Niemandsreich - Anna-Birke Lindewind - E-Book

Niemandsreich E-Book

Anna-Birke Lindewind

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Beschreibung

Nirgendwo auf der Welt kommen die Sphären von Phantasie und Realität einander näher als im Harz. Um den Brocken ranken sich seit alters her Mythen und Legenden. Wo, wenn nicht hier, sollte es möglich sein, in eine Paralleldimension zu geraten, in der es von Magiern und Fabelwesen wimmelt? Willkommen in Niemandsreich! Aber Vorsicht, dieses Land riecht nach Ärger. Betreten auf eigene Gefahr! In einem Punkt sind sich die Geschwister Johanna (16), Konrad (14) und Fridolin (11) einig: Alice ist verrückt! Nicht nur, dass ihre neue Ferienbekanntschaft Geister mit dem Handy kontaktiert. Allen Ernstes behauptet sie, einer verschollenen magischen Welt im Harz auf der Spur zu sein. Dummerweise erweist sich die Spinnerei des Mädchens als längst nicht so abwegig wie es scheint, denn plötzlich finden sich die vier Helden in "Niemandsreich" wieder, einem irren Universum voller Hexen, Trolle und weiß der Geier was noch allem. Während Alice den Zauberer Obskurril begleitet, Fridolin sich zum dunklen Herrscher aufschwingt, Johanna Rebellenführerin wird und Konrad Schlagzeuger einer ziemlich schrägen Rockband, braut sich über ihren Köpfen eine tödliche Gefahr zusammen.

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comediantes

comediantes Verlag

für Lyrik und Belletristik des 21. Jahrhunderts

Niemandsreich

1. Auflage 2021

Lektorat & Korrektorat:

Uta und Wolfram Christ

Illustrationen & Covergestaltung:

Mele Brink

EPUB

ISBN 978-3-946691-29-7

eISBN 978-3-946691-29-7

www.comediantes.de

Inhalt

Prolog: Das Mädchen und der Tod

Kein Foto für Untote

Die Chroniken von Niemandsreich

… verliefen sich im Wald

Das Kind, das nie geboren wurde

Willkommen in der SonderBar

Die Bremer Stadtmusikanten

Die Macht der Krone

Das Königreich ohne König

Geburtstagsüberraschungen

Der Knabe im Moor

Betrüger und Betrogene

Blocksbergtreffen

Viele Boten

Die Räuberkönigin

Ein Kuss zum Dahinschmelzen

Brautflucht

Lügner und Verräter

Der Thronräuber von Niemandsreich

Teeparty zwischen den Welten

Rettet den Hexenkönig!

Im Banne der Finsternis

Lang lebe die Königin

Am Ende des Brunnens

Erklärung historischer und mythologischer Begriffe

Prolog

Das Mädchen und der Tod

Erschrocken stolperte die Kleine zurück, als ein Gesicht vom Grund des Sees zu ihr emporblickte. Ein Schatten, dunkler als die Nacht, schälte sich aus der Finsternis. Selbst das Mondlicht wurde vom Schwarz seines Mantels verschluckt. Er zog einen Stab und richtete die Spitze auf ihre Brust. Eine unsichtbare Klinge durchbohrte ihr Herz. Keuchend sank das Mädchen zu Boden, wand sich im Gras und blieb schließlich liegen. Der Fremde kauerte sich neben den Leichnam, nahm seine dunkle Brille ab und fuhr sich über die tränennassen Augen. Augen, so goldgelb wie die des toten Kindes.

„Vergib mir“, flüsterte er. „Ich wollte es nicht, aber du musst uns beschützen. Du musst das hier beschützen.“ Er legte die leblosen Finger um einen länglichen Gegenstand, küsste die Kleine auf die Stirn und schaute zum Himmel empor. Nur mit den Sinnen eines Zauberers ließ sich das Flackern wahrnehmen. Wie ein kaputter Bildschirm sah es aus, ein Blitz folgt, ein so grelles Aufleuchten, dass es sekundenlang blind machte. Dann lag der Harzwald wieder unverändert vor ihm. Fichten rauschten. Nebel trieb übers Wasser. Nicht einmal die Zeit selbst würde merken, was geschehen war. Zitternd erhob sich der Fremde und verschwand zurück in den See. In die Tiefe, wo ihn das Licht nicht fand.

Kein Foto für Untote

„Köpfen? Das muss man sich mal vorstellen. Köpfen! Fällt den Idioten nichts Spannenderes ein?“ Enttäuscht warf Fridolin seinen Comic weg. Er dehnte sich, streckte die Beine, so gut es auf der Rückbank ging, und gähnte. Johannas elfjähriger Bruder war grundsätzlich unzufrieden mit Geschichten, in denen niemand gekocht, gehäutet oder wenigstens zersägt wurde.

Das sei halt eine Phase, meinte ihre Mutter. Vielleicht auch eine Phase bei überforderten Alleinerziehenden, alles auf „Phasen“ zu schieben, dachte Johanna. Die Sechzehnjährige kannte zuverlässigere Mittel, um mit verwöhnten Jungs fertigzuwerden.

„Wer sich beschwert, muss Karte lesen.“ Sie warf einen Atlas auf die Rückbank und traf damit Konrad, ihren zweiten Bruder, der seit Stunden über den miesen Handyempfang jammerte.

„Hast du sie noch alle?“

„Armer Konrad. Hat Hanna dich beim Chatten mit deiner geliebten Franzi gestört?“ fragte Fridolin gehässig. „Die ist doch sooo süß.“

„Neidisch, weil du selber keine Freunde hast?“ Konrad zielte auf die letzte Fliege, die sein Mückenspray-Massaker überlebt hatte. „Zwei Wochen ungezieferverseuchte Pampa! Kein Handynetz, kein Bus und jetzt wirft meine Öko-Schwester mit Büchern um sich.“

„Schau lieber mal, ob du ein ‚Am Schwindeweg‘ findest“, schlug Johanna vor. „Muss südlich von Bad Harzburg liegen.“ Sie kurbelte die Fensterscheibe herunter. Ein Duft von frischer Erde und Wald strömte herein. Ihr Auto hatte längst den unappetitlichen Geruch jeder langen Urlaubsfahrt angenommen: abgestandene Luft, Sandwiches und Chemikalien, mit denen Konrad auf alles zielte, was einem Insekt ähnelte.

Genau wie ihr Bruder wäre sie lieber an einen Strand gefahren, nach Süden, wo es auch im Herbst noch warm war. Das hatte ihnen ihre Mutter schon seit Jahren versprochen. Stattdessen ging es in den Harz mit seinem dunklen Wald und dem Regen. Und nebenbei durfte sie die nächsten zwei Wochen auf ein verzogenes kleines Biest und einen miesepetrigen Vierzehnjährigen aufpassen. Es wäre das erste Mal, dass ihre Mutter während der Arbeit an einer Ausgrabungsstätte Zeit für ihre Kinder gefunden hätte. Johanna hatte sich daran gewöhnt. Anja Stahlbaum war eben eine leidenschaftliche Archäologin, die für ihre Arbeit fast alles opferte. Vor allem ihre Freizeit.

Johanna verstand sie durchaus, zumindest gab sie sich Mühe. Wenigstens eine in dieser Familie musste sich am Riemen reißen. Und immerhin konnte sie hier ein paar Fotos vom Nationalpark schießen. Die ließen sich für ein geplantes Umweltprojekt der Schülervertretung nutzen.

Hinter ihr blätterte Fridolin im Atlas.

„Am Schwindeweg“, wiederholte er die Adresse, nach der sie suchten. „Klingt nicht, als ob‘s gefunden werden will, oder?“ Er musterte die Wege, die sich zwischen Wäldern und Bergen hindurchschlängelten. Jeder dritte Ort hieß irgendwas mit „Hexe“ am Anfang. Hexenstieg, Hexenritt, Hexentanzplatz …

„Jedenfalls klingt‘s nicht, als ob ich es finden will.“ Unglücklich fuchtelte Konrad mit seiner Sprühflasche herum, um eine Mücke zu verscheuchen. „Luke dicht, Hanna, es zieht. Mann! Alles nur wegen ‘ner bekloppten Gruft, die meine archäologiebegeisterte Mutter …“ Weiter kam er nicht. Auf der Straße vor ihnen war etwas aufgetaucht. Etwas Großes.

„Vorsicht!“ Mehr vor Schreck als in irgendeiner Absicht packte Johanna ihre Mutter beim Arm. Frau Stahlbaum riss das Lenkrad herum. Äste brachen, Bremsen quietschten, Reifen schlitterten durch den Matsch. In ihrer Panik vergaß Johanna sogar, die Augen zu schließen. Endlich hielten sie.

„Oh Gott!“ murmelte sie. Das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie die eigene Stimme kaum hörte.

„Geht es euch gut?“ hauchte ihre Mutter, bebend vor Schreck. „Frido? Seid ihr …“ Sie ließ den Satz unbeendet. Selbst Konrad vergaß den lässigen Spruch, der ihm sonst bei jeder Gelegenheit auf der Zunge lag.

Vor ihrem Wagen stand jemand. Erst hatte Johanna es für ein Tier gehalten, doch es war ein Mädchen. Sieben oder acht, älter konnte es nicht sein. Ein zerschlissener grüner Mantel hing von seinen Schultern und ließ den abgemagerten Körper nur erahnen. Vollkommen reglos starrte sie ihr Auto an. Das Gesicht verbarg ein Vorhang aus verfilzten Haaren. Darunter glühten Augen … gelb? Johanna wischte ihre Brille sauber.

„Keine Sorge.“ Anja Stahlbaum zerrte hysterisch an ihrem Gurt. „Nur nicht die Nerven verlieren. Das ist …“

„… der Hammer!“ Fridolin zückte sein Handy. „Zombie im Harz angefahren. Das kommt auf Instagram.“

„Sag mal spinnst du?!“ Johanna wollte ihm das Gerät entreißen. Der Junge verpasste ihr einen schmerzhaften Hieb mit dem Ellenbogen.

„Lass mich! Ich will ein Foto.“ Er drückte auf den Auslöser, das gewohnte Geräusch erklang, ein Ladesymbol erschien, dann explodierte das Handy. Schwarzer Rauch breitete sich im Wagen aus.

„Scheiße!“ schrie Konrad.

Johanna hielt sich Mund und Nase zu.

„Verdammt, was war das jetzt?“ Es stank jämmerlich.

Hustend tastete ihre Mutter nach dem Türgriff.

„Ganz ruhig.“ Sie klang viel zu hektisch, um irgendjemanden zu beruhigen. „Wir müssen …“ Ein Blick auf die Straße ließ sie verstummen. Kein Mädchen. Nicht einmal Fußabdrücke. Als hätte es der Regen fortgespült.

„Was zur Hölle …“, flüsterte Johanna.

Fridolin saß wie erstarrt neben Konrad. Über seine Finger zogen sich Brandwunden, und seine Haare standen zu Berge wie bei einer Comicfigur, die in die Steckdose gefasst hatte.

Besorgt kümmerte sich ihre Mutter um das Desaster auf der Rückbank, während Johanna ausstieg und ins Dickicht rannte.

„He!“ Ihre Stimme verlor sich zwischen den Bäumen, verschluckt vom Schweigen des Waldes. Wie Nebel pirschte sich Stille von allen Seiten heran, hüllte sie ein, bis sie kaum noch den eigenen Herzschlag hörte. Dunst und Schatten mischten sich zwischen den Stämmen zu einem undurchdringlichen Grau und ließen kaum die Straße erkennen. Nichts. Weit und breit keine lebende Seele.

„Au! Mama, das tut weh!“ Fridolin wusste, wie man Aufmerksamkeit ausnutzte. Mit allen verbliebenen Keksen lag er auf der Rückbank und ließ sich von seiner Mutter die verbrannten Finger verarzten. „Bestimmt kann ich meine Hände nie wieder benutzen“, jammerte er theatralisch. „Und Konrad wollte mir nicht mal sein Handy leihen. Kannst du‘s ihm nicht wegnehmen?“

„Kleine Kröte!“ Grimmig biss Konrad vom durchweichten Käsebrot ab, dem letzten, das sein Bruder übriggelassen hatte.

Johanna untersuchte Fridolins verschmortes Telefon. Die Hülle sah aus, als hätte sie jemand auf einer heißen Herdplatte gebraten. Konnte ein technischer Defekt solchen Schaden anrichten? Irgendwo hatte sie mal von explodierenden Batterien gelesen. Aber dann müssten Fridolins Hände wesentlich schlimmer aussehen, oder? Kaltes Unbehagen sickerte in ihr Herz.

Schwachsinn. Glaubst du jetzt auch schon an Zombies? Besser, du machst dir Sorgen um das Mädchen.

Tolle Ablenkung. Johanna richtete sich auf. Sie machte sich wirklich Sorgen. Natürlich. Es gab nichts, worin sie besser war. Ihre Geschwister, die Umwelt, eine kranke Nachbarin … Vielleicht wurde man so, wenn man keinen Vater mehr hatte und eine Mutter, die sich in mittelalterlichen Klosterbibliotheken besser zurechtfand als in ihrer eigenen Küche.

„Geht wenigstens das Auto?“ fragte sie, um zumindest irgendwas zu sagen und nicht nur herumzusitzen. Die Frage ihrer Tochter holte Anja Stahlbaum aus ihrer Lethargie. Sie streichelte ihrem Jüngsten liebevoll übers Haar, kletterte wieder nach vorn, schob sich hinters Lenkrad und drehte den Zündschlüssel. Mehr als ein Wimmern brachte der Motor nicht zustande. Na fein!

„Bestimmt auch der Zombie“, vermutete Fridolin. „In einer Serie haben die mal einen Laster lahmgelegt. Dann haben sie dem Fahrer die Arme ausgerissen und …“

„Danke. Ich möchte gar nicht wissen, wie kleine Jungs an solche Filme rankommen.“ Johanna warf ihrem Bruder einen vernichtenden Blick zu. Jeder wusste, dass die Nervensäge regelmäßig DVDs aus der Schulbücherei mitgehen ließ. Seit ihrer Wahl zur Schülersprecherin wartete Johanna nur auf die passende Gelegenheit, ihn auf frischer Tat zu ertappen und zu lebenslänglichem Mülldienst zu verdonnern.

„Also wenn ich ein Zombie wäre, würde ich noch mal zurückkommen“, fuhr Fridolin fort, indem er nach dem letzten Keks griff und extra langsam abbiss, um Konrads wütendes Gesicht zu genießen. „Ich würde Verstärkung holen und warten, bis es dämmert. Wenn sie dann mit ihren schimmligen Fingernägeln an unserer Autoscheibe kratzen …“

„Frido!“ Selbst Frau Stahlbaum hatte allmählich genug. „Also ich ruf jetzt in der Burg an, wo wir hinmüssen. Vielleicht können die jemanden vorbeischicken, der uns hilft. Wenn nicht, brauchen wir den ADAC.“

„Und das Mädchen?“ fragte Johanna. „Sollten wir nicht lieber die Polizei rufen? Ich meine, sie ist alleine. Im Wald. Vielleicht verletzt.“

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern.

„Polizei? Wegen einem Nebelschwaden? Einer Fata Morgana? Die machen glatt einen Alkoholtest mit mir.“ Sie stieg aus und entfernte sich ein Stück vom Wagen, um in Ruhe telefonieren zu können.

„Toll“, knurrte Konrad. „Echter Kack-Urlaub.“

„Jetzt halt mal den Rand.“ Johanna warf ihm zur Versöhnung eine Lakritzschnecke zu. „Kann ja keiner was für die Panne. Mama am wenigsten. Sei froh, dass sie überhaupt ‘nen Job hat.“

„Ja, voll cool.“ Konrad spuckte einen Käfer ins Gras, der auf seine Lakritzschnecke gekrabbelt war. „Herbstferien in Schloss Baufälligstein. Haben die da, wo wir hinfahren, überhaupt Klos oder müssen wir in den Wald gehen?“

„Ja, ohne Klo ist Kack-Urlaub echt scheiße“, grinste Fridolin.

Johanna verdrehte die Augen.

„Jetzt tut nicht so, als hätte Mama euch zu Graf Dracula verschleppt. Das ist ‘ne ganz normale Burg mit Toiletten, Gästezimmer, Souvenirshop und so, glaub ich jedenfalls.“

„Wenn du schon anfängst zu glauben“, brummte Konrad.

Hinter ihnen war Geraschel zu hören. Frau Stahlbaum zog den Ast von der Straße, den sie bei ihrem Bremsmanöver abgerissen hatte, und warf ihn in den Wald.

„Hab wen erreicht“, verkündete sie. „Frank Stein holt uns gleich mit dem Auto ab.“

„Frank Stein?“ Johanna und Konrad wechselten vielsagende Blicke.

„Ein Nebelschwaden, der Autos lahmlegt?“ Kopfschüttelnd stieg Herr Stein, der Hausmeister von Burg Schwindeweg, in seinen Wagen. „Die Leute werden immer verrückter, was Alice?“

Seine Nichte antwortete nicht. Sie saß auf der Rückbank und wickelte nachdenklich eine Kette aus aufgefädelten Barbieköpfen um ihre Hand.

„Und wenn es wirklich ein Geist war?“ überlegte sie. „So wie die Frau am Telefon es beschrieben hat …“

„Ach Alice!“

„Was denn?“ fragte die Achtjährige. „Ich habe dir doch von dem Pommes-frites-Geist erzählt. Der aus dem Schnellrestaurant in Schierke. Du weißt, er ist sehr zornig, weil er damals in der Fritteuse ertrunken ist.“

„Ja, Pommes vegetarisch ist wohl was andres.“ Der verbeulte Lieferwagen gab ein Dröhnen von sich.

„Das ist nicht lustig. Er ist todunglücklich.“ Seufzend beobachtete Alice die Schatten des Astwerks dabei, wie sie über die Polster huschten. „Aber ich dachte wirklich, er hätte es überwunden, als ich ihn das letzte Mal besucht habe. Wir hatten ein gutes Gespräch. Er war fast schon bereit, ins Jenseits zurückzukehren.“

„Seelen sind nicht so leicht zu reparieren wie die alte Streckbank bei uns im Museum“, antwortete ihr Onkel. „Aber ich denke wirklich, du machst dir umsonst Sorgen. Die meisten Augen sind zu blind, um einen Geist von einer Gardine zu unterscheiden. Wenn du mich fragst, ist unserer Archäologin ein Hirsch vors Auto gelaufen.“

Alice nickte. Ganz beruhigen konnte sie die Erklärung ihres Onkels nicht.

„Ich spüre schon seit Langem eine Veränderung“, meinte sie. „Seit du auf die Gruft gestoßen bist. Die Sphären sind in Schwingung. Ich denke, es kehrt zurück.“

„Dein magisches Land?“ Ihr Onkel seufzte. „Ach Alice, du weißt, ich lege größtes Vertrauen in deine Fähigkeiten, aber wir leben in dieser Welt. Tu mir den Gefallen und versuch die nächsten zwei Wochen mal von etwas anderem als von fremden Dimensionen zu reden, ja?“

„Wenn die Dimensionen es zulassen.“ Sie musterte den Wald. Runzlige Stämme, zwischen denen die Nacht zu wohnen schien, und dahinter … Wer wusste schon, was dahinter lag?

„Sie sind also dieser Herr …“

„Stein.“ Der Mann gab Frau Stahlbaum die Hand. „Frank Stein. Halte Burg Schwindeweg instand, aber das wissen Sie ja aus den Unterlagen. Vor allen Dingen kümmere ich mich um die Folterinstrumente in der Ausstellung. Die sind empfindlich. Muss man sie regelmäßig säubern und ölen.“

Konrad ließ ein Husten hören, als hätte er eine Mücke verschluckt. Mühevoll lächelnd schlug Johanna ihm auf den Rücken.

„Sehr angenehm. Und wer ist die Kleine da?“

Auch Fridolin hatte das Mädchen bemerkt, das hinter ihrem Gastgeber aus dem Abschleppwagen kletterte.

„Nette Kette“, rief er hämisch. „Werden bei euch also noch Leute geköpft?“

Johanna verpasste ihm einen Tritt gegens Schienbein, obwohl die Frage berechtigt schien. Die Barbiekopfkette des Kindes wirkte zumindest … gewöhnungsbedürftig. Dazu trug es ein neongrünes Tütü, links einen Zopf und rechts einen Dutt.

Neugierig betrachtete die Achtjährige Johanna. Mit ihrem streichholzkurzen Haar und dem Anti-Atomkraft-Shirt glich sie nicht gerade ihren Heldinnen aus dem Märchenbuch. Trotzdem hatte das große Mädchen etwas Beeindruckendes. Etwas, das sich vielleicht nur mit dem zweiten Gesicht sehen ließ. Bevor sich Alice über die beiden Jungs eine Meinung bilden konnte, war es erstmal an ihr, vorgestellt zu werden.

„Das ist Alice“, erklärte Frank Stein, „meine Nichte.“

„Parapsychologin.“ Die Kleine reichte allen geschäftsmäßig die Hand. „Gesprächstherapie für Seelen, die den Weg ins Jenseits suchen.“

Fridolin prustete los.

„Psycho für Psychos?“

Johanna verpasste ihm einen weiteren Tritt.

„Nett, dich kennenzulernen.“ Sie streckte die Hand aus. Alice ergriff sie, doch ihr Blick galt Fridolin. Er war kaum größer als sie selbst, sommersprossig, mit goldenen Locken.

„Du bist der, dem das Handy gehört hat, oder?“ fragte sie. „Ich hoffe, der Untote, dem ihr begegnet seid, ist keiner meiner Patienten. Wie sah er denn aus?“

„Alice, bitte!“ Frank Stein war die Frage seiner Nichte sichtlich peinlich.

Fridolin ließ sich davon nicht beeindrucken:

„Na, wie ‘n Zombie aus ‘nem Horrorfilm!“

„Wie ein obdachloses Mädchen“, unterbrach Johanna die Diskussion. „Aber es war wohl nur der Nebel.“ Sie gab sich Mühe, die Worte selbst zu glauben. Sie hatte die schweigenden Bäume nicht vergessen. Das war nicht die Stille eines Waldes gewesen, das war … Totenstille.

„Kann sein, muss aber nicht. Der Harz ist seit ewigen Zeiten die Heimat der Magie“, erklärte Alice. „Habt ihr nie vom Brocken gehört? Dem Blocksberg, wo sich die Hexen treffen? In diesem Gebirge gehen die merkwürdigsten Dinge vor sich, und seit Onkel Frank diese Gruft mit der Leiche gefunden hat, wegen der eure Mutter hier ist …“

„Alice, wollen wir nicht langsam los?“ In dem Blick, den der Hausmeister mit seiner Nichte wechselte, lag fast schon Verzweiflung. Selbst ohne zweites Gesicht konnten die Geschwister das sehen.

Unauffällig stahl sich Fridolin beim Einsteigen an Alice‘ Seite.

„Diese Gruft …, du weißt mehr darüber, oder?“

Alice beantwortete die Frage mit einem Gesichtsausdruck, der seine Hoffnung bestätigte.

„Onkel Frank sagt, ich soll nicht darüber sprechen.“

„Sicher.“ Fridolin lächelte. „Ein Geheimnis teilt man nur mit wirklich guten Freunden. Übrigens meinte ich das ernst mit der Kette. Echt cool, die Köpfe.“

„Er ist das absolut Letzte!“ Johanna ließ sich auf das wackelnde Doppelstockbett fallen. Sie wusste nicht, auf welchen Bruder sie wütender sein sollte: auf das Biest, das im Wohnzimmer Alice herumscheuchte, oder auf den Egoisten, dem das alles völlig egal war und der soeben eine Tüte Chips aufriss.

„Er ist Fridolin.“ Womit Konrad ihr Gespräch beendete und sich den Mund vollstopfte.

Johanna starrte an die Decke. Burg Schwindeweg kam ihren Vorstellungen von Draculas Festung ziemlich nahe. Sie war nicht groß, dafür umso düsterer. Der bewohnbare Teil wirkte kleiner als ihre Wohnung in Trier. Weder gab es ein Café, noch einen Souvenirshop oder andere Bewohner als Alice, ihren Onkel und ein paar Krähen. Das Gästezimmer hatte sich als enge Kammer entpuppt. Neben den Betten blieb kaum Platz für einen Tisch. Alles wirkte kalt, fremd und die Kissen rochen nach schmutziger Jugendherberge. Vom Fenster aus sah sie in den Hof, einen Hof, umringt von verfallenen Mauern, die in der Dämmerung langsam mit dem nahen Wald verschmolzen.

Dank ihrer Mutter hatte sie bestimmt schon in hundert verschiedenen Festungen übernachtet. Schwindeweg war anders, angsteinflößend. Selbst die Holzaugen in den Dielenbrettern schienen sie anzustarren. Ob Konrad es auch spürte? Falls der überhaupt noch was spürte.

„Hey! Was ist eigentlich mit deinem Kram? Wolltest du den nicht in den Schrank räumen?“ Johanna warf einen vielsagenden Blick auf einen Berg, der sich in Konrads Koffer türmte.

„Wir haben Ferien.“ Ihr Bruder schob sich Kopfhörer auf die Ohren. „Urlaub. Solltest du auch mal probieren, Supergirl.“

Wütend biss sich Johanna auf die Lippen. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, sich zusammenzureißen. Aber ihre Mutter war nicht hier, und wenn es nach Johanna ging, hatte sie sich bereits viel zu lange zusammengerissen. Sie stieg die Leiter herunter und griff nach Konrads Handy.

„Ey!“ Ihr Bruder sprang auf.

Mit hochgezogenen Brauen scrollte Johanna durch seine Videoplaylist.

„Macka-D isst Klopapier“, las sie vor. „Macka-D steckt dreißig Barbiepuppen in eine Waschmaschine und guckt, was passiert, furzende Oma auf Damentoilette featuring Starrapper. … Echt reif.“

„Mann, das gucken alle.“ Konrad versuchte, sich sein Smartphone zurückzuerobern. „Kann ich was dafür, dass du einfach nur ‘n hobbyloser Freak bist, der sich für nichts außer Ökostrom und blöden Weltretter-Kram interessiert?“

„Wenigstens weiß ich was Besseres mit meiner Zeit anzufangen, als mir anzuschauen, wie YouTuber Klopapier essen.“ Sie steckte das Handy in ihre Jackentasche. „Kriegst du wieder, wenn die Koffer ausgeräumt sind.“

„Sag mal spinnst du!“ brüllte ihr Bruder.

Johanna dachte dasselbe, als sie in den Flur verschwand. Anderseits, irgendjemand musste ihm die Meinung sagen, und wenn … Sie hielt inne, als sie ihre Mutter im Nebenzimmer bemerkte. Niedergeschlagen saß sie am Fenster, den Kopf in die Handflächen gestützt. Sie sah müde aus. Johanna biss sich auf die Lippen. Kurz regte sich das Bedürfnis in ihr, hinzugehen, sie zu trösten. Aber das Gerät in ihrer Tasche hielt sie zurück. Die kleine Disziplinierungsmaßname würde ihrer Mutter nicht gefallen, so viel stand fest.

Und wenn schon? Wer ist denn schuld dran, dass sie überhaupt so fertig ist?

Fester schlossen sich ihre Finger um das Handy in ihrer Tasche.

Er hat es verdient. Sowas von.

„Du bist echt eine gute Freundin, Alice.“ Der zweite Eisbecher war leer. Fridolin reichte ihn Frank Steins Nichte, die ihn eilig in die Küche brachte und mit einem Glas Limonade zurückkehrte.

„Oh ich freu mich ja so, dass wir Freunde sind.“ Freudestrahlend ließ sie zwei Eiswürfel hineinfallen und kümmerte sich um den CD-Rekorder, der schon wieder hakte. „In der Schule finden mich die meisten komisch, weißt du.“

„Idioten.“ Fridolin musste nicht einmal lügen. Alice war die mit Abstand dümmste und nützlichste Freundin, die er je gehabt hatte. „Erzählst du mir jetzt mehr von den Geistern? Nicht deinen Pommes-frites-Geist, meine ich. Richtig böse Geister.“

„Ich glaube nicht an böse Geister, nur an kranke Seelen. Aber deine Untote vorm Auto …“ Alice zögerte. Sie rückte dichter an Fridolin heran und beugte sich zu ihm. „Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“

Na endlich! Er hatte schon befürchtet, sich die ganzen Ferien mit ihr abgeben zu müssen.

„Klar.“ Er stellte das Glas ab, um eine Hand zum Schwur zu heben und mit der anderen die Finger hinterm Rücken zu kreuzen.

Alice beobachtete ihn misstrauisch, aber schließlich nickte sie.

„Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich aus dieser Welt kam.“

„Wie jetzt? Auch noch ‘n außerirdischer Zombie?“

„Keine Außerirdische“, widersprach Alice. „Es gibt mehr Welten als nur die sichtbaren. Fremde Dimensionen, Parallelwelten, ganze Paralleluniversen. Geister können zwischen ihnen wechseln. Es wäre möglich, dass euer Mädchen aus einer von ihnen stammte … Und zwar aus einer bestimmten.“ Ihr Gesicht wurde ernst. „Hast du jemals von Niemandsreich gehört? Besser bekannt als ‚die verschollene Provinz‘.“ Sie wurde leiser. „Als König Arthur im Harz war …“

„Moment“, unterbrach Fridolin sie. „König Arthur war im Harz? Is das nicht ‘n Engländer?“

„Sein Ritter Lancelot von der berühmten Tafelrunde hatte eine Skihütte auf dem Wurmberg. Wusstest du das etwa nicht?“

Fridolin verdrehte die Augen. Das versprach bekloppter zu werden als die Geschichte vom Pommes-frites-Geist.

„Jedenfalls hat dann Arthurs Hofzauberer Merlin eine Brockenhexe geheiratet, und zusammen bekamen sie einen Sohn: Finian hieß der. Wie sein Vater war Finian Arthur treu ergeben. Eines Tages allerdings unternahm er eine Reise durch den Harz und entdeckte einen Nagel, der in einem Stein steckte.“

„Einen Nagel?“ fragte Fridolin, der sich ungefähr vorstellen konnte, was jetzt kam.

„Ja“, antwortete Alice. „Der berühmte Nagelstein lässt sich noch heute in Ermsleben besichtigen. Finian zog den Nagel heraus und wurde für seine Tat zum König über den Harz gekrönt, denn eine alte Legende besagte, nur derjenige, der den Nagel aus dem Stein zieht, darf den Bronzethron in Goslar besteigen. Sein alter Freund Arthur wurde furchtbar eifersüchtig und hat sein Reich mit einem Fluch belegt. Seither gilt das ganze Land als verschollen.“

„Hä? Und wo sind wir hier dann?“

„In einer Paralleldimension“, antwortete Alice. „Oder besser gesagt, das Land von König Finian ist zur Paralleldimension geworden. Aber es kehrt zurück. Onkel Frank sagt, ich soll nicht darüber sprechen, aber ich muss einfach. Die beiden Welten sind sich so nahe wie seit vielen hundert Jahren nicht. Alle spüren es.“

„Alle?“

„Na, Onkel Frank und ich. Und das Mädchen könnte der Schlüssel sein. Ich hab da so eine Theorie. Wenn sie stimmt, dann ist sie nicht einfach irgendein Geist. Ich beobachte die Dimensionen seit Jahren. Ihre Wege lassen sich bis ins sechzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Als Niemandsreich uns zum letzten Mal so nahe war wie heute. Damals ist etwas Schreckliches geschehen.“ Alice senkte abermals die Stimme. „Nicht weit von hier, am Teufelsteich, wurde ein Mädchen ermordet. Ein Mann hat es beobachtet. Es war Nacht, und er sagte, er hätte gesehen, wie eine schwarze Gestalt einfach aus dem Nichts aufgetaucht sei. Sie hat das Kind getötet. Durch eine einzige Berührung! Natürlich ist der Mann sofort in die Stadt gerannt und hat Hilfe geholt. Doch als er zurückkam“, Alice machte eine spannungssteigernde Pause, „war das tote Mädchen einfach verschwunden.“

„Wahnsinn. Die Story könnte fast aus meiner Lieblingshorrorserie sein.“

„Der Fall wurde nie aufgeklärt. Die meisten Leute hielten den Zeugen für verrückt. Aber ich weiß es besser. Das Mädchen kam aus Niemandsreich.“

„Du meinst dieses verschwundene Land? Warum heißt das eigentlich Niemandsreich?“

„Weil Finian auf seine Macht verzichtet und Wahlen eingeführt hat“, antwortete Alice, als wäre das etwas Selbstverständliches. „Auf dass niemals irgendjemand dort herrschen soll.“

„Toller König“, brummte Fridolin. Finstere Typen wie die aus dem Kino waren ihm wesentlich lieber. „Aber was macht dich jetzt so sicher, dass dieses ermordete Mädchen aus Niemandsreich kam? Und warum soll die Verrückte vorm Auto ausgerechnet ihr Geist sein?“

„Ich weiß es einfach“, antwortete Alice, „so unerklärlich und sicher wie die Seele selbst. Damals ist sie ermordet worden und kehrte in ihre Welt heim. Heute kommt sie wieder in unsere. Das ergibt Sinn, oder?

Über die Gestalt, die sie getötet hat, habe ich leider wenig herausfinden können. Zumindest nichts, das uns weiterhilft. Sie taucht in verschiedenen Sagen auf. Man nennt sie den ‚Schwarzen Wanderer‘. Ein ruheloser Geist, gekleidet in Dunkelheit. Vielleicht ein gefallener Engel oder so.“

„Und mit dem willst du dich anlegen?“

„Nicht anlegen, ich will ihn erlösen. Genau wie das Mädchen, wenn sie es wirklich sein sollte. Vielleicht ist die Zeit gekommen, den Mord aufzuklären. Ich wünschte, wir könnten runter in den Keller. Da habe ich alte Bücher über König Finian und sein Land. So schade, dass Onkel Frank es wegen der Ausgrabung verboten hat.“

„Wieso machen wir‘s nicht heimlich?“ wollte Fridolin wissen.

Alice starrte ihn an, als hätte er vorgeschlagen, eine Bank zu überfallen.

„Onkel Frank …“

„Was Onkel Frank nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Komm schon. Wir sind doch Freunde.“ Das Argument zog immer bei Leuten, die sonst keine Freunde hatten. Alice bildete keine Ausnahme.

„Na gut“, gab sie nach, „nur für die Bücher. Wir verabreden uns morgen um zwölf Uhr. Das ist die Zahl der Vollkommenheit.“ Sie stand auf und gab ihm verschwörerisch die Hand. Fridolin ergriff sie.

„Abgemacht.“

Fridolin hatte sich von Alice verabschiedet und war gerade auf dem Weg nach oben, als er wütende Stimmen hörte:

„Ich hab die Koffer ausgeräumt. Was willst du denn noch?“

Eilig versteckte er sich hinter einem Regal und lauschte. Leuten beim Streiten zuzuhören, war lustig, und das hier versprach spannend zu werden wie selten.

„Immerhin ein Anfang.“ Johannas Gesicht blieb eisig. „Und morgen gibt’s dreimal Tisch decken. Außerdem wollen wir zur Baumannshöhle. Da brauchst du dein Handy sowieso nicht.“

Fassungslos starrte Konrad seine Schwester an.

„Du hast es versprochen!“

„Du hast mir auch so oft versprochen, die Betten zu beziehen.“ Ob es Enttäuschung oder Gewissensbisse waren, die ihre Stimme leiser werden ließen, war schwer zu sagen. Zumindest einem Teil von ihr gefiel es nicht, was sie gerade machte. Selbst Konrad merkte das.

„So ist das also“, zischt er, „in der Schule große Reden schwingen, von wegen ‚der Klügere gibt nach‘ und so. Aber zu Hause …“

„Immer kann der Klügere die Dummen eben nicht gewinnen lassen.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sich Johanna ab und verließ das Zimmer.

„Bleib doch, wo der Pfeffer wächst!“ Wütend trat Konrad gegen den Tisch und stieß sich den Zeh. Verdammte Bruchbude! Er trat mit dem anderen Fuß zu und ließ sich auf sein Bett fallen. Er hob nicht einmal den Kopf, als Fridolin eintrat. Erst als sein kleiner Bruder sich neben ihn setzte und eine ganze Weile sein Gesicht betrachtete, drehte sich Konrad zu ihm um.

„Was willst du, Zwerg?“

„Hat Hanna echt dein Handy weggenommen?“

„Du hast gelauscht?“ Konrad packte ihn beim Kragen.

„War ja nicht zu überhörn“, verteidigte sich Fridolin. „Eigentlich wollte ich nur meinen Zeichenblock holen. Außerdem hab ich ‘nen Plan, wie du‘s zurückkriegst.“

„Ach ja?“ Konrad klang nicht überzeugt.

„Für zehn Euro mach ich‘s.“

„Zehn Euro? Du hast ‘nen Stich.“

„Acht.“

Konrad schnaubte. Von einem Elfjährigen würde er sich bestimmt nicht abzocken lassen. Die ganze Schule wusste, wie Fridolin Leute über den Tisch zog.

„Vier“, sagte er schließlich. „Und erst, wenn ich das Handy wieder heile in der Hand halte, verstanden?“

Vier Euro. Lächerlich. Lautlos stieg Fridolin die Treppe hinunter. Johannas Jacke hing an der Flurgarderobe. Hoffnungslos ordentlich wie immer. Seine Schwester sortierte sogar ihr Müsli. Zögernd setzte er die Zehen auf die kalten Fliesen. Die Tür zum Garten stand offen. Der Atem des Waldes drang so eisig in die Burg, als würde die Herbstnacht selbst eintreten. Fröstelnd griff er in die Tasche. Na bitte. Konrads Handy. Er wollte es einstecken, doch ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Ganz leise. Schritte auf Gras und etwas, das wie wehender Stoff klang.

„Hallo?“ Er wandte sich der offenen Tür zu. Die Dunkelheit der Nacht verdichtete sich draußen zu einer Schwärze, die die Welt zu einem einzigen Nichts vermengte. „Hallo?“ Zögernd trat er näher. „Ist da jemand?“

Es war, als würde das ganze Schloss mit seinem Schweigen antworten. Keine Regung. Selbst der Staub schien in der Luft eingefroren. Die Stille verschluckte den Klang seiner Stimme. Er hatte sich nie vor alten Burgen gefürchtet, aber er konnte nicht bestreiten, dass diese hier eine seltsame Atmosphäre ausstrahlte. Als schlummere das Leben all der Menschen, die einst darin gewohnt hatten, noch in den Mauern, als lauere es in den Kellern und Türmen, von denen nur noch hohle Stümpfe übrig waren. Ein Schauer überkam ihn. Er fragte sich, wie viele Füße wohl schon über diesen Boden gegangen waren, über den er jetzt ging.

Fridolin liebte solche Abenteuer. Angst war wie ein Gegner, den man herausfordern musste. Und sie zu besiegen, weckte nur die Lust, es noch einmal zu probieren. Er schaltete Konrads Handy an und leuchtete mit dem Display die Sträucher ab.

Der Garten war nicht groß. Ein halb verwittertes Schaukelgestell ächzte im Wind und die Bäume rauschten bedrohlich. Barfuß trat Fridolin aus der Tür, bis er Moos und Tannennadeln unter sich spürte. Brombeerranken wanden sich um Sträucher und Bäume. Irgendwo verklang der Ruf eines Käuzchens. Eine tiefe Finsternis lauerte zwischen den Stämmen, so undurchdringlich, dass nicht einmal der Strahl des Handys sie vertreiben konnte. Wie ein Geheimnis, das sich hinter dem Schleier der Nacht verborgen hielt.

Fridolin fuhr zusammen, als er wieder das Geräusch vernahm. Es war genau wie in einem Gruselfilm. Kurz bevor der Held … Er stieß einen Schrei aus, als er in leuchtend gelbe Augen blickte. Klirrend fiel Konrads Telefon auf die Terrassensteine.

Nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte, starrte er ungläubig in die Dunkelheit. Die Augen waren verschwunden, doch er war sich absolut sicher, sie gesehen zu haben. Die eines Tieres? Aber wenn es ein Tier gewesen war, dann ein ziemlich großes. Mindestens so groß wie er selbst, so groß wie … Ihm fiel das Mädchen wieder ein. Das Kind, das ihnen vors Auto gelaufen war.

„Hallo?“ Unwillkürlich machte er einen Schritt rückwärts. Seine Füße traten auf etwas Hartes, dessen Hülle knirschend nachgab.

Verdammt! Vor Schreck vergaß Fridolin sogar das fremde Wesen. Verzweifelt hob er das Gerät auf und versuchte, es wieder anzuschalten. Es gab ein klägliches Brummen von sich und auf dem Bildschirm, auf dem sich jetzt deutliche Risse abzeichneten, blinkten grelle Farben. Was sollte er denn jetzt machen? Konrad würde ihm den Hals umdrehen.

Ein letztes Mal sah er sich im Garten um. Seine Lust auf Geister war ihm vorerst vergangen. Unglücklich kehrte er in den Flur zurück. Wenn Konrad nicht mehr mit seiner Franzi chatten konnte und Fridolin daran schuld … Sein Blick fiel auf Johannas Jacke. Ihm kam ein Gedanke. Was passierte, wenn Johanna das Handy nicht nur weggenommen, sondern es auch kaputtgemacht hatte? Das war die einzige Lösung, selber dem Ärger aus dem Weg zu gehen.

Verstohlen steckte er das Gerät zurück in die Jacke. Er würde Konrad einfach sagen, er hätte es nicht gefunden. Schade um die vier Euro. Wenigstens ein billiges Comic-Heft hätte er sich davon leisten können.

Die Chroniken von Niemandsreich

„HALT DIE FRESSE!“

Alice schreckte aus dem Schlaf. Irritiert blieb sie einen Moment lang liegen. Halt die Fresse? Eben noch hatte sie sich mit Finian in der Einhornhöhle versteckt. Er wollte ihr etwas sehr Wichtiges sagen, aber definitiv nicht: „Halt die Fresse!“ Was, um alles in der Welt …? Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass die Stimmen aus dem Gästezimmer kamen.

„Konrad! Ich weiß nicht, wie das passiert ist.“

„Ach nee? Davon kann ich mir jetzt auch kein neues Handy kaufen!“ Wütend warf Konrad sein kaputtes Telefon in den Mülleimer. Er hasste dieses Schloss. Er hatte es von Anfang an gehasst. Seine Schwester hasste er genauso.

„Hanna? Konni?“ Ihre Mutter kam hereingeschossen. „Was ist los?“

„Frag mal die Bekloppte da!“ Konrad stapfte aus dem Zimmer und knallte die Tür zu.

Johanna rannte ihm nach:

„Konrad!“ Sie bekam das Zuschlagen einer weiteren Tür zur Antwort.

Fridolin saß im Wohnzimmer und zeichnete schweigend Striche auf ein Blatt. Eigentlich sollte es ein Drache werden, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Aus dem oberen Stockwerk hörte er, wie seine Mutter Johanna anschrie. Er biss sich auf die Lippen.

Halt bloß die Klappe oder willst du, dass dir dasselbe passiert?

„Fridolin.“

Froh über die Ablenkung, legte er den Zeichenblock weg und wandte sich Alice zu. Sie trug noch ihr Nachthemd und sah ausgesprochen verstört aus.

„Was ist denn das für ein Krach? Erst dachte ich, Finian hätte zu mir gesprochen.“

„Finian? Nö, das sind Hanna und Konrad gewesen. Zeigst du mir jetzt den Keller?“

„Es ist noch nicht mal zehn.“ Alice deutete auf eine verstaubte Standuhr. „Außerdem ist heute Nacht etwas passiert. Ich bin ihm begegnet.“

„Wem?“ Angestrengt versuchte Fridolin das Weinen seiner Schwester zu ignorieren.

„Na, König Finian. Ich habe geträumt, wir wären durch den Wald geritten, dann schlich sich ein böser Geist in meine Gedanken. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich habe seine Präsenz gespürt. Er hatte diese Kälte an sich wie ein Wind, den nur die Seele wahrnimmt; und er war voller Zorn. Finian hat mich vor ihm gewarnt. Er sagte, solange der da ist, sind wir in großer Gefahr.“

„Meinst du, das hat was mit den Knochen in der Gruft zu tun?“ fragte Fridolin. „Oder mit der Pennerin vorm Auto?“ Sein eigenes Erlebnis mit den gelben Augen behielt er lieber für sich, nach allem, was gestern passiert war.

„Keine Ahnung. Jedenfalls müssen wir auf die Suche gehen. Komm. Jede Sekunde könnte die letzte sein.“ Sie zog ihn mit sich.

Scheiß Wälder! Angewidert verscheuchte Konrad einen Käfer von seinem Arm. Wie konnten Leute hier freiwillig Urlaub machen? Die Bäume ließen keine Sonne durch, und der feuchte Atem des Mooses drang in alle Poren. Er betrachtete seine nassen Schuhe.

Franziska saß jetzt bestimmt auf Teneriffa und fragte sich, warum er ihr nicht schrieb. Niedergeschlagen musterte er die Straße, die sich durch den Wald schlängelte. Dieselbe, die sie gestern gekommen waren. Endlose verregnete Kilometer bis zur nächsten Bushaltestelle und er hatte nicht einmal Geld für ein Ticket. Trotzdem, wenigstens ein schlechtes Gewissen wollte er seiner Schwester machen. Wenn sie dachte, er wäre weggelaufen, musste es ihr leidtun.

„Also, wenn ich dir irgendwie helfen kann …“, setzte Fridolin an.

Alice‘ siebter Sinn hatte sie ins Gästezimmer geführt. Sie hatte den Tisch in die Mitte geschoben und einen Stuhl daraufgestellt. Nun kniete sie auf dem entstandenen Turm und ließ eine Kette mit einem Anhänger aus Knete in der Luft pendeln.

„Sei leise!“ beschwor sie ihn, während sie die Augen schloss und angestrengt lauschte.

Fridolin sah sich um, doch es war nichts und niemand zu sehen. Genervt lehnte er sich mit der Schulter gegen die Wand.

„Hier ist nichts. Können wir nicht endlich in den Keller gehen?“ Eine Geisterjagd hatte er sich erheblich aufregender vorgestellt. Das hier war langweiliger, als jemandem beim Angeln zuzusehen.

„Doch“, hauchte Alice. „Da ist etwas. Ein …, ein …“ Sie richtete sich auf und stieß sich den Kopf an der Decke. „Autsch!“

„Vorsicht!“ Fridolin kletterte zu ihr auf den Tisch, um sie zu halten, doch das Mädchen wirkte bloß ärgerlich.

„Blöde Decke! Das Weltliche legt einem immer wieder Steine in den Weg.“

„Hast du denn was gefunden?“ erkundigte sich Fridolin, mehr aus Höflichkeit als in der Hoffnung, dass diese Aufführung sie weitergebracht hatte.

„Vielleicht“, erwiderte Alice, „da war etwas, aber bevor ich es genauer bestimmen konnte, war die Decke im Weg.“

„Dann lass uns im Keller weitersuchen“, versuchte Fridolin erneut sein Glück. „Komm. Ich wette, da finden wir hundertmal mehr.“

„Und ich denke, ich bin ganz dicht dran.“ Alice richtete sich erneut auf.

Fridolin verdrehte die Augen.

„Hör mal“, versuchte er, sie wenigstens von ihrem wackligen Turm herunterzubekommen, „wenn du denkst, dass da oben was ist, warum versuchen wir‘s nicht in dem Raum über uns?“ Fridolin erwartete kaum, dass sie einverstanden sein könnte. Parapsychologie schien eine außerordentlich exakte Wissenschaft zu sein, aber zu seiner Erleichterung lächelte das Mädchen.

„Das ist eine hervorragende Idee. Du würdest einen sehr guten Partner abgeben, Fridolin.“

„Tatsächlich?“ Er war sich nicht sicher, ob er sich freuen sollte.

„Ja. Ich will nämlich später Geisterflüsterin werden. Oder Steinärztin. Auf jeden Fall …“ Alice hielt an der Tür so plötzlich inne, dass Fridolin in sie hineinrauschte.

„Was denn jetzt?“ fragte er ungeduldig.

Das Mädchen hatte wieder die Augen geschlossen und ließ ihre Kette in der Luft pendeln.

„Hier ist etwas. Ja, die Schwingungen sind sehr stark, siehst du?“ Sie deutete auf den Anhänger, wobei sie ihn mit dem Zeigefinger anstieß und theatralisch erschrak, als er noch weiter ausschlug. „Es ist hier!“ Sie lief nach rechts. „Nein hier!“ Sie lief nach links und schwenkte ihre Kette schließlich direkt über dem Papierkorb. „Das muss es sein.“ Sie kniete sich neben den Mülleimer und wühlte darin, bis sie ein Gerät hervorzog.

„Konrads Handy“, erklärte Fridolin, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Alice hörte ihm nicht zu. Sie betrachtete das Gerät, als wäre es etwas Heiliges. Andächtig fuhr sie über das gesprungene Display und erschauderte.

„Ich spüre sie ganz deutlich“, hauchte sie, „diese Kraft, die davon ausgeht.“ Sie starrte das Handy an und warf es dann mit einem Schrei von sich.

Fridolin stolperte vor Schreck gegen die Wand.

„Mann, was soll das?“ fragte er verdutzt.

„Fass es nicht an!“ rief Alice. „Fass es bloß nicht an!“

„Hatte ich nicht vor. Was ist damit?“

„Das Böse!“ schrie das Mädchen in dramatischem Tonfall. „Das pure Böse schlummert in diesem Gerät!“

„In Konrads Handy?“ Fridolin fiel es schwer, nicht zu lachen.

„Ich habe es gespürt“, wisperte Alice. „Oh, ich habe noch niemals eine solche Boshaftigkeit gespürt. Es war, als sähe man durch das Auge des Teufels selbst in einen endlosen Abgrund.“

„Ah“, machte Fridolin, „und jetzt?“

Alice starrte ihn an.

„Wir müssen es vernichten.“

„Klar.“ Er gab sich Mühe, ernsthaft zu bleiben. „Wir müssen Konrads Handy vernichten. Logisch.“

„Schnell, Onkel Frank hat Handschuhe in seiner Werkstatt. Die schützen vor allem, hat er gesagt. Wir dürfen dieses Gerät auf keinen Fall mit bloßen Händen anfassen.“

Hausarrest. Johanna wusste nicht, auf wenn sie wütender sein sollte. Auf Konrad, ihre Mutter oder auf sich selbst? Es war idiotisch gewesen, das Handy wegzunehmen. Das hatte sie längst eingesehen, deswegen wollte sie es ihm ja heute Morgen zurückgeben. Aber Menschen machten eben idiotische Sachen. Sie bügelte zu Hause die Wäsche, sie räumte die Zimmer auf, sie hatte die ganze verdammte Fahrt lang versucht, ihre Geschwister aufzumuntern. Hatte sie nicht das Recht dazu, auch mal Fehler zu machen?

Stattdessen sperrte ihre Mutter sie ein, weil Konrad, dieser Blödmann, weggelaufen war. Sie hatten das gesamte Gelände abgesucht. Nichts. Und nur wegen seines dämlichen Telefons. Was war denn mit ihr? Am liebsten wäre sie auch weggelaufen. Doch so etwas machte Johanna nicht. Johanna war vernünftig und konnte sich zusammenreißen. Wie immer.

Frustriert kletterte sie auf ihr Bett. Auf dem Kissen lag das Naturmagazin, das sie sich an der Tankstelle gekauft hatte. Sie versuchte, sich auf einen Artikel über Blattschneiderameisen zu konzentrieren. Insekten hatten sie schon immer fasziniert. Beeindruckend, wie Geschöpfe, die kaum einen Zentimeter groß waren, das ganze Ökosystem am Laufen hielten. Johanna wünschte, sie könnte dasselbe von sich behaupten. Sie fühlte sich so winzig. Man konnte nicht erwarten, mit sechzehn die Welt zu verändern, aber ein bisschen …, sie ein ganz kleines bisschen besser machen …

Ach, hör auf. Du schaffst es ja nicht mal, deinen Urlaub zu retten.

Missmutig betrachtete sie das Bild einer Ameise, die ein Holzstück von der Größe ihres Körpers auf dem Rücken trug. Zum Lesen kam sie nicht. Die Tür wurde aufgerissen und Fridolin polterte mit Alice in den Raum.

„Was wollt ihr denn hier?“ knurrte Johanna so freundlich wie möglich.

Alice warf einen erschrockenen Blick zu ihr aufs Bett.

„Seit wann bist du hier?“ fragte sie mit einer Aufregung, die Johanna sich nicht erklären konnte. „Hast du das Handy angefasst?“

„Was für‘n …“ Sie warf einen Blick nach unten und bemerkte Konrads Handy. Es lag neben dem Tisch, den irgendjemand in die Mitte des Zimmers geschoben hatte, auf dem Boden. Dieses Gerät ließ sich einfach nicht aus dem Gedächtnis verbannen. „Was ist damit?“

„Es ist vom Bösen besessen!“ rief Alice, dramatisch mit den Armen fuchtelnd, während Fridolin seiner Schwester einen vielsagenden Blick zuwarf.

„Vom Bösen besessen“, wiederholte Johanna. „Ja, da könntest du recht haben. Am besten ihr nehmt es mit und bringt es so weit weg wie möglich.“ Sie widmete sich wieder den Blattschneiderameisen, in der Hoffnung, die Beiden würden verschwinden. Doch diesen Gefallen taten sie ihr nicht.

„Ich befehle dir, dich zurückzuziehen, Finsternis!“ krähte Alice dem Handy laut und mit übertriebenem Pathos entgegen. „Sator! Arepo! Tenet! Opera! Rotas!“

Johanna verbarg ihr Gesicht im Kissen. Alice packte das Handy mit übergroßen Arbeitshandschuhen und schleuderte es in der Luft herum.

„Ich kann ihn fühlen! Ich kann fühlen, wie er nach mir greift. Er spricht zu mir.“

„Der erste Geist, der per Handy anruft“, stellte Johanna ironisch fest, aber Alice war so in Rage, dass sie es nicht einmal bemerkte. Sogar Fridolin wich einen Schritt zurück, als sie das Telefon in die Luft reckte und dann damit zu Boden sank. Es sah aus, als wäre das Gerät wirklich zum Leben erwacht und versuchte, den Händen des Mädchens zu entkommen.

„Lasse ab, böser Geist!“ schrie Alice. „Er spricht wieder! Er spricht von einem Kind und von einem Unsterblichen!“

Fridolin runzelte die Stirn.

„Und was … äh … will er uns damit sagen?“

„Er wird schwächer“, verkündete das Mädchen und stand auf. „Die Finsternis schwindet.“ Es wiederholte seinen Zauberspruch und warf das Handy in hohem Bogen aus dem offenen Fenster.

Stille breitete sich aus. Sie wurde von Fridolin unterbrochen, der ungeduldig fragte:

„Ist er weg?“

„Das würde ich allerdings auch gern wissen“, murmelte Johanna.

„Ich denke …“, Alice keuchte, als hätte sie wirklich gegen jemanden gekämpft, „ich denke, er hat sich zurückgezogen.“

„Heißt das, er kommt wieder?“ erkundigte sich Fridolin wenig begeistert.

„Das weiß ich nicht. Erst einmal ist der Geist gebannt, aber niemand kann vorhersehen, was geschehen wird.“ Alice starrte aus dem Fenster. Irgendetwas war dort draußen im Gange. Einen Moment lang war sie sich da so sicher, dass sie selbst erschrak. Der Wind trug mehr heran als den Duft des sterbenden Sommers, und der Himmel war weiß, als könne er sich nicht entscheiden, welche Farbe er tragen solle.

Johanna hatte wieder begonnen, in ihrer Zeitschrift zu lesen und die Anatomie eines Waldnelkenrüsslers zu studieren.

„Ich glaube nicht, dass wir den Geist wiedersehen werden.“ Fridolin versuchte, so zuversichtlich wie möglich zu klingen. „Ich meine, wenn noch ein Funken Leben in diesem Handy steckte, dann ist es spätestens jetzt tot.“ Er warf einen Blick aus dem Fenster.

„Einen Geist kann man nicht töten“, widersprach Alice. „Man kann Geister nur einsperren oder in die Welt zurückschicken, aus der sie gekommen sind. Hoffen wir, dass uns das gelungen ist. Komm, Fridolin. Wir haben noch viel vor.“

Fridolin stöhnte.

„Können wir nicht endlich in den Keller?“

„Tür zu!“ rief Johanna.

„Hätten wir nicht gleich hier runtergehen können?“ fragte Fridolin, als sie sich pünktlich um zwölf Uhr die Treppe hinunterschlichen. Wenigstens hatte er sich nicht zu viel versprochen. Schön unheimlich war es. Die flackernden Neonröhren verliehen dem Gang die Atmosphäre einer Gruft. Es roch nach nassen Gräbern. Ein rostiges Geländer führte an der Wand entlang. Am Ende empfing sie ein Geflecht aus gluckernden Kupferrohren und einer ratternden Maschine. Vermutlich eine Pumpe, damit hier nicht alles absoff, mutmaßte Fridolin. Genaueres ließ sich nicht erkennen, denn unten angekommen, schienen die Lampen endgültig den Geist aufgegeben zu haben.

Den Geist aufgegeben. Ha! Passendes Wortspiel.

„Echt Wahnsinn“, verkündete er. „Sieht aus wie in diesem Gruselfilm mit dem Wissenschaftler … Wie hieß der nochmal?“

„Komm. Du musst zuerst meine geheimen Bücher sehen.“ Alice zog ihn ohne ein weiteres Wort mit sich.

Insgeheim bewunderte Fridolin Frank Steins Nichte dafür, dass sie sich in der Dunkelheit überhaupt zurechtfand. Der Keller hatte mehr Gänge als jedes Verlies, das er mit seiner Mutter besucht hatte, und wie ein Verlies sahen die meisten Flure auch aus. Kalt, höhlenartig.

Als sie endlich Alice‘ Versteck erreichten, hatte er längst die Orientierung verloren. Ein enger Raum hinter zwei Heizkesseln war es. Das Brodeln der Behälter schien die Wände vibrieren zu lassen. Wenigstens gab es hier wieder funktionierende Lampen.

Alice öffnete eine Truhe.

„Denk dran, du hast versprochen, nichts zu erzählen“, flüsterte sie.

Einst war die Truhe sicher hübsch gewesen, doch inzwischen hatte das Alter so arg an ihr gefressen, dass sie einem ausgegrabenen Totenschrein glich. Nicht sehr viel anders sah das Buch aus, das die Kleine daraus hervorholte: ein vergilbtes und verstaubtes Schriftstück, dessen Einband fehlte und dem nicht mehr anzusehen war, welche Teile aus Papier und welche aus Spinnenweben bestanden.

„Was ist das?“ Fridolin konnte nicht leugnen, dass ihn der Anblick beeindruckte. Geheimnisvolle alte Bücher führten immer in Abenteuer. Doch als er es näher in Augenschein nahm, stieß er ein enttäuschtes Schnauben aus. „Das ist ja bloß ein blödes Geschichtsbuch.“ Was er anfänglich für eine mittelalterliche Schrift gehalten hatte, konnte in Wahrheit nicht älter als sechzig Jahre sein, in denen nicht besonders pfleglich mit dem Buch umgegangen worden war. Die Seiten waren durch die Feuchtigkeit wellig geworden, vieles Blättern hatte sie zerknittert oder angerissen.

„Das ist nicht blöd“, widersprach Alice gekränkt. „Das sind die ‚Chroniken von Niemandsreich‘!“ Sie schlug die erste Seite auf. „Schau: König Arthur.“ Sie deutete auf das Schwarz-Weiß-Foto eines Gemäldes.

„Das ist Ludwig der Vierzehnte“, stellte Fridolin richtig, mit dem Finger auf die Bildunterschrift weisend.

„Nein, das ist König Arthur“, beharrte Alice. „Ludwig der Vierzehnte war nie hier, also kann er es wohl kaum sein, oder?“

„‘Türlich kann er es sein, wenn jemand sein Gemälde abfotografiert und in dieses Buch kopiert hat.“

„Und warum sollte das jemand machen?“ fragte Alice zurück. „Nein, alles begann mit König Arthur und hier haben wir Finian, nachdem er den Nagel aus dem Stein gezogen hat.“ Sie zeigte auf einen Ritter neben seinem Knappen. „Und die da neben dem Pferd erzählt ihm gerade von der Prophezeiung.“

„Das ist ein Junge!“

„Die Frisur ist eindeutig die eines Mädchens.“

„Unsinn. Auf mittelalterlichen Bildern haben die alle solche Haare. Mit Lesen hast du’s nicht so, wie? Seit wann gehst du zur Schule?“

„Es ist aber trotzdem ein Mädchen“, widersprach Alice, ohne auf Fridolins Spitze einzugehen, „weil sie später sonst nicht den Prinzen heiraten kann. An dieser Stelle hört die Geschichte über Finian allerdings auf. Erst das zweite Buch gibt Aufschluss darüber, was aus ihm und Niemandsreich wurde.“

„Ist das ‘ne ganze Buchreihe?“ Fridolin spähte über Alice‘ Schulter in die Truhe und musste mit gemischten Gefühlen feststellen, dass sich Dutzende von Büchern darin stapelten. Ausnahmslos alte Schulbücher. „Wo hast du die eigentlich her?“ fragte er, während Alice ein Lateinbuch herausfischte.

„Ich habe sie in einem geheimen Raum hinter der Schulbibliothek gefunden“, wisperte Alice, als wäre das etwas höchst Vertrauliches. „Es ist unglaublich, wie viele Bücher sie da aufheben.“

„Sicher, dass dieser ‚geheime Raum‘ nicht einfach ein Lager für Sachen ist, die weg können?“

„Womöglich. Menschen neigen zu allen Zeiten dazu, gefährliches Wissen zu vernichten.“ Alice blätterte durch das Lateinbuch. „Es gab einen großen Krieg zwischen England und dem Harz. Allerdings ist niemand gestorben. Und die, die doch gestorben sind, sind wieder lebendig gezaubert worden.“

Fridolin verdrehte die Augen. Die hatte echt ein Ding an der Waffel.

„Und dann kam eine gute Fee und hat ihnen ein Haus aus Lebkuchen geschenkt“, ergänzte er in bemüht leierndem Tonfall. „Und wenn sie nicht gestorben sind, …“

Alice schien seinen Spott nicht einmal zu bemerken.

„Zum Glück gab es noch den Präsidenten von Niemandsreich. Hier wird er gerade gewählt.“ Sie blieb bei dem Bild einer Senatsversammlung im alten Rom stehen. „Und das“, sie blätterte weiter, „das war er.“

„Poseidon?“ Fridolin hob eine Augenbraue, als sie ihm das Bild des römischen Meeresgottes zeigte.

„Er war ein Wasserzauberer und herrschte über die Talsperren“, dozierte Alice, doch Fridolin hatte jetzt endgültig die Nase voll. Was die kleine Spinnerin konnte, konnte er schon lange:

„Außerdem war er ein gefürchteter Hexenmeister.“

„Was?“ Alice hob den Kopf, als ihr Freund ihr das Lateinbuch aus der Hand nahm und selbst darin blätterte.

„Er hatte alle getäuscht und entpuppte sich als der grausame Schwarzmagier Schlangenbart. So nannte man ihn, weil er mit der hier verheiratet war.“ Er zeigte Alice ein Bild von Medusa.

„Nein, überhaupt nicht!“ brüllte Frank Steins Nichte, doch Fridolin erzählte erbarmungslos weiter.

„Seit über hundert Jahren hatte Schlangenbart auf diese Gelegenheit gewartet. Geschickt hatte er das Vertrauen der Bevölkerung gewonnen und zeigte, sobald er zum Präsidenten gewählt war, sein wahres Gesicht. Stück für Stück unterwarf er Niemandsreich seiner Herrschaft. Er züchtete eine Armee aus … aus …“ Er entdeckte ein Bild aus den Irrfahrten des Odysseus. „… aus Seeungeheuern, die ihn verteidigten; und dann verbannte er Finian auf den Winterberg, wo dieser elendig erfrieren musste.“

„Das hat er ganz bestimmt nicht gemacht!“

„Sagt wer?“ gab Fridolin bissig zurück.

Zornig funkelte Alice ihren Freund an, bis sie schließlich nach einem zerfledderten Chemiebuch von 1951 griff und das Bild eines Bunsenbrenners aufschlug.

„Schlangenbart hatte aber Pech. Finian hat durch einen Feuerstrahl das ganze Eis auf dem Winterberg schmelzen lassen und dann …“, sie blätterte weiter zu einem Periodensystem, „hat er einen Zaubertrank aus Osmium und …“, Alice kniff die Augen zusammen, um das lange Wort zu entziffern, „und Gado… Gadoli…nium zusammengebraut und den Seeungeheuern ins Futter gemischt. Sie schrumpften auf die Größe von Goldfischen zusammen und konnten niemandem mehr etwas tun. Und dann“, fuhr sie eilig fort, als sie sah, dass Fridolin widersprechen wollte, „erschuf er einen Zauberstab, durch den allein er zum König über ganz Niemandsreich wurde, damit niemand mehr die Herrschaft an sich reißen konnte.“

„Außer er selbst.“

„Nein!“

„Wieso?“ fragte Fridolin. „Wenn du sagst, er ließ sich mit dem Herrscherstab zum König krönen, hat er die Herrschaft an sich gerissen.“

„Aber doch nur, damit Schlangenbart das nicht machen konnte!“ entgegnete Alice. „Außerdem war Finian nicht so ein König, der herrschen und alle unterwerfen wollte. Er war so wie die Queen in England; und er hatte riesige Schätze.“ Sie blätterte eine Seite weiter und zeigte ihm eine Liste der Edelsteine und Halbedelsteine. „Die teilte er mit seinem Volk, damit niemand hungern musste.“

„Und wo soll er die hergehabt haben? Außerdem: Wenn er sie mit allen geteilt hat, kann er doch hinterher gar keine riesigen Schätze mehr besessen haben. Und überhaupt muss dein Finian echt ‘n ziemlicher Depp gewesen sein, wenn er das gemacht hat.“

„Er war überhaupt kein Depp!“ schrie Alice. „Er war großherzig und gerecht und dein Hexenkönig war einfach nur gemein!“

„Das soll er ja“, erwiderte Fridolin. „Er ist der Bösewicht, du Trulla. Außerdem verstehe ich nicht, was an Finian gerecht sein soll. Wenn jeder Schätze kriegt, ohne was dafür zu tun, ist man ja schön blöd, wenn man trotzdem arbeitet. Und dann gibt‘s gar nichts mehr zu essen. Genialer König.“

Alice‘ Gesicht nahm einen beleidigten Ausdruck an. Sie wirkte verunsichert. Erstmals, seit Fridolin sie kennengelernt hatte. Das musste er nutzen.

„Ich sag dir was: Schlangenbart erkannte Finians Schwäche und gab nicht so schnell auf.“ Der Junge blätterte weiter zu einer Schlacht. „Seine Frau, Medusa, hatte sehr gute Verbindungen zu den Römern. Caesar schickte ihnen ein Heer und gemeinsam haben sie Finian platt gemacht. Tausende verloren ihr Leben und überhaupt keiner wurde wieder lebendig gezaubert. Endlich war Schlangenbart König über Niemandsreich.“

„Kann er doch gar nicht!“ protestierte Alice. „Den Herrscherstab hatte immer noch Finian!“

„Ach, hatte ich das vergessen?“ Gelassen griff Fridolin nach einem Lesebuch, das ihm eine stärkere Waffe zu sein schien, und zeigte Alice eine Illustration zur „Schneekönigin“ von Hans-Christian Andersen. „Auf dem Gipfel des Winterbergs lebte die Schneekönigin. Sie war eine bösartige Tyrannin, der es gar nicht gefiel, dass Finian mit seinem Feuerstrahl ihren Palast geschmolzen hatte. Sie griff ihn an und hat alle seine Untertanen schockgefrostet. Finian musste fliehen, und sie übernahm seine Festung und damit den Herrscherstab. Dann verbündete sie sich mit Schlangenbart, Medusa wurde aber eifersüchtig und hat die Schneekönigin versteinert. Von da an herrschten der Hexenmeister und seine Gemahlin glücklich und zufrieden über ganz Niemandsreich. Geil, was?“

„Nein, überhaupt nicht!“ schrie Alice. „Das ist ein total blödes Ende, und so ist es auch gar nicht passiert! Das hast du dir bloß ausgedacht!“

„Du etwa nicht?“ gab Fridolin zurück.

„Nein!“ Alice nahm ihm das Lesebuch ab und legte es sorgsam zurück in die Kiste. „Niemandsreich gab es wirklich. Das weiß ich. Und es wurde von einem guten König regiert. Nicht von deinem doofen Hexenmeister.“

„Warst du schon mal da?“ fragte Fridolin. „Das ist doch nur ein Haufen alter Schulbücher. Die haben so viel mit sagenumwobenen Königreichen zu tun wie ‘ne Rolle Klopapier. Mann, die Geschichte ist echt nicht schlecht. Die sollten wir aufschreiben. Oder was hältst du davon, wenn wir ‘nen Comic draus machen? Ich kann gut zeichnen. Wir könnten es an eine Zeitung schicken und dann …“

Alice unterbrach ihn, indem sie den Truhendeckel so laut zuwarf, dass Fridolin zusammenfuhr. Verständnislos sah er sie an.

„Das sollte ein Kompliment sein.“

„Ich erzähle dir nie wieder was! Ich habe diese Bücher noch nie jemandem gezeigt“, schluchzte sie. „Und du machst dich darüber lustig!“

„Ja, weil man sich über diese Geschichte nur lustig machen kann“, antwortete er. „Mal ehrlich: Merlins Sohn soll ‘ne Provinz im Harz gehabt haben? Das glaubst du doch wohl selber nicht. Aber im Ernst, als Comic könnte das echt gut werden.“

„Das ist aber kein bescheuerter Comic!“ schrie Alice noch lauter. „Das ist echt und …, und du tust so, als wäre alles nur ein Spaß!“

„Und du solltest langsam wieder runterkommen“, gab Fridolin zurück. „Sorry, aber Ludwig der Vierzehnte war nun mal nicht König Arthur.“

„Du hast wirklich gar nichts verstanden!“ Alice versetzte ihm einen Stoß, als wollte sie ihn aus ihrem Versteck vertreiben, aber Fridolin verspürte ohnehin nicht das Bedürfnis, länger zu bleiben.

„Und du hast ’ne Meise!“ rief er. „Echt! Du und dein dämlicher Finian, ihr könnt mich mal!“ Er zeigte Alice einen Vogel und ging.

Das Mädchen blieb weinend, wütend und vor allen Dingen enttäuscht vor der Truhe stehen.

„Hau doch ab!“ Mutlos ließ sie sich auf den Deckel der Kiste fallen, fuhr sich über die Augen und spürte, wie ihre Lippen vor Zorn zitterten. Ihr Leben lang war Alice allein gewesen, aber noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt wie heute. Sie hatte Fridolin ihr größtes Geheimnis verraten. Er hatte bei seinem Leben geschworen, es niemandem zu verraten, und jetzt wollte er einen Comic daraus machen. Am besten, er verschwand wieder. Seine Familie konnte er gleich mitnehmen. Die Geister hatten sie von Anfang an nicht gemocht.

Alice erinnerte sich an das Handy und den Zorn, den sie darin gespürt hatte. Denselben Zorn wie in ihrem Traum. Niemals zuvor waren die Geister zornig gewesen. Erst seit diese Familie aufgetaucht war, kam alles ins Ungleichgewicht. Sie sollte auf die Toten hören. Sie waren oft klüger als die Lebenden, und wenn sie jemanden fürchteten, hatten sie einen Grund dazu. Am besten, sie nahm das Handy noch einmal in Augenschein. Es war niemals gewiss, ob einem Geist die Rückkehr ins Jenseits gelang.

„Konrad ist noch nicht zurück?“ Johanna brauchte nur ins Gesicht ihrer Mutter zu schauen, um zu merken, was los war.

Besorgt warf sie einen Blick aus dem Fenster. So lange wäre er nie freiwillig draußen geblieben. Inzwischen war es später Nachmittag. Regen fiel aus einer formlosen Nebelmasse. So fein, dass man nicht die Tropfen, sondern nur die Nässe spürte. Völlig egal wie kindisch ihr Bruder sich aufgeführt hatte, ob er es verdient hatte oder nicht: Sie musste etwas tun. Es würde bald dunkel.

„Ich such ihn.“

„Du bleibst hier!“ Ihre Mutter klang gereizter als vermutlich beabsichtigt. Sie und ihre Tochter hatten beide eine gewisse Neigung, bei Stress aus der Haut zu fahren.

„Ich nehm mein Handy mit und bleib in der Nähe“, versprach Johanna. „Würde mich sowieso nicht wundern, wenn sich Konni einfach nur irgendwo in der Burg versteckt hat. In den verwinkelten Räumen findet man sich ja selbst kaum wieder.“

Im Wohnzimmer begegnete ihr Alice. Mit den Arbeitshandschuhen ihres Onkels und einer übergroßen Schutzbrille untersuchte sie das kaputte Handy.

„Hay. Wolltest du das Ding da nicht unschädlich machen?“

„Das habe ich versucht“, erwiderte das Mädchen aufgeregt. „Aber ich konnte nichts tun. Der Geist ist zu stark. Er sendet mir immer wieder Nachrichten.“

„Ach wirklich?“ Johanna klang nicht allzu interessiert. „Sag mal, weißt du, wo Konrad ist?“

Alice schüttelte den Kopf.

„Ich habe ihn schon lange nicht gesehen und Fridolin auch nicht. Der kann bleiben, wo der Pfeffer wächst.“

„Ich dachte, ihr wolltet zusammen nach Geistern suchen?“

„Dafür brauch ich den Blödmann nicht. Ich habe ihm vertraut, und er hat sich über mich lustig gemacht. Er war total gemein zu mir, und dann hat er gesagt, dass ich eine Meise habe.“

Johanna seufzte.

„Das meint er nicht so. Manchmal sind Jungs eben Idioten. Was hat er denn gemacht?“

„Das kann ich dir nicht sagen“, schniefte Alice. „Es war ein Geheimnis, und er hat alles zerstört. Jetzt ist der arme Finian schockgefrostet und … und seine Gefolgschaft auch; und Fridolin ist daran schuld!“

„Was?“ fragte Johanna verständnislos. „Wer ist Finian?“

„Ich habe doch gesagt, das ist ein Geheimnis“, weinte Alice. „Ich habe es Fridolin verraten, weil ich dachte, man könnte ihm vertrauen, und jetzt sind alle tot!“

„Das hört sich ja dramatisch an“, stellte Johanna fest, die nicht begriff, worum es ging. Sie beschloss daher, nicht weiter auf die Geschichte einzugehen und stattdessen so sanft wie möglich zu fragen: „Wo ist Fridolin denn? Ich rede mal mit ihm.“ Wenn sie Glück hatte, wusste der vielleicht, wo Konrad steckte.

„Das hilft Finian jetzt auch nicht mehr.“ Alice fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. „Aber wenn du willst: Ich glaube, er ist in den Gewölbekellern. Ich kann dich hinbringen.“

Ein Meisterwerk. Zufrieden betrachtete Fridolin seine erste Zeichnung. Medusa sah so böse aus, dass er sich fast selbst vor ihr fürchtete. Zu den gelben Augen hatte ihn seine nächtliche Begegnung inspiriert. Wenn es einen Blick gab, der versteinern konnte, dann dieser. Er machte sich an die nächste Figur.

Im bewohnbareren Teil der Katakomben hatte er einen Raum gefunden, in dem er ungestört zeichnen konnte. Die Idee, aus Niemandsreich einen Comic zu machen, gefiel ihm immer besser. In seiner Version würde natürlich der Hexenkönig gewinnen. Schurken hatten Fridolin schon immer beeindruckt. Sie fürchteten sich vor gar nichts, sie waren mächtiger, gerissener und klüger als die Helden. Wer brauchte Schwachköpfe wie Finian? Weichliche Nichtskönner, die jede Gelegenheit ungenutzt ließen und am Ende gewannen, obwohl sie sich dümmer anstellten als Johanna beim Eislaufen.

Sorgfältig malte Fridolin ein Oval und teilte es durch zwei Linien. Schlangenbart brauchte harte, edle Züge. Die Augen mussten schmal und böse sein, mit einem Blick, der einen förmlich durchbohrte. Er griff nach einem weicheren Bleistift, um die Krone zu schraffieren. Sie würde silbern sein mit schwarzem Obsidian und Drachen, die sich um die Zacken wanden.

Zufrieden betrachtete Fridolin schließlich das Ergebnis. Der Hexenkönig hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bösewicht aus seiner Lieblingshorrorserie. Ein ausgezeichneter Gegner für König Finian. Schadenfroh löste Fridolin ein weiteres Blatt aus seinem Block.

Bald stapelten sich dutzende Zeichnungen neben ihm: Medusa, die schöne aber frostige Schneekönigin, Brockenhexen und Ungeheuer jeglicher Art, um Finian fertigzumachen. Gerade wollte er die Reißzähne eines Ogers schattieren, als ihn eine Stimme zusammenfahren ließ:

„Ach, hier steckst du.“

„Na toll!“ Wütend, weil er vor Schreck einen Strich über sein Monster gekrakelt hatte, sah er sich zu Johanna um.

Seine Schwester schaltete ihre Taschenlampe aus und schob sich an einem Stapel alter Zeitungen vorbei durch die Tür.

„Was macht du hier? Ich hab dich ewig gesucht.“

„Konnte ich ja nicht wissen, oder?“ Fridolin wandte sich wieder dem Oger zu. „Super. Wegen dir ist jetzt das ganze Bild hin.“

„Was soll das überhaupt sein?“ Johanna beugte sich über die Zeichnung. „Hulk mit Hasenohren?“

„Das sind Hörner, du Pfosten!“

„Ah.“ Johanna nickte nicht allzu interessiert, während sie die anderen Bilder betrachtete. „Und die hier?“ fragte sie, als ihr Blick auf eine Kriegerin fiel, die eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihr selbst hatte. Kurze, dunkle Haare und eine lange Nase. Das Einzige, das fehlte, war die Brille. Typisch Comic-Kriegerin: Viel zu knappes Röckchen und der Brustpanzer reduzierte sich auf ein stählernes Bikinioberteil. So etwas würde Johanna nie tragen. Obwohl es auf dem Bild gar nicht mal übel … Nein. Sie verwarf den Gedanken rasch wieder.

„Die Räuberkönigin“, erklärte Fridolin stolz. „Ich habe dich als Vorbild genommen. Siehst du?“