Night of Crowns, Band 2: Kämpf um dein Herz - Stella Tack - E-Book

Night of Crowns, Band 2: Kämpf um dein Herz E-Book

Stella Tack

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Beschreibung

Schwarz oder weiß? Welche Seite wählst du in diesem Spiel um Liebe und Tod? Alice hat das magische Spielfeld verlassen, doch dem Fluch kann keiner entkommen. Je verzweifelter Alice nach Antworten sucht, desto mehr düstere Geheimnisse kommen an die Oberfläche. Trotzdem kann sie den dunklen König Jackson nicht vergessen und der weiße König Vincent verfolgt sie bis in ihre Albträume. Damit nicht Zug um Zug weitere Spieler fallen, muss Alice sich dem Fluch stellen. Selbst wenn das bedeutet, sich selbst schachmatt setzten zu lassen. *** Von der Autorin des Bestsellers KISS ME ONCE! ***

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Seitenzahl: 645

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Originalausgabe Als Ravensburger E-Book erschienen 2021 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2021 Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg Text: © 2021 Stella Tack Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de). Covergestaltung: Marie Graßhoff (www.marie-grasshoff.de) unter Verwendung von Fotos von shutterstock: Alex_Po, Jenov Jenovallen, Burhanuddin, CARACOLLA, OLaLa Merkel, Lithian, Daria_Cherry, GoMixer, K N, CHAKRart und Gearstd. Notizzettel: Colourbox.de Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de) Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH

ISBN 978-3-473-51064-1

www.ravensburger.de

Einleitung

Für alle, die mit Tränen in den Augen mutig sind.

Spielfigurenübersicht

Alices Notizen

32 SPIELFIGUREN INSGESAMT

16 SCHWARZE

1 KÖNIG – 1 KÖNIGIN – 2 LÄUFER – 2 TÜRME – 2 SPRINGER – 8 BAUERN

16 WEISSE

1 KÖNIG – 1 KÖNIGIN – 2 LÄUFER – 2 TÜRME – 2 SPRINGER – 8 BAUERN

33. SPIELFIGUR

SLAVE MÖGLICH – UNGEKLÄRT

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 4

GEFALLENE SPIELER

SCHWARZ

WEISS

† Keith – Läufer

† Nixon – Turm

† Page – Springer

† Lark – Bauer

† Amber – Turm

† Hazel – Bauer

† Cloud – Bauer

† Unbekannt – Bauer

Königin

MERKMALE UND FÄHIGKEITEN

DIE KÖNIGIN (DAME) IST NEBEN DEM KÖNIG DIE STÄRKSTE SPIELFIGUR. IHRE REFLEXE SIND STARK AUSGEPRÄGT. SIE KANN SOWOHL BEWUSSTSEINSBEEINTRÄCHTIGENDES GIFT ALS AUCH IHR EIGENES GEGENGIFT PRODUZIEREN. BEI GERINGER DOSIS KANN ES ZU FIEBER, SCHÜTTELFROST, HALLUZINATIONEN ODER KOMATÖSEN ZUSTÄNDEN FÜHREN. BEI HOHER DOSIS PLATZEN DIE LUNGENBLÄSCHEN, WAS ZUM TOD FÜHRT.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 16, SPIELFIGUREN UND IHRE FÄHIGKEITEN IM ÜBERBLICK

Isoldes Schokokuchen

Zutaten:

6 EL Mehl

¼ TL Backpulver

1 Prise Salz

3 EL Kakaopulver

2 EL Zucker

6 EL Milch

3 EL neutrales Speiseöl

1 EL Nuss-Nougat-Creme

Zubereitung:

Mehl mit Kakaopulver, Backpulver, Zucker und Salz in die Tasse geben. Kurz vermischen. Milch, Öl und Nuss-Nougat-Creme hinzugeben. Tasse für 2,5 Minuten bei ca. 600 Watt in die Mikrowelle stellen. Warm genießen.

König

JACK ♥

Bitte verzeih mir …

MERKMALE UND FÄHIGKEITEN

SCHWARZER KÖNIG: DER SCHWARZE KÖNIG KANN FLÜCHE AUSSPRECHEN. DIESE FÄHIGKEIT GILT ALS AUSSERORDENTLICH GEFÄHRLICH UND UNKONTROLLIERBAR. ZUDEM BESITZT ER LEICHTE MAGIEFÄHIGKEITEN, DIE ILLUSIONEN SCHAFFEN KÖNNEN.

WEISSER KÖNIG: DER WEISSE KÖNIG KANN WAHRNEHMUNGEN UND GEDANKEN MANIPULIEREN. ZUDEM BESITZT ER LEICHTE MAGIEFÄHIGKEITEN, DIE ILLUSIONEN SCHAFFEN KÖNNEN.

EIN KÖNIG KANN NUR DURCH EINEN DIREKTEN STICH INS HERZ ODER EINE STARKE VERLETZUNG DES HERZENS AUS DEM SPIEL GENOMMEN WERDEN. ERST WENN DAS HERZ EINES KÖNIGS ZU SCHLAGEN AUFHÖRT, GILT ER ALS SCHACHMATT GESETZT UND DAS SPIEL DAMIT ALS BEENDET.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 17, SPIELFIGUREN UND IHRE FÄHIGKEITEN IM ÜBERBLICK

Bauern

MERKMALE UND FÄHIGKEITEN

BAUERN BESITZEN NUR LEICHTE KRÄFTE. MITUNTER KÖNNEN SIE BESSER SEHEN, RIECHEN, HÖREN ODER SICH SCHNELLER BEWEGEN, GEDANKEN LESEN, LEVITIEREN, UNSICHTBAR WERDEN, SIND KÖRPERLICH STÄRKER ODER VERFÜGEN ÜBER AUSGEPRÄGTE SELBSTHEILUNGSKRÄFTE ETC.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 12, SPIELFIGUREN UND IHRE FÄHIGKEITEN IM ÜBERBLICK

Grave: Selbstheilung

Lark: Unsichtbar

Flora: Lügen erkennen

Sol: Lügen einflüstern

… muss herausfinden, was die anderen Spieler können …

Läufer

Sind alle superstark? → Jack fragen RIP Keith :(

MERKMALE UND FÄHIGKEITEN

LÄUFER SIND MIT ELITESOLDATEN VERGLEICHBAR. SIE SIND KÖRPERLICH STARK, SCHNELL, BEINAHE LAUTLOS UND (MITUNTER) DIE AKTIVSTEN KÄMPFER IM SPIEL.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 14, SPIELFIGUREN UND IHRE FÄHIGKEITEN IM ÜBERBLICK

Springer

MERKMALE UND FÄHIGKEITEN

SPRINGER KÖNNEN AUSGESPROCHEN HOCH SPRINGEN UND AGIEREN AUCH MEIST AUS DER HÖHE HERAUS. IHRE ZIELGENAUIGKEIT, NACHTSICHT, RUHE UND KONZENTRATION SIND STARK AUSGEPRÄGT. SIE ÜBERWACHEN DAS SPIELFELD UND GREIFEN AUS DEM HINTERHALT AN. SPRINGER AGIEREN IM ZWEIERTEAM.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 13, SPIELFIGUREN UND IHRE FÄHIGKEITEN IM ÜBERBLICK

St. Burrington:

Hawkins

Chesterfield:

Ebony & Ivory (Hitachi-Zwillinge)

Hat Ebony eigentlich jemals gesprochen?

Türme

Bisher unbekannter Spieler:DAGGER (weißer Rabe)

MERKMALE UND FÄHIGKEITEN

TÜRME HABEN EINEN STARK AUSGEPRÄGTEN SEH-, HÖR- UND GERUCHSSINN UND BENÖTIGEN WENIG SCHLAF. SIE KÖNNEN ZUDEM IHRE GESTALT WECHSELN.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 15, SPIELFIGUREN UND IHRE FÄHIGKEITEN IM ÜBERBLICK

Slave

Der Sklave wählt die Farbe. Der Sklave wählt die Figur. Die Entscheidung beendet das Spiel.

MERKMALE UND FÄHIGKEITEN

GERÜCHTEN ZUFOLGE IST DER SLAVE VARIABEL EINSETZBAR. ER KANN JEDE BELIEBIGE GEFALLENE FIGUR – EGAL AUF WELCHER SEITE – ERSETZEN. ZUDEM KURSIERT DAS GERÜCHT, ER KÖNNE GEFALLENE SPIELFIGUREN ZURÜCKBRINGEN. ALTERNATIV HEISST ES, DER SLAVE EXISTIERE, UM EINEM DER KÖNIGE ZU DIENEN. EINE WEITERE THESE LAUTET, ER SEI ESSENZIELL, UM DEN FLUCH ZU BRECHEN, WOBEI HIERZU KEINERLEI GENAUE INFORMATIONEN VORLIEGEN.

KEINES DER GERÜCHTE KONNTE BISHER BEWIESEN ODER WIDERLEGT WERDEN. SOLLTE DER SLAVE EIN ERKENNUNGSZEICHEN BESITZEN, IST ES BISLANG UNBEKANNT.

EINZIGE ERWÄHNUNG SIEHE S. 30, ABSCHNITT F.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 18, SPIELFIGUREN UND IHRE FÄHIGKEITEN IM ÜBERBLICK

Spielregeln im Überblick

DAS SPIEL BEGINNT, SOBALD BEIDE KÖNIGE DAS 18. LEBENSJAHR VOLLENDET UND ALLE 16 SPIELFIGUREN BEIDER SEITEN DAS SPIELFELD BETRETEN HABEN.

WÄHREND DES SPIELS KANN KEINER DER SPIELER DAS SPIELFELD VERLASSEN.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 23

Spiel um dein Schicksal

JEDE SPIELSEITE HAT ABWECHSELND 24 STUNDEN ZEIT, UM EINEN ODER MEHRERE SPIELZÜGE AUSZUFÜHREN.

DIE SPIELZÜGE SIND NACH ANWEISUNGEN DES JEWEILIGEN KÖNIGS DURCHZUFÜHREN. ANWEISUNGEN DES KÖNIGS SIND IN JEDEM FALL ZU BEFOLGEN.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 48

UM EINE FIGUR AUS DEM SPIEL ZU NEHMEN, MUSS DER BETREFFENDE VON EINER GEGNERISCHEN FIGUR VERLETZT WERDEN, SODASS SEIN BLUT AUF DAS SPIELFELD FÄLLT. DER VERLETZTE SPIELER VERSTEINERT DARAUFHIN.

DIE DAUER DES SPIELS IST NICHT FESTGELEGT. WEIGERN SICH DIE KÖNIGE JEDOCH, DAS SPIEL ZU SPIELEN, ODER PAUSIEREN SIE ABSICHTLICH, SORGT DER FLUCH DAFÜR, DASS WEITERGESPIELT WIRD. MÖGLICHE FOLGEN FÜR DIE KÖNIGE SIND SCHLAFSTÖRUNGEN, SCHMERZEN, WAHNSINN, HALLUZINATIONEN, WUTAUSBRÜCHE, KRANKHEIT ETC.

NUR DER KÖNIG KANN AUCH SPIELER AUS SEINEN EIGENEN REIHEN OPFERN.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 77

WIRD EIN KÖNIG STARK VERLETZT, GILT ER ALS SCHACH GESETZT UND DAS SPIEL PAUSIERT, BIS ER SICH WIEDER ERHOLT HAT.

IN DER SCHACHPHASE VERLIEREN ALLE SPIELER IHRE KRÄFTE.

DAS SPIEL ENDET, SOBALD DAS HERZ EINES KÖNIGS ZU SCHLAGEN AUFHÖRT.

AUS DEM SPIELERHANDBUCH, S. 213

Kämpf um dein Herz

Kapitel 1

»Alice«, hörte ich Jackson auf der anderen Seite der Mauer rufen. »Komm zurück!«

Ich hielt mir die Ohren zu und rannte los.

»Bitte!«

Ich rannte schneller, und obwohl Tränen meine Sicht verschleierten, hielt ich nicht an. Kein einziges Mal.

Schluchzend folgte ich dem schmalen Trampelpfad. Die Sonne brannte so heiß auf mich herunter, dass die herablaufenden Tränen beinahe sofort wieder trockneten, ehe neue die vorgezogenen Spuren nachzeichnen konnten. Zweige peitschten mir ins Gesicht. Ich trat auf spitze Steine und Äste. Wahrscheinlich blutete ich längst, doch ich konnte nicht stehen bleiben oder langsamer werden. Neben mir verlief die verfluchte rote Mauer, hinter der Jackson mich verfolgte. Ich spürte ihn tief in meinen Knochen, hörte ihn voller Verzweiflung nach mir schreien.

Ruckartig verließ ich den Pfad und bog scharf nach links ab. Vor mir tat sich ein abschüssiger Hang auf. Er war steil, doch ich nahm ihn trotzdem, ich musste weg von dieser Mauer.

Weg von Jackson.

Alice, lass uns nicht im Stich!

Ich hörte seine Stimme wie ein verzweifeltes Tier in meinem Kopf brüllen und stolperte. Mit wackligen Knien stützte ich mich an einem Ast ab. Ich sah nicht zurück, doch ich murmelte: »Ich komme zurück. Versprochen!«

Alice! Bitte!

Ich rannte weiter. Erde und Tannennadeln stachen mir in die ohnehin schon aufgerissenen nackten Füße. Der Hang rutschte unter mir weg. Hektisch hielt ich mich an einem tief hängenden Ast fest. Der Weg war so steil, dass ich beinahe vertikal heruntersteigen musste. Ein falscher Schritt, und ich würde mir das Genick brechen. Vor Anstrengung rasselte mir der Atem in der Lunge. Ich stieg über eine spitzkantige Felsformation und sah tief unter mir, wie sich die dicht stehenden Bäume lichteten und der Hang auf eine Straße hinauslief. Eine gepflasterte Schnellstraße, die hoffentlich direkt nach Foxcroft führte.

»Gott sei Dank.« Zittrig packte ich einen weiteren Ast, setzte den Fuß ab und spürte im selben Augenblick, wie ich ins Rutschen geriet. »Fuck!«

Ich packte den Ast fester und hörte es knacken, als das Holz zwischen meinen Fingern nachgab. Der Schwung riss mich von den Füßen. Ich ruderte mit den Armen, versuchte, mich aufzufangen, stürzte und krallte meine Finger in den Boden. Die Schwerkraft lachte nur und versetzte mir einen Stoß. Ich kniff die Augen zusammen, als ich ungebremst stürzte. Die Welt drehte sich um mich herum, ich überschlug mich immer und immer wieder, spürte dabei, wie sich Steine in meine Haut gruben. Ein heftiger Schlag auf meine Schläfe kostete mich beinahe das Bewusstsein. Ich würgte, und im nächsten Augenblick kam ich hart auf der Straße auf. Schmerz! Da war überall Schmerz.

»Aua!«

Ich blinzelte Erde aus meinen Augen. Sie brannten. Trotzdem sah ich blauen Himmel über mir. Immer noch schien die Sonne heiß auf mich herab. Die Zikaden schrillten laut. Auf dem Spielfeld war es viel stiller gewesen. Als hätten sich selbst die Insekten davon ferngehalten.

Ich war mir nicht sicher, wie lange ich auf dem heißen Teer lag und mich einfach nur bemühte, nicht ohnmächtig zu werden. Ich schluckte das Gefühl herunter, mich erbrechen zu müssen. Es war ohnehin nichts in meinem Magen. Irgendwann legte sich der Schwindel zumindest so weit, dass ich mich traute, mich aufzusetzen und vorsichtig umzusehen. Ich lag im Graben der Schnellstraße. Als ich aufsah, ragte der Abhang des Walds, hinter dem sich das Spielfeld befand, wie ein unheilvoller Schlund vor mir auf.

Der Wald wirkte düster und warf so lange Schatten, dass ich die wuselnden Bewegungen erst bemerkte, als mir bereits lange, zitternde Spinnenbeine über die Haut huschten.

Ich zuckte zusammen und schlug den Fluchweber blitzschnell von mir ab. Er hinterließ eine schmierige, schwarze Spur auf meiner Haut. Vielleicht war es Blut, vielleicht auch etwas anderes. Um es genauer zu untersuchen, blieb mir keine Zeit, denn ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie aus den tiefen Schatten auf mich zukamen. Nicht nur einer, sondern Hunderte Fluchweber. Sie kullerten praktisch zu mir herab, begleitet von einem wütenden, klackenden Zirpen, bei dessen Klang sich mir ruckartig die Nackenhaare aufstellten. Es kam mir vor, als würde die gesamte Erde vor mir in Bewegung geraten. Die Fluchweber schälten sich aus dem Schatten, ließen sich von den Bäumen fallen oder krabbelten direkt aus der Erde, als würde das Dunkel sich selbst ausspucken. Die Geräusche, die sie dabei verursachten …

Eiskaltes Adrenalin flutete meine Venen, und obwohl ich kaum noch Kraft hatte, quälte ich mich auf die zitternden Füße. Mein Atem kam gepresst aus meiner Lunge. Alles schmerzte. Vielleicht schluchzte ich auch, doch ich verbot mir, hier und jetzt zusammenzubrechen.

Bebend humpelte ich auf die Straße hinaus. Das klickende, zirpende Geräusch der Fluchweber kam immer näher, und ich spürte, wie mir bereits die ersten wütenden Exemplare den Rücken hinaufkrabbelten.

Schnaufend wischte ich mir einen von der Wange, als ein röhrendes Geräusch die Luft durchtrennte. Wie ein Fluchttier hob ich ruckartig den Kopf und sah ein Auto auf mich zukommen. Ein echtes Auto … mit einem normalen Menschen darin.

»An…anhalten! Halt! Bitte anhalten!«, brüllte ich, so laut ich konnte, und winkte mit beiden Armen.

Das Auto – ein silberner Volvo – fuhr einfach unbeirrt weiter.

»Nein, nein, bitte nicht! Bitte stehen bleiben!«, rief ich und sprang auf die Straße.

Zugegebenermaßen gab es schlauere Dinge. Doch ich stand unter Adrenalin, hatte Schmerzen, und hinter mir nahte eine ganze Flutwelle an Fluchwebern. Als ich mitten auf der Fahrbahn verzweifelt mit den Armen wedelte, passierte es.

Das Gefühl war so ähnlich, als würde sich meine Seele kurz ausklinken und von oben auf das Spektakel herabsehen. Ich sah das Auto auf mich zukommen. Hörte das Quietschen der Reifen, als der Fahrer viel zu spät bremste, und beobachtete, wie mein weicher Körper gegen die harte Karosserie knallte. Meine Rippen brachen mit einem lauten Knacks, der durch meinen gesamten Körper hallte. Der Schock holte mich zurück in meinen Körper. Wie ein Gummiband schnalzte meine Seele zurück, und ich spürte, wie die Wucht des Aufpralls mich packte und über das Auto schleuderte. Eine Rippe musste sich in meine Lunge gebohrt haben, denn ich bekam schlagartig keine Luft mehr, während sich die Welt um mich drehte. Mein Schädel knallte gegen die Scheibe. Das Quietschen der Bremsen und der Geruch nach verbannten Reifen reizte meine Sinne. Glas splitterte. Ich rollte über das Dach und krachte auf dem heißen Asphalt zu Boden.

Ich hörte jemanden schreien, während ich mich umdrehte und Blut über die Straße spuckte. Rot. Die Welt wurde langsam in dunkles Blutrot getaucht. Dann wurde es dunkel.

Im nächsten Augenblick war da nur noch Schwärze.

Kapitel 2

Das Nächste, was ich mitbekam, war ein unangenehm punktuelles Licht.

Ruckartig zogen sich meine Pupillen zusammen, und ein scharfer Schmerz jagte mir durch den Schädel.

»Aua!« Ich zuckte zurück.

»Pupillenreflexe normal, Puls ebenso. Ihr könnt euch beruhigen, Jungs. Ich übernehme ab hier«, flötete eine Stimme.

Das Licht verschwand aus meinen Augen. Ich blinzelte und starrte auf eine etwas verschwommene gelbliche Decke, die aussah, als hätte jemand meine Welt in Sepiafarben getaucht. Ich schluckte, obwohl sich meine Zunge grauenvoll pelzig anfühlte.

»Oh, du bist wach. Kannst du mir deinen Namen sagen?«

Ein Schemen schob sich heran und beugte sich über mich. Das grelle Licht über uns flackerte. Einmal, zweimal.

Eine Krankenschwester lächelte mich an. Sie trug einen etwas altbackenen rosa Kittel, und ihre blonden Haare sahen aus, als hätte sie die Frisur in den Siebzigern machen lassen.

»Mädchen? Kannst du mich hören?«, wiederholte sie und lächelte breit. Ihre Stimme klang verzerrt in meinen Ohren, als würde sie einen winzigen Tick zu langsam sprechen.

Ich starrte sie an. Sie erinnerte mich an eine Barbie, was eventuell auch an der Reihe unglaublich gerader Zähne lag, die strahlend weiß in ihrem Mund aufblitzten.

Ich zwang meine pelzige Zunge loszustolpern. »Alice … Ich bin Alice Salt.«

»Weißt du, was mit dir passiert ist, Alice?«

»Ich wurde angefahren?«

»Sehr gut«, zwitscherte sie, als hätte ich gerade bei Der Preis ist heiß die Gewinnerfrage beantwortet, und tätschelte mir tatsächlich die Wange. Ihre Finger waren unangenehm kalt.

»Wo … wo bin ich?«, fragte ich krächzend, während ich mich mit hektisch klopfendem Herzen umsah. Das Licht musste defekt sein, denn es flackerte immer weiter. Eigentlich litt ich nicht unter Klaustrophobie, doch die schmutzig grünweißen Wände des Raums wirkten, als würden sie immer enger rücken. Mein Atem ging schwer.

»Du bist im Foxcroft Memorial«, erklärte mir die Krankenschwester freundlich. »Du befindest dich hier in guten Händen. Die Sanitäter haben dich in meine Obhut gegeben. Dann wollen wir dich doch gleich mal dem netten Herrn Doktor zeigen, ja?«

»Ne…«, setzte ich an, doch da rollte sie mich auf der Liege, auf die mich die Sanitäter gewuchtet haben mussten, bereits durch eine Tür.

Weiße Gänge hüllten uns ein. Die Schritte der Schwester hallten auf dem Boden wider.

Klack.

Klack.

Klack.

Meine Nackenmuskeln spannten sich an, als ich versuchte, mich aufzusetzen.

»Na, na, na, bleib lieber liegen, Liebes.« Sie drückte mich mit erstaunlicher Kraft wieder zurück auf die Liege.

»Nein, bitte, lassen Sie mich raus. Es geht mir gut. Es ist nicht so schlimm«, murmelte ich und versuchte erneut, mich aufzusetzen.

Doch entweder waren meine Verletzungen schwerer als gedacht, oder sie hatten mir ein Mittel gespritzt, denn ich schaffte es gerade einmal, den Kopf zu heben, bevor mich ein heftiger Brechreiz erfasste. Ich würgte trocken. Die Schwester blickte mit ihrem gruseligen Plastikbarbielächeln auf mich herab.

»Na, na … Es gibt keinen Grund, Angst zu haben, Kind«, versuchte sie mich zu beruhigen, während sich meine Finger panisch in die Liege krallten.

»Lassen Sie mich gehen!«, presste ich hervor.

Meine eingerissenen Fingernägel brannten schmerzhaft auf, doch ich ließ nicht los.

»Der Arzt sieht sich nur deine Verletzungen an, und ehe du dichs versiehst, bist du auch schon wieder zu Hause.«

Die Art, wie sie zu Hause sagte, ließ mich schaudern. Doch bevor die Panik mich endgültig überrollen konnte, schob die Schwester mich in ein Untersuchungszimmer.

Mein Blick huschte über den Raum hinweg. Doch es sah alles normal aus. Der sterile Geruch nach Desinfektionsmittel hing schwer in der Luft, und auf einem Rollhocker saß ein Arzt mittleren Alters, der gerade in einer Akte blätterte und dann lächelnd aufblickte. Sein Haar rangierte zwischen weiß und silbern und war akkurat aus dem Gesicht gekämmt. Seine Augen waren von einem hellen Blau.

»Guten Tag, wen haben wir denn hier?«, fragte er mit einer erstaunlich angenehmen Baritonstimme.

»Eine nervöse Patientin, Dr. Night«, sagte die Schwester amüsiert.

Dr. Night lächelte, sodass sich feine Fältchen um seine Augen legten. »Sieht nach einem harten Tag aus«, stellte er fest, als die Schwester mich vor ihm abstellte.

Ich schluckte und unterdrückte den Drang, mich panisch umzusehen. Es gab keinen Grund zur Panik. Ich war in einem Krankenhaus. Hier würden sich nette Menschen um mich kümmern. Trotzdem beruhigte sich mein Herzschlag nicht, und das Klingeln in meinen Ohren blieb hartnäckig.

»War es auch«, bestätigte ich leise, weil Dr. Night mich ansah, als erwartete er eine Antwort.

Dr. Night machte einen Schritt auf mich zu, und jeder Muskel in meinem Körper spannte sich ruckartig an. Ich zuckte so schnell vor ihm zurück, dass ich beinahe von der Liege plumpste.

Verdutzt hob er seine Hände. »Ich möchte dir nur aufhelfen.«

Seine Stimme war warm und weich wie Butter. Mein Puls schoss trotzdem weiter nach oben. Ich starrte die Liege an, danach Dr. Night und die Schwester, die sich an einem der Medizinschränke zu schaffen machte.

»Ich möchte es selbst versuchen«, teilte ich ihm mit.

Dr. Night nickte. »Dann setz dich bitte langsam auf.«

Doch schon beim ersten Versuch ließen meine Muskeln ruckartig nach, und ich sank mit kaltem Schweiß bedeckt zurück. In meinen Ohren summte es. Ich blinzelte zur Decke, die immer wieder leicht verschwamm.

Dr. Night tastete mich ab. »Tut das weh?«

»Etwas.« Seine Hände waren kühl, aber nicht unangenehm.

»Und hier?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hm-m …«, brummte der Arzt.

»Hm-m gut oder hm-m schlecht?«, fragte ich schwach.

»Hm-m …«, kam es wieder nur. »Also, auch wenn du sehr zerschlagen aussiehst, scheinen die meisten Verletzungen rein oberflächlich zu sein. Musstest du dich übergeben?«

Ich nickte.

»Eine Gehirnerschütterung ist damit nicht auszuschließen. Zudem hast du etliche Prellungen und Schürfwunden. Woher hast du all diese Verletzungen, Alice?«, erkundigte er sich, und seine Augen bohrten sich in meine. Obwohl seine Stimme freundlich klang und seine Augen gutmütig auf mich herabblickten, rann mir der Angstschweiß den Rücken herunter.

Das Foxcroft Memorial war nur etwa zwei Kilometer vom Wald entfernt. Viel zu nah am Spielfeld, hier saß ich dem Fluch praktisch vor der Nase. Ich musste weg. So schnell wie möglich.

»Ich wurde beim Wandern angefahren«, sagte ich ausweichend und sah, wie sich die Mundwinkel des Doktors nach unten zogen.

»Du bist beim Wandern angefahren worden? In Schuluniform und ohne Schuhe?«, bohrte er etwas ungläubig nach.

Ups.

»Offensichtlich bin ich nicht sehr gut im Wandern«, erwiderte ich trocken.

Wir starrten uns an. Dr. Night seufzte schließlich, wandte sich ab und notierte etwas auf seinem Klemmbrett.

»Wir werden dich röntgen und danach aufnehmen, Alice. Ich würde dich gern zur Beobachtung ein paar Nächte hierbehalten.«

»Nein, danke … ich … ähm …« Fieberhaft suchte ich nach einer Ausrede. »Ich habe keine Krankenversicherung«, wandte ich ein und hielt angespannt die Luft an.

Dr. Night nickte jedoch nur. »Keine Sorge, Foxcroft ist eine kleine Stadt, hier helfen wir einander. Deine Gesundheit geht vor.«

Was? Nein!

Er zwinkerte mir zu und stand auf, was die Rollen seines Stuhls gegen einen weißen Schreibtisch stoßen ließ. Das Geräusch war laut und hallend und irgendwie seltsam. Wenn ich blinzelte, fühlte es sich träge an. Als würde ich träumen. Als wäre ich nicht ganz da. Das ungute Gefühl in meinem Bauch wurde immer stärker, und probehalber kniff ich mich unauffällig. Der Schmerz jagte scharf und spitz durch meinen Arm, die Stelle rötete sich, doch ich wachte nicht auf. Ich war immer noch hier. Es roch weiter nach Desinfektionsmittel. Das Licht stach mir immer noch in den Augen.

Aber das surreale Gefühl blieb wie ein leichter Kopfschmerz in meinem Hinterkopf, der pochte wie ein zweiter Herzschlag. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Als der Arzt die Tür hinter sich zumachte, schloss ich frustriert die Augen. Wie hatte meine Flucht nur so katastrophal anfangen können? Ich musste meine nächsten Schritte sorgfältiger überlegen. Wie konnte ich untertauchen, um … Ein Stich in meinem Arm ließ mich zusammenfahren. Er war nur kurz, doch das Gefühl, das daraufhin durch meine Adern spülte, war kalt wie Eis. Schockiert riss ich die Augen auf und starrte in das Gesicht der gruseligen Schwester. Mit einem seligen Lächeln sah sie auf mich herab.

»Entschuldige, hat das wehgetan?«, fragte sie und zog dabei die Spritze wieder aus meinem Arm.

Ich wollte zurückzucken, doch die Kälte fraß sich mit solcher Heftigkeit durch meinen Körper, dass es sogar schmerzhaft war, die Finger zu biegen.

»Was … haben Sie mir da gegeben?«, krächzte ich.

Die Pflegerin legte den Kopf schief. Die Bewegung wirkte etwas hölzern. »Nur ein leichtes Beruhigungsmittel, damit du uns nicht einfach so wieder verschwindest. Das wollen wir doch nicht, oder? Nein, das wollen wir nicht. Menschen könnten sich Sorgen um dich machen.«

»Sie können mir doch nicht gegen meinen Willen so ein Mittel spritzen«, stieß ich hervor, und da sah ich es wieder. Einen seltsamen Ausdruck in ihren Augen, kein Aufleuchten, sondern eher die absolute Abwesenheit von … allem. Von jeglichem Licht. Die Pupillen wirkten starr wie Knöpfe. Ihr puppenhaftes Gesicht strahlte im Neonlicht unnatürlich grell.

Die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Jedes einzelne.

Ein Schweißtropfen rann kitzelnd über meine Wirbelsäule, und das unruhige Gefühl in mir, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte, wurde zu einer ausgewachsenen Panik.

»Ich will gehen«, krächzte ich, doch gleichzeitig bemerkte ich, dass ich meine Finger nicht mehr bewegen konnte.

Mein Herz stolperte, es pochte, es rauschte. Das Summen in meinen Ohren hallte wie ein Glockenschlag in meinem Schädel wider.

Die Schwester sah mich mitleidig an. »Du bleibst, Alice«, sagte sie bestimmt, hob eine Hand und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Berührung fühlte sich seltsam an. Wie durch Watte. Ich fixierte die Frau vor mir und sah, wie sich das Spiel aus Licht und Schatten um ihre Gestalt sammelte, bis ihre Augen so tief in den Höhlen lagen, dass ich nur noch das feine Lächeln sah, das ihre Lippen auseinanderzog.

»Ich war nachlässig. Mein Fehler. Ich hatte in diesem Jahr mit vielem gerechnet, allerdings nicht mit dir. Das hat meine Pläne ganz schön durcheinandergebracht, aber keine Sorge … Ich kümmere mich um jede meiner Spielfiguren, und für dich werde ich auch einen Platz finden.«

»Lassen Sie mich raus hier, oder ich schreie«, flüsterte ich mit rauer Stimme. Meine Muskeln spannten sich an, während ich mir auf die Zunge biss, bis ich Blut schmeckte.

Mit jedem ihrer Worte wurde mir kälter und kälter. Als ich aushauchte, sah ich meinen eigenen Atem vor mir schweben.

»Wer sind Sie?«, fragte ich zitternd.

Sie lächelte. Ihre Mundwinkel dehnten sich weiter, als es menschenmöglich sein sollte. Die Haut spannte sich um ihre Knochen, und in ihre starren Pupillen schien Bewegung zu kommen. Verästelungen breiteten sich darin aus, bis es wirkte, als würde das Schwarz alles verschlucken.

»Sie sind keine Krankenschwester«, beantwortete ich meine Frage selbst.

»Nein, das bin ich wirklich nicht, Alice Salt. Genauso wenig, wie du ein normaler Mensch bist, oder?«, stimmte sie mir zu.

»Was wollen Sie von mir? Arbeiten Sie mit dem Fluch zusammen?«, fragte ich, kaum mehr fähig zu zittern.

»Pardon? Ich arbeite mit niemandem zusammen, Liebes. Ich bin eine Einzelkämpferin, genauso wie du.« Sie rückte ihr Häubchen zurecht.

Das Licht über ihr begann, hektisch zu flackern.

Hell.

Dunkel.

Hell.

Dunkel.

Ich musste raus hier! Doch ich konnte mich nicht bewegen.

»Wer … was sind Sie?«, japste ich nach Luft.

»Jetzt gerade?« Sie hob ihre Hand, wackelte mit den Fingern wie ein Marionettenspieler, der an seinen Fäden zog, und musterte diese, als sei sie fasziniert von sich selbst. »Spielerin 68. Ihr Name war Cinnamon. Sie war ein weißer Läufer. Die Arme wurde von einem Bajonett aufgespießt. Es sah aus wie ein groteskes Gemälde. Noch heute rieche ich ihr Blut und höre ihre Schreie. Es war wundervoll.«

Ihre Augenlider bebten, zitterten, während sie selig lächelte. Voller Grauen starrte ich die Person vor mir an, die zu mir herablinste und sich über das Puppengesicht fuhr.

»Magst du ihr Gesicht nicht? Wie wäre es mit diesem?«

Sie blinzelte, ein Schauder rieselte durch ihren Körper, und im nächsten Augenblick stand ein blasser, hübscher Junge mit langen schwarzen Haaren und traurigen Augen vor mir.

»Oh, ein weiterer Spieler. Sein Name lautete Benjamin T. St. Burrington. Er war zu seiner Zeit ein schwarzer König, aber weich im Inneren, viel zu weich. Grausig, was für ein Ende seine Herrschaft genommen hat.«

Benjamin T. Der Name sagte mir etwas. Ich starrte den Jungen an, bis sich tief aus meinen Erinnerungen ein Tagebucheintrag herausschälte, den ich gelesen hatte. Die Erinnerung trieb mir die Gänsehaut über den Rücken. Benjamin T. war jener König gewesen, der sich geweigert hatte zu spielen. Als mein Gegenüber sah, dass ich zu begreifen begann, lächelte es süffisant und schnalzte mit der Zunge.

»Ich sehe, der liebe Benjamin ist dir ein Begriff. Er war meine Warnung an alle zukünftigen Könige. Als er sich zu spielen weigerte, musste ich ihn bestrafen. Sein Verstand war köstlich. Ich verdrehte ihn, Nacht für Nacht, Atemzug für Atemzug, bis er sich am Boden wand, sich die Seele aus dem Leib schrie und seine eigenen Spieler tötete. In dieser Nacht leuchtete der Himmel rot von Feuer, und ihre Schreie verklangen erst in den frühen Morgenstunden. Danach dauerte es beinahe ein Jahr, bis sich die Vögel wieder zu singen trauten, und die Blumen blühen an dieser Stelle bis heute rot wie Blut. Erinnere mich daran, sie dir zu zeigen, wenn wir zurück auf dem Spielfeld sind.« Das Geschöpf kicherte abermals, während mir das kalte Grauen die Wirbelsäule herablief. Ich musste raus hier! Raus! Raus! Raus!

Das Licht über uns flackerte erneut. Die Schatten in den Ecken wurden tiefer und schienen sich auszudehnen. Meine Finger zuckten. Ich öffnete den Mund, doch heraus kam nur ein Krächzen.

Das Wesen vor mir blinzelte auf mich runter. »Findest du ihn besser als Cinnamon?«, fragte es sanft.

Ich blinzelte.

»Nein? Dann vielleicht etwas Vertrautes?«

Die Figur schüttelte sich, und im nächsten Augenblick fiel weißes Haar in sanften Locken um ein wunderschönes, markantes Gesicht. Die Haut weiß wie Schnee, der Blick ruhig und kühl wie Eis. Vor mir stand Vincent Chesterfield. Er hob seine Hand und musterte sie fasziniert.

»Vincent ist schon ein spannender Charakter, findest du nicht? So gebrochen und zerfressen vor Angst und dabei doch so irritierend perfekt in seinem Äußeren. Es war unglaublich faszinierend, euch dabei zu beobachten, wie ihr miteinander gespielt habt. Wie er versuchte zu fühlen und sich schließlich doch entschied, dich zu brechen. Sag mir, Alice, wie hat sich sein Blut auf deiner Haut angefühlt? War es heiß, als es über deine Finger pulsiert ist?« Das Wesen starrte mich gierig an.

»Was … was … b…b…bist du?«, quetschte ich aus meiner Kehle hervor.

Nicht-Vincent ging vor mir in die Hocke und strich mir übers Haar. Es fühlte sich an, als würde mich ein Toter berühren. Ich zuckte zurück, doch er nahm nur mein Kinn zwischen seine Finger und drehte mein Gesicht zu sich, sodass ich seinen kalten Atem fühlen konnte.

»Du kennst mich, Alice Salt, und ich kenne dich«, raunte er. Er strich mit dem Daumen über meine zitternden Lippen, und ich schauderte, während sich seine Pupillen weiteten. »Ich bin jeder Spieler, bin jeder vergossene Blutstropfen. Ich bin die Erde, auf der du stehst und auf der du sterben wirst. Ich bin die Luft, die du atmest. Ich bin das Vermächtnis. Ich bin …«

»… der Fluch«, flüsterte ich.

Das Lächeln wurde breiter. »Ja«, hauchte er zurück. »Ich bin der Fluch, aber ich bin auch ein Teil von euch allen. Von Jackson und Vincent, von den Zwillingen, von Regina … Und sie vermissen dich, Alice. Vor allem Jackson will, dass du zurückkommst. Es war nicht nett von dir, davonzulaufen.«

Als das Wesen Anstalten machte, mich wieder zu berühren, schaffte ich es, mich wegzudrehen, obwohl meine Muskeln vor Schmerz protestierten. Dabei rollte ich jedoch über die Bettkante und fiel. Als ich hart auf den Boden knallte, musste ich einen Aufschrei unterdrücken. Die Luft wich mir aus der Lunge, und meine Rippen knackten.

»Alice, was soll denn der Unsinn?«

Stirnrunzelnd tauchte das Wesen wieder über mir auf. Es hatte erneut die Gestalt der Krankenschwester angenommen. Oder nein, die Gestalt von Spielerin 68. Cinnamon. Verzweifelt versuchte ich, Luft in meine gequetschte Lunge zu pressen, während ich hilflos zu ihr aufstarrte.

»B…b…bleib w…w…weg!«, fauchte ich.

Der Fluch runzelte die Stirn. Das Schwarz seiner Augen lief über, kräuselte sich. Verästelungen hoben sich von seiner Haut ab und lösten sich bebend. Es sah aus als … als würden Spinnenbeine aus seinem Körper dringen.

»Was … was …?«

Die Kälte in meinen Adern zog mich immer erbarmungsloser nach unten. Presste mir die Luft heraus. Ich rang danach, während der Fluch schauderte und sein Körper sich aufzulösen begann. Die Haut wurde immer dunkler, immer mehr Fluchweber wühlten sich aus ihr heraus.

»Du hast doch nicht wirklich geglaubt, verschwinden zu können, kleine Salt?«

Bebend und zitternd stand der Fluch vor mir. Sein ganzer Körper schien nur noch aus schwarzen Fluchwebern zu bestehen, die mich aus Hunderten Augen anstarrten. Er hob die Hand, und die Fluchweber, die seine Finger bildeten, lösten sich ab. Mit einem dumpfen Ton fielen sie zu Boden, wo sie augenblicklich auf mich zukrabbelten. Ich starrte sie an. Hilflos. Bewegungslos.

»Niemand kann mir entkommen, Alice. Auch du nicht«, raunte der Fluch aus Tausenden Stimmen, die doch wie eine klangen.

Er bestand inzwischen nur noch aus einem Gebilde aus schwarzen Spinnen, das die vage Form eines Menschen hatte.

Dann brach die Gestalt in sich zusammen, und die Fluchweber prasselten zu Hunderten auf mich herab. Ich schrie vor Panik, als die Spinnen sich auf mich stürzten und unter ihren wuselnden Leibern begruben.

»Du kannst dem Fluch nicht entkommen. Blut für Blut, so muss es sein, jeder steht am Ende allein.«

Das Zirpen und Knirschen klang wie ein Sprechgesang, wie eine Stimme aus vielen Hundert. Das Echo riss mich mit sich. Ich schrie, hustete und krümmte mich zusammen.

Das schiere Grauen zerbrach etwas in mir, das sich zurückzog, einen Raum suchte, um sich zu schützen. Das hier war Teil eines großen Albtraums. Ich musste bei der Flucht gestürzt sein und immer noch bewusstlos im Wald liegen. Das hier war nicht echt.

Ich musste also nur noch aufwachen.

Aufwachen.

Aufwachen.

Stattdessen wurde ich ohnmächtig.

Kapitel 3

»Ahhhhhhhhhh!« Ein gellender Schrei zerriss meine Kehle. »Ahhhh! Weg! Weg!«

Brüllend schlug ich wie eine Wilde um mich, krümmte mich, kämpfte gegen den Übergriff, schnappte verzweifelt nach Luft.

Ein Knall wie von einer Tür war zu hören. Etwas packte mich an den Oberarmen und hielt mich fest. Es fühlte sich jedoch anders an als das Gewicht der Spinnen, die zuvor auf mir gesessen hatten. Echter, realer … wie … menschliche Finger, die sich um meine Oberarme legten.

»Alice? Es ist alles gut, hörst du mich? Alice?«

Verzweifelt klammerte ich mich an diesem Gefühl fest und rang darum, bei Bewusstsein zu bleiben, obwohl mich das Grauen mit klammen Fingern nach unten zog.

»Gut so. Beruhige dich. Atme tief durch.«

Eine Stimme drang wie durch Watte zu mir durch. Es war eine menschliche Stimme. Ich spannte meine Muskeln an und stemmte mich nach oben. Es fühlte sich an, als würde ich durch schweren Morast nach oben stoßen. Ich rang nach Luft und schlug tatsächlich die Augen auf. Grelles Licht blendete mich. Meine Pupillen zogen sich so ruckartig zusammen, dass es schmerzte.

»So ist es gut. Tief durchatmen, Alice«, sagte eine warme Stimme, und als ich den Kopf hob, sah ich in ein rundliches, freundlich wirkendes Gesicht. Die Person trug eine Krankenschwesteruniform und blickte besorgt auf mich herunter.

»Wer sind Sie? Wo bin ich? Wo ist der Fluch?« Hektisch irrte mein Blick umher, und ich wollte mich aufsetzen, wurde jedoch mit sanfter Gewalt wieder nach unten gedrückt.

»Es ist alles in Ordnung, Mädchen. Ich bin Schwester Bethany. Du bist im Foxcroft Memorial, erinnerst du dich? Du hattest einen Autounfall und bist anschließend bei der Untersuchung ohnmächtig geworden. Du bist hier auf der Krankenstation.«

»Ohnmächtig?« Ich starrte an mir herunter und registrierte einen grün-weiß karierten Krankenhauskittel. Mein Handgelenk war dick bandagiert, und ich lag in einem klobigen Bett. Von den Fluchwebern fehlte jede Spur. In meinem Augenwinkel blitzte etwas auf, und ich zuckte so heftig zusammen, dass das Bett wackelte, doch es war nur eine kleine Taschenlampe, die Schwester Bethany zückte, um meine Pupillenreflexe zu testen.

»Weißt du, wer du bist?«, fragte sie mich sanft.

»Ich … ja …«

Mein Blick schweifte umher. Es war eindeutig ein Krankenhauszimmer. Allerdings sah dieses beinahe bewohnt aus. In einer Ecke stand ein bezogenes Bett, ein leerer Tropf hing daneben. Auf einem weißen, sterilen Nachtkästchen stapelten sich Bücher, von denen ich die meisten kannte.

»Was ist hier los? Hier war gerade noch … diese Schwester! Wo ist sie?« Hektisch setzte ich mich wieder auf, und diesmal ließ ich mich nicht niederdrücken.

»Schwester? Oh, meinst du Schwester Cinnamon? Sie hatte die Nachtschicht, Liebes, und ist nach Hause gegangen. Ich bin jetzt für dich zuständig. Keine Sorge, das bekommen wir schon wieder hin. Jetzt beruhige dich erst einmal und trink etwas, ehe ich Dr. Night Bescheid gebe, dass du aufgewacht bist.«

Bevor ich protestieren konnte, drückte sie mir einen gefüllten Plastikbecher in die Hand. Verwirrt sah ich einen Tropfen Kondenswasser am Rand runterlaufen. Was zum Teufel war hier los? Gerade hatte mich der Fluch noch unter sich begraben, und jetzt das! Hatte ihm jemand dazwischengefunkt? Hatte Schwester Bethany ihn gestört, sodass er mich zurückgelassen hatte, anstatt mich zurück aufs Spielfeld zu schleppen?

Ich schauderte und spürte immer noch die langen, spitzen Spinnenbeine auf mir. Was auch immer passiert war, ich musste von hier verschwinden, bevor der Fluch zurückkam.

»Ich kann nicht … ich muss gehen. Sofort!« Ich stellte den Wasserbecher ab und kämpfte mich aus den weißen Laken.

»Ni…«, setzte die Schwester an, da riss mich bereits die Infusionsnadel zurück, die in meinem Arm steckte.

Ich schrie auf, als mich ein stechender Schmerz durchfuhr. Die Nadel musste abgebrochen sein, denn ich sah ein silbernes Schimmern unter der Haut, während aus der abgerissenen Kanüle eine klare Flüssigkeit auf den Boden tropfte.

»Oh nein, Mädchen, was machst du denn? Das müssen wir jetzt rausholen«, stöhnte Bethany und stampfte auf mich zu.

Panisch hievte ich mich vom Bett, stolperte los, riss die Tür auf und krachte in einen weißen Arztkittel.

»Hoppla! Na hallo, junge Frau, wo wollen wir denn so schnell hin?«

Dr. Night hielt mich zurück, und Schwester Bethany hinter uns meckerte: »Das Mädchen ist völlig orientierungslos und panisch. Wir sollten ihm etwas zur Beruhigung geben, Doktor.«

»Nein!«, sagte ich scharf, während Dr. Night eine Augenbraue hochzog.

»Nun, das kommt wohl darauf an, ob eine gewisse junge Dame sich von allein beruhigt und in ihr Bett zurückgeht, damit ich sie untersuchen kann.« Fehlte nur noch, dass er mir den Kopf tätschelte.

Scharf sah ich zu ihm auf. Suchte nach Anzeichen des Fluchs, Verästelungen in den Augen, einem starren Blick, harten Pupillen. Doch seine Gesichtszüge blieben weich, zudem konnte ich seine Körperwärme fühlen. Vor mir stand ein Mensch, da war ich mir ziemlich sicher. Mein Blick ließ von ihm ab und suchte stattdessen alle Ecken ab. Doch das Zimmer wirkte bis auf die immer noch vor sich hin schimpfende Bethany ruhig. Nicht einmal ein Fluchweber drückte sich in den Decken herum.

Mein Puls flatterte und beruhigte sich zumindest so weit, dass Dr. Night es schaffte, mich zurück ins Zimmer auf das Bett zu bugsieren.

»Du hast uns gestern aber einen ganz schönen Schrecken eingejagt, mein Mädchen.«

Wenn er mich noch einmal mein Mädchen nannte, würde ich ihm seine Nase ins Gehirn rammen.

Der Gedanke war so gehässig, dass ich mich im nächsten Augenblick unruhig versteifte und die Nägel ins Bettlaken krallte. So etwas hätte ich früher nicht gedacht. Das Spielfeld hatte mich verändert, und zwar nicht zum Besseren, wie ich glaubte.

Ruhig. Ich musste ruhig bleiben, egal wie sehr mir Dr. Night auf die Nerven ging.

»Du bist stärker, als wir dachten, aber du solltest jetzt nicht auf den Beinen sein, sonst kippst du uns wieder um«, rügte er mich, während er meinen Puls fühlte und wie zuvor Bethany meine Pupillenreflexe testete.

Ich zwang mich, stillzuhalten und so ruhig wie möglich zu kommunizieren. »Es geht schon viel besser. Ich möchte entlassen werden«, beteuerte ich und versuchte dabei, nicht wie eine Irre auszusehen.

»Tja …«, seufzte Dr. Night, schnappte sich meine Krankenakte und kritzelte etwas hinein. »Ich freue mich, dass du dich besser fühlst, aber ich denke, die Entlassung wird noch ein wenig auf sich warten lassen.«

»Warum?«, schnappte ich, während Bethany meinen Arm nahm und zungenschnalzend auf das Desaster starrte, das ich mit der Nadel in meiner Ellenbeuge verursacht hatte. Ich zuckte zusammen, als sie die Nadel herauszog und die Einstichstelle mit einem fetten Pflaster zuklebte.

Dr. Night musterte mich eindringlich, und in seine Stimme mischte sich ein neuer Unterton. Die Herablassung wich einer Ernsthaftigkeit, bei der sich mir die Nackenhaare aufstellten.

»Nun, Alice, wir haben dich in unserem System überprüft, und du hast recht: Du besitzt keine Krankenversicherung.«

»Ich kann also doch gehen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil du nicht nur keine Versicherung hast, wir haben gar nichts über dich gefunden. Zumindest niemanden, der deinem Aussehen und deinem Alter entspricht. Es gibt keine Akte, keine Geburtsurkunde, keine ID, gar nichts. Entweder ist es ein Fehler in unserem System, oder du hast uns einen falschen Namen genannt.«

Er hielt inne, und ich schluckte, während es in meinem Kopf arbeitete. »Und das bedeutet genau?«

»Das bedeutet, wir werden dich so lange hierbehalten, bis wir deine echte Identität überprüfen konnten.«

Ein Klopfen an der Tür ließ meinen Kopf herumschnellen.

»Ah, das ging ja schnell. Bitte kommen Sie rein, Sheriff!«, rief Dr. Night, und die Tür ging auf.

Mir stockte der Atem, und mein Herz stolperte, während sowohl Sehnsucht als auch stechende Angst meine Venen flutete. Vor mir stand niemand anders als …

»Mom!«, entfuhr es mir.

Ich starrte sie an, Tränen schossen mir in die Augen. Sie war es wirklich!

Ihr kurzes blondes Haar war jedoch zu einem modischen Bob geschnitten, und die blauen Augen sahen so glücklich und sorgenlos aus, wie ich sie selten gesehen hatte.

Die Lachfältchen ließen sie jünger wirken, als sie war. Hinter ihr stand ihr Partner Kay. Beide trugen ihre Uniform und verströmten Kaffeeduft.

Ich glaube, ich musste ein seltsames Geräusch gemacht haben, denn Kay und meine Mom sahen mich verwundert an. Meine Mom fixierte mich. Für eine kurze Sekunde blieben ihre Pupillen seltsam starr, als würde sie mich nicht sehen.

»Mom!« Ich bewegte mich auf sie zu, die Zeit holte mich schlagartig wieder ein, und meine Mutter blinzelte. Ihre Pupillen weiteten sich, und sie schloss ruckartig die Tür hinter sich.

»Hallo, ich bin der Sheriff von Foxcroft, das ist mein Partner Kay Bellamy. Dr. Night hat uns angerufen. Bist du Alice?«, erkundigte sie sich professionell.

Bist du Alice?

Ich starrte meiner Mom ins Gesicht und sah Freundlichkeit darin, allerdings keine vertraute Wärme. Kein Erkennen. Nichts. Kaltes Grauen packte mich.

»Mom«, sagte ich erneut und spürte, wie meine Knie vor reiner Erschöpfung einfach nachzugeben drohten. Sie brannten. Alles schmerzte.

Ihre Stimme klang weich, als würde sie ein wildes Tier besänftigen wollen. »Suchst du deine Mutter?«, fragte sie und tauschte Blicke mit Kay.

»Heißt du wirklich Alice, Liebes?«, fragte mich Kay ebenfalls sanft.

»J…ja«, krächzte ich. Die Stimme versagte mir, während meine Mom auf mich zukam und mir sanft eine Hand auf die Schulter legte.

»Okay, Alice, warum setzt du dich nicht und erzählst mir, was passiert ist?«, fragte sie und lächelte mir zu.

Ich starrte sie nur an. Meine eigene Mutter erkannte mich nicht mehr. Meine Knie gaben nach. Ich hatte keine Kraft mehr. Mein gesamter Körper krümmte sich zusammen, und ohne jede Vorwarnung senkte ich den Kopf und würgte. Es kam jedoch nicht mehr heraus als Speichel und scharfe Magensäure, die mir im Rachen brannte.

»Um Gottes willen!«, hörte ich eine Stimme. Zwei Hände packten mich und drückten mir eine Schale in die Hand, in die ich hineinwürgte. »Tief durchatmen, Liebes. Ja genau, so ist’s gut.«

Ich reagierte auf die Befehle von Schwester Bethany, ohne nachzudenken. Bebend presste ich Luft in meine Lunge, obwohl es bereits schrill in meinen Ohren klingelte.

»Atmen. Ja, genau. So ist es gut.« Meine Mom stand bei mir und tätschelte mir fürsorglich den Rücken.

»Geht es dir gut?«, hörte ich Kay besorgt fragen.

»Neben einer Gehirnerschütterung hat sie Hämatome und Quetschungen, wie man sie normalerweise bei Misshandlungsopfern sieht. Bisher habe ich das jedoch noch nicht angesprochen. Vielleicht ist sie von zu Hause fortgelaufen«, hörte ich Dr. Night sagen.

»Ich werde nicht misshandelt!«, rief ich und sah so hektisch auf, dass mir prompt wieder schwindelig wurde.

»Kopf unten lassen«, befahl meine Mom streng.

Ich tat wie befohlen und starrte in die Schüssel mit den Spuckeresten. »Ich bin nicht fortgelaufen«, log ich.

»Kannst du uns noch mal deinen echten Nachnamen sagen, damit wir dich im System überprüfen können?«, erkundigte sich Kay, ganz der professionelle Polizist.

Mit heftig klopfendem Herzen sah ich auf. »Salt«, flüsterte ich. Ich wusste nicht, welche Reaktion ich erwartete. Vielleicht, dass sich ihr freundlich distanzierter Blick endlich in so etwas wie Erkenntnis oder Wiedererkennen umwandeln würde.

Doch meine Mom runzelte nur leicht die Stirn. »Salt? Bist du zufällig mit Emerald Salt verwandt?«, hakte sie nach.

»Ja! Ja, sie … Sie ist meine Großmutter«, sagte ich erleichtert. Begann sie sich wieder zu erinnern? Wenn sie Grandma Emerald kannte, musste sie doch auch von mir wissen, oder?

Kay und meine Mom wechselten einen vielsagenden Blick, doch die nächsten Worte von Kay drückten mir schlagartig die Luft ab. »Lebt die alte Salt nicht ganz allein in dieser großen Villa bei der Autumn Street?«

»Hat«, berichtigte ihn meine Mom. »Soweit ich weiß, wohnt sie seit ihrem Schlaganfall im Altenheim. Die Villa steht seitdem leer.« Sie musterte mich.

»Hatte die alte Emerald nicht einen Sohn?«, fragte Kay weiter.

Meine Mom zuckte mit den Schultern. »Ja, aber ich habe Luke Salt schon seit der Highschool nicht mehr gesehen, und soweit ich weiß, ist er auch bereits vor ein paar Jahren gestorben.« Sie sprach über meinen Dad, ihren Ehemann, als wäre er ein Fremder. Als ob sie nie verheiratet gewesen wären.

Ich spürte, wie mir auch noch der letzte Rest Blut aus den Wangen wich. Meine Gliedmaßen fühlten sich eiskalt an.

»Luke Salt ist … Er war mein Vater«, sagte ich trotzdem mit leiser Stimme.

Meine Mutter und Kay wechselten wieder einen Blick. »Ich wusste nicht, dass Luke eine Tochter hatte. Und Emerald hat auch nie etwas von einer Enkelin erzählt.« Mom wirkte sichtlich skeptisch.

»Ich sehe mal nach.«

Kay stapfte aus dem Raum, während meine Mom mir wieder meinen Wasserbecher reichte. »Austrinken«, befahl sie mir.

Mit zitternden Fingern nahm ich das Wasser an und trank einen Schluck. »Darf ich di… Sie etwas fragen?«, murmelte ich zwischen zwei Schlucken.

»Natürlich.« Meine Mom lächelte.

»Heißen Sie nicht auch Salt?«, fragte ich vorsichtig.

»Ich?« Sie sah mich überrascht und gleichzeitig besorgt an. »Nein, ich bin Sheriff Bellamy.« Sie tippte auf ihr Namensschild an der Brust.

Ich folgte ihrem Blick, und meine Finger krampften sich so fest um den Becher, dass das Wasser nach oben über meine Finger quoll. Bellamy war auch Kays Name.

»Sie kannten meinen Vater wirklich nur von der Highschool?«, hakte ich nach.

Es war mir egal, wie seltsam diese Frage auf sie wirken musste. Es war notwendig, dass ich herausfand, was hier los war. Doch mir wurde bereits langsam klar, dass es an dem Fluch liegen musste. Isolde hatte mir davon erzählt, genauso wie Lark damals. Die Menschen in Foxcroft vergaßen uns Spieler. Die Frage war nur, wie weit sich die Auswucherungen des Fluchs verzweigt hatten. Welche Erinnerungen er genau ausgelöscht hatte und ob diese wiederkamen, wenn ich mich einfach länger in ihrer Gegenwart aufhielt. In meinem Kopf dröhnte es, und das Gefühl der Surrealität verstärkte sich, genauso wie der Drang, mich erneut zu zwicken, um herauszufinden, ob das alles hier nur ein Traum war.

»Luke Salt?« Meine Mom musterte mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, als wäre ich ihr nicht ganz geheuer. »Ich weiß leider nicht viel über ihn.« Ihr entschuldigendes Lächeln ließ ihre Augenfältchen tiefer wirken. »Wir waren zwar zusammen in der Highschool, aber er war ein ziemlicher Eigenbrötler und zog gleich nach seinem Abschluss fort. Mehr weiß ich nicht.«

Ich öffnete den Mund, doch es kam nur Luft heraus. Und da war es erneut. Das träge Gefühl im Kopf. Das Surren in den Ohren. Kurz fühlte es sich an, als würde die Zeit ein wenig langsamer vergehen, ein wenig aus der Bahn geraten.

Der Mund meiner Mutter bewegte sich. Das Rot ihrer Lippen war zu grell. Das Weiß ihrer Augen zu stechend. Dafür waren ihre Pupillen verwaschen, als wäre dahinter kein echter Ausdruck. Als hätte jemand mit den Fingern über eine Kreidezeichnung gewischt.

Ich blinzelte. Kay kam zurück. Es knackte in meinen Ohren, und die Zeit fand wieder zurück an ihren Platz. Spielte sich wieder ab wie ein perfekter Film.

Kay sah uns mit ernstem Gesichtsausdruck an.

»Und?« Meine Mom richtete sich auf.

»Im System finde ich keine Alice Salt«, sagte er.

»Gar nichts?«, bohrte Mom nach.

»Nur eine ältere Dame aus Idaho.«

»Aber …«, murmelte ich verzweifelt.

Kay kratzte sich am Kopf. »Hast du einen Ausweis dabei? Einen Führerschein? Irgendetwas?«

»N…nein«, sagte ich.

Mein Mom warf mir einen langen Blick zu. »Wo sind deine Sachen, Alice? Du musst doch mehr haben als die Uniform.«

»Ich … ich weiß es nicht«, log ich und spürte, wie mein Puls vor Nervosität zu flattern begann. All meine Sachen lagen immer noch in Chesterfield, aber das konnte ich nicht sagen. Sie würden dort oben anrufen, sich nach mir erkundigen und Fragen stellen … Fragen, die sie nicht stellen durften. Ich konnte ihnen also rein gar nichts sagen, darum sah ich nur gequält auf und schwieg.

Meine Mutter seufzte und nickte schließlich. »Okay, danke für deine Zeit, Alice. Wir kommen diese Woche wieder zu dir, doch erst einmal musst du dich ausruhen. Falls du etwas brauchst, kannst du mich jederzeit auf dem Revier anrufen.«

Ihre schmalen, vertrauten Hände legten eine Visitenkarte neben mein Bett. Ich starrte auf die bekannte Nummer. Ich kannte jede einzelne Ziffer auswendig.

»Okay«, presste ich hervor.

Sie lächelte mich an und sprach flüsternd mit Dr. Night über mich, ehe die Tür wieder zuging.

Ich blieb allein im Zimmer zurück und hatte absolut keine Ahnung, was ich tun sollte.

Kapitel 4

Irgendwie musste es Bethany gelungen sein, mir ein Schlafmittel unterzujubeln, denn die Müdigkeit schlug wie eine gigantische Welle über mir zusammen und drückte mich unerbittlich nach unten, tiefer und tiefer in die Dunkelheit hinein, bis ich gänzlich aufhörte, etwas zu fühlen.

Ich war mir nicht sicher, was mich erwartete. Träume? Visionen? Ein Blick in die Vergangenheit? Eine Nachricht von Madelyn oder sonst jemandem? Zumindest ein Zeichen, ein Wink, was hier vor sich ging?

Doch es passierte rein gar nichts. Da war nur undurchdringliche Schwärze. Ein allumfassendes Nichts, in dem ich schwebte. Das Einzige, wozu ich mich imstande fühlte, war zu lauschen.

Es kam mir so vor, als könnte ich in weiter Ferne ein Geräusch hören. Ein rhythmisches Klicken und Reiben. Es klang beinahe wie das Aneinanderreiben Dutzender, Hunderter Insektenbeine, doch sobald ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, verschwand das Geräusch wieder. Also konnte ich nur in der Schwärze ausharren und warten. Plötzlich glaubte ich, eine Stimme zu hören, tief und weich, und hatte das Gefühl, als würde mich ein leuchtendes Augenpaar aus der Dunkelheit anstarren. Die Stimme schnurrte mir ins Ohr:

»Was machst du denn hier, kleiner Slave? Weißt du denn nicht, dass Träume gefährlich sind? Sie sind wie klebrige Spinnennetze, die ihre Beute einfangen. Je tiefer du dich hineinverirrst, desto mehr verstrickst du dich in ihnen. Wach auf, bevor es zu spät ist, Alice. Wach au…«

Ich riss die Augen auf. Ein Echo in den Ohren.

Wach auf, Alice …

Das steife Krankenhausbettzeug raschelte leise, während ich mit steifem Nacken den Kopf drehte. Ich lag zusammengekauert, als hätte ich mich im Schlaf zu schützen versucht. Den tiefen Schatten nach, die durch das schmale Fenster in den Raum fielen, musste es später Nachmittag sein. Mein Magen knurrte und lenkte mich von der Gänsehaut ab, die mir langsam die Wirbelsäule hoch- und runterkrabbelte.

Mit schwammigem Kopf setzte ich mich auf und sah neben mir ein Tablett mit bereits kaltem Essen. Daneben stand ein Stück Schokokuchen. Ich starrte auf das braune Stückchen Teig und merkte entsetzt, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Verflucht noch mal, konnte ich jetzt keinen Kuchen mehr sehen, ohne dabei sofort an Isolde und Jackson zu denken? Es war immerhin meine Idee gewesen, wegzulaufen, ich hatte gewusst, es würde nicht einfach werden, und trotzdem pochte in mir die Einsamkeit so heftig, als würde ein Teil von mir fehlen. Wie konnte ich Jackson und das Spielfeld vermissen? Das war doch krank! Ich war krank.

Nach Luft schnappend kauerte ich mich zusammen, und für einen sehr schwachen Augenblick wünschte ich mir, Jackson wäre bei mir und ich könnte seine unerschütterliche Zuversicht, Arroganz und Stärke fühlen.

Was würde er tun?

Was würde er zu alldem sagen?

Vermutlich, dass ich meinen weißen Knackarsch zusammenkneifen solle, und noch irgendetwas Arrogantes, was mich dermaßen auf die Palme brachte, dass ich ihm an die Gurgel gehen wollte. Gott, wie sehr ich es vermisste, ihn anzuschreien!

Wütend über mein Selbstmitleid wischte ich mir die Tränen weg, schnappte mir das Stückchen Kuchen und schlang es herunter. Es war grauenhaft trocken, trotzdem zwang ich auch den letzten Bissen herunter, ehe ich den mehligen Geschmack mit einem Glas Wasser wegspülte, das ebenfalls auf dem Tablett stand. Beim Schlucken fühlte ich jede Bewegung bis ins kleinste Detail. Es fühlte sich echt an. Ich zwickte mich erneut, doch es tat nur weh, und ich blieb, wo ich war.

Dann fiel mein Blick auf die Tür, die nicht vollständig zugefallen war. Ein kleiner Spalt stand offen, sodass ich den sterilen Flur sehen konnte. Ich wischte mir den Mund ab. Mir war klar, dass ich noch heute Abend von hier verschwinden musste. Dass mir meine Mom im Nacken saß, machte die ganze Sache noch um einiges komplizierter, als sie ohnehin schon war. Zudem ließ der Gedanke an den Fluch nicht locker. Ich hatte das Gefühl, als beobachtete er mich aus der Dunkelheit heraus, als spielte er mit mir wie eine Katze mit der Maus. Es war an der Zeit, herauszufinden, was hier wirklich vor sich ging, und dafür musste ich hier raus.

Skeptisch sah ich mich um. An mir hing schon wieder eine Infusion. In den Blockbustern rissen sich die Protagonisten die Nadel immer heraus und stolperten dann heroisch davon. Da ich diesen Ansatz bereits erfolglos ausprobiert hatte, popelte ich lieber vorsichtig an dem Schlauch herum und zog das Pflaster samt der Nadel ab.

Meine Klamotten waren nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich waren sie entsorgt worden. Die Uniform musste vor Dreck und Blut praktisch selbstständig in den Müllschlucker gelaufen sein. Auch okay, dann würde ich eben versuchen müssen, mir in einem anderen Zimmer etwas zum Anziehen zu klauen, denn in meinem Krankenhausnachthemd würde ich nicht weit kommen.

Als ich mich aufrecht hinstellte, wurde mir allerdings erst mal wieder schwindelig.

»Du schaffst das, Alice«, sprach ich mir selbst gut zu. Jupp, ich führte Selbstgespräche. Damit sollte ich vielleicht aufhören, wenn ich die Welt von meiner geistigen Gesundheit überzeugen wollte. Ich schnitt mir selbst eine Grimasse, ehe ich davontapste und in den Flur hinausspähte.

Ich schlich nach draußen, roch das Desinfektionsmittel und hörte das Piepen von Maschinen. Grelles Licht flackerte von der Decke. Dutzende Türen gingen neben der meinen auf den Gang. Bei manchen Zimmern standen sie offen, und ich sah ein paar Krankenschwestern geschäftig hin- und herflitzen. Irgendwo klingelte ein Telefon. Alles wirkte normal. Okay, wo war hier der Ausgang?

Nach kurzem Überlegen schwenkte ich nach links. Neben mir ging eine Tür auf, und ich lächelte verkrampft, als eine Krankenschwester an mir vorbeimarschierte. Hoffentlich stopfte sie mich nicht sofort zurück ins Zimmer.

Tat sie zum Glück nicht. Sie warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, ehe sie weiterging. Die Tür blieb dabei einen Spaltbreit offen, und da ich genau danebenlehnte, konnte ich einen Blick hineinwerfen. Das Zimmer war beinahe identisch mit meinem. Der Patient oder die Patientin darin schien gerade Besuch zu haben. Vor dem Bett stand ein Junge mit rabenschwarzem Haar und roter Collegejacke. Auf den Rücken waren die Nummer 3 und das Logo der Foxcroft High gedruckt. Daneben standen zwei Mädchen, die etwa in meinem Alter sein mussten.

Ich wollte mich gerade wieder in Bewegung setzen, als eines der Mädchen aufschluchzte. »Oh Jack, was sollen wir nur tun, wenn er nicht aufwacht?«

Der Klang ihrer Stimme fuhr mir durch Mark und Bein. Mitten in der Bewegung hielt ich inne, während mein Kopf herumschnellte. Ich musterte das Mädchen mit den dunklen Haaren genauer, und als es aufsah, blickte ich in ein Paar vertrauter dunkler Augen. Jedes einzelne meiner Nackenhärchen stellte sich auf, während sich meine kalten Zehen auf dem Flurboden verkrampften.

Wie konnte das sein?

Was machte Isolde hier?

Sie hatte den Arm um das hellhaarige Mädchen geschlungen, das erbarmungswürdig schluchzte.

»Scht …«, murmelte sie und drückte das Mädchen fester an sich.

»Wenn du jetzt sagst, dass alles wieder gut wird, dann dreh ich dir den Hals um, Issy. Nichts wird wieder gut. Sieh ihn dir doch nur mal an«, stieß das hellhaarige Mädchen hervor. Sie sah ebenfalls auf, und ich zuckte so heftig zusammen, dass ich von der Wand abrutschte.

»Regina?«, entfuhr es mir.

Die Köpfe der Mädchen fuhren herum.

Der Kerl in der Collegejacke meiner alten Schule hob den Kopf. Ein Lichtstrahl fiel auf seine goldbraune Haut, und ein Paar dunkle Augen starrte mich verwundert an.

»Jackson?«, keuchte ich.

Unsere Blicke trafen sich quer durch das Zimmer. Mein Magen drehte sich ruckartig um, meine Haut kribbelte, und ich schmeckte Schokolade auf der Zunge. Er war es … und dann irgendwie auch wieder nicht. Seine Haare waren kürzer. Sie wellten sich nicht mehr bis knapp über die breiten Schultern, sondern waren so geschnitten, dass sich ein paar Locken um seine Ohren kringelten. Über der linken Augenbraue klebte ein weißes Pflaster, und Teile seines Auges bis hinab zum Kinn waren blau, lila und rot angeschwollen. Sein rechter Arm steckte in einem Gips.

Wir starrten uns an, und seine Pupillen weiteten sich. Nur für einen kurzen Augenblick, ehe er die Stirn runzelte.

»Wer …«, setzte er an.

»Was zum Teufel machst du hier?«, platzte ich heraus und stolperte in das Zimmer.

Alle Anwesenden erstarrten, als wäre ich eine Irre.

»Wie bist du aus dem Spielfeld herausgekommen?« Und warum trug er eine Jacke des Foxcrofter Footballteams? Aber die Frage schien mir zu lapidar, um sie auszusprechen, auch wenn mich die Jacke extrem irritierte.

Jackson starrte mich an, dann sah er verunsichert zu Isolde und Regina. Okay, dass sich Regina an seiner Seite befand, ohne dass sie einander die Augen auskratzten, irritierte mich sogar noch mehr als die Jacke.

»Ähm … kennen wir uns?«, fragte Jackson. Seine Stimme mit dem leicht französischen Cajun-Akzent rollte weich über mich hinweg.

»Was?« Ich starrte zu ihm hoch. »Issy! Regina! Warum … was geht hier vor? Wie seid ihr aus dem Spielfeld gekommen?«

Die Mädchen wechselten unruhige Blicke.

»Wer zum Teufel ist das? Und warum kennt sie unsere Namen?«, fragte Regina beinahe schon angewidert. Der Blick, mit dem sie mich bedachte, war es jedenfalls.

»Nein«, krächzte ich und hatte das Gefühl, als würde mir erneut der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Vielleicht träumte ich ja doch?

Wach auf, Alice!

Aber leider war und blieb ich wach.

Mit einem surrealen Gefühl ging ich auf Jackson zu und zwickte ihn fest in den Oberarm.

»Wow, Pfoten weg!« Jackson zuckte heftig zurück, sodass die Mädchen erschrocken aufquiekten.

»Bist du aus der Klapse ausgebrochen? Hallo? Kann uns jemand hier mal helfen?«, motzte Regina, während ich auf meine Hand starrte, mit der ich Jackson gekniffen hatte. Feste Haut und starke Muskeln waren darunter gewesen. So real fühlte sich kein Traum an.

Ich sah zu ihm auf. »Bitte sag mir nicht, dass ihr mich auch vergessen habt. Ihr wisst, wer ich bin. Ich bin’s, Alice!«

Alle drei wechselten einen ratlosen Blick.

»Ihr wisst, wer ich bin«, beharrte ich und griff nach Jacksons Hand.

Dessen Augen musterten mich irritiert, dann mischte sich ein abweisender Ausdruck hinein. Die Situation war ihm sichtlich unangenehm.

»Hör zu, Blondchen«, murmelte er behutsam und pflückte meine Hand von seinem Arm. Blondchen? »Du musst uns verwechseln. Wir kennen dich nicht, und um ehrlich zu sein, störst du gerade. Wir sind nur hier, um einen Freund zu besuchen.«

»Freund?«, echote ich und mein Blick wanderte mit einer grauenvollen Vorahnung zum Bett.

Ich hielt inne. Dort im Bett – angeschlossen an Dutzende Schläuche und eine Atemmaske – lag niemand anders als Vincent Chesterfield. Sein Haar war so hell, dass es sich kaum vom Kopfkissen abhob. Sein Gesicht sah ähnlich verquollen und zerschlagen aus wie das von Jackson. Das Piepen des Monitors füllte den Raum, während sich sein Brustkorb nur mühsam hob und senkte.

Ich zuckte zurück. »Was macht denn Vincent hier?«, fragte ich krächzend.

»Woher kennst du meinen besten Freund?«, fragte Jackson scharf zurück.

Besten Freund? Wir starrten uns gegenseitig an, als wäre der jeweils andere komplett gestört.

»Sie wird ihn aus der Schule kennen«, warf Issy sanft ein. Sie sah mich mitleidig an und berührte Jackson leicht an den angespannten Schultern.

»Ich hab sie noch nie gesehen. Ich glaube nicht, dass sie auf die Foxcroft geht«, warf Regina ein und musterte mich ebenfalls kritisch.

Ich öffnete den Mund, als die Tür aufging und Bethany hereinkam.

»Na, wo brennt denn der Schuh?«, fragte sie, ehe ihr sachlicher Blick auf mich fiel. »Oh, ich glaube, du gehörst nicht in dieses Zimmer«, sagte sie streng.

»Das tut sie wirklich nicht«, sagte Jackson sichtlich erleichtert.

»Ach herrje, armes Mädchen. Wir haben dich bereits gesucht. Du kannst doch nicht einfach so verschwinden. Schon gar nicht, nachdem du gerade erst aufgewacht bist«, sagte die Pflegerin streng und bugsierte mich durch den Raum. Sie war größer und deutlich kräftiger als ich, trotzdem packte ich im Vorbeigehen Jacksons Arm.

»Sieh mich an! Du musst dich an mich erinnern! Der Fluch steckt dahinter, da bin ich mir sicher. Du weißt, wer ich bin!«

Jackson starrte mich an. Ich sah mich selbst in seinen Augen. Blass wie ein Geist. Und da war er wieder, jener verwischte Ausdruck in seinen Pupillen, als hätte jemand jegliche Emotionen herausgewischt.

»Bist das wirklich du, Jack?«, hörte ich mich selbst flüstern.

Er blinzelte, der blasse Ausdruck verschwand. Ruckartig riss er sich von mir los und griff sich gleichzeitig an den Arm, als müsste er meine Berührung abwischen.

»Keine Ahnung, was bei dir für Schrauben locker sind, aber halt dich von mir fern«, sagte er leise.

Ich zuckte zusammen. Sein Kinn spannte sich an. Er sah weg. Isolde strich ihm wieder über den Rücken und flüsterte ihm etwas zu.

»Issy …«, fing ich an, doch die Schwester zerrte mich praktisch aus dem Zimmer.

Meine nackten Füße klatschten laut über den Boden, während durch meinen Kopf immer wieder ein und dieselbe Frage kreiste: Was zum Teufel war hier los?

Kapitel 5

Die Dunkelheit der Nacht kroch langsam in mein Zimmer. Die Uhr an der Wand tickte viel zu laut und eindringlich. Neben mir tröpfelte Flüssigkeit in meine Venen.

Tick.

Tropf.

Tick.

Tropf.

Tick.

Tropf.

Mein Blick heftete sich auf den Tropf. In den letzten Stunden hatte ich beobachtet, wie die Schwestern ihre Schicht getauscht hatten. Eine andere Schwester hatte mich wieder an diesen dämlichen Tropf angeschlossen und mich so fest zugedeckt, dass es einer Zwangsjacke ähnelte.

Der Fluch war nicht wieder aufgetaucht. Zumindest hatte er sich nicht zu erkennen gegeben.

Tick.

Tropf.