Töte, was du liebst - Christian Kraus - E-Book

Töte, was du liebst E-Book

Christian Kraus

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Beschreibung

Ein abgründiger Psychothriller über eine gespaltene Persönlichkeit und das Psychogramm einer gestörten Seele, geschrieben von dem forensischen Psychiater und Psychotherapeuten Christian Kraus. Ein Mörder geht um in Hamburg. Getrieben von einem alten Versprechen aus dunkler Vergangenheit, tötet er erst Katzen, dann Menschen. Als der junge Kommissar Alexander Pustin seine Stelle bei der Hamburger Mordkommission antritt, muss er schnell seinen ersten Fall aufklären: An der Elbe wurde ein Toter aufgefunden – Todesursache: ein Stich ins Herz. Die Gerichtsmedizinerin Luise Kellermann obduziert die Leiche, und Alexander fühlt sich sofort von der Ärztin angezogen. Doch Luise ist spröde und abweisend und lässt kaum Kontakte zu. So wehrt sie zunächst auch Alexanders Versuche ab, sie aus der Reserve zu locken. Ganz allmählich bricht er ihren Panzer aus Kälte und Abwehr auf – und wird mit der dunklen, ja sogar gefährlichen Seite der Ärztin konfrontiert. Wer ist Luise wirklich? Abgründig, verstörend und hochspannend – ein Psychothriller von einem Experten für gestörte Seelen.

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Christian Kraus

Töte, was du liebst

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Über dieses Buch

Als der junge Kommissar Alexander Pustin seine Stelle bei der Hamburger Mordkommission antritt, muss er schnell seinen ersten Fall aufklären: An der Elbe wurde ein Toter aufgefunden – Todursache: ein Stich ins Herz. Die Gerichtsmedizinerin Luise Kellermann obduziert die Leiche, und Alexander fühlt sich sofort von der Ärztin angezogen. Doch Luise ist spröde und abweisend und lässt kaum Kontakte zu. So wehrt sie zunächst auch Alexanders Versuche ab, sie aus der Reserve zu locken. Doch ganz allmählich bricht er ihren Panzer aus Kälte und Abwehr auf – und wird mit der dunklen, ja sogar gefährlichen Seite der Ärztin konfrontiert …

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. KapitelNachwort
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Für Merle.

Danke für die vielen Geschichten.

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1

Ihr Gesicht ist so schön. Sie trägt Lippenstift, ein tiefdunkles Rot. Ihre Haut ist blass und dünn wie Butterbrotpapier. Verletzlich.

Ein Jammer, dass Sie sie nicht sehen können.

Ich bin kein Dichter oder so. Aber bestimmt ahnen Sie, was ich meine. Wie ein dicker Tropfen Blut auf frischem Schnee.

Dabei war Luise immer eine graue Maus. Alexander, der Polizist, hat Farbe in ihr Leben gebracht.

Sie schläft schon eine ganze Weile. Von dem Theater hat sie gar nichts mitgekriegt. Vielleicht wecke ich sie nachher, wenn hier die Post abgeht. Wird ihr nicht gefallen, was dann passiert.

Ich habe oft denselben Albtraum, wissen Sie. Ich liege gefesselt auf einer Bahre, ein Kerl im weißen Kittel beugt sich über mich. Er hat eine Spritze in der Hand. Nicht so ein Fitzelding. Ein Riesenteil, mit einem Rohr von Nadel dran. Er haut es mir in den Schädel und spritzt mir was rein. Etwas Ätzendes, wie Salzsäure. Es löst mein Gehirn auf. Ich spüre, wie es mich langsam zersetzt.

Furchtbar!

Die Polizei ist hinter mir her. Die wollen mich töten. Nicht mit so einer Pferdespritze. Nein, ganz altmodisch, mit Pistolen und Revolvern. Sie wissen, dass ich Luise habe, und früher oder später werden sie hier aufkreuzen.

Ich bin gut vorbereitet. Wenn sie kommen, werden sie ihr blaues Wunder erleben.

Mich kriegen sie nicht. Zumindest nicht lebend. Und wenn es so weit ist, nehme ich Luise mit. Anders geht es nicht.

Das macht für Sie wahrscheinlich keinen Sinn, habe ich recht?

Ich glaube, es bleibt etwas Zeit. Genug, dass ich meine Geschichte für Sie aufschreibe.

Ich erwarte nicht, dass Sie mir vergeben, was ich getan habe und noch tun werde. Verständnis wäre gut. Ja, vielleicht ein wenig Verständnis.

 

Angefangen hat es vor zwei Wochen. Eigentlich viel früher, aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich hatte eine Gewohnheit. Ich ging nachts auf die Jagd. Oft war ich im Stadtpark unterwegs, gelegentlich in den kleineren Parks in den Randbezirken.

In dieser Nacht hatte ich mich für die Elbe entschieden.

Es hatte tagsüber geregnet, am Abend hatten sich die Wolken verzogen und den Blick auf die Sterne freigegeben. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Das ist gut für die Jagd. Nicht zu hell. Ich trug meinen schwarzen Kapuzenpulli. Die Ausrüstung befand sich gut verstaut im Rucksack auf meinem Rücken. Pistolenarmbrust, zehn Pfeile, Klappspaten und ein Filetiermesser. Das war eigentlich zum Schneiden von Fisch, hatte sich für meine Zwecke aber bewährt.

Der Strand unten an der Elbe war menschenleer. Kleine Wellen plätscherten ans flache Ufer. Schräg gegenüber, auf der anderen Flussseite, lagen die Docks von Blohm und Voss. Ihre Scheinwerfer schickten gelbe und weiße Finger aus Licht über den Fluss.

Der Sand war vom Regen feucht und schwer, und meine Turnschuhe hinterließen tiefe Abdrücke. Ich lief oben am Strand entlang, knapp unterhalb der Zone, wo der feine Kies in eine von Weiden, Buchen und Erlen überwucherte Uferböschung überging. Vor einer dicht gewachsenen Baumgruppe machte ich halt. Ich krabbelte unter dem Stamm einer auf Brusthöhe abgeknickten Buche hindurch und stand auf einer winzigen Lichtung, die durch üppige Zweige und Buschwerk vor neugierigen Blicken geschützt war.

Genau richtig.

Ich nahm den Rucksack von den Schultern und zog die Pistolenarmbrust samt Pfeilen heraus. Die kleine Kompositwaffe lag angenehm leicht in der Hand. Ich spannte den ersten Pfeil ein und lehnte mich gegen den umgestürzten Baumstamm.

Ich wartete. Und genoss, wie der Atem sich beruhigte und die Sinne sich schärften.

Ich hörte das Motorengeräusch der Autos, die auf der Elbchaussee oberhalb der Uferböschung entlangbrausten. Irgendwo bellte ein Hund. Eine Windböe strich durch die Bäume und ließ die Blätter flüstern. Die schwarz-weiße Welt gewann an Konturen. Große Steine, Baumwurzeln, weggeworfene Flaschen und Verpackungen erhoben sich aus dem dunklen Grau des Sandes.

Die Ruhe vor dem Töten war wunderbar. Ahnungen von Gefühlen tauchten in meinem Inneren auf. Sie würden sich bald verstärken, das wusste ich. Aber vorerst waren sie nicht mehr als blasse Schlieren an einem sternenklaren Himmel, die sich erst mit fortschreitender Nacht in schwarze Wolken verwandeln würden, die Sturm, Regen und Gewitter brachten.

Direkt vor mir flatterte etwas auf. Ich zuckte zurück. Ein riesiges Ungetüm brauste an meinem Gesicht vorbei, und um ein Haar hätte ich die Armbrust abgefeuert. Eine Möwe. Sie landete wenige Meter vor meinem Unterschlupf und stakste durch den Sand. Eine Pappschachtel schien ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben. Sie hackte mit dem Schnabel danach, verlor aber rasch das Interesse und hob wieder ab.

Der kurze Schreck verflog gemeinsam mit dem Vogel, und der trügerische Friede der Nacht kehrte zurück.

Eine Zeit lang passierte nichts. Dann huschte unten am Wasser ein Schatten über den Sand, hielt eine Sekunde inne und wechselte die Richtung. Der dunkle Fleck schlich den Strand hoch, genau auf mein Versteck zu.

Mein Herz klopfte. Eine erste schwache Welle des ersehnten Schmerzes pulsierte durch meinen Körper. Ich überprüfte die korrekte Lage des Pfeils und hob die Pistolenarmbrust.

Der Schatten kroch auf mich zu. Falls das ahnungslose Geschöpf meine Anwesenheit spürte, schien es sich nicht daran zu stören. Es kam näher. Noch ein paar Meter.

Auf diese Entfernung konnte ich es kaum verfehlen. Ich zielte, drückte ab. Der Pfeil sauste davon und fand sein Ziel. Er holte das Wesen von den Beinen und warf es auf die Seite.

Ich ließ die Armbrust neben den Rucksack fallen, hechtete über den Baumstamm und war mit zwei Schritten bei meiner Beute. Was ich sah und hörte, trieb mir die Tränen in die Augen.

Eine kleine Katze quiekte im Todeskampf. Der Pfeil hatte den Bauch des Tieres glatt durchbohrt, die Spitze ragte auf der anderen Seite wieder heraus. Das Kätzchen strampelte mit den Beinen und versuchte, sich wegzuziehen, aber die Pfeilspitze blieb im Sand stecken. Das hilflose Ding drehte sich um sich selbst und schmierte einen blutigen Kreis auf den Boden.

Eine Welle von Traurigkeit brach über mich herein und füllte die Leere in meinem Inneren. Dieser süße, dieser grausame, dieser bittere Schmerz. Ich ließ ihm freien Lauf. Dicke Tränen tropften auf den zuckenden Leib und benetzten das Fell der Katze.

»Pssst, ganz ruhig.« Ich streichelte dem Kätzchen über Kopf und Rücken. Das Fell war wunderbar weich. Ich nahm das Tier vorsichtig hoch, der Kopf schmiegte sich in die Innenfläche meiner Hand. Ich trug es zu meinem Versteck hinter den Bäumen.

Es gab noch einiges zu tun.

Die Katze wand sich. Ich legte sie in den feuchten Sand. Feine Zuckungen erfassten den kleinen Körper.

»Gleich hast du es geschafft.«

Ich musste mich beeilen, denn die Traurigkeit versiegte bereits.

Ich tätschelte sie weiter, die andere Hand tastete zum Rucksack. Für eine Schrecksekunde befürchtete ich, ich hätte vergessen, wonach ich suchte. Doch dann schlossen sich die Finger um das Filetiermesser.

Schnell jetzt!

Ich drehte die Katze auf den Rücken und setzte die Spitze des Messers an das samtige Fell zwischen den Vorderpfoten.

Ich zögerte. Wie jedes Mal, wenn es auf das Ende zulief, glaubte ich plötzlich, es nicht zu schaffen. Das blutige Ding wurde wieder zu einem süßen, pelzigen Tierchen, das hilflos in meiner Hand lag und sich seinem Schicksal in Gestalt seines schwarz gekleideten Jägers ergeben hatte. Das mich anschaute mit großen Augen, deren Blick mein Herz erweichte. Niemals würde ich es abstechen können. Es schlachten wie einen hässlichen, kalten Fisch. Niemals.

»Töte, was du liebst!« Ich flüsterte den Satz in die Dunkelheit. Er änderte alles. Er führte meine Hand.

Langsam drückte ich die Messerspitze in den Katzenleib. Sie versank in einem See von Blut, bohrte sich durch Fell und Fleisch, vorbei an den Knochen, und fand das Herz.

Ein letztes Beben, dann war es vorüber.

Die Katze war hin, und die Gewissheit darüber ließ meine Trauer und Tränen wieder aufleben.

Ich nahm mir Zeit. Ich weinte und streichelte das arme Kätzchen, bis die letzten Tränen versiegt waren. Der tote Körper wurde bereits steif.

Jetzt der Spaten.

Ich zog ihn aus dem Rucksack, richtete mich auf und begann zu graben. Der weiche Sand bereitete mir keine Schwierigkeiten.

»Hey, was ist da oben los?«

Vor Schreck ließ ich den Spaten fallen.

Ein Jogger trabte auf mein Versteck zu. Der schlanke Mann folgte einer zuckenden Lichtspur, die eine Stirnlampe auf den Strand schrieb.

Scheiße! Der sollte nicht hier sein.

Ich zog die Kapuze meines Pullovers weit ins Gesicht und schob den Rucksack auf den Kadaver. Die Hand mit dem Messer verbarg ich hinter dem Rücken.

Der Jogger stoppte vor dem umgestürzten Baum. Der Schein seiner Lampe bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp.

»Hallo! Was ist da los?«

»Ich habe was verloren. Heute Nachmittag. Jetzt suche ich danach.« Ich drehte mein Gesicht zur Seite, weg vom Licht. Der da durfte mich auf keinen Fall sehen.

»Was machen Sie da?« Die Stimme des Mannes klang sympathisch, eher besorgt als aggressiv.

Es gibt Menschen, die spüren, wenn Gefahr droht. Wenn es klüger ist, Sachen, die einem komisch vorkommen, zu ignorieren. Und sich zu verpissen.

Der hier gehörte nicht dazu. Der Mann bückte sich und schob sich unter dem Baumstamm durch.

Nein nein nein nein nein nein nein! Es geriet außer Kontrolle.

»Es ist alles in Ordnung«, brachte ich hervor, obwohl es sich anfühlte, als befänden sich meine Eingeweide im freien Fall. »Gehen Sie weiter.«

Bitte! Ich flehte in Gedanken, aber ich wusste, dass es zu spät war. Der Jogger hatte den Baumstamm überwunden, seine Lampe entweihte mein Versteck. An einer Seite des Rucksacks lugten die Vorderpfoten der toten Katze heraus. Der Sand ringsherum glänzte rot vor Blut.

»Was in Gottes Namen haben Sie hier angestellt?«

Bestimmt ist er nett, dachte ich, und eine wunderbare Ruhe legte sich auf meinen Geist. Beliebt bei Arbeitskollegen und Freunden. Wahrscheinlich hat er Familie. Eine liebe Frau, die sich um ihn sorgt und die nicht will, dass er nachts an der Elbe joggt. Ein Kind, vielleicht zwei, die morgen früh zu ihm ins Bett springen und mit ihm spielen wollen.

Der Jogger war mir sympathisch. Das machte es leichter, das Unvermeidliche zu tun. Töte, was du liebst!

»Sehen Sie mich an!«, sagte der Mann.

Ich tat es. Und erst jetzt, angesichts meiner vermummten Gestalt, des blutigen Sandes, des Klappspatens und des unter dem Rucksack versteckten toten Irgendwas, schien er die Gefahr zu realisieren.

Zu spät.

Er trat einen Schritt zurück, stieß mit der Hüfte gegen den Baumstamm.

Ich sprang ihm entgegen. Die Hand mit dem Messer wirbelte durch die Luft. Die schlanke Klinge blitzte im Strahl der LED-Lampe und versank in der Brust des Mannes.

Ein heiseres Röcheln, und das war’s. Der Jogger brach zusammen. Die Lampe rutschte ihm von der Stirn ins Gesicht und beleuchtete tote, vor Schreck aufgerissene Augen.

Ich fiel auf die Knie, betrachtete mein Werk und wartete, was passieren würde.

Es begann mit einem Zittern der Hände, das sich auf die Arme und von dort auf den Rest des Körpers ausbreitete. Der Schwall an Gefühlen traf mich wie ein Schlag. Eine Sekunde lang meinte ich, mich übergeben zu müssen, so mächtig drängte es heran. Ich keuchte, presste die Hände auf den Bauch. Ich unterdrückte einen Schrei, dann spritzten die Tränen aus den Drüsen. Ein Weinkrampf schüttelte mich, sekundenlang, minutenlang. Es schien kein Ende zu nehmen.

Himmel, war das krass. Niemals hätte ich gedacht, so heftig fühlen zu können.

Als es vorbei war, sah ich zwei Dinge mit großer Klarheit.

Erstens: Ich musste eine Menge Spuren beseitigen.

Und zweitens: Es würde mir schwerfallen, mich zukünftig auf das Jagen von Katzen zu beschränken.

 

So, jetzt wissen Sie, wie alles begonnen hat. Und da wir uns nun besser kennen, sollen Sie meinen Namen erfahren. Ich bin Rafael.

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2

Er heißt Pussy!« Der kräftige Mann trug ein Superman-T-Shirt und grölte, als hätte er den Witz des Jahrtausends gemacht. Eine Ladung Kaffee schwappte über den Rand der Tasse in seiner Hand und verpasste dem roten S auf gelbem Grund braune Sprenkel. Superman ließ sich davon nicht die Laune verderben. »Pussy! Wie geil ist das denn?«

»Pustin. Mein Name ist Alexander Pustin.« Die hilflose Empörung in Alexanders Stimme sorgte dafür, dass auch die beiden anderen Männer in das Gelächter einfielen.

Perfekter Start, dachte Alexander. Er spürte, wie die Schamesröte sein Gesicht in ein Leuchtsignal verwandelte. In eine rote Zielscheibe, die diese Arschlöcher zu weiterem Spott geradezu auffordern musste. Er konzentrierte sich darauf, Wut und Scham niederzuringen. Würde er jetzt wanken, das stand fest, könnte er auf der Türschwelle kehrtmachen und sich einen neuen Job suchen. Er presste die Lippen aufeinander und wartete, bis seine Kollegen sich beruhigt hatten.

»Ich will zu Karl Weber.«

»Bist der Neue.« Die Feststellung kam von einem grauhaarigen Mann mittleren Alters, der im Gegensatz zu den beiden anderen ein dunkles Sakko zu seinen Jeans trug. Sein Tonfall klang nicht unfreundlich.

»Willkommen im Club!« Der Dritte nickte ihm zu und bemühte sich um ein Lächeln. Ein kahl geschorener Kerl mit runder Brille. Ein Gesicht, das sich nicht zwischen hartem Hund und klugem Kopf entscheiden konnte.

Die drei Männer standen an einem Tisch, auf dem unzählige Fotos und Klebezettel wie Memorykarten verteilt lagen. Superman zückte ein Taschentuch und versuchte, den verschütteten Kaffee von den Unterlagen zu tupfen. Der Grauhaarige im Sakko wies wortlos auf eine Glastür und wandte sich wieder seinen Kollegen zu.

Alexander trat in einen engen Flur. Neben den Türen, die von beiden Seiten des Ganges abgingen, hingen großformatige Farbfotos. Sie zeigten Streifenwagen vor unterschiedlichen Hamburger Sehenswürdigkeiten: Michaeliskirche, Fernsehturm, Elbphilharmonie und Hamburger Dom mit Riesenrad.

Webers Bürotür lag zwischen der Köhlbrandbrücke, auf der das Polizeiauto wie ein kleiner blauer Fleck aussah, und dem Eingangsbereich des Flughafenterminals.

Alexander hob die Hand, um anzuklopfen. Ein heftiger Knall ließ ihn zurückzucken. Etwas Hartes musste von innen gegen das Türblatt geschlagen sein. Von der anderen Seite ertönte ein leises Stöhnen.

»Alles in Ordnung?« Alexander klopfte jetzt doch. Eine genervt klingende Stimme rief ihn herein.

Es war ein winziges Büro. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster stapelten sich Aktenordner neben benutzten Kaffeetassen. Die Vorhänge waren zugezogen, blassrote Staubfänger, deren bloßer Anblick die Nasenschleimhaut reizte.

»Hauptkommissar Weber?« Alexander hatte sich zuvor keine Gedanken gemacht, wie sein neuer Chef wohl aussehen würde. Darauf wäre er ohnehin nie gekommen.

Weber sah aus wie ein Mann, der für sein Körpergewicht einen halben Meter zu klein war. Mindestens. Wobei sich das überschüssige Gewicht unvorteilhaft rund um seine Körpermitte verteilte. Ein knitteriges Seidenhemd in zartem Rosa hing vorne und seitlich aus dem Bund einer braunen Cordhose heraus. Der Mann stand vornübergebeugt vor seinem Schreibtisch, hielt einen Golfschläger in Händen und führte dessen Kopf mit vorsichtigen Bewegungen an einen auf dem Teppich liegenden Ball heran.

Alexander wünschte sich eine Klappe im Boden, durch die er unbemerkt verschwinden konnte. »Wenn ich störe, kann ich gerne später …«

»Nein. Kommen Sie rein!« Weber sprach, ohne aufzublicken. »Schließen Sie die Tür! Sie sind der Neue, stimmt’s?«

»Ja, Herr Hauptkommissar. Mein Name ist Alexander … Pustin.« Er sprach seinen Nachnamen betont deutlich aus.

»Okay. Willkommen bei der Mordkommission. Passen Sie auf. Sie lernen gleich Ihre erste Lektion.« Weber klemmte sich den Golfschläger unter den Arm, hob zwei etwa gleich hohe Aktenstapel von seinem Tisch und stellte sie nebeneinander auf den Fußboden. Auf den einen Stapel legte er den Golfball, auf den zweiten kletterte er selbst hinauf.

Er nahm den Schläger, rollte mit den Schultern und probte weitere Male die Abschlagbewegung. »Wenn Sie mit etwas nicht weiterkommen«, sagte er, den Blick starr auf die weiße Kugel gerichtet, »verschaffen Sie sich eine neue Perspektive.«

Sein Blick wanderte zu dem neben der Tür aufgestellten Mülleimer, ein Haufen Golfbälle davor dokumentierte eine beachtliche Anzahl von Fehlversuchen.

Alexander trat einen Schritt zur Seite.

Weber knetete den Griff mit den Händen, kniff die Augen zusammen. »Jetzt kommt es darauf an«, flüsterte er. Er schien Alexanders Anwesenheit vergessen zu haben.

Er holte Schwung, der Schläger sauste herab. Der Schlägerkopf grub sich zwischen Ball und Aktendeckel. Im selben Augenblick geriet Webers Aktenturm in Schieflage. Der Hauptkommissar hielt das Gleichgewicht, aber er verriss den Schlag. Entgeistert schaute er dem Golfball hinterher, der in einer eleganten Parabelbahn am Mülleimer vorbei Richtung Waschbecken flog und in den darüber hängenden Spiegel krachte. Silberne Scherben lösten sich aus der Fassung und schepperten in das Keramikbecken. Der Golfball prallte zurück und plumpste mit einem dumpfen Knall in den Mülleimer.

Weber verzog den Mund, bedachte Spiegel, Waschbecken und Mülleimer mit einem betretenen Blick. »Erfolg und Niederlage liegen mitunter dicht beieinander, habe ich nicht recht?« Er räusperte sich, richtete sich auf und sah zum ersten Mal zu Alexander hoch.

»Nun denn.« Er stieg von seinem Aktenturm herunter und packte beide Stapel zurück auf den Schreibtisch. »Lektion Nummer zwei: Wenn Sie in meiner Abteilung Karriere machen wollen, behalten Sie bestimmte Dinge besser für sich.«

Der Chef der Mordkommission stellte seinen Golfschläger neben den Mülleimer. »Ein Lob Wedge. Geschenk meiner Frau zum Geburtstag. Sie meinte, ich bräuchte ein Hobby als Ausgleich. Egal, genug davon.« Die Konzentration wich aus seinem Gesicht, und zwischen grauen Bartstoppeln machte sich ein sympathisches Lächeln breit. »Bitte, nehmen Sie Platz!«

Alexander entspannte sich. Er griff sich einen abgewetzten Ledersessel und ließ sich hineinfallen. Weber setzte sich hinter seinen Schreibtisch, zog einen schmalen Aktenordner aus einer Schublade und schlug ihn auf.

»Also, Kommissar Pustin. Sie haben an der Göttinger Polizeiakademie gelernt. Abschluss mit Auszeichnung, Donnerwetter.« Er sah auf. »Sie haben vorher tatsächlich Jura studiert?«

»Drei Semester. So lange hat es gedauert, um zu merken, dass es das Falsche war.«

»Na ja.« Weber zwinkerte ihm zu. »Zum Glück haben Sie sich dann für einen anständigen Beruf entschieden.«

Er blätterte durch Alexanders Personalakte. »Zwei Jahre Kriminaldauerdienst als Kommissaranwärter und sechs Monate Drogendezernat. Alles in Göttingen. Was zieht Sie nach Hamburg, wenn ich fragen darf?«

Alexander zuckte mit den Schultern. »Ich bin in Hamburg aufgewachsen, habe hier Freunde und Familie. Und welcher Kripobeamte träumt nicht von der Mordkommission?«

Das kam offenbar an. Weber nickte und vertonte seine Zustimmung mit einem tiefen Brummen.

»Dieser … Zwischenfall mit dem Dealer hat nicht zufällig etwas mit Ihrem Versetzungswunsch zu tun?«

»Die Sache mit dem Dealer?« Alexander wäre beinahe aus dem Sessel hochgeschossen. Aber er beherrschte sich und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. »Das ist geklärt. Es war Notwehr.«

Weber betrachtete ihn mit ausdruckloser Miene, und Alexander fühlte sich aufgefordert, mehr zu dem Vorfall zu sagen.

»Ich war als verdeckter Ermittler eingesetzt. Der Typ hat mich angegriffen, und ich habe …«

»Schluss damit!«

»Wie bitte!«

»Sie erzählen Scheiße. Ich will das nicht hören. Das ist genau der Mist, der hier auch drinsteht.« Er wischte mit den Fingern über die aufgeschlagene Seite.

Alexander hatte das Gefühl, dass sich die Sitzfläche seines Stuhls in eine heiße Herdplatte verwandelte. »Was wollen Sie dann von mir wissen?«

Weber verdrehte die Augen und warf den Ordner auf seinen Schreibtisch. »Wie wäre es damit: Sie haben diesen Drogendealer observiert und beobachtet, wie er Partydrogen an Realschüler vertickt hat. Sie haben ihn ohne Rücksprache mit Ihrem Einsatzleiter an der nächsten Hausecke gestellt. Der Typ wollte stiften gehen. Sie haben ihn verfolgt, eingeholt und krankenhausreif geschlagen. So weit korrekt?«

Alexander schluckte. Der erste Tag bei der Mordkommission hatte mies begonnen. Jetzt sah es so aus, als wäre der Fehlstart mit den Kollegen da draußen noch der beste Teil des Tages gewesen. Woher zum Teufel wusste dieser Freak das alles?

Weber schien keine Antwort zu erwarten. »Eine Sache interessiert mich noch: Wie haben Sie das angestellt? Nehmen Sie’s nicht persönlich, aber Sie sehen aus, als müsste ich nur kräftig niesen, um Sie aus dem Zimmer zu befördern. Und dieser Dealer war ein geübter Schläger, über eins achtzig groß, fast zwei Zentner schwer. Haben Sie Superkräfte, von denen ich wissen sollte?«

Alexander schnaubte. Das erste Gespräch mit seinem neuen Chef hatte sich zum Verhör entwickelt. Wenn Weber ihn nicht bei der Mordkommission wollte, sollte er es einfach sagen, statt ihn dermaßen zu grillen.

»Kryptogene Ionenstrahlen.« Alexander drosselte seine Wut, heraus kam ein breites Grinsen. Er zählte die Sekunden, die Weber brauchte, um ihn rauszuschmeißen.

Der Hauptkommissar starrte ihn an, und Alexander konnte an Webers Gesicht ablesen, wie er im Geist unterschiedliche Erklärungsmodelle durchging: dreist, durchgeknallt, respektlos, tollkühn, mutig … Alexander entschied, das Schweigen zu brechen, bevor Weber sich festlegte.

»Also im Ernst. Ich war stinksauer. Meine Lieblingscousine ist an diesem Zeug fast zugrunde gegangen. Als ich diesen Typen vor der Schule gesehen habe, ist mir eine Sicherung durchgebrannt.« Die Geschichte streifte die Wahrheit bestenfalls, aber sie war besser als nichts.

Weber lachte so heftig, dass sich sein dicker Bauch unter der Tischplatte einklemmte. »Kryptogenes Dings.« Er befreite sich, schob seinen Stuhl zurück und lachte weiter. »Sie haben Nerven, Mann.«

Der Chef der Mordkommission setzte wieder eine ernste Miene auf. »Schwere Körperverletzung im Amt. Für fast jeden Kommissaranwärter wär’s das gewesen mit der Karriere. Ihr früherer Chef bei der Drogenfahndung, der übrigens ein guter Kumpel von mir ist, hält große Stücke auf Sie. Er und einige andere haben sich weit aus dem Fenster gelehnt, damit aus Ihnen noch ein gescheiter Polizist werden kann.«

»Verstehe.« Weber hatte ihn von Anfang an verarscht. Nein. Nicht verarscht. Getestet hatte er ihn, und Alexander hatte nicht das Gefühl, bestanden zu haben. Er gab sich keine Mühe zu verbergen, wie zerknirscht er darüber war. Immerhin: Das Gute war, dass er noch immer in diesem Büro saß.

Der Hauptkommissar sprang von seinem Stuhl auf, tapste um den Schreibtisch herum und klopfte dem Sitzenden auf die Schulter.

»Kopf hoch und an die Arbeit!«, sagte er. »Letzte Nacht wurde am Elbstrand ein Mann ermordet. Oberkommissar Tilman wird Sie in den Fall einführen. Und er hat gleich den ersten Auftrag für Sie. Als Mitarbeiter der Mordkommission.«

Alexander erhob sich, er fühlte sich benommen. »Und was sollte das?«, fragte er. »Warum haben Sie mich Sachen gefragt, die Sie ohnehin wissen?«

»Wenn Sie für mich arbeiten, müssen Sie sich zwei Dinge hinter die Ohren schreiben. Ungeschriebene Gesetze sozusagen.«

Alexander nickte. »Ich weiß. Um in Ihrer Abteilung Karriere zu machen …«

»Ach, vergessen Sie den Scheiß mit dem Spiegel. Nummer eins: Wenn Sie Privates und Dienstliches nicht trennen können, reden Sie mit Ihrem Chef. Mit dem hier.« Er schlug sich auf die speckige Brust. »Das ist keine Schande. Das trifft jeden irgendwann. Sie bekommen in meiner Kommission eine zweite Chance. Also verkacken Sie es nicht.«

»Ist klar. Und Nummer zwei?«

Weber sah ihn an und vollbrachte dabei das Kunststück, kompromisslose Strenge in einen Mantel aus Freundlichkeit zu hüllen. »Lügen Sie mich nie wieder an.«

[home]

3

Hier war die Pforte zum Reich der Toten. Und der bärtige Muskelprotz in der gläsernen Kanzel auf der anderen Seite der Tür war der Wächter.

Alexander hielt seinen Dienstausweis vor die Linse einer auf Augenhöhe angebrachten Kamera und sprach in eine rot umrandete Mikrofonöffnung.

»Guten Morgen. Ich bin Kommissar Pustin vom LKA. Es geht um den Toten vom Elbstrand.«

Der Wächter erhob sich von seinem Stuhl. Seine aufgepumpte Brust stellte die Knöpfe seines weißen Arbeitskittels vor eine kaum lösbare Aufgabe. Er musterte Alexander mit ausdrucklosem Gesicht, dann betätigte er einen Summer, und die Tür schwenkte auf.

Alexander betrat das Institut für Rechtsmedizin. In diesen Räumen wurden die Leichen all der Hamburger verwahrt und obduziert, deren Tod Fragen aufwarf. Als Kommissar der Mordkommission gehörte er jetzt zu denen, die Antworten liefern mussten.

Der Geruch von allerlei Chemikalien lag in der Luft. Er versuchte, nicht zu tief einzuatmen.

»Da entlang.« Der bärtige Wächter wies mit seiner Pranke auf einen Flur.

Alexander fand sich nach wenigen Schritten vor einer halb offenen Tür wieder. Durch den Spalt sah er eine junge Frau. Sie stand seitlich neben einem Schreibtisch vor dem geöffneten Fenster. Ein weißer Arztkittel hing über der Lehne des Schreibtischstuhls. Die Frau war auffallend schlank. Sie trug hautenge Jeans und ein dunkles T-Shirt.

Die Ärztin hatte ihn noch nicht bemerkt. Sie verharrte regungslos vor dem Fenster, ihr Blick verlor sich in dem wolkenverhangenen Himmel. Von der Seite sah er große Augen in einem schmalen Gesicht, von dem unter dem kräftigen Make-up nicht viel zu sehen war. Ihre halblangen tiefschwarzen Haare klebten ihr am Kopf und waren hinten straff zusammengebunden. Der gerade geschnittene, knapp über den Augen endenden Pony verstärkte den Eindruck, dass sie einen Helm aus Haaren trug statt einer Frisur.

Alexander hob die Hand, um zu klopfen. Aber etwas ließ ihn zögern.

Die Hände der Frau umschlossen ein Teeglas. Eine feine Dampfsäule stieg senkrecht daraus empor und wurde in Höhe des offenen Fensters zum Spielball des Luftzugs. Ein einzelner Sonnenstrahl fand seinen Weg durch die Wolken und das Fenster und brachte den Dampfwirbel zum Leuchten.

Die Ärztin schien es zu genießen, von der Welt für einige Augenblicke vergessen worden zu sein. Ein sanfter, verletzlicher Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Als traute sich eine zerbrechliche Seele aus ihrem Versteck, um für ein paar Sekunden die Sonne und die frische Luft zu kosten.

Ein magischer Moment, dachte Alexander. Er wagte kaum zu atmen. Jedes unüberlegte Geräusch, jede falsche Bewegung würde den Zauber zerstören, die unsichtbaren Bande zwischen ihm und der Frau zerschneiden. Ein warmer Schauer fuhr in seinen Körper.

Vor dem Fenster tauchte ein Schmetterling auf, seine Flügel glänzten im Sonnenlicht. Er flatterte zielstrebig herein, als würde er dem Licht wie einem Leitstrahl ins Zimmer folgen.

Für einen Augenblick verharrte das Tier im Flug, keine Armlänge von der Ärztin entfernt.

Und die packte schneller zu, als Alexander gucken konnte.

In der linken Hand hielt sie noch immer den dampfenden Tee, zwischen den Fingern der rechten Hand klemmte jetzt der Schmetterling. Sie hob ihn in Höhe ihres Gesichts. Er versuchte, weiter mit den Flügeln zu schlagen, aber der Befreiungsversuch war zum Scheitern verurteilt.

Alexander hielt den Atem an. Er meinte, den Druck am eigenen Leib zu spüren. Ein Hauch fester, und der Traum von Freiheit, jede Hoffnung auf Luft und Sonne, würde als braune Schmiere mit gebrochenen Fühlern und nutzlosen Flügeln an ihren Fingern kleben. Ein bisschen weniger, und der Falter könnte sich aus dem Griff befreien. Mit ein paar Flügelschlägen wäre er der Enge entkommen und frei.

Ein kaum merkliches Mienenspiel huschte über das Gesicht der Ärztin. Als würde sie ein stummes Zwiegespräch mit dem Schmetterling führen, in dem sie über dessen Schicksal und damit über den Ausgang des Dramas entschied.

Alexander war nicht sicher, ob sich der Gesichtsausdruck der Frau verfinsterte oder ihre Körperhaltung straffte. Aber er wusste, was sie gleich tun würde.

»Nein, bitte nicht!« Er sprach leise, mit sanfter Stimme. Die Ärztin zuckte zusammen. Sie schien erst jetzt den Falter zwischen ihren Fingern zu bemerken und ließ ihn sofort los. Das Tier flatterte zum Fenster hinaus.

Die Frau drehte sich zu ihm herum. Ihre Augen weiteten sich. Mit wenigen Schritten war sie an der Tür und starrte ihn an. »Was machen Sie hier?«

»Ich …« Alexander fiel nichts anderes ein als die Wahrheit. »Ich habe Sie beobachtet.«

Ihre eisige Stimme vertrieb den Rest des warmen Schauers. »Mich beobachtet? Wie lange?«

»Höchstens eine Minute. Ich hatte das Gefühl, dass …«

Die Tür sauste ihm entgegen und knallte zu. Der Schwung wehte ihm einen Luftzug ins Gesicht, der nach Kräutertee roch.

»Nein, Moment!«, rief er. Sein erster Impuls war, die Tür aufzustoßen, aber er besann sich eines Besseren und klopfte.

Er hörte, wie sie die Tasse abstellte und das Fenster schloss. Etwas raschelte. Schritte, dann schwang die Tür auf, und sie stand erneut vor ihm. Sie trug jetzt ihren Kittel, hatte ihn bis oben zugeknöpft.

»Also: Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Sie war einen halben Kopf kleiner als er und präsentierte ihm ein ausdrucksloses Gesicht. Die tatsächliche Größe ihrer Augen war schwer abzuschätzen, weil sie mit dunklem Kajalstift umrandet waren.

»Ich bin Kommissar Pustin vom LKA. Wir ermitteln im Fall des Toten am Elbstrand.«

Sie überließ es dem Namensschild auf ihrem Kittel, sich vorzustellen: Dr. Luise Kellermann, Fachärztin für Rechtsmedizin. »Kommen Sie mit!«, sagte sie.

Sie schritt voran, er folgte ihr in den Gang bis zu einer Tür.

Alexander zögerte. Vor seinem inneren Auge tat sich die Tür zu einem Sektionsraum auf. Er sah Messer, Sägen und Schüsseln und eine geöffnete Leiche, aus der die Ärztin blutige Organe herausschneiden und ihm unter die Nase halten würde. »Brauch ich einen Schutzkittel oder Handschuhe oder so?«

Die Ärztin zog einen Schlüsselbund aus ihrer Kitteltasche und öffnete. »Sie müssen nicht mitkommen, wenn Sie nicht wollen.«

»Wird schon gehen.«

Sie schob ihn hinein, das Licht ging automatisch an. Es war ein kleiner, fensterloser Raum, der mit Metallschrank, Multifunktionsdrucker, Aktenvernichter und einer Telefonanlage vollgestopft war.

Sie trat zu einem Ablagefach neben dem Drucker, blätterte durch einen Stapel loser Zettel und zog drei davon heraus.

»So, das war’s.«

Sie ging voran zurück in ihr Zimmer und wies ihm einen Platz vor dem Schreibtisch zu.

Der einzelne Sonnenstrahl hatte sich wieder hinter eine Wolke verzogen, und auch sonst war nichts mehr übrig von dem vorherigen Zauber. Auf der anderen Seite des Schreibtisches saß eine Ärztin, die komplett in ihrer Rolle verschwand.

Ihr Büro bot das dazu passende Bühnenbild aus Tisch, Schrank und Stühlen. Neben der Tür hing eine graue Sommerjacke an einem einsamen Haken. Sie war der einzige persönliche Gegenstand in diesem Raum.

»Ist ein klarer Fall aus unserer Sicht«, sagte die Gerichtsmedizinerin. Sie blätterte durch die Zettel. »Ein einzelner, sauberer Stich genau ins Herz. Eine dünne Klinge, höchstens anderthalb Zentimeter breit, mindestens zehn Zentimeter lang. Der Mann war innerhalb von Sekunden tot.«

Alexander war nicht nach Theater zumute. Er entschied sich für ein direktes Vorgehen. Was hatte er schon zu verlieren? »Hören Sie, Frau Doktor Kellermann. Das von vorhin tut mir leid. Ich wollte Ihnen gewiss nicht zu nahe treten. Bitte lachen Sie mich nicht aus, aber Ihr Anblick, wie Sie vor dem Fenster standen, hat mich irgendwie …«

Du redest dich um Kopf um Kragen, Idiot, dachte er. Und trotzdem. Diese tiefe Verbundenheit, die er gespürt hatte, konnte er sich nicht eingebildet haben. »Sie haben so verträumt ausgesehen, und ich wollte Sie nicht stören. Dann hatten Sie den Schmetterling in den Fingern. Ich habe befürchtet, Sie würden ihn …«

»Die Leiche wies keine sonstigen äußeren Verletzungen auf.« Sie sah nicht einmal zu ihm auf, als sie ihn unterbrach. »Keine Spuren eines Kampfes. Es ist nicht leicht, jemanden so zu töten. Das Opfer war ein großer Mann, kräftig und durchtrainiert. Schwer vorstellbar, dass der sich ohne Gegenwehr erstechen lässt.«

»Ein Treffer. Mitten ins Herz.« Alexander entdeckte noch etwas. Auf einem Stuhl in der Zimmerecke waren Fachzeitschriften aufgetürmt. Unter dem Stuhl hatte die Ärztin eine schwarze Umhängetasche deponiert, aus der eine Packung Tierfutter herausragte. Hund oder Katze, überlegte er. Aber eigentlich wusste er die Antwort.

»Hören Sie mir überhaupt zu?«, fragte sie mit strenger Stimme.

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.«

»Also, Kommissar … Wie war Ihr Name?«

»Pustin.« Er lächelte ihr zu. Genauso gut hätte er in einen Ziegelstein beißen können.

»Also, Kommissar Pustin, so wird das hier nichts.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Besser, Sie verschwinden. Ich bitte Hauptkommissar Weber, jemanden zu schicken, der sich auf den Mordfall konzentriert und nicht auf irgendwelche … romantischen Fantasien.« Die Ärztin verschränkte die Arme vor der Brust.

Heftiges Geschütz, aber er kaufte ihr die Vehemenz nicht ab. Im Gegenteil. Trotzdem fand er es klüger zurückzurudern.

»Schon gut.« Er hob beschwichtigend die Hände. »Natürlich interessiert mich der Fall. Was macht es so schwer, direkt das Herz zu treffen?«

Dr. Kellermann musterte ihn mit verkniffenem Blick, dann senkte sie die Arme und nahm erneut ihre Rolle ein. »Wenn der Täter die Klinge erstmal an die Brust geführt hat, muss die Waffe einen Weg durch die Rippen ins Herz finden. Nur so geht es mit einem einzelnen Stich. Oft wird die Klinge durch die Rippen abgelenkt oder sie prallt ab. Der Angriff muss blitzschnell erfolgt sein. Von jemandem, der entweder einen Zufallstreffer gelandet hat oder der genau wusste, wo und wie er zustechen muss.«

»Also Glückspilz oder Profi.«

»Sozusagen. Gibt es schon ein Motiv?«

Alexander schüttelte den Kopf. »Der Tote scheint der netteste Mensch Hamburgs gewesen zu sein. Wir wissen, dass er bei einer Krankenversicherung gearbeitet hat, im mittleren Management. Er war beliebt bei Kollegen und Vorgesetzten. Auch privat alles picobello. Sportverein, ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe. Frau, zwei kleine Kinder. Sie hat die Polizei informiert, nachdem er nicht vom Joggen zurückgekommen war. Das grenzt die Tatzeit enorm ein, das ist gut. Aber wir haben nicht den Hauch eines Motivs.«

»Ein Pechvogel, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.«

»Darauf läuft es hinaus. Die entscheidende Frage ist: Was war da los, mitten in der Nacht an der Elbe, was Grund genug war für einen Mord?«

»Sie werden es schon herausfinden.« Die Ärztin schob die Zettel über den Schreibtisch. Ihre Hände waren unerwartet kräftig. Ein Netz blauer Äderchen zeichnete sich als feines Muster unter einer Haut ab, die wie blasse Seide aussah. Hände zum Zupacken, aber bedeckt von einem Gewebe, das bei der leichtesten Berührung zu zerreißen drohte.

Alexander griff nach den Papieren, und eher aus Versehen berührten sich ihre Finger. Die Ärztin zuckte zurück, als hätte der Hautkontakt ihr einen Stromschlag versetzt. Die Unterlagen segelten über die Kante des Tisches.

»Entschuldigung.« Alexander tauchte ab, sammelte die Blätter vom Boden auf und kam wieder hoch. »War mein Fehler.«

Die Gerichtsmedizinerin saß ihm stocksteif und mit versteinertem Gesicht gegenüber.

»Tut mir ehrlich leid. Ich hätte nicht …«

Ihre Miene signalisierte ihm überdeutlich, was sie wollte. Eine Entschuldigung war es nicht.

»Okay«, sagte er. »Ich gehe dann mal.«

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4

Man sah dem Ort nicht an, dass hier ein Mensch ermordet worden war. Kein Blut, kein rotes Flatterband. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten, bevor sie abgezogen waren, ihre eigenen Spuren gründlich beseitigt. Wer weiß, dachte Alexander, vielleicht hatte sich in der Zwischenzeit ein Liebespaar zwischen den Bäumen vergnügt, oder ein paar jugendliche Schulschwänzer hatten dort einen Joint herumgehen lassen.

An Theorien, in was das Mordopfer versehentlich hineingeraten war, mangelte es nicht. Die Ideen reichten von einer Versammlung aggressiver Neonazis über ein geheimes Treffen der Russenmafia bis zu Junkies, die beim Konsumieren ihres Gifts gestört worden waren.

Überzeugend war das alles nicht. Und außer der Leiche, die der oder die Täter an Ort und Stelle verscharrt hatten, gab es keine Spuren.

Alexander kroch unter dem umgestürzten Baum, hinter dem die Leiche gelegen hatte, hindurch zurück ins Freie.

Das kühle Wetter und der wolkenverhangene Himmel lockten an diesem Nachmittag nur hartgesottene Spaziergänger an den Strand. Der Frühsommer fand in Hamburg dieses Jahr überwiegend im Kalender statt. Auf dem Wasser war immerhin mehr los. Ein mächtiges Containerschiff mit russischem Namen folgte einem im Vergleich winzig erscheinenden Lotsenboot die Elbe rauf zum Hafen.

Es gab in der Nähe zwei Strandzugänge, einer lag östlich, einer westlich des Tatortes. Beamte der Spurensicherung hatten in diesem Bereich jeden Pappbecher umgedreht und den Sand mit Metalldetektoren abgesucht. Sogar ein paar Taucher hatten sie zur Spurensuche ins Wasser gejagt, was angesichts der Strömung von vornherein wenig Aussicht auf Erfolg gehabt hatte.

Er wandte sich nach Osten, Richtung Stadt, und schlenderte los. Jemand, der wusste, wie man einen kräftigen Mann mit einem einzigen Messerstich töten konnte, würde seine Tatwaffe nicht im erstbesten Mülleimer entsorgen.

Er ließ den östlich gelegenen Strandaufgang hinter sich und stapfte drauflos, unschlüssig, worauf er speziell achten sollte.

Nach einigen Minuten wurde er langsamer, blieb schließlich stehen. So kam er nicht weiter.

Ein paar Schritte vor ihm ragte ein riesiger Stein aus dem Sand. Ein Findling, der vor Jahren bei Baggerarbeiten aus dem Fluss gefischt worden war. Die Hamburger hatten ihn aus irgendwelchen Gründen unter großem Medienrummel »Alter Schwede« getauft.

Alexander dachte an die Worte seines neuen Chefs. Vielleicht brauchte er einen Perspektivwechsel. Er kletterte an dem Stein hoch. Es war erheblich schwerer, als er gedacht hatte, aber nach mehreren Anläufen konnte er sich endlich auf die angeschrägte Oberseite ziehen und sich setzen.

Er schwitzte vor Anstrengung. Der Ausblick über den Strand und die jenseits der Elbe gelegene Werft hätte jedes Touristenherz höherschlagen lassen. Eine ältere Dame mit Hut und teuer aussehendem Mantel näherte sich dem Stein und schickte missbilligende Blicke in seine Richtung. Aber eine neue Erkenntnis stellte sich hier nicht ein.

Alexanders Mobiltelefon brummte. Karl Weber, war sein erster Gedanke. Sein Chef wunderte sich bestimmt, warum sich der Besuch in der Gerichtsmedizin so lange hinzog. Er könnte ihm gleich sagen, dass seine Lektion nichts taugte. Er zog das Handy aus der Jackentasche und sah aufs Display.

Es war nicht der Chef.

Er hob den Kopf, und in diesem Augenblick sah er es. Oben am Strand, direkt am Übergang zu einem mit Bäumen bewachsenen Grasstreifen, lagen eine Handvoll kürbisgroßer Findlinge. Die kleinen Geschwister des Schweden bildeten eine Art Steinkreis.

Es zog ihn dorthin. Wie üblich hörte er auf seine Intuition.

Er rutschte die Schräge hinunter und landete mit den Füßen im Sand. Fast wäre ihm das Telefon aus der Hand gefallen.

Er stapfte in Richtung der Steine, vorbei an einer Informationstafel. Er sah besser nicht drauf. Bestimmt stand dort geschrieben, dass das Klettern auf dem Findling streng verboten war.

Sein Mobiltelefon brummte weiter in der Hand und erzwang eine Entscheidung. Nicht ranzugehen würde das Unvermeidliche nur hinauszögern.

Er ging ran.

»Mutter«, sagte er.

Rita Pustin gab sich erkennbare Mühe, ihre Fürsorge, Besserwisserei und den ganzen Rest im Zaum zu halten. Übrig blieben die üblichen Mutterfragen, wie es ihm gehe, was die Arbeit mache und ob er sich in der neuen Wohnung wohlfühle.

Alexander hatte die Steinformation erreicht und betrachtete den Ort genauer. Die freie Stelle in der Mitte der Findlinge war mit kargem, zentimeterhohem Gras bewachsen. Auf dem Boden verlief eine dunkle Linie, die ein Viereck bildete, etwa so groß wie zwei Blatt Papier. Jemand musste ein Stück Gras samt Wurzeln herausgestochen und später wieder eingepasst haben.

Alexander klemmte das Telefon mit der Schulter ans Ohr. Zwischen ihren Fragen und seinen dürftigen Antworten streute Rita ein paar Informationen über sich und seinen Vater ein: Wochenendbesuch bei Tante Hilde, die sich leider die Hüfte gebrochen hatte. Fahrt zur Bundesgartenschau. Buchen einer Kreuzfahrt im Herbst. Es ging Richtung Mittelmeer.

Alexander kniete sich hin und bohrte beide Hände in die Ränder des Vierecks. Mit etwas Mühe konnte er die Sode anheben und zur Seite legen.

»Weißt du, welcher Tag übermorgen ist?« Die kurze Pause vor der Frage und ein unsicheres Vibrieren in der Stimme ließen ihn erahnen, dass Rita auf den eigentlichen Grund ihres Anrufs zu sprechen kam.

Alexander blickte auf lockeren Sand. Hatte er wirklich gehofft, hier die Tatwaffe zu finden?

»Nein!« Er nahm das Mobiltelefon zurück in die Hand, stocherte mit der anderen in dem Loch herum.

»Übermorgen ist Sarah-Sophies Geburtstag.«

Die Erwähnung des Namens bereitete ihm ein dumpfes Gefühl in der Brust.

»Wir fahren natürlich hin. Dein Vater möchte, dass du diesmal auch kommst. Es ist ihr Dreißigster.«

Als ob das einen Unterschied machte. Er presste die Lippen aufeinander, um sicherzugehen, dass seine Gedanken nicht aus ihm herausplatzten.

»Klar komm ich«, sagte er stattdessen.

»Das wird Vater freuen. Und mich auch.«

Seine Finger berührten etwas, das sich nicht wie Sand anfühlte. Eine weiche Masse, umgeben von einer pelzigen Haut. Ein muffiger Geruch kroch in seine Nase. Unwillkürlich zog er die Hand zurück. Auf dem Zeigefinger zuckte eine weiße Made.

Er musste aufstoßen, zum Glück nur Luft.

»Alexander, ist alles in Ordnung?«

»Ja, aber ich muss jetzt aufhören. Wir sehen uns in zwei Tagen.«

Er versenkte das Handy in seiner Hosentasche und bearbeitete seine Finger mit sauberem Sand, bis er sie wieder als Teil seines Körpers akzeptieren konnte. Er fand ein Stück Plastik und brauchte drei Anläufe, bis er seinen Ekel überwinden und das tote Ding freilegen konnte.

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5

Luise stieß die Tür auf und rauschte durch den Flur ins Wohnzimmer. Ihr Kater, der dösend vor der Couch lag, zuckte zusammen. Er presste den Oberkörper flach auf den Boden und spitzte die Ohren.

Ihre Jacke landete auf dem Teppich, die Tasche flog in hohem Bogen aufs Sofa. Die Packung Katzenfutter fiel heraus. Die trockenen Brocken in der Pappschachtel klackerten verheißungsvoll. Das Tier vergaß seinen Schreck, sauste heran und suchte an den Rändern der Verpackung nach einer Öffnung, durch die es einen Happen ergattern konnte.

Luise beachtete ihren Kater nicht weiter.

Sie stieß die Badezimmertür auf, hielt jedoch inne, kehrte in den Flur zurück. Dort verschloss sie die Wohnungstür und hakte die Sicherungskette in die Schiene. Im Wohnzimmer zog sie die Gardinen des einzigen Fensters zu, das dieses Zimmer mit der Außenwelt verband.

Der Kater hatte die Vergeblichkeit seiner Bemühungen eingesehen und maunzte Luise an.

»Jetzt nicht, Sami!« Sie trat mit dem Fuß nach der Futterpackung und kickte sie unters Sofa. Das Tier jagte der Packung hinterher.

Der Druck war nicht zu ertragen. Dieses Arschloch. Was bildete er sich ein.

Sie stürmte ins Bad, riss den Klodeckel hoch und beugte sich über die Schüssel. Es kam von selbst, kaum hatte sie den Zeigefinger Richtung Mund bewegt.

Sie würgte und spuckte, aber mehr als Tee und ein matschiger Rest der Banane, die sie zu Mittag gegessen hatte, kam nicht heraus.

Nicht genug.

Heimlich beobachtet hatte er sie. Sie verspottet und angemacht. Nach ihrer Hand gegriffen.

Sie hob eine Glaskaraffe vom Badezimmerschrank, füllte sie mit Wasser und stürzte die Flüssigkeit hinunter. Ihr Magen spannte sich. Sie trank weiter, bis es sich anfühlte, als würde ihr Bauch platzen. Sie presste ein paar letzte Schlucke hinterher, dann erbrach sie das Wasser als Schwall ins Klo.

Luise sank erschöpft auf die Badezimmerfliesen. Der Magen bockte einige Sekunden, beruhigte sich dann aber.

Sie spürte in sich hinein. Der Druck war weg.

Er hatte sie angefasst.

Sie hob die rechte Hand und meinte, die Berührung noch immer an den Fingern zu spüren. Zu sehen war natürlich nichts.

Luise richtete sich auf, kam erst auf die Knie, dann auf die Füße. Ihr Blick fiel auf den Badezimmerspiegel. Ihre Wasserspiele hatten das Make-up rund um den Mund verschmiert. Sie sah schnell wieder weg. Egal. Außer Sami würde sie heute Abend niemandem mehr unter die Augen treten. Und wenn sie nachher laufen ging, wäre es bereits dunkel.

Sie kannte die Leute von der Mordkommission aus unzähligen Einsätzen und Besprechungen. Alexander Pustin kannte sie nicht. Er musste neu sein.

Sie erinnerte sich, wie er vor ihr gestanden hatte. Schlaksiger Kerl, freches Gesicht. Hübsche Augen. Freundlich, dachte sie. Er hat mich mit freundlichen Augen angesehen.

Mit einem Handtuch tupfte sie sich ein paar Wasserspritzer vom Kinn. Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer und ließ sich neben ihre Umhängetasche aufs Sofa fallen. Sofort kam Sami angeschnurrt und forderte Streicheleinheiten.

Luise zögerte. Der Schmetterling. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie ihn gefangen und festgehalten hatte. Was wäre geschehen, wenn der Polizist sie nicht angesprochen hätte?

Freigelassen hätte sie ihn. Natürlich. Was denn sonst?

Sie zog ihren Kater zu sich heran, drückte ihn sanft an die Brust und schmiegte ihr Gesicht in das weiche Fell.

Eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus, sie überließ sich dem Gefühl, dämmerte dahin.

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6

Superman hatte sich über Nacht in Perry Rhodan verwandelt, aber abgesehen vom frischen T-Shirt schien Polizeihauptmeister Robert Kantig der Alte geblieben zu sein.

»Eine Katze«, sagte er und grinste, dass sich seine dicken Wangen fast vor die Augen schoben. »Die Spurensicherung kann sich nicht auch noch um verbuddelte Haustiere kümmern. Vielleicht hätte Pussy besser bei der Tierbeseitigung angeheuert.«

Jan Tilman trug das gleiche dunkle Sakko wie am Vortag. Er warf Alexander einen prüfenden Blick zu, der nicht schwer zu deuten war. Der Oberkommissar wollte sehen, ob Alexander sich behauptete. Er war der Neue, er musste sich seinen Platz in der Hackordnung erkämpfen. Dass Alexander als Kommissar rangmäßig über Kantig stand, machte seine Sprachlosigkeit umso beschämender.

Der Dritte im Bunde, Polizeiobermeister Stanislaw Kopinski, sprang ihm zu Hilfe. »Er heißt Alex. Was kann der Junge dafür, dass du mit deinen Testikeln denkst.« Der kahlköpfige Mann sprach langsam und betonte die Konsonanten am Wortanfang, als wollte er damit seinen polnischen Akzent wettmachen.

Tilman senkte den Blick. Alexander meinte, einen Anflug von Enttäuschung in dessen Gesicht zu erkennen. Chance verpasst. Kantig würde bei seinem Kosenamen bleiben, und für Kopinski war er nun »der Junge«. Nicht eben besser.

Die vier Polizisten saßen in dem Kabuff, das sich Kantig und Kopinski teilten. Ihre Schreibtische standen sich gegenüber, nur durch einen winzigen Spalt getrennt. Es war, als würde eine Mülldeponie an einen Zierrasen grenzen. Kopinski hatte mit Lineal, Locher und hochgestellten Ordnern eine Barriere gegen den andrängenden Saustall auf Kantigs Schreibtisch errichtet.

»Weber hat es abgesegnet«, sagte Alexander. »Möglich, dass die tote Katze etwas mit dem Mord zu tun hat.«

»Möglich, dass sich mein Schwanz heute Nacht in einen Grottenolm verwandelt.« Kantig kaute auf einem Bleistift herum. Er verzog das Gesicht und spuckte ein Stück roten Radiergummi in den Papierkorb zu seinen Füßen. »Kann sein, ist aber extrem unwahrscheinlich.«

»Wäre doch ein Segen für dich. Endlich wieder Leben in der Hose.« Kopinski blicke nicht hoch, während er sprach. Er saß an seinem Ende des Arbeitsplatzes und drückte mit den Zeigefingern etwas in seine Computertastatur.

»Genug jetzt.« Tilman schaute auf eine Wanduhr in der Form eines Polizeisterns, die schräg über der Zimmertür hing. Sie zeigte 8 Uhr 15. Die Zeit für die morgendliche Besprechung mit Karl Weber. »Jemand ’ne Ahnung, wo der Chef ist?«

Hatte niemand, aber wenig später klingelte das Telefon auf Kantigs Schreibtisch. Der stämmige Hauptmeister angelte den Hörer vom Gerät.

»Jupp.«

Er hörte zu. Nach kurzer Zeit klemmte er den Hörer zwischen Ohr und Schulter, griff einen Zettel und machte sich mit dem abgenagten Bleistift Notizen.

»Alles klar.« Das Gespräch war zu Ende. Kantig hielt den Zettel in die Höhe. »Sieht aus, als hätte Pussy mit der toten Katze einen Glückstreffer gelandet. Ich hab von Karl eine Liste mit Aufträgen.«