotisch war und seinen Geschäftspartner aufgrund von Wahnvorstellungen erschossen hat. Ich halte ihn für voll schuldfähig.«

Damit war die Katze aus dem Sack. Durch die Bänke des Zuschauerraums ging ein Raunen. Auf der Richterbank machte sich die beisitzende Richterin eifrig Notizen. Von direkt gegenüber richteten sich zwei Augenpaare auf Christoph. Das eine gehörte Ansgar van Golderbloom. Der Anwalt schürzte kampfeslustig die Lippen, ansonsten blieb seine Mimik unverändert. Aber in Bogdan Draganescus Kopf schien ein zusätzliches Stromaggregat angesprungen zu sein. Eines mit Hochspannung. Er starrte Christoph an. Und mehr als alle Analysen des Tatgeschehens und der vorliegenden Zeugenaussagen war es dieser Blick, der Christoph in seiner Einschätzung der Schuldfähigkeit bestätigte. So musste Bogdan sein Mordopfer angesehen haben, bevor er ihm die acht Kugeln in den Leib gejagt hatte. Purer Hass funkelte aus diesen Augen. Gut, dachte Christoph, dass Bogdan nach dem Verhandlungstag in der Untersuchungshaft und am Ende des Prozesses lebenslang im Gefängnis verschwinden würde.

Richter Bromm räusperte sich. »Worauf begründen sich Ihre Zweifel?«, fragte er.

»Auf einer ganzen Reihe von Tatumständen sowie diversen Zeugenaussagen«, sagte Christoph. »Die Handlungen des Beschuldigten am Tatort sprechen für ein hohes Maß an Planung. Statt ängstlich vor seinem Cousin davonzulaufen, hat er sich frühmorgens mit ihm verabredet. Nicht an einem öffentlichen Ort, an dem er sich vor ihm hätte sicher fühlen können, sondern in einem verlassenen Gebäude, in dem er sich unbeobachtet wähnte und wo eine geringe Entdeckungsgefahr bestand. Da er, so haben es Zeugen ausgesagt, üblicherweise keine Waffe bei sich trug, muss er sie an besagtem Morgen gezielt bei sich geführt haben.«

»Das spricht keinesfalls gegen eine wahnhafte Verkennung und Paranoia.« Van Golderbloom fing sich für die Zwischenbemerkung einen strafenden Blick des Vorsitzenden ein.

»Wo ist die Waffe geblieben?«, fragte Christoph in Richtung des Anwalts. »Als Herr Draganescu Stunden später verhaftet wurde, war sie verschwunden. Ein Mensch, der sich wahnhaft verfolgt und als Ziel einer mächtigen Verschwörung fühlt, würde sie eher nachladen und bei sich behalten, als sie verschwinden zu lassen.«

»Eine reine Mutmaßung«, sagte van Golderbloom.

Neben ihm ruckte der Beschuldigte hin und her. Es war offensichtlich, dass er sich in den beginnenden Schlagabtausch zwischen Anwalt und Gutachter gern einmischen würde. Und zwar nicht mit Worten. Er packte den Anspitzer, stieß den Bleistift hinein und drehte den Schreiber in der Öffnung herum.

»Mein Mandant hat sich zum Verbleib der Waffe nie geäußert. Das ist sein gutes Recht. Er könnte sie ebenso gut verloren haben. Sie jedoch unterstellen ihm Vorsatz. Weil Sie ihn vorverurteilen. Weil Sie …«

»Stopp!« Bromms Stimme donnerte vom Richtertisch herunter und brachte van Golderbloom zum Verstummen. »Ich bitte Sie eindringlich, nicht ständig dazwischenzureden. Der Gutachter wird seine Ausführungen zu Ende bringen. Anschließend werden Sie ausreichend Gelegenheit bekommen, Ihre Fragen und Kommentare loszuwerden.«

Der Anwalt nickte, aber seine Augen blieben auf Christoph gerichtet. Der Kampf hatte gerade erst begonnen, und van Golderbloom würde keinen Millimeter zurückweichen. Da konnte Bromm sich auf den Kopf stellen.

Christoph hielt dem Blick stand und sprach weiter. »Die drei Zeugen, die Ihren Mandanten in der Zeit zwischen der Tat und der Verhaftung getroffen haben, haben ihn als weitgehend unauffällig beschrieben. Keine ängstliche Anspannung, keine psychomotorische Unruhe. Keine übertriebene Vorsicht. Sie erlebten ihn so wie immer. Auch das spricht deutlich gegen eine akute Psychose.«

»Reine Spekulation«, sagte van Golderbloom. »Sie beschreiben die oberflächlichen Beobachtungen psychiatrischer Laien.«

Bromm saugte Luft ein für eine erneute Ermahnung. Aber Christoph war schneller. »Das ist auch nicht alles«, sagte er. »Der aufnehmende Arzt in der Untersuchungshaft beschrieb in seinem Aufnahmebefund einen etwas aufgebrachten, wütenden Mann. Er hat jedoch keinerlei Anzeichen für psychotisches Erleben dokumentiert. Am zweiten Tag der Unterbringung hat Herr Draganescu einen Brief an seinen Bruder Dragan geschrieben. Blatt einhundertdreiundsechzig der Akte. Er äußert sich darin klar und prägnant und erwähnt mit keinem Wort irgendwelches Wahnerleben.«

»In dem Brief bat er um frische Kleidung. Und darum, mich zu kontaktieren«, sagte van Golderbloom, ungeachtet des über ihm schnaubenden Richters. Ansonsten blieb Bromm stumm. Er schien sich allmählich mit dem offenen Schlagabtausch abzufinden.

»Was dann auch passierte«, sagte Christoph. »Am Tag nach Ihrem zweiten Zusammentreffen wandte sich der Angeklagte an den Gefängnisarzt und berichtete von innerer Unruhe, Angstzuständen und dem Gefühl, verfolgt zu werden. Der Arzt äußerte erstmalig den Verdacht auf eine Psychose. Da war die Tat bereits sechs Tage her.«

Diesmal hob van Golderbloom die Hand, statt einfach loszureden. Bromm erteilte ihm das Wort. »Sie stellen eine Verbindung her zwischen meinen Gesprächen mit dem Mandanten und dem Auftreten der Symptome, verstehe ich das richtig?«

»Der zeitliche Zusammenhang ist offensichtlich.«

»Und?«

»Und was?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Das ist für mich ein weiterer Hinweis gegen die Möglichkeit, dass der Angeklagte bereits am Tag der Tat schwer psychotisch war. Wenn es so gewesen wäre, wäre es jemandem aufgefallen.«

Bromm schaltete sich erneut ein. »Sie halten den Angeklagten also für voll schuldfähig, weil er zum Zeitpunkt der Tat im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Aber wie erklären Sie sich dann die geschilderten Symptome?«

»Ich schließe nicht aus, dass der Beschuldigte in den Tagen nach der Tat entsprechende Krankheitszeichen entwickelt haben könnte. In der Haft. Bedingt durch die Isolation, die aufkommende Resignation. Aber da war die Tat bereits geschehen.«

»Nein!« Van Golderbloom sprang von seinem Stuhl auf. Er hob die rechte Hand und zielte mit dem Zeigefinger auf Christoph. »Sie deuten an, ich hätte Herrn Draganescu beeinflusst, eine Krankheit zu simulieren, die es gar nicht gegeben hat. Das ist es, was Sie sagen. Das ist es, was Sie glauben.«

Christoph schüttelte den Kopf. Betont langsam. »Sie sagen das, Herr Verteidiger. Nicht ich.«

Der Anwalt drehte sich herum, senkte den Arm und blickte in die Runde der Prozessbeteiligten. »Bogdan und Silvio Draganescu waren miteinander verwandt. Sie standen sich nahe, mehr wie Brüder als wie Cousins. Welches Motiv hätte mein Mandant haben sollen, ihn zu ermorden.«

»Wie wäre es mit Erpressung?« Jetzt hielt es auch den Staatsanwalt nicht länger auf seinem Stuhl. »Es gibt klare Hinweise auf einen Konkurrenzkampf innerhalb der Großfamilie. Darauf deuten sichergestellte Textnachrichten und abgehörte Telefonate hin. Blatt fünfhundertdreiunddreißig und folgende der Akte. Silvio war unzufrieden mit seiner untergeordneten Stellung in der Clanhierarchie. Und drohte den Brüdern Dragan, Bogdan und Pjotr offen, schmutzige Familiengeheimnisse auszuplaudern, falls er nicht mehr Macht und Einfluss erhalten würde. Familiengeheimnisse, die sich dann auch prompt in dem Zeitungsbericht über den Angeklagten wiederfanden. Just am Tag vor Silvios Ermordung.«

Van Golderbloom lächelte, zeigte dabei zwei Reihen weißer Beißerchen. »Ein alter Hut. Lauter Mutmaßungen, die seit Monaten durch die Presse geistern. Und für die es nicht den Hauch eines Beweises gibt. Sie sehen in den Akten Hinweise auf Drohungen und Erpressung. Mit Verlaub, Herr Oberstaatsanwalt, ich denke, da geht Ihre Fantasie mit Ihnen durch. Ich erkenne in den E-Mails und Telefonmitschriften lediglich die Bitte Silvios an seine Cousins Bogdan und Dragan, mehr Verantwortung innerhalb der familieneigenen Firma übernehmen zu können. Er wollte sich stärker einbringen und verwies in diesem Zusammenhang auf seine hohe Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit.«

Der Anwalt packte sein Haifischlächeln wieder ein, setzte sich zurück auf seinen Stuhl. Der Oberstaatsanwalt folgte seinem Beispiel. »Außerdem wüsste ich es zu schätzen, wenn der Sachverständige auf meine Fragen antwortet. Und nicht Sie.« Er schwenkte den Blick vom Ankläger rüber zu Christoph.

Der zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht meine Aufgabe, über ein mögliches kriminelles Motiv zu spekulieren. Das liegt außerhalb meines Auftrags.«

»Machen Sie es sich da nicht zu leicht?«

»Überhaupt nicht. Was auch immer den Angeklagten in seinem Handeln geleitet hat: Es war nicht psychotisch motiviert. Nach meiner Einschätzung war Herr Draganescu zum Zeitpunkt der Tat in seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit nicht erheblich eingeschränkt. Er wusste, was er tat und warum. Und er hätte sich anders entscheiden können.«

Christoph atmete tief durch, der wichtigste Teil seiner Arbeit war erledigt, und soweit er das beurteilen konnte, hatte er sich ordentlich geschlagen. Van Golderbloom hatte sein Pulver verschossen und nichts erreicht außer Schall und Rauch. Christoph lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute in die Runde.

Die Richter blätterten in ihren Unterlagen, Oberstaatsanwalt Rieper hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und lächelte zufrieden. Das Ergebnis des Gutachtens war ganz im Sinne der Anklage ausgefallen.

Am gegenüberliegenden Tisch strich sich van Golderbloom mit der Hand über seinen Schnurrbart und überlegte offenbar, was er Christoph noch entgegensetzen konnte.

Neben ihm brodelte Bogdan Draganescu wie ein erwachender Vulkan. Aufschießende Wut schien seine Augen aus den Höhlen zu drücken. Wut, die nur ein Ziel kannte.

Christoph lief es kalt den Rücken herunter.

Unvermittelt sprang Bogdan auf, so schnell und heftig, dass er dabei seinen Stuhl nach hinten schleuderte. Mit zwei Riesenschritten war er um den Tisch herum. Van Golderbloom reagierte geistesgegenwärtig und schaffte es, seinen Mandanten an der Anzugjacke zu packen. »Bogdan, nein!«, schrie er. Als wollte er einen wütenden Kampfhund zurückrufen, der sich auf der Hundewiese über einen Zierpudel hermachen wollte. Weder der Griff noch die Worte hielten Bogdan auf. Er riss sich einfach los. Geschätzte zweihundert Pfund rasenden Zorns stürmten auf Christoph zu. Van Golderbloom schoss hoch, hastete um den Tisch herum und jagte seinem Mandanten hinterher.

Die Zeit schien sich zu dehnen. Christoph hörte panische Rufe aus dem Zuschauerraum. Er sah Richter Bromm, der sich in heller Aufregung von seinem Sitzplatz löste, und die beiden Wachleute, die auf Stühlen neben der Eingangstür des Gerichtssaals vor sich hin gedöst hatten und nun in die Gänge kamen. Allerdings viel zu langsam, um Bogdan zu stoppen. Oberstaatsanwalt Rieper zuckte zusammen, hob die Hände in die Höhe und streckte sie dem heranrasenden Mörder entgegen. »Halt!«, schrie er.

Christoph sprang vom Stuhl auf. Sein Herz pochte, und sein ganzer Körper fühlte sich an, als würde er in Flüssigeis getaucht. Bogdan hingegen schien zu glühen, ein gefährliches Rot pulsierte in seinem Gesicht. Er ballte die Hände zu Fäusten. Aus den geschlossenen Fingern der Rechten ragte ein spitzer Gegenstand heraus. Der Bleistift.

Der massige Kerl durchquerte mit zwei Riesenschritten den Raum und warf sich auf den Tisch, hinter dem Christoph stand. Ein mächtiger Arm mit riesiger Pranke und der Bleistiftspitze stießen auf ihn zu. Christoph wollte zum Schutz die Arme hochreißen, aber die gehorchten nicht, waren wie gelähmt, baumelten nutzlos an den Schultern. In letzter Not versuchte er, sich zumindest wegzudrehen, aber es war zu spät. Der Koloss von einem Mann rammte Christoph mit voller Wucht, und der Bleistift bohrte sich in seinen Hals.

Christoph flog nach hinten. Warmes Blut blubberte aus seinem Hals. Bogdan Draganescu hing über ihm. »Wir machen dich fertig!«, hörte er dessen raue Stimme an seinem Ohr. »Dich und deine Familie, hörst du?«

Dann wurde es schwarz.

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5

Selina kannte deutlich schlechtere Bars für ein erstes Date.

Diese hier setzte auf Lichteffekte. An den Decken und Wänden, an der Vorderseite des Tresens und hinter der Bar waren großflächige LED-Panels installiert, die den gesamten Raum in ein kosmisch blaues Licht tauchten. Die sphärische Musik aus unsichtbaren Lautsprechern unterstrich eine Art Weltraumatmosphäre. Sollte es je im großen Stil Touristenreisen ins All geben – dies hier wäre das passende Ambiente.

Voll war es nicht, dafür war es vielleicht noch zu früh am Abend. Die wenigen Gäste saßen an der Bar oder verloren sich an den kleinen, kreisrunden Tischen im Raum, von denen jeder auf einer eigenen, in den Boden integrierten Lichtinsel stand.

Sie erkannte den Mann, mit dem sie verabredet war, auf den ersten Blick. Auf der Datingplattform hatte er sich als Erik vorgestellt. Er war mittelgroß, um die vierzig, hatte kurze schwarze Haare, die sich Richtung Kopfmitte merklich ausdünnten. Er trug einen dunklen Anzug, der ihm nicht schlecht stand. Vor ihm auf dem Tresen lag eine einzelne weiße Rose neben einem schweren Whisky-Schwenker.

»Erik?«

Er drehte sich zu ihr und starrte sie an wie ein Mann, der bei einem Autoverleiher einen Golf gemietet hatte – und einen blitzroten Ferrari vor die Tür gestellt bekam.

Sie parierte den Blick. So lange, bis er offenbar genug gesehen hatte, sich von seinem Barhocker erhob und ihr die Hand gab.

»Ilhana?«, fragte er. Noch immer ungläubig, als rechnete er damit, dass sich alles als Missverständnis herausstellte und er seinen Hauptgewinn wieder rausrücken musste. »Du siehst unendlich viel besser aus als auf dem Foto. Wow!«

»Danke.« Selina lächelte, als hätte er ihr das Kompliment des Jahrhunderts gemacht. Sie setzte sich neben ihn, legte ihr Handy auf den Tresen und verstaute ihre Handtasche am Fuß des Barhockers.

»Also, Ilhana, was möchtest du trinken? Natürlich lade ich dich ein.«

Der Mann, der sich Erik nannte, würde heute Abend und heute Nacht viel von ihr bekommen. Sehr viel. Aber zumindest ihren wirklichen Namen würde sie für sich behalten.

Sie bestellte ein Glas Champagner, er einen weiteren Whisky.

»Schöne Bar«, sagte sie. Das Licht änderte den Farbton ins Blaugrüne, gleichzeitig nahm die tranige Loungemusik ein wenig Fahrt auf, wurde von einer launigen Synthesizermelodie aufgemischt.

»Ehrlich gesagt mag ich es hier nicht besonders.« Erik nippte an seinem Whisky, lächelte ihr zu. »Zu steril. Zu unecht.«

Genau wie unser Date, dachte sie. Aber das behielt sie natürlich für sich.

»Ich fand, das gehört dazu, zu so einem Arrangement. Eine hippe Bar im hippen Stadtteil. Aber vielleicht hätten wir uns einfach in einer Pizzeria treffen sollen.«

Seine Aufrichtigkeit machte ihn sympathisch. Nahbar.

Selina hob den Arm, streichelte ihm mit der Hand über den Nacken. »Wir müssen ja nicht ewig hierbleiben. Nur für ein paar Drinks.«

Er nickte. »Ich habe ein Hotelzimmer gebucht. Im Interconti. Mit dem Taxi ein Katzensprung von hier.«

»Fein.« Sie leerte die halbe Champagnerflöte.

»Ist vielleicht eine doofe Frage«, sagte er. »Aber machst du das schon lange? Ich meine … so eine Arbeit als …«

»Als Escort-Girl?«

Er nickte, schien erleichtert, dass sie das Wort für ihn aussprach.

»Also, Erik«, sagte sie, stützte sich mit dem Ellbogen auf den Bartresen. »Ich mach dir einen Vorschlag. Du stellst mir drei Fragen und ich dir. Immer abwechselnd, und wir versuchen, ehrlich darauf zu antworten. Wenn wir damit durch sind: keine weiteren Fragen zum Privatleben mehr. Zumindest nicht zu meinem. Okay?«

»Tolle Idee.« Erik grinste. »Ich habe die Erste ja schon gestellt.«

»Seit etwa drei Jahren«, sagte sie. »Seit ich studiere und die Wahl habe, mir entweder für einen miesen Stundenlohn in einem Café die Füße platt zu laufen und mich blöd anquatschen zu lassen. Oder von Zeit zu Zeit einen interessanten Abend mit einem netten Mann zu verbringen.«

Eriks Lächeln entspannte sich zusehends. »Und jetzt deine Frage«, sagte er.

»Kommst du hier aus Hamburg?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. »Ich lebe in Stuttgart, arbeite als Berater für einen Softwareentwickler und reise viel rum.«

Das Licht der allgegenwärtigen Leuchtflächen war im Sattgrünen angekommen, passend dazu mischte sich Vogelgezwitscher in die Musik.

Erik hatte ein sympathisches Gesicht. Er war kein zweiter Ryan Gosling, okay, aber die dunklen Augenbrauen, das kräftige Kinn mit Grübchen, der Dreitagebart und die schmale Nase verliehen ihm sogar einen markanten Zug.

Sie verriet ihm, dass sie Single war, Tochter einer Türkin und eines Deutschen. Ihr Studienfach: Anglistik und Amerikanistik. Ihr Alter, sechsundzwanzig, packte sie noch gratis drauf.

Er offenbarte, dass er verheiratet war und Vater zweier Kinder im Schulalter und dass er heimlich davon träumte, allein nach Nordamerika oder Südostasien auszuwandern und ein neues Leben zu beginnen. Wahlweise als Öko-Farmer, Tauchlehrer oder Hubschrauberpilot.

Damit hatten sie einen Strauß an möglichen Themen, und tatsächlich war Erik ein netter und unterhaltsamer Gesprächspartner.

Das Licht in der Bar wandelte sich allmählich über gelb zu rot, was die Beschallung mit pathetischem Trompetensound flankierte. Selina war nach ihrem zweiten Champagner auf Cola light umgestiegen, Erik auf alkoholfreies Bier.

Sie fasste sich an den Bauch.

»Ist dir nicht gut?«, fragte er.

Selina atmete schwer und verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht.« Sie stützte sich mit einer Hand auf den Tresen, presste sich die andere gegen die Stirn. »Mir ist etwas schummerig im Kopf.«

Erik sah sie besorgt an. »Willst du einen Schluck Wasser?«

»Eher frische Luft.«

»Gut. Dann nichts wie raus.« Er winkte den Barkeeper heran, drückte ihm drei Geldscheine in die Hand. Selina tastete nach ihrer Handtasche, griff ihr Mobiltelefon, hielt beides fest. Erik führte sie aus der Bar heraus.

Draußen war es kühl. Durch die fortgeschrittene Abenddämmerung geisterten unzählige Nachtschwärmer, die ihr auf einmal vorkamen wie Gespenster, wie Wesen einer anderen Welt, zu denen sie keine Verbindung mehr hatte. Erik zog sie zu einem dunklen Kombi, der in zweiter Reihe mit eingeschaltetem Warnblinker wartete.

»Das ist kein Taxi«, wollte sie sagen, aber aus ihrem Mund kam nur undeutliches Gestammel.

Erik öffnete die hintere Tür, schob sie auf die Rückbank. Auf dem Fahrersitz saß ein junger Mann mit schwarzen Locken. Er musterte sie mit unbewegter Miene, tippte dabei mit den Fingern ans Lenkrad. Erik setzte sich neben sie, zog die Tür zu. Der Wagen brauste los.

Selina hing mehr in ihrem Sitz, als dass sie saß. »Was ist mit mir?«, sagte sie, und obwohl die Worte wie matschiger Brei aus ihrem Mund fielen, schien Erik sie zu verstehen. Er lächelte sie an. Aber anders als in der Bar waren jede Freundlichkeit und der Hauch sympathischer Unsicherheit aus seinem Blick verschwunden. Er nahm ihr das Mobiltelefon aus der Hand, sah aufs Display, schaltete es aus und steckte es in die Innentasche seines Sakkos.

»Gamma-Hydroxybuttersäure.« Das komplizierte Wort ratterte durch ihren Verstand. »Liquid Ecstasy. Eine synthetische Droge. Durchsichtig, geruch- und geschmacklos. Ich habe sie in deine Cola gemischt, während du auf der Toilette warst.«

Er beugte sich zu ihr, umschlang sie mit dem linken Arm, die dazugehörige Hand landete auf ihrer Brust. Die Rechte schob sich zwischen ihre Beine. Er öffnete den Mund und leckte ihr mit seiner nassen Zunge erst über die Wange, dann über die Lippen. »Die nächsten Stunden gehörst du uns, Schätzchen. Aber ich kann dich trösten: Du wirst dich im Nachhinein an nichts von alledem erinnern.«

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6

Der Kombi hielt in einem verlassenen Hinterhof im Nirgendwo. Seine Frontscheinwerfer beleuchteten einen pompösen Geländewagen, der neben einem offenen Bauschutt-Container parkte. Die dunklen Mauern ringsherum konnten gut zu einem leer stehenden Fabrikgebäude gehören.

Eriks Finger hatten während der Fahrt nicht vor ihrer Kleidung haltgemacht und, so fühlte es sich an, überall an ihrem Körper ekelige Abdrücke hinterlassen. Jetzt ließ er endlich von ihr ab. Der schwarzlockige Fahrer stieg aus, öffnete die hintere Fahrzeugtür. Er war ein hagerer Mann, jünger als Erik. Er trug eine schlichte Jeans und ein Poloshirt.

»Raus mit dir«, sagte Erik und packte sie am Arm. Selina presste ihre Handtasche an sich, als könnte die sie vor irgendwas beschützen.

Sie zerrten sie durch eine angelehnte rostige Metalltür ins Innere des Gebäudes. Das Haus war eine abbruchreife Ruine, so viel war klar. Aber der Raum, in dem die Reise endete, war aufwendig hergerichtet. Die Wände waren frisch gestrichen, der Boden mit dunklem Linoleum ausgelegt, die schwere Zimmertür, die sich hinter ihr schloss und sie endgültig von der Außenwelt abschnitt, sah nahezu fabrikneu aus.

In jeder Zimmerecke stand ein Filmscheinwerfer auf je einem gut zwei Meter hohen Stativ. Ihre Lichtkegel waren auf eine Liege mit schwarzer Lederauflage und verstellbaren Kopf- und Fußstützen gerichtet, die Selina unangenehm an den Untersuchungsstuhl eines Frauenarztes erinnerte.

Neben der Tür war, ebenfalls auf einem Stativ, ein Camcorder aufgebaut. Alles schien vorbereitet für die große Show. Mit ihr als Hauptdarstellerin.