Nietzsche und das Christentum - Karl Jaspers - E-Book

Nietzsche und das Christentum E-Book

Karl Jaspers

0,0

Beschreibung

Die kleine Schrift von Karl Jaspers weist auf eine oft übersehene Tatsache hin: Das Bekenntnis Friedrich Nietzsches zu Jesus – und das mitten im 'Antichrist', dem 'Fluch auf das Christentum'. Nietzsche zeichnet dabei das Bild eines Menschen, das mit der 'Vertretungssoteriologie' des Christentums nichts mehr zu tun hat. Darüber hinaus stellt er seine Gedanken als ein Angebot dar, das jeder Einzelne, immer wieder neu, zu prüfen hat. "Wenn Nietzsche das einschneidendste philosophische Ereignis nach dem Ende des philosophischen Idealismus in Deutschland ist, so kann der Gehalt dieses Ereignisses offenbar nicht wesentlich ein Inhalt, ein Bestand, eine Wahrheit sein, die man in Besitz nehmen könnte, sondern nur die Bewegung selbst, das heißt ein Denken, das ganz und gar nicht abschließt, sondern den Raum frei macht, keinen Boden bereitet, sondern nur ein unbekanntes Zukünftiges ermöglicht." Karl Jaspers

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 154

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



KARL JASPERS

NIETZSCHE UND DAS CHRISTENTUM

onomato verlag

Die Erstausgabe zu dieser Neuedition erschien 1946 im Verlag der Bücherstube Seifert Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung © Hans Saner

onomato Verlag 2011

Satz: Silke Kramer Edition: Silke Kramer und Marco A. Sorace

Einleitung

Nietzsches Kampf gegen das Christentum erwächst aus seiner eigenen Christlichkeit

Es ist bekannt, mit welch unerhörter Schroffheit Nietzsche das Christentum verworfen hat. Ein Beispiel: „Wer mir in seinem Verhältnis zum Christentum heute zweideutig wird, dem gebe ich nicht den letzten Finger meiner zwei Hände. Hier gibt es nur eine Rechtschaffenheit: ein unbedingtes Nein“.1

Nietzsche vollzieht eine Entlarvung des Christentums, mit einer Sprache der Empörung und der Verachtung, in einem Stile, der von ruhiger Untersuchung bis zum Pamphlet geht. Er stellt mit einem außerordentlichen Reichtum an Gesichtspunkten christliche Wirklichkeiten bloß. Indem Nietzsche die Gründe früherer Gegnerschaften in sich aufnahm, wurde er selbst zum neuen Ursprung eines vielleicht noch nie so radikalen und bis ins letzte bewußten Kampfes gegen das Christentum.

Wer nur diese Feindschaft kennt, der wird sich beim Studium Nietzsches verwundern: Er findet Sätze, die mit den antichristlichen durchaus unverträglich scheinen. Nietzsche kann vom Christentum sagen: „es ist doch das beste Stück idealen Lebens, welches ich wirklich kennen gelernt habe: von Kindesbeinen an bin ich ihm nachgegangen, und ich glaube, ich bin nie in meinem Herzen gegen dasselbe gemein gewesen“.2 Er vermag die Wirkung der Bibel zu bejahen: „Die Art, mit der im ganzen bisher die Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christentum verdankt ...“3 Ja, Nietzsche, der von beiden Eltern her aus Pfarrersfamilien stammt, sieht die „vornehmste Art Mensch“, der er begegnet sei, in dem vollkommenen Christen: „ich rechne es mir zur Ehre, aus einem Geschlecht zu stammen, das in jedem Sinne Ernst mit seinem Christentum gemacht hat“.4

Würden wir im Einzelnen Nietzsches Aussagen über christliche Gegenstände durchgehen, wir würden fast überall – z. B. in Bezug auf den „Priester“ und auf die „Kirche“ – diese schwer vereinbaren Wertschätzungen finden, wenn auch dem Umfang nach die negativen Wertungen bei jedem dieser Gegenstände im Vordergrund stehen, so sehr, daß die positiven fast verschwinden:

Die Priester nennt er „tückische Zwerge“, eine „parasitische Art Mensch“, „gesalbte Weltverleumder“, „Giftspinnen des Lebens“, die „geschicktesten bewußten Heuchler“ – und doch vermag er wiederholt „zu Ehren der priesterlichen Naturen“ zu sprechen: ,,Das Volk hat tausendfach Recht dazu, gerade dieser Art Mensch zu huldigen: den milden, ernsteinfältigen und keuschen Priesternaturen, die zu ihm gehören und aus ihm kommen, aber wie Geweihte, Auserlesene, seinem Wohl Geopferte, vor denen es ungestraft sein Herz ausschütten kann ...“5 Mit fast scheuer Achtung steht Nietzsche vor gewissen Priestertypen: Das Christentum, meint er, „hat vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeißelt: die Gestalten der höheren und höchsten katholischen Geistlichkeit ... Hier erreicht das menschliche Antlitz jene Durchgeistigung, die durch die beständige Ebbe und Flut der zwei Arten des Glücks (des Gefühls der Macht und des Gefühls der Ergebung) hervorgebracht wird ... hier herrscht jene vornehme Verachtung gegen die Gebrechlichkeit von Körper und Glück, wie sie geborenen Soldaten zu eigen ist ... Die mächtige Schönheit und Feinheit der Kirchenfürsten hat immerdar für das Volk die Wahrheit der Kirche bewiesen ...“6 Nietzsche bewundert bei den sonst von ihm verlästerten Jesuiten, „welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbücher predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen soll“7.

Die Kirche sieht Nietzsche in Todfeindschaft gegen alles Vornehme auf Erden. Sie vertritt ihm die Wertschätzungen von Sklaven, sie kämpft gegen alle Größe des Menschen, sie ist die Organisation der Kranken, sie treibt bösartige Falschmünzerei. Aber wiederum kann Nietzsche die Kirche respektieren als Macht und zwar gerade als diese Art von Macht: „eine Kirche ist vor allem ein Herrschaftsgebilde, das den geistigeren Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der Geistigkeit soweit glaubt, um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten, – damit allein ist die Kirche unter allen Umständen eine vornehmere Institution als der Staat“8. Nietzsche denkt daran, daß die Kraft der katholischen Kirche „auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen“ beruht, „welche sich das Leben schwer und bedeutungstief machen“9. Darum findet auch der Kampf gegen die Kirche keineswegs in jedem Falle Nietzsches Beifall: „Der Kampf gegen die Kirche ist unter anderem auch der Kampf der gemeineren, vergnügteren, vertraulicheren, oberflächlicheren Naturen gegen die Herrschaft der schwereren, tieferen, beschaulicheren, das heißt böseren und argwöhnischeren Menschen, welche mit einem langen Verdachte über den Wert des Daseins, auch über den eigenen Wert brüteten ...“10

Es ist genug der Beispiele für diese entgegengesetzten Deutungen und Wertschätzungen Nietzsches. Jedes Nietzsche-Verständnis fordert, solche Widersprüche zu verstehen; denn Nietzsches Widersprüchlichkeiten sind nicht zufällig. Versuchen wir für die sinngemäße Deutung dieses widerspruchsvollen Verhältnisses zum Christentum einen ersten Hinweis:

Zwar hat Nietzsche seine Nähe zu Christen und seine Herkunft aus dem protestantischen Pfarrhaus als etwas Unersetzliches bewertet. Aber diese Nähe bedeutet ihm doch etwas ganz anderes, sobald er sich bewußt wird, daß die Christen zumeist keine vollkommenen sind. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist von jeher das Bewegende im Christentum. Oft genug mögen der Anspruch, der Unmögliches verlangt, und die Wirklichkeit, die nicht gehorcht, unbetroffen nebeneinander her gehen. Dann aber, wenn sie einander keine Ruhe lassen, kann das Außerordentliche erwachsen. In diesem Sinne beobachtet Nietzsche, daß der „innerliche verwegene Skeptizismus in Deutschland gerade bei den Kindern des protestantischen Pfarrhauses“ erwachsen ist; warum? „allzu viele von den deutschen Philosophen und Gelehrten“ haben „als Kindern von Predigern dem Priester! zugesehen – und glauben folglich nicht mehr an Gott ... die deutsche Philosophie ist wesentlich Unglaube an die homines religiosi und die Heiligen zweiten Ranges, an alle die Land- und Stadtpfarrer, hinzugenommen die Theologen der Universität ...“11

Damit ist ein Grundzug in der eigenen Leidenschaft Nietzsches angedeutet: Nietzsches Feindschaft gegen das Christentum als Wirklichkeit ist untrennbar von seiner tatsächlichen Bindung an das Christentum als Anspruch. Und diese Bindung hält er selbst nicht für eine nur abzuschüttelnde, sondern für eine sehr positive. Er ist sich bewußt, daß erst der moralische Antrieb des Christentums die Grenzenlosigkeit des Wahrheitswillens hervorgerufen hat, und „daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat“12. Daher fordert Nietzsche: „alles Christliche durch ein Überchristliches überwinden und nicht nur von sich abtun“.13 So also versteht sich Nietzsche: Sein Denken ist aus dem Christentum erwachsen durch die christlichen Antriebe selbst. Sein Kampf gegen das Christentum will keineswegs das Christentum einfach preisgeben, nicht es rückgängig machen und nicht aus ihm zurückfallen, sondern er will es überwinden und überbieten, und zwar mit Kräften, die das Christentum und in der Welt nur dieses entwickelt hat.

Wenn Nietzsche weiß: „Wir sind keine Christen mehr“, so fügt er gleich hinzu: „es ist unsere strengere und verwöhntere Frömmigkeit selbst, die uns heute verbietet, noch Christen zu sein“14. – Wenn er aller Moral sein „Jenseits von Gut und Böse“ entgegenstellt, so will er aus Moral mehr als Moral: „Wir wollen die Erben der Moral sein, nachdem wir die Moral zerstört haben“15. Wir haben „als hohes Resultat der bisherigen Menschheit den moralischen Sinn“16. „Unser ganzes Tun ist nur Moralität, welche sich gegen ihre bisherige Form wendet“.17

Aus den christlichen Antrieben, d. h. aus der moralisch auf das Höchste gesteigerten Wahrhaftigkeit, hat nun aber schon von jeher ein christlicher Kampf gegen die wirkliche Christenheit stattgefunden, die da ist in der Macht der Kirche und in dem tatsächlichen Sein und Verhalten der Menschen, die Christen heißen. Dieser Kampf innerhalb der christlichen Welt hat Folgen gehabt, als deren letzte Konsequenz sich Nietzsche fühlt. Er glaubt dieser christlichen Zucht die ungeheure Möglichkeit erwachsen zu sehen, der er selbst sich anvertraut: „Der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schießen ... wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister – wir haben sie noch, die ganze Not des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiß? das Ziel ...“18

Fassen wir zusammen: Nietzsches Grunderfahrung seines eigenen Lebens – aus christlichen Antrieben sich gegen das Christentum zu stellen – wird ihm repräsentativ für einen weltgeschichtlichen Vorgang. Das Geschehen des eigenen Zeitalters hat auf dem geschichtlichen Grunde von Jahrtausenden einen Punkt erreicht, der für die Seele des Menschen, die Wahrheit seiner Wertschätzungen, für das Wesen des Menschseins selbst zugleich höchste Gefahr und höchste Möglichkeit bedeutet. Nietzsche tritt für sein Bewußtsein in dieses Zentrum des weltgeschichtlichen Geschehens. –

Diese Revolution der Seelentiefe zu ermessen, werden wir fragen, wie sie in Nietzsche selbst vor sich gegangen sei. Wir möchten seine ursprüngliche Christlichkeit sehen und dann, wie die Verwandlung geschah. Wir fragen vielleicht, welche religiösen Befreiungskämpfe Nietzsche in seiner Entwicklung aus einem Christen zum Gegner des Christentums vollzogen hat. Aber nichts von dem ist geschehen; vielmehr nahm Nietzsche – und das ist in seinen Folgen für sein gesamtes Denken wesentlich – die christlichen Antriebe von früh an sogleich in der Gestalt auf, wie sie dann bis ans Ende in ihm lebten; d. h. er erfuhr zwar als sein Eigenes eine Unbedingtheit, ein Äußerstes an Moral und Wahrhaftigkeit, aber die christlichen Gehalte, die christlichen Objektivitäten, die christliche Autorität waren schon in ihm als Kind keine Wirklichkeit. Er hatte später nichts abzuschütteln, nicht einmal Märchen preiszugeben. Wir belegen die Denkungsart des Knaben durch einige Beispiele:

Christentum als Glaubensinhalt und Dogma ist ihm von Anfang an fremd; nur als eine menschliche Wahrheit in Symbolen bejaht er das Christentum (1862): „die Hauptlehren des Christentums sprechen nur die Grundwahrheiten des menschlichen Herzens aus.“ Diese Grundwahrheiten sind für den Knaben dieselben wie die seiner späteren Philosophie, z. B.: „Durch den Glauben selig werden heißt, daß nur das Herz, nicht das Wissen glücklich machen kann. Daß Gott Mensch geworden ist, weist darauf hin, daß der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe.“19 Schon zu gleicher Zeit zeichnet er sich Sätze auf, die auch in der Kritik des Christentums das Spätere vorwegnehmen. Gegen den aus der christlichen Anschauungsweise entsprungenen Weltschmerz heißt es: Er sei nichts als ein Versagen an eigener Kraft, sei ein Vorwand der Schwäche, die sich nicht mit Entschiedenheit selbst ihr Los zu schaffen vermöge. Auch schreibt der Knabe schon von dem Zweifel, „ob nicht zweitausend Jahre die Menschheit durch ein Trugbild irregeleitet sei“; oder: „es stehen noch große Umwälzungen bevor, wenn die Menge erst begriffen hat, daß das ganze Christentum sich auf Annahmen gründet; die Existenz Gottes, Unsterblichkeit, Bibelautorität, Inspiration werden immer Probleme bleiben. Ich habe alles zu leugnen versucht: o, niederreißen ist leicht, aber aufbauen!“ Was so von dem Knaben am Anfang hypothetisch, zögernd, abwägend ausgesprochen wird, macht Verwandlungen im Ausdruck durch; vor allem entsteht die Leidenschaft im Betroffensein und im Kampfwillen erst später. Aber die Grundposition ist von Anfang an im Kinde da und bleibt unverändert.

Vergleichen wir in diesem Punkte Nietzsche mit Kierkegaard, so ist der Unterschied radikal. In Kierkegaards Seele senkte sich der christliche Glaube, dem er innerlich bis ans Ende als einem geschichtlichen Gehalt verbunden blieb: „weil mein Vater es mir gesagt hat.“ Nietzsche dagegen ist dem geschichtlichen Gehalt des Christentums von Anfang an fremd gewesen. – In der Folge wurde Kierkegaard in die Tiefe der christlichen Theologie eingeweiht. Nietzsche aber hat von dieser Theologie nicht einmal die Ahnung gewonnen, daß sie Tiefen habe, hat sich um ihre sublimen Gedankenbauten nie gekümmert. –

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich die Grundlinie der von uns geplanten kritischen Analyse: Wir beobachten erstens, wie Nietzsches Kampf gegen das Christentum aus christlichen Antrieben erfolgt und wie weit er sich dessen bewußt ist. Wir sehen zweitens, wie die christlichen Antriebe bei ihm von Anfang an gleichsam unter Verlust der christlichen Gehalte auftreten; sie sind zu einer Energie des bloßen Vorantreibens geworden. Daraus verstehen wir drittens, wie Nietzsches Weg ihn zunächst, im Umschlagen aller irgendwo von ihm eingenommenen Positionen, zum Nihilismus führt. Wiederum wird er dessen inne, und nun vollzieht er bewußt diese Bewegung des Nihilismus als das für das Zeitalter unausweichliche, wenn auch für die Menge erst bevorstehende Geschehen für sich bis zu den letzten Konsequenzen. Das aber tut er nicht, um Nihilist zu bleiben, sondern um die Gegenbewegung gegen den Nihilismus aus einem ganz neuen Ursprung zu gewinnen. Angesichts dieser neuen Philosophie entstehen dann zuletzt unsere Fragen: Hat auch sie noch etwas mit dem christlichen Ausgang zu tun? Ist sie überhaupt wirklich da? Welchen Charakter hat ihre Wirklichkeit?

Bevor wir diese kritischen Fragen erörtern, muß Nietzsches Anschauung vom Wesen und von der Geschichte des Christentums vergegenwärtigt werden. Wir vernachlässigen in deren Darstellung zunächst die widersprechenden Äußerungen und geben das, zumal in seinen letzten Schriften, sich vordrängende einheitliche Bild. Dieses muß in seiner ganzen Schroffheit aufgefaßt werden; dann erst können wir untersuchen, wie weit dieses Bild bei Nietzsche in tieferen Zusammenhängen gesehen werden muß, von denen her es nur wie eine Vordergrundserscheinung wirkt, die von ihm gar nicht als absolute und endgültige Erkenntnis gemeint sein kann.

______

1 GA XVI, S. 408 / KSA 13, S. 416. „Die Zitate erfolgen nach der unter sich identischen Groß- und Klein-Oktavausgabe (GA) der Schwester mit Band- und Seitenzahl. Auslassungen von Worten sind, sofern durch sie der Sinn nicht verändert wird, nicht ausdrücklich gekennzeichnet. Fühlbare Lücken sind durch Punkte angedeutet“, so Jaspers in der Erstausgabe von 1946. Die hier vorliegende Neuausgabe ergänzt diese Quellenangaben durch eine Referenzierung anhand der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebenen Kritischen Studienausgabe von Nietzsches Werken (KSA) und Briefen (KGB). Im Anhang findet sich eine genaue Auflistung der Bände, die Erklärung der Siglen sowie eine Synopse der Nietzsche-Zitate nach beiden Ausgaben.

2 Brief an Gast (Heinrich Köselitz) vom 21.7.1881 / KGB, Abt. 3, Bd. 1, S. 109

3 GA VII, S. 249 / KSA 5, JGB, S. 218

4 GA XIV, S. 358 / KSA 12, S. 156

5 GA V, S. 287f. / KSA 3, FW, S. 587

6 GA IV, S. 59f. / KSA 3, M, S. 60f.

7 GA II, S. 77 / KSA 2, S. 74f.

8 GA V, S. 308 / KSA 3, FW, S. 605

9 GA II, S. 76 / KSA 2, S. 74

10 GA V, S. 286 / KSA 3, FW, S. 586

11 GA XIII, S. 314 / KSA 11, S. 473f.

12 GA VII, S. 275 / KSA 5, GM, S. 401

13 GA XVI, S. 390 / KSA 11, S. 682

14 GA XIII, S. 318 / KSA 12, S. 165

15 GA XII, S. 85 / KSA 9, S. 620

16 GA XI, S. 35 / KSA 8, S. 460

17 GA XIII, S. 125 / KSA 11, S. 135

18 GA VII, S. 5 / KSA 5, JBG, S. 12f.

19 Brief-Fragment an Gustav Krug und Wilhelm Pinder, 27.4.1862 / KGB, Abt. 1, Bd. 1, S. 202

Darstellung der weltgeschichtlichen Ansicht Nietzsches

Drei Fragenkreise sind zu vergegenwärtigen: erstens Nietzsches Bewußtsein der Krise des gegenwärtigen Zeitalters; zweitens seine Lehre von der Herkunft dieser Krise aus dem Christentum; drittens sein Blick auf die Weltgeschichte im Ganzen und die Stellung des Christentums in ihr.

1. Die Krise des gegenwärtigen Zeitalters

Nietzsche entwarf das erschreckende Bild der modernen Welt, das seitdem ständig wiederholt worden ist: das Sinken der Kultur: den Ersatz der Bildung durch ein bloßes Wissen um Bildung; – den Ausgleich des seelischen Substanzverlustes durch eine universale Schauspielerei: das Leben im „als ob“; – die Übertäubung der Langeweile durch Rausch und Sensation; den Lärm des Scheingeistes, in dem nichts mehr wachsen kann: alles redet, aber alles wird überhört; alles wird zerredet; alles wird verraten. – Nietzsche zeigt die Öde des atemlosen Erwerbs, er zeigt die Bedeutung der Maschine, der Mechanisierung der Arbeit, die Bedeutung der Heraufkunft der Massen.

Aber alles das sieht Nietzsche nur als Vordergrund. Heute, „wo alles wackelt, wo alle Erde bebt“, ist das Grundgeschehen ein tieferes, nämlich die Folge eines Ereignisses, das – wie Nietzsche in seinem beruhigten Zeitalter der bürgerlichen Selbstzufriedenheit mit wahrem Grauen sagt – noch niemand merkt; es ist das Ereignis: „Gott ist tot“. „Das ist eine furchtbare Neuigkeit, welche noch ein paar Jahrhunderte bedarf, um den Europäern zum Gefühl zu kommen: und dann wird es eine Zeit lang scheinen, als ob alles Schwergewicht aus den Dingen weg sei“.1

Nietzsche meint einen Befund der gegenwärtigen Wirklichkeit festzustellen. Er sagt nicht: Es gibt keinen Gott, auch nicht einfach: Ich glaube nicht an Gott. Er beschränkt sich auch nicht auf eine psychologische Feststellung der wachsenden Glaubenslosigkeit. Vielmehr macht er eine Seins-Wahrnehmung. Ist diese Wahrnehmung einmal gemacht, so ergeben sich alle einzelnen Züge dieses Zeitalters als Folge des Grundfaktums, ergibt sich alles Bodenlose und Unheilvolle, ergibt sich das Zweideutige und Verlogene, das Schauspielerhafte und unruhig Hastende, das Rausch- und Vergessensbedürfnis dieses Zeitalters.

Bei diesem Grundfaktum bleibt Nietzsche nicht stehen. Er fragt: Warum ist Gott gestorben? Nur eine unter seinen Antworten ist umfassend durchdacht und entwickelt: Ursache des Todes Gottes ist das Christentum. Denn vom Christentum wurde einst alle Wahrheit zerstört, aus der der Mensch vordem lebte: vor allem die tragische Wahrheit des Lebens der vorsokratischen Griechen. Das Christentum setzte dagegen lauter Fiktionen: Gott, moralische Weltordnung, Unsterblichkeit, Sünde, Gnade, Erlösung. Wenn dann die fingierte Welt des Christentums durchschaut wird – denn am Ende bekommt „der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christentum hochentwickelt, Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Weltdeutung“2 –, so kann nur das Nichts übrig bleiben: „der Nihilismus ist die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werte und Ideale“.3 Da für das Christentum schlechthin aller Halt und Wert in Fiktionen lag, muß im Augenblick der Enthüllung der Fiktionen der Mensch in ein solches Nichts sinken, wie er es noch nie in der Geschichte erlebt hat.

Heute ist von alledem erst der Beginn. Die „Heraufkunft des Nihilismus“, sagt Nietzsche, „ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte.“ „Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der an’s Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen“.4

Nietzsches Antwort auf die Frage, warum Gott stirbt – nämlich durch die Konsequenzen des Christentums –, muß der Geschichte des Christentums eine ganz neue Bedeutung geben. Die zwei christlichen Jahrtausende, die hinter uns liegen, sind unser Verhängnis. Wie ist dies Verhängnis vor sich gegangen?

2. Herkunft und Verwandlung des Christentums