Nimm die Alpen weg - Ralph Tharayil - E-Book

Nimm die Alpen weg E-Book

Ralph Tharayil

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Beschreibung

"Nimm die Alpen weg" erzählt in Bildern die Geschichte einer Kindheit in der Schweiz. Da ist das namenlose Geschwisterpaar, das im Chor spricht. Da ist ein Zuhause mit Ma und Pa, die mit ihren vier Armen wie eine Gottheit erscheinen. Da ist die Geschwindigkeit der Velos, mit denen die Kinder hinaus zu ihren Spielen fahren: zur Telefonzelle, zur Müllhalde, ins Schilf. Und da kommt ein neues Kind in die Klasse, das den Geschwistern einen Weg aus ihrem eigenen, inneren Gebirge bahnt. In einer lyrisch-luziden Prosa entwickelt Ralph Tharayil eine unvergleichliche Coming-of-Age-Geschichte, die von den Formen und Deformationen der Integrationserfahrung erzählt, und von der Sprache und den Körpern, die sich dieser Erfahrung widersetzen.

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Seitenzahl: 78

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NIMM DIE ALPEN WEG

Der Autor dankt dem Berliner Senat,

dem Literarischen Colloquium Berlin und

der Akademie der Künste Berlin.

© AZUR im Verlag Voland & Quist GmbH

Berlin und Dresden 2023

Lektorat: Helge Pfannenschmidt

Umschlaggestaltung und Satz: Kraft plus Wiechmann

Umschlagmotiv: Samuli Blatter, Orbital Fragment, 2016

Druck und Bindung: PBtisk, Přibram

ISBN: 978-3-942375-59-7

eISBN: 978-3-942375-60-3

www.edition-azur.de

Ralph Tharayil

NIMM DIE ALPEN WEG

Roman

für Johny und Molly

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

Kapitel 120

Kapitel 121

Kapitel 122

Kapitel 123

Vater: Ein Kind ist bereit das Haus zu verlassen, wenn?

Ältere Tochter: Wenn der rechte Eckzahn ausfällt.

Vater: Oder der linke, das ist eigentlich egal.

Yorgos Lanthimos

Kvόδοντας; (Dogtooth)

Im Sommer beißen unsere Augen.

Wenn wir sie zukneifen, sehen wir die Flecken hinter

unseren Lidern.

Wenn wir die Augen zukneifen, sehen wir

Flecken auf der Decke im

Bett.

Der Boden geht bis zum Bett und das

Bett geht bis zur Decke.

Wir sind zu zweit, wir sind

zu viert.

Wir können die Enge kaum berühren.

Wir sitzen uns

im Nacken.

Dazwischen unsere Spielsachen.

Wir können uns kaum berühren, wir beißen

zurück.

Wir überreden Ma und Pa.

Wir sprechen sie zu Tode und ergattern Geld, wir stehlen uns

ins Freibad, der Himmel

ist hell.

Wir gehen ins Wasser mit unseren Freunden.

Wir liegen in der Rutsche.

Wir stauen Wasser wie ein Damm.

Dann spielen wir Minigolf.

Für Pommes reicht das Geld nicht. Der Mann mit dem Audi

fragt nach Salz, ihr armen kranken Teufel, euch ist ja wirklich

nicht mehr zu helfen.

Wir sind fast nackt, wir tragen keine Spuren auf uns, unsere

Haut ist ganz weich.

Wir denken an Ma und Pa, bis jemand

im Becken den Stöpsel zieht.

Nach der Schule werfen wir unsere Taschen in eine Ecke und

legen uns ins Schilf.

Wir hören Ma und

Pa.

Sie rufen uns.

Wir stellen uns stumm. Wir zupfen an den Halmen und beißen

uns

die Wimpern aus.

Unsere Körper sind nicht dürr, genau wie der Raum nicht dürr

ist, den wir mit unseren Händen beschreiben.

Diese Halme sind Schwerter, sagen wir und

legen uns ein Schwert um den Hals, bevor wir uns gegenseitig

durchs Feld schieben.

Vorbei am Industriegebiet bis

zur Tankstelle.

Der Mann mit dem Audi bietet uns Zigaretten an.

Wir rauchen auf.

Wir nehmen das Velo und fahren zur letzten Telefonzelle.

Die Zelle steht mitten im Ort, nur ein paar Straßen vom

Bahnhof entfernt.

Wir schneiden uns

mit unseren Fingern am Telefonbuch.

Wir heben ab und legen auf.

Wir spielen Gespräch.

Das Telefon klingelt.

Bleibt wo ihr seid, wir kommen euch holen, hören wir

Ma.

Ma, komm uns holen, sagen wir und legen auf.

Pause

Im Radio im Restaurant nebenan läuft ein Lied

über Liebe.

Pa sitzt in der Küche.

An der Küste seiner Ärmel sammelt sich Schweiß.

Wir wischen ihn vom Tisch.

Pa ist müde.

Er liegt jetzt neben Ma im Bett, es ist ein verhangener Tag und wir

hören nicht auf unsere Eltern.

Der Sand der Sahara liegt euch auf den Brauen, murmelt Pa

und Ma sagt Mmmh und

beide schlafen ein.

Wir hören nicht auf das Schnarchen und bleiben stehen vor

dem Bett.

Wir schauen Ma an und schauen Pa an.

Wir könnten uns zu ihnen legen.

Wir ziehen uns aus und legen uns

zu ihnen, bis die Nacht ihre Zähne zeigt.

Unsere Stärke passt in ihre Schwäche, wie eine

Hand.

Siehst du das?

Am Wochenende fahren wir zur Abfalldeponie und stecken

unsere Freunde mit einem Gähnen an.

Sie sitzen am Straßenrand und verkaufen Eistee.

Sie haben ihn selbst gemacht.

Dann spielen wir auf der Abfalldeponie im Karton und das

Leben tut so, als wäre es ein Paradies:

Wir zerkratzen Aluminium.

Wir zerquetschen Pet-Flaschen, die wir zwischen das

Hinterrad und den Velorahmen klemmen.

Wir klappern uns ab.

Wir fahren an der Kirche vorbei.

An Sonntagen klingen unsere Velos nicht

wie Geschwister, sondern wie Vögel im Tiefflug, nicht

wahr?

Ja, sagen wir.

An Sonntagen haben wir uns

nichts zu sagen.

Eltern sind erst zwei Götter, bevor sie irgendwann zu

einer Gottheit werden. Mit vier Armen statt zwei und zwei

Köpfen statt einem hören sie hin, egal ob man Ma oder

Pa ruft.

Sie fragen gleichzeitig, antworten gleichzeitig, schlagen

atmen und sterben gleichzeitig

bei der Arbeit

bei der Arbeit

bei der Arbeit

Ihr sollt die Musik leiser drehen, eure Mutter versucht

zu schlafen.

Wenn der Bambus kommt, schlag im Traum nicht zurück, auch

wenn der Stock dein Gesicht trifft.

Wir drehen die Musik leiser.

Die Striemen sind Kondensstreifen in einem längst

vergangenen Himmel –

Strichstrichstrich

Draußen ist jetzt Herbst und drinnen sind Windpocken.

Wir kratzen uns

gegenseitig.

Dann stehen wir auf und gehen zum Arzt.

Seine Praxis ist beim Bahnhof. Ma kommt

mit. Ihre Augenringe sind wie das Innere eines alten Baumes, nur

ohne Farbe.

Mit euch ist alles in Ordnung, sagt der Arzt und wir

bedecken unsere Kratzer mit den Schals von Ma.

Sie sind aus schwerem Stoff und riechen nach Pflaumen.

Genau wie Mas Hinterkopf.

Wir stehen auf der Brücke und spucken

auf die vorbeifahrenden Autos.

Manchmal spuckt der Wind zurück, aber das

macht uns nichts aus.

Wir haben unsere Velos im Feld liegen lassen.

Wir halten uns den Kopf.

Einmal wollten wir springen, weißt du noch?

Ja. Noch nicht springen.

Wir schmeicheln uns, bis jemand hupt.

Es ist ein Mann.

Wir sehen nicht, ob es der Mann mit dem Audi ist.

In unserer Wohnung steht Ma auf und hilft uns bei den

Hausaufgaben

bevor sie arbeiten geht.

Wir kitzeln uns. Die Falte auf unserer Stirn verwandelt sich

in eine Moräne.

Pa putzt den Herd.

Ma merkt nichts.

Wir tragen Grübchen im Gesicht.

Wir haben sie von Ma geschenkt bekommen und wenn man uns

gefragt hätte, ob wir uns an unsere Zeit erinnern, hätten

wir gesagt:

Nein, außer an unsere Mondgesichter erinnern wir uns an

nichts.

Wir waten im Schnee und singen

Lieder

die von Bergen erzählen.

Wir fahren mit dem Schlitten gegen einen Baum.

Wir lachen und hauchen in unsere Hände.

Unsere Hände sind keine Teller, unsere Hände sind

Höhlen und wir stecken sie uns in die Taschen.

Unsere Knöchel drücken durch den Stoff.

Sie sind weiß, wie die

Scham

in unseren Mundwinkeln.

Macht mich zu eurem Wasser, sagt der

Schnee.

Wir lassen ihn walten.

Wir sitzen mit gefalteten Händen im Keller.

Im Winter ist es dort kalt.

Ma und Pa stehen vor einem Spiegel. Sie haben zwei

Köpfe und ein Handtuch, das ihnen über die nackten Schultern

hängt. Ihre Haare sind nass. Sie sind weiß am Scheitel und

weiß an den Schläfen.

Wir verstehen, dass jeder Teil von uns auch ein

Teil für sich selbst ist und dann denken wir:

Ma und Pa werden uns verstreuen, wie man es macht mit alter

Asche, nicht wahr?

Pa tunkt den schwarzen Pinsel in einen Eimer und fährt über

seinen Kopf. Ma tut es ihm nach, ihr schulterlanges Haar.

Beide verzieren die weißen Stellen und verstecken sie zur

Nacht

wir denken:

Sie trinken nicht und rauchen nicht, ihre

Gesichter sind faltenlos, ihr Haar ist poliert.

Sie sagen:

stressstressstress

euretwegen

alles

für euch.

Dann macht uns Pa Spaghetti mit roter Sauce.

Das ist kein Blut, denken wir und schmatzen wie Schweine.

Wir fahren mit dem Velo zur letzten Telefonzelle, um Gespräch

zu spielen.

Das Telefonbuch hängt jetzt an einem Faden.

Wir feuchten unsere Finger an, wir blättern

weiter.

Wir blättern, aber es gibt

keine Namen.

Wir blättern im Alphabet, aber die Buchstaben

sind leer.

Ma und Pa sprechen immer ihre Sprache und wir unsere und so

könnten wir sagen:

Wir wollen lieb sein. Und sie würden sagen: Liebt euch, wie ihr eure

Eltern liebt. Und wir würden sagen: So meinen wir das nicht. Und

Ma und Pa würden sich ausziehen und schlafen gehen.

Deswegen rufen wir sie nicht bei ihrem Namen, deswegen

sagen wir

nicht Lovely

zu Ma und nicht Joy zu

Pa.

Es gibt keine Namen für Ma und Pa.

Es gibt nur Kinder. Es gibt nur

unsere Kinder für die wir leben, sagt