No Mercy - Allie Jane - E-Book

No Mercy E-Book

Allie Jane

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich ließ mich geradezu in den Abgrund fallen. Und ich fiel und fiel und fiel. Wenn man mir vor zwei Jahren gesagt hätte, dass ich mit Jays Band auf Europatournee gehen würde, hätte ich ihm vermutlich den Vogel gezeigt. Denn das konnte ich mir bei Gott nicht vorstellen! Und doch bin ich jetzt hier, am Flughafen in Hartford, und sitze ihm gegenüber. Dem Mann, der mir das Herz aus der Brust gerissen und es am Boden zerschmettert hat. Dem Mann, dessen dunkle Augen mich noch immer in ihren Bann ziehen. Dem Mann, der mich anschaut, als wäre ich nur Ballast, den er loswerden will. Ich weiß nicht, wie ich all meine Vorsätze einfach so über Board werfen konnte, aber eines steht fest: Nichts wird mehr sein, wie es mal war... Mädchen wie du gehören nicht in unsere Welt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Allie Jane

No Mercy

Inhaltsverzeichnis

No Mercy

Allie J.

1. Drei Monate Du

2. Kein Traum

3. Ein fucking Problem

4. Mädchen wie ich

5. Déjà-vu

6. Unser geheimes Ritual

7. Im Rausch

8. Dummes Herz

9. Nie genug

10. Lügnerin

11. Verfallen

12. Botschaft angekommen

13. Eskalation

14. Play with fire

15. Dein Tagebuch

16. Bei dir ist alles anders

17. Es ist Liebe, Jay

18. Der Abschlussball

19. Zweite Chance

20. Unser neues Ritual

21. Ich sollte nicht…

22. Das Armband

23. Mein Fluch

24. Das Ende

25. Deine Worte

26. Wie du bist

27. Meine Familie

28. Der Song

29. Mit Ihm

30. Epilog

Über die Autorin:

Impressum

No Mercy

Allie J.

1. Drei Monate Du

Rosalie

Keep On Wanting – The Fray

Das Leben ist nicht immer leicht. Das ist, denke ich, eine der größten Weisheiten, die uns auf den Weg gegeben wird. Ob es um die Schule geht, um den Job, das Geld, oder die Liebe.

Ich hatte schon früh gelernt, dass das Leben nicht leicht ist. Meine Mutter starb kurz nach meinem achten Geburtstag an Krebs. Das war die schwierigste Zeit meines Lebens und ich brauchte lange, um zurück in die Normalität zu finden. Aber ich hatte diese schwere Zeit überstanden. Und ich war nicht allein gewesen.

Ich hatte meinen Dad, auch wenn der nicht unbedingt immer etwas von Mädels-Kram verstand. Als ich das erste Mal meine Periode hatte, googelte ich, was das für eine Krankheit wäre und was man dagegen tun könnte. Als mein Dad davon erfuhr, schüttelte er nur lachend den Kopf und rief unsere Tante Margot an, die extra von Boston zu uns kam, um mir meinen Körper zu erklären. Ugh.

Ich gebe zu, dass ich solche Sachen lieber mit meiner Mom beredet hätte, genauso wie ich gern mit ihr ein Kleid für meinen Abschlussball ausgesucht hätte. Ich hätte mich gern von ihr frisieren lassen, mir von ihr sagen lassen, wie schön ich aussah.

Aber ich wollte mich nicht beklagen, denn ich hatte den besten Dad der Welt. Auch wenn er sich nicht oft an meinem Leid beteiligen konnte, bemühte er sich wenigstens, es zu verstehen. Vor allem aber war er für mich da.

Jahr für Jahr, egal, wie schwer es uns das Leben gemacht hatte. Ob die Kfz-Firma von meinem Dad pleiteging, wir von unserem schönen Haus in New Haven in eine mickrige Wohnung in Portland ziehen mussten, oder er in einem schlecht bezahlten Job in einer Werkstatt angestellt wurde, ich mir den Arm brach und wir monatelang auf den Krankenhauskosten sitzen geblieben sind.

Wir hatten es immer geschafft. Deshalb glaubte ich daran, dass wir es auch in Zukunft irgendwie schaffen würden.

Auch, als ich schließlich an die Hartford University ging, um Wirtschaftswissenschaften zu studieren – auch wenn es das wohl trockenste Studium war, das es gab; ich dachte es würde sich eines Tages rentieren – und ich somit meinen Dad allein lassen musste und ihn erneut auf einer Rechnung für meine Studiengebühren sitzen ließ.

Ein Stipendium hatte ich leider nicht bekommen, also half ich meinem Dad, wo ich konnte, kellnerte in Bistros, kopierte Dokumente in Büros und kochte Kaffee für die Angestellten.

Doch leider schlug das Schicksal zu – oder meine fehlende Intelligenz – denn nun nach zwei Jahren musste ich das Studium abbrechen. Ich hatte in der Mehrzahl der Fächer nicht bestanden, selbst nachdem ich einige Kurse mehrmals wiederholt hatte. Das Pensum hatte ich überschritten und konnte an meinen Kursen nun nicht mehr teilnehmen. Das war es also. Das ganze Geld, die ganze Arbeit umsonst.

»Ist doch nicht so schlimm, meine Kleine. Wir finden einen Weg. Das tun wir immer«, hatte mein Vater gesagt, als ich ihm davon erzählte. Und auch wenn mich seine Worte aufmuntern sollten, zogen sie mich nur noch mehr runter, da ich den enttäuschten und müden Ton in seiner Stimme heraushören konnte. Und das konnte ich ihm noch nicht einmal verübeln.

Ich glaube, wenn wir mehr Geld gehabt hätten, ich nicht so viel Minijobs hätte machen müssen und mich somit auf mein Studium hätte konzentrieren können, hätte ich es geschafft.

Doch so war es nun mal.

Wehmut überkam mich, als ich schließlich meine Sachen packte und mich von meiner Zimmermitbewohnerin Tracey verabschiedete. Wir waren nie richtig Freunde geworden, weshalb der Abschied nicht so schwerfiel. Sie war ganz anders als ich, ein richtiges It-Girl aus guten Verhältnissen. Sie hatte alles, was ich nicht hatte. Selbstbewusstsein, Freunde, Charme und Geld. Sie war dennoch immer sehr freundlich zu mir gewesen, hatte mich mit auf Partys geschleppt und versucht in ihre Freundesgruppe einzugliedern. Was ihr mehr oder weniger gelang.

Dort hatte ich auch Caleb kennengelernt. Meinen ersten Freund. Sagen wir es so – es lief nicht lang gut zwischen uns, wir waren zu verschieden, doch es gefiel mir die Idee einer Beziehung. Ich war mittlerweile fast zwanzig Jahre alt und hatte noch nie eine Beziehung gehabt, also ließ ich mich auf den charmanten Caleb ein. Wir waren fast vier Monate ein Paar gewesen, ich hatte mit ihm mein erstes Mal gehabt und es war grauenvoll gewesen.

Letztendlich hatte er mit mir indirekt Schluss gemacht, indem er mit einer Fremden auf einer Party geschlafen hatte und Tracey ihn inflagranti erwischte und mir davon mitteilte.

Ich war nicht erschüttert gewesen, nicht einmal überrascht. Es tat trotzdem weh. Es fühlte sich an, als würde ich einen guten Freund verlieren. Ich hatte mich immer in seiner Nähe wohlgefühlt und hatte weniger das Gefühl, allein auf dieser Welt zu sein.

Nun, das war`s. Meine erste und einzige Beziehung bis jetzt. Ziemlich unspektakulär, genauso wie mein Leben.

Ich lief mit gesenktem Kopf zur Bushaltestelle. Ich hatte nur einen kleinen Koffer dabei und doch war die Last auf meinen Schultern tonnenschwer.

Ich hatte kein vollständiges Studium, keine Ausbildung, eine ungewisse Zukunft. Aber es würde irgendwie weitergehen. Das musste ich mir nur immer wieder ins Gedächtnis rufen.

So war das mit dem Leben. Es legte uns Steine in den Weg. Manchen weniger, manchen mehr. Bei mir hatte es sich einen Spaß erlaubt und legte mir im Zehnminutentackt einen Stein vor die Füße. Und so war es auch, als ich in den Bus stieg, bei der obersten Stufe ins Stolpern kam und somit fast einen anderen Fahrgast zu Boden riss.

Eine Entschuldigung murmelnd richtete ich mich auf und kaufte mir mit glühenden Wangen von meinem restlichen Geld ein Ticket.

Ich setzte mich in die letzte Reihe des Busses, der kaum gefüllt war und legte den kleinen Koffer neben mich auf den Sitz. Aus meiner Handtasche holte ich mein altes Smartphone, das bereits eine Spiderapp und keinen Speicherplatz mehr hatte und stöpselte meine Kopfhörer an.

Der Regen prasselte an die Scheiben, als der Bus anfuhr und Yellow von Coldplay aus meinen Kopfhörern erklang. Mein Kopf fiel gegen die Scheibe. Sie kühlte meine Stirn und schon nach ein paar Sekunden beschlug die Scheibe vor meiner Nase. Es war furchtbar kalt in dem alten Bus, vermutlich hatte er keine Heizung.

Als wir Hartford verlassen hatten, erhielt ich eine Nachricht von meiner besten Freundin Viola. Sie war meine einzige Freundin. Ich hatte sie kennengelernt, als ich mit meinem Vater in meinem letzten Highschooljahr nach Connecticut gezogen war. Sie war meine einzige Verbündete in dieser fremden Galaxie.

Ich freue mich schon so, dich wiederzusehen! Du musst unbedingt Bescheid geben, wenn du da bist. Ich habe dir Pflaumenkuchen gebacken.

Mh. Ich liebte diesen Kuchen. Und ich freute mich, sie und meinen Dad wiederzusehen. Aber dennoch war da dieses ungute Gefühl in mir, das mich fast dazu verleitete, aus dem Bus zu springen. Ich wollte mir einfach nicht die Blöße geben und zu Hause verurteilt werden.

Ehe ich antworten konnte, kam eine weitere Nachricht.

Und ich habe eine Überraschung für dich, die dich umhauen wird! Kann es kaum erwarten!

XOXO

Schmunzelnd schaltete ich mein Handy wieder aus und ließ mich den Rest der Fahrt von melancholischer Musik beschallen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was für eine Überraschung auf mich warten würde. Vielleicht hatte sie sich ja in einen Ex-Knackie verliebt? Oder sie war schwanger? Oder beides zusammen?

Was es auch war, ich glaubte ihr, wenn sie sagte, dass es mich umhauen würde. Viola war schon immer eine Wucht gewesen. Sie war aufmüpfig und laut und hatte immer ein Lächeln auf den Lippen, ganz anders als ich. Dabei hatte sie es auch ganz und gar nicht leicht im Leben gehabt.

Als sie vierzehn war, starben ihre Eltern bei einem Autounfall. Seitdem kümmerte sich ihr großer Bruder Cordan um sie. Er war damals selbst erst sechzehn und begann, illegal neben der Schule zu jobben. Er konnte nicht zulassen, dass die zwei getrennt wurden und im Waisenhaus landen würden. Und da wir in der schlechtesten Gegend der Stadt lebten, interessierte es die Nachbarn auch nicht. Die zwei hatten keinerlei Familie mehr, die ihnen bekannt war und ihre Freunde hätten sie niemals an das Jugendamt verpetzt.

Irgendwie kamen die zwei über die Runden und Cordan machte einen wirklich miserablen Abschluss, was nicht anders zu denken war, da er den meisten Unterricht schwänzte, um zu arbeiten. Doch das Leben hatte die zwei belohnt, denn Cordan war nun zufällig Schlagzeuger einer erfolgreichen Band … und war steinreich!

Kein Witz!

Er bezahlte Violas Miete inklusive der Nebenkosten und dazu noch ein unverschämt hohes monatliches Taschengeld, was sie immerzu ablehnte, da sie sich weigerte, auch nur einen Penny davon auszugeben.

Und Viola wäre nicht Viola, wenn sie nicht die Bedingung gestellt hätte, in der alten ranzigen Wohnung wohnen zu bleiben. Sie wollte keine Almosen und war sich sicher, sobald sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, sich finanziell von Cordan abzunabeln und sich von da an selbst um sich zu kümmern.

Ich war neidisch auf sie. Sie war so stark, so selbstbewusst, und sie wusste genau, was sie von ihrem Leben wollte. Ich wusste noch nicht einmal, was ich zu meinem Dad sagen sollte, als der Bus in Connecticut hielt und ich gezwungen war auszusteigen. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, mir etwas zu überlegen. Von hier aus waren es noch etwa fünf Minuten zu Fuß.

Fünf Minuten bis zu meiner Heimat.

Fünf Minuten bis zu meiner Familie.

Fünf Minuten.

Mein Herz wollte mir aus der Brust springen. Warum war ich nur so feige? Warum konnte ich nicht einmal im Leben Stärke beweisen?

Es wurde Zeit, erwachsen zu werden und mich meinen Fehlern zu stellen. Ich würde mit meinem Dad eine Lösung finden, und wenn ich in der Werkstatt jobben würde, bis ich einen Plan B hatte.

Das Wohngebäude hatte sich nicht verändert.

Es war aus rotem Backstein, die Fenster im Untergeschoss zum Teil eingeschlagen oder mit Brettern zugenagelt. Es roch nach abgestandenem Urin, der sich in den Asphalt eingebrannt hatte und zugleich nach frisch gefallenen Regen.

Es roch irgendwie nach Zuhause.

Die Tür zum Gebäude stand wie so oft offen, also ging ich einfach hinein, den heruntergekommenen Flur hinauf bis ins fünfte Stockwerk. Das Gebäude hatte einen Fahrstuhl, welcher jedoch schon zu unserem Einzug außer Betrieb war.

Als ich oben angekommen war, fehlte mir die Puste. Ich atmete einen Moment durch, bis ich mich traute, zu klingeln. Mein Herz hämmerte aufgeregt in meiner Brust, als ich darauf wartete, dass mein Dad die Tür öffnete.

Ich hörte den Schlüssel im Schloss umdrehen und wie mehrere Ketten von der Tür geschoben wurden. Mein Dad hatte ein paar Sicherheitsvorrichtungen mehr installiert, nach einem Vorfall in meiner Highschoolzeit, als er mich komplett verstört in der Wohnung vorgefunden hatte, alle Türen sperrangelweit offen.

Ich hatte ihm bis dato nicht die Wahrheit über den Vorfall erzählt. Aber lassen wir das Thema erstmal beiseite. Dennoch hatte ich nichts gegen die Sicherheitsvorrichtungen einzuwenden, da dadurch mein Dad sicherer war, was wiederum mich beruhigte.

Endlich machte er die Tür auf, ein so strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht, dass die Lachfältchen um seinen Mund und seinen Augen deutlich zum Vorschein kamen. Ihn zu sehen erwärmte mein Herz, und als er seine Arme mir öffnete, ließ ich einfach meinen Koffer fallen und sprang in seine Arme.

Durch meinen Sprung taumelte er etwas zurück, konnte sich aber noch fangen, und umarmte mich kräftig. Sein tiefes Lachen vibrierte an meinem Körper und ich schmiegte mich noch enger an ihn. Er hatte mir so sehr gefehlt. Sein Geruch, seine Stimme, seine starke Umarmung. Es tat gut, ihn wiederzusehen.

»Du hast mir gefehlt, meine Kleine.«, murmelte er in mein Haar. Damit sprach er meine Gedanken laut aus. Und damit brachen auch meine Dämme und es begannen die Tränen über meine Wangen zu strömen. Als er mein Schluchzen bemerkte, löste er sich von mir und sah mich an.

»Es tut mir so leid, Dad«, schluchzte ich und wischte mir die Tränen von den Wangen, die sofort nachliefen. Besorgt runzelte er die Stirn. Er wusste, wofür ich mich entschuldigte.

Für alles.

Dafür, dass wir uns seit fast einem Jahr nicht gesehen hatten, weil ich keine Zeit hatte, ihn besuchen zu kommen und er es sich nicht leisten konnte, sich ein paar Tage frei zu nehmen, um meine Collegegebühren zahlen zu können.

Dafür, dass ich es verbockt hatte.

Dafür, dass wir nun auf einem Schuldenberg saßen.

Dafür, dass ich ihn enttäuscht hatte.

»Ach, meine süße Rosalie…«, seufzte er tief und strich mir die Haare aus dem Gesicht, die an meinen feuchten Wangen klebten. Seine Hände waren rau und rochen nach Öl von der Werkstatt.

»Es ist nicht deine Schuld.« Er meinte seine Worte ernst und ich versuchte ihm zu glauben. Ich versuchte es wirklich, dennoch konnte ich die Schluchzer nicht unterdrücken, die mich immer wieder überrollten.

»Komm erstmal rein, meine Kleine. Ich habe uns Abendessen gekocht. Dein Leibgericht: Spaghetti mit Würstchen.«

Ich nickte und versuchte zu lächeln, doch es kam nur wieder ein Schluchzen dabei raus. Ich liebte Spaghetti mit Würstchen. Es war so ein einfaches Gericht, aber es war bezahlbar und köstlich. Als Kind konnte ich nie genug davon bekommen.

Ich ging in unseren engen Flur, der voll mit Bildern von mir war. Mein Dad steuerte mit meinem Koffer auf mein Zimmer zu. Ich folgte ihm. Als ich mein Zimmer sah, versetzte es mir einen Stich in der Brust. Es sah alles noch aus, wie vor zwei Jahren. Noch die alten Poster von Coldplay, die Kisten mit Perlen, Bändern und kleinen Kristallen gefüllt und die lila Bettwäsche. Eigentlich sollte ich mich wohlfühlen, doch es bereitete mir Unbehagen, in diesem Zimmer zu stehen.

Wegen ihm.

Er war überall.

»Es hat sich nichts verändert«, verkündete Dad das Offensichtliche, als er meinen Koffer neben mein Bett stellte. Ich nickte nur und verschränkte die Arme vor der Brust. Diese Haltung nahm ich immer ein, wenn ich mich unwohl fühlte. So hatte ich das Gefühl, mich besser schützen zu können.

Mein Dad kannte mich natürlich und erkannte, wie unwohl ich mich in diesem Raum fühlte. Nur würde er niemals erraten, was der Grund dafür war.

»Ist etwas Mädchenhaft, ich weiß. Wir können es umgestalten, wenn du willst. Passender für eine junge Frau in deinem Alter.« Er zuckte die Achseln, als wäre es nichts. Dabei wussten wir beide, dass es finanziell für uns unmöglich war. Ich ließ schnell die Arme sinken, um etwas entspannter zu wirken.

Was ich nicht war.

»Schon gut, Dad. Mir gefällt es so, wie es ist«, sagte ich mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen und hickste kurz. Wenigstens die Schluchzer waren verschwunden. Nun hatte ich Kopfschmerzen und meine Augen brannten vom Weinen. Na super…

»Kann ich noch schnell auspacken?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »Dann können wir zusammen essen.«

Er warf mir noch einen misstrauischen Blick zu und verschränkte die Arme vor der Brust, die seine breite und große Gestalt nur unterstrich. Mein Dad war topfit für sein Alter. Er hatte sich ein kleines Bäuchlein angegessen über die Jahre, dennoch war er sehr muskulös und sportlich. Seine dunklen Haare waren von grauen Strähnen überzogen, seine braunen Augen von dunklen Ringen und kleinen Krähenfüßen umringt.

Er war attraktiv. Vermutlich hatte er nie eine neue Frau gefunden, weil er gar keine Zeit hatte, erst nach ihr zu suchen.

Das machte mich traurig. Dennoch schien er sich nie über sein Leben zu beschweren. Er war nun mal ein Einsiedler, ein einsamer Wolf. Ich blieb die einzige Frau in seinem Leben.

Nickend und mit einem sanften Lächeln auf den Lippen verließ er mein Zimmer und lehnte die Tür an. Er würde wohl nie seine alten Angewohnheiten ablegen.

Sobald er weg war, atmete ich auf und setzte mich auf mein altes Bett. Die Federn gaben quietschend nach, als ich mich hinlegte und an die weiße Decke starrte. Wie von selbst wanderten meine Hände zu meinem Kissen, um es zu nehmen und mir unter die Nase zu halten.

Ich atmete tief ein.

Und ich hätte schwören können, ihn noch auf meiner Bettwäsche riechen zu können, doch das war unmöglich! Es war über zwei Jahre her, dass er das letzte Mal in diesem Raum stand.

Vielleicht war es nur Einbildung. Schließlich dachte ich öfter an ihn, als gut für mich war.

»Hast du eine romantische Beziehung zu deinem Kissen oder warum sieht es so aus, als würdet ihr Zungenküsse tauschen?«

Ich erschrak und riss mir das Kissen vom Gesicht, als ich ihre Stimme hörte. Sie stand an meiner Tür, ein Kuchenblech in der Hand und strahlte bis über beide Ohren.

»Viola!«, rief ich und hastete vom Bett, wobei ich fast meine Bettdecke mitgerissen hätte, die sich an meinem Bein verheddert hatte, und umarmte sie stürmisch. Mein Dad musste sie reingelassen haben, als ich gerade damit beschäftigt gewesen war, mein Kissen zu inhalieren.

Sie quietschte leise, als wir uns fest umarmten.

Ich wollte sie nie mehr loslassen. Wir hatten uns ewig nicht gesehen. Das letzte Mal war ich im Sommer zu meinen Semesterferien zu Hause gewesen. Das war ein Jahr her. Schuldgefühle übermannten mich, als ich sie eine Armlänge von mir hielt und sie betrachtete. Sie sah erwachsen aus. Nicht mehr wie die verrückte sechzehnjährige, die ich vor zwei Jahren hier zurückgelassen hatte.

»Du siehst toll aus!«, rief ich atemlos aus. Ihr straßenköterblondes Haar war von der Sonne geküsst und von goldenen Strähnen durchzogen, ihre Haut braungebrannt und die Sommersprossen hatten sich auf ihrem Gesicht vermehrt.

»Ich weiß.«, erwiderte sie grinsend. »Hab für die Eingriffe lang gespart. Aber es hat sich gelohnt, wie du siehst.« Sie strich mit ihrer freien Hand über ihr Gesicht und setzte das süßeste Lächeln der Welt auf. Ich lachte leise.

Sie war ein Sonnenschein, ein Spaßvogel und der natürlichste Mensch, den ich kannte. Einfach sie selbst, auf jede Weise.

»Und du siehst… mager aus.« Sie verzog den Mund, als würde sie mein Anblick anwidern. »Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?« Ich schnaubte empört und stemmte die Hände in die Hüften.

»Ich… äh… «, stammelte ich, während ich überlegte, wann ich mir denn das letzte Mal eine richtige Mahlzeit geleistet hatte. Viola setzte einen strengen Blick auf und tippte unruhig mit dem Fuß auf den Boden.

»Erst gestern Abend«, log ich. Die Wahrheit wäre gewesen: letzten Donnerstag. Den Rest der Zeit hatte ich mich von Tütensuppen ernährt.

Viola zog die Brauen hoch. Sie durchschaute mich. Komischerweise sagte sie nichts dazu. Stattdessen legte sie das Kuchenblech auf meinen Schreibtisch und schloss die Tür. Ich hoffte, mein Dad würde das nicht mitbekommen. Sie setzte sich auf mein Bett und klopfte neben sich auf die Matratze.

»Setz dich.«, forderte sie mich auf. Ich gehorchte. Nervös klemmte ich mir die Hände zwischen die Schenkel. Noch immer hatte sie mir nicht von dieser Überraschung erzählt, doch sie würde mich schon bald aufklären. Ein strahlendes Lächeln lag auf ihren Lippen, als ich mich ihr zuwendete.

»Du weißt ja, dass ich das Designstipendium in Atlanta bekommen habe«, fing sie an. Natürlich wusste ich davon. Wir telefonierten fast jeden Tag. Sie hatte hart dafür gekämpft, dieses Stipendium zu bekommen und Cordan gedroht, sich nicht einzumischen und seine Kontakte spielen zu lassen. Sie wollte mit ihrem Können überzeugen. Nicht mit Geld. Und sie hatte es geschafft.

»Natürlich. Und ich bin unfassbar stolz auf dich!« Sie knuffte mich in den Arm und ihr Lächeln wurde noch breiter.

»Und du weißt auch, dass ich das Studium erst nächstes Semester antreten kann, weil sie jetzt noch keinen Platz frei haben?« Ich nickte und ihr Lächeln verblasste etwas.

»Und dass Cordan es total verbockt hat, als er erst meinen Geburtstag und dann auch noch den Todestag unserer Eltern vergessen hat…«

Ja, das hatte er. Arschloch.

Hatte ich grad geflucht? Ja, anscheinend konnte ich auch fluchen. Doch das geschah nur innerhalb meines Kopfes.

»Er verdient dafür in der Hölle zu schmoren«, entgegnete ich verärgert. Er hatte sie hier allein gelassen. Erst zu ihrem achtzehnten Geburtstag und dann an einem Tag, wo sie ihn wirklich gebraucht hatte.

Ich hatte mich bereit erklärt, zu ihr zu fahren, doch sie hatte mir gedroht, das Armband zu verbrennen, was ich ihr geschenkt hatte, wenn ich es wagte, meine Schicht zu unterbrechen und nach Connecticut zu fahren.

Cordan war ewig nicht erreichbar gewesen und Viola hatte sich total verrückt gemacht. Sie machte sich sorgen, dass ihm etwas zugestoßen war. Durch seine Bandmitglieder erfuhr sie, dass er gut auf war und sie keine Vermisstenanzeige bei der Polizei einreichen musste. Es dauerte einen Monat, bis er sich bei ihr meldete und hatte dann nicht einmal eine Entschuldigung parat. Viola redete seitdem nicht mit ihm.

»Nun…«, fuhr sie fort. »Er war letztens hier gewesen.« Ich hob überrascht eine Braue.

»Ich war überrascht, als ich ihn vor meiner Tür stehen sah. Er war da, um sich zu entschuldigen…« Sie runzelte die Stirn, als wüsste sie selbst noch nicht, was sie davon halten sollte. Ich legte meine Hand auf ihren Oberschenkel, um ihr zu signalisieren, dass ich für sie da war. Ganz egal, was vorgefallen war.

»Jedenfalls… habe ich ihn rein gelassen und ihm die Chance gegeben, sich zu erklären. Er erzählte mir, dass er gerade sehr unter Stress leidet, da die Band sich auf die Tournee vorbereitet und er so viel zu tun hat, dass er es einfach vergessen hat.« Sie verzog das Gesicht.

»Ich weiß… eine ziemlich dämliche Ausrede. Er hat noch nie zuvor ihren Todestag vergessen…« Sie verstummte und senkte den Blick.

Ich drückte leicht ihren Oberschenkel, um ihr mein Verständnis zu zeigen. Sie fühlte sich im Stich gelassen von ihm und konnte nicht verstehen, wie er so einen wichtigen Tag vergessen konnte.

»Ich wusste nicht, ob ich ihm das einfach so durchgehen lassen konnte und hab ihn deswegen gebeten zu gehen. Und ihm gesagt, dass ich etwas Zeit brauche, um ihm zu verzeihen.« Ich nickte verstehend.

»Doch dann hat er mir ein Angebot gemacht, mit dem er es wieder gut machen würde. Und gleichzeitig die verlorene Zeit mit mir aufholen könnte.« Sie zuckte die Achseln und ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

»Ich konnte es ihm einfach nicht abschlagen.«

Ihr Blick richtete sich auf mich und ein aufgeregtes Glitzern trat in ihre Augen.

»Was für ein Angebot hat er dir gemacht?«, fragte ich ungeduldig, als sie nicht mit der Sprache rausrücken wollte.

»Er hat mir angeboten, mit ihm für drei Monate auf Europatournee zu kommen!«

Mir klappte der Mund auf.

Was?

»Und ich habe die Gelegenheit genutzt, noch weiter zu verhandeln, sodass wir beide etwas davon haben…« Sie wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Mit noch immer offenstehendem Mund wartete ich darauf, dass sie endlich mit der Sprache rausrückte.

»Ich habe Cordan gesagt, dass ich nur unter einer Bedingung sein Angebot annehmen würde: Wenn du mitkommen darfst und das auf seine Kosten!«

Bitte was?!

Mein Kopf schwirrte. Ich hoffte, ich hatte die Worte falsch verstanden. Vielleicht träumte ich ja nur. Sie wandte sich mir zu und schüttelte mich aufgeregt und breit grinsend an den Schultern, sodass mein Kopf vor und zurück wippte.

Nope, eindeutig kein Traum.

»Er hat ja gesagt, Rosalie!«, rief sie aus, als wären das erfreuliche Neuigkeiten.

»Was?«, krächzte ich nun, was ich die ganze Zeit dachte. Viola sah verträumt zur Decke und ließ die Beine baumeln. »Wir werden drei Monate die Band No Mercy begleiten und durch ganz Europa reisen und das kostenlos!«

Mir wurde schlecht.

»Wir werden erste Klasse fliegen, haben Backstage-Pässe für jedes ihrer Konzerte und werden in den besten Fünf-Sterne-Hotels übernachten!« Ich wollte mich übergeben.

»Das wird eine Erfahrung, die wir niemals vergessen werden, Rosalie!«, fuhr sie unbekümmert fort und schien gar nicht zu bemerken, dass ich entweder einer Ohnmacht nahe war oder mich gleich auf ihren Schoß übergeben würde. Ich musste ihr zustimmen. Es wäre eine Erfahrung, die ich nie vergessen würde. Aber auch eine, auf die ich gut verzichten konnte.

»Ist das nicht fantastisch?« Ich nickte resigniert. Ihr Lächeln erstarb, als sie mir ins Gesicht sah. Besorgt strich sie mir über den Arm.

»Oh Gott, Rosalie. Du bist ja ganz blass um die Nase. Stimmt irgendwas nicht mit dir?«, fragte sie erschrocken. Ich konnte nicht sprechen, war wie gelähmt. Ich konnte nur an eines denken. Ich würde ihn wiedersehen. Und drei Monate mit ihm verbringen.

Oh Gott. Mir wurde wieder schlecht.

»Leg dich lieber hin, Rosalie.« Kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte, hob sie meine Beine ins Bett. Ich ließ sie gewähren.

»Warte, ich hole dir ein kaltes Tuch.« Und damit war sie aus dem Zimmer verschwunden. Und ich starrte an die Decke und ließ ihre Worte nochmal durch meinen Kopf gehen.

Wir werden drei Monate die Band No Mercy begleiten und durch ganz Europa reisen. Erste Klasse Flüge…Backstage-Pässe… Von da an hatte ich ihr nicht mehr zugehört und nur noch eine Sache im Kopf gehabt.

Jay.

Natürlich wusste ich, dass er mit seiner Band auf Europatournee ging. Ich wusste alles über ihn. Nicht, dass ich eine Stalkerin war… Ich hielt mich eben auf dem Laufenden. Meine ungesunde Obsession für den Leadsänger brachte die schlimmsten Seiten in mir zum Vorschein.

Und ich hätte mir niemals träumen lassen, mit ihm auf Tournee zu gehen. Ich beobachte ihn lieber von Weitem. Mit sicherem Mindestabstand, um nicht erneut Gefahr zu laufen, ihm zu verfallen.

Ich musste schließlich mein verwundetes Herz schützen.

Die Tür öffnete sich und Viola kam mit meinem Dad ins Zimmer gepoltert. Als er mich im Bett liegen sah, kam er sofort zu mir, ging in die Hocke und tastete meine mit kalten Schweißperlen bedeckte Stirn ab.

»Hol ein Glas Wasser«, wies er Viola an, die sofort gehorchte. Währenddessen legte er mir einen kalten feuchten Lappen auf die Stirn.

»Mir geht es gut, Dad…«, wimmelte ich ihn ab. Jedoch musste ich zugeben, dass der Lappen sehr gut tat. Als würde er auch zugleich meinen Verstand kühlen und mich auf den Boden der Tatsachen zurückbringen.

»Das glaube ich nicht, Rosalie. Du bist ganz blass und kalt«, schalte er mich und strich mir die Haare aus der Stirn, als Viola zurück ins Zimmer kam.

»Ich glaube, sie steht unter Schock.«

»Hat sie es nicht gut aufgenommen?«, richtete Dad sich besorgt an sie. Wie bitte? Steckten die zwei etwa unter einer Decke?! Viola zuckte mit den Achseln

»Eigentlich sind es ja erfreuliche Neuigkeiten…«, murmelte sie leise und reichte Dad das Glas Wasser, was er mir an den Mund hielt, als wäre ich eine schwerkranke alte Frau. Ich nahm es ihm ab und richtete mich auf.

Mir wurde ein wenig schummrig, doch nach ein paar Schlucken Wasser ging es mir wieder besser. Noch immer waren ihre Blicke besorgt auf mich gerichtet und ich errötete leicht vor Scham. Ich stellte das Glas neben mich auf den Nachttisch und räusperte mich.

»Danke«, krächzte ich und setzte ein schwaches Lächeln auf. »Mir geht es schon viel besser.« Dad nahm mir den Lappen ab und strich mir sachte über den Handrücken.

»Sicher, meine Kleine?« Ich nickte und richtete meinen Blick auf Viola, die noch immer an der Tür stand und mich etwas unbehaglich ansah.

»Ähm, Dad? Kannst du mich nochmal einen Moment mit Viola allein lassen?«, fragte ich ihn und drückte seine Hand, um ihm zu signalisieren, dass ich zurechtkam. Er machte einen unsicheren Seitenblick zu Viola, dann sah er mich wieder an.

»Aber nur, wenn du mir versprichst, nicht gleich wieder ohnmächtig zu werden.« Ich verdrehte lächelnd die Augen.

»Versprochen.«

An der Tür wechselte er mit Viola einen Blick, den ich nicht ganz deuten konnte. Viola nickte, als hätten sie sich stumm verständig. Was zur Hölle ging hier vor sich?

Sobald die Tür geschlossen war, wandte sie sich mit schuldbewusstem Blick mir zu. Sie war zögerlich, als sie zu mir kam und sich wieder neben mich setzte.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du so reagierst, wäre ich es vielleicht doch anders angegangen…«, begann sie das Thema wiederaufzunehmen. Ich zuckte mit den Achseln.

»Ich denke, es war etwas zu viel für mich, Viola. Es war einfach ein langer Tag für mich und ich bin etwas müde…«, versuchte ich mich rauszureden. Viola sah nicht überzeugt aus, die Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich.

»Dir ist auf jeden Fall deine Überraschung gelungen.«, versuchte ich zu Scherzen und schenkte ihr ein schiefes Lächeln.

»Aber nicht im positiven Sinne, wie ich es mir gedacht hatte.« Sie drehte ihren Oberkörper in meine Richtung und nahm meine Hände in ihre. Meine waren eiskalt, sodass ich erschrak, als ihre warmen Finger meine umschlossen.

»Du kannst ehrlich zu mir sein, Rosalie. Ist alles in Ordnung? Liegt es an Cordan? Verstehst du dich nicht mit ihm?«

Ich schüttelte heftig den Kopf, was keine gute Idee war, da sich der Schwindel zurückmeldete.

»Nein, Viola, das ist es nicht. Es ist nur…« Ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen sollte. Ich hatte ihr nie erzählt, was damals vorgefallen war. Es war immer mein kleines Geheimnis geblieben.

»Es ist was?«, fragte sie drängender und drückte leicht meine Hände. Sie musterte genau mein Gesicht. »Ich… muss hierbleiben und meinen Dad unterstützen«, brachte ich schließlich hervor, während ich mit aller Macht versuchte, nicht zu erröten. Lügen war eine meiner größten Schwächen. Obwohl es ja nicht ganz gelogen war. Es war eben nur die halbe Wahrheit.

»Ich kann ihn nicht drei Monate hier sitzen lassen. Du weißt, wie ich bin, Viola. Ich könnte niemals fröhlich durch die Welt reisen und gleichzeitig wissen, dass mein Dad sich hier für mich kaputt arbeitet.«

Sie lächelte sanft. »Natürlich weiß ich das, Rosalie. Aber dein Dad wünscht es sich für dich. Ich habe bereits mit ihm gesprochen. Er will, dass du Spaß hast und deine Jugend genießt«, erklärte sie mir.

Ich schüttelte ihre Hände ab und stand auf, tigerte im Zimmer auf und ab, während ich mir meine nächsten Worte gut zurechtlegte. »Ich weiß dein Angebot sehr zu schätzen, Viola. Wirklich. Aber… Ich kann es nicht annehmen. Ich bleibe hier in Portland. Bei meinem Dad«, sagte ich schließlich so überzeugend ich konnte und blickte ihr fest in die Augen, damit sie verstand, dass ich es ernst meinte.

Sie nickte enttäuscht. Auch wenn es mir leidtat, wusste ich, dass sie es verstand und mir nicht übelnehmen würde. »Okay. Aber rede nochmal mit deinem Dad. Versprichst du mir das?«

»Ich verspreche es.«, gestehe ich ihr zu.

»Cordan holt mich Freitagabend ab. Falls du deine Meinung ändern solltest, sag mir Bescheid, okay?« Ich nickte, doch überlegen brauchte ich es mir nicht noch ein zweites Mal.

Portland, USA

2. Kein Traum

Rosalie

The Heart Wants What It Wants – Selena Gomez

Das Abendessen mit Viola und meinem Dad verlief relativ schweigend. Die meiste Zeit sprachen mein Dad und Viola miteinander, manchmal fragten sie mich etwas, doch ich brachte immer nur ein Kopfnicken oder Schulterzucken zu Stande, sodass sie schnell aufhörten, mich in ihre Gespräche einzubeziehen.

Dafür konnte ich in aller Ruhe meinen Gedanken nachgehen und in meinem Essen herumstochern, was ich kaum anrührte. Mir war der Appetit vergangen.

Als wir fertig mit Essen waren und Viola ging, umarmte sie mich fest und wisperte mir zu, dass sie darauf hoffte, ich würde mich nochmal umentscheiden. Statt zu antworten, drückte ich sie noch ein bisschen fester. Und als ich mit meinem Dad schließlich allein war, nickte er mich stumm in Richtung des Wohnzimmers. Ich folgte ihm schweigend und setzte mich neben ihn auf das abgesessene braune Ledersofa.

Er war nervös, was ich daran erkannte, dass er seine Handflächen über seine Oberschenkel rieb. Er sah mich nicht an, als er anfing zu sprechen.

»Rosalie, ich weiß, dass du Schuldgefühle mir gegenüber hast«, begann er, womit er sofort direkt ins Schwarze traf. Ich schwieg und senkte den Blick auf meine Hände, die ich in meinem Schoß verschränkt hatte.

»Ich weiß, dass du hier bist, um mir zu helfen und das weiß ich wirklich sehr zu schätzen, meine Kleine. Aber das hast du all die Jahre getan.« Er nahm meine unruhigen Hände in seine, damit ich ihn ansah. Zögerlich blickte ich ihm ins Gesicht. Der strenge Blick ließ seine Fältchen zum Vorschein kommen.

»Und ich habe jetzt genug davon, dir zuzusehen, wie du deine wertvolle Jugend wegwirfst, indem du dich kaputtschuftest.« Ich wollte ihm widersprechen, doch er hielt mich auf, indem er die Hand hob.

»Du bist eine erwachsene Frau, Rosalie. Auch, wenn ich das manchmal noch nicht ganz akzeptieren möchte. Und wenn du weiterhin so starrköpfig sein willst und beschließt, zu bleiben, werde ich dir nicht im Weg stehen. Aber es wird Zeit, endlich mal etwas für dich zu tun.« Er wischte mir eine Träne von der Wange, als ich sie nicht mehr zurückhalten konnte.

»Aber ich wünsche mir, dass du glücklich bist und lebst. Dass du dumme Entscheidungen triffst und Fehler begehst. Ich wünsche mir, dass du diese Erfahrungen sammelst. Zum Erwachsensein und Verantwortung tragen hast du in deinem Leben noch mehr als genug Zeit. Und ich hoffe, dass du deinem alten Herrn diesen Wunsch erfüllen wirst.«

Ich schluckte schwer, als ich ihm ins Gesicht blickte. Tränen glänzten in seinen Augen, als er sich nach vorbeugte und mir einen Kuss auf den Scheitel drückte. Ich konnte mich nur an einen Augenblick erinnern, wo ich meinen Dad weinen gesehen hatte. Es war, als Mom gestorben war.

Nicht mal auf ihrer Beerdigung hatte er geweint. Nur dieses eine Mal, als er an ihrem Krankenbett gestanden hatte und sich verabschiedete. Als er aus dem Zimmer kam, liefen ihm noch immer Tränen über die Wangen. Das war das erste und einzige Mal gewesen. Bis jetzt.

Dass ihm das so viel bedeutete, dass ich ihm so viel bedeutete, rührte mich zutiefst. Als er mich wieder ansah, bemerkte er die Tränen, die unentwegt über meine Wangen strömten und lächelte sanft.

»Ich will, dass du eines weißt, meine Kleine«, fuhr er fort. Ich sah ihn erwartungsvoll an, während ich ein Schluchzen unterdrückte. Er zwickte sich in die Nasenwurzel, bevor er weitersprach. Wahrscheinlich um auch seine Tränen zurückzuhalten.

»Ich bin unfassbar stolz auf dich.« Als er die Worte ausgesprochen hatte, schniefte er. Verdammt, Dad! Ich warf mich in seine Arme und ließ zu, darüber nachzudenken. Für ihn. Er strich mir durchs Haar und meine Tränen versiegten in seinem kurzärmeligen Hemd.

»Ich werde immer stolz auf dich sein. Egal, für welchen Weg du dich entscheidest, Rosalie.« Ich nickte, damit er verstand, dass ich ihn Stolz machen wollte. Also atmete ich tief durch und löste mich von ihm. Mit einem Blick in seine dunklen gütigen Augen, die so anders waren als meine, wusste ich, dass ich das Richtige tat.

»Ich werde es machen…« Er strahlte über das ganze Gesicht, ehe ich die Worte vollständig ausgesprochen hatte. Ich wischte mir die letzten Tränen von den Wangen.

»Aber nur unter einer Bedingung.« Er hob eine Braue und sein Blick sagte: alles, was du willst.

»Wenn diese drei Monate vorüber sind und ich zurück zu dir komme, werde ich die Verantwortung für unsere finanzielle Lage übernehmen. Ich werde mir einen Job suchen und dich unterstützen. Und ich möchte nicht nochmal, dass du es in Frage stellst, wenn ich versuche, das Richtige zu tun. Egal, was es für mich bedeutet.«

Er sah mich an und schien innerlich mit sich zu ringen. Er verstand nicht, wieso ich das tat. Und er verstand noch immer nicht, dass ich es tat, weil ich genauso war, wie er. Aufopferungsvoll. Selbstlos. Ja, und manchmal etwas starrköpfig.

Aber ich würde nie aufhören, so zu sein, denn ich war stolz darauf, seine Gene weiterzutragen.

»Kannst du mir das Versprechen, Dad?«, hakte ich nach einem Moment des Schweigens nach. Er atmete tief durch, doch schließlich nickte er, da er mir nichts abschlagen konnte. Ich lächelte, legte meine angewinkelten Beine auf das Sofa und lehnte mich an seine Schulter.

»Ich habe dich lieb, Dad«, flüsterte ich und spürte das Beben seiner Schultern, als er leise lachte.

»Ich dich auch, meine Kleine.«

***

Meinem Zimmer den Rücken zuzukehren, war leichter als gedacht. Ich zog den großen Koffer in einer Hand hinter mir her, in der anderen Hand eine Reisetasche und auf meinem Rücken einen vollgepackten Rucksack. Ich hatte meinen ganzen Kleiderschrank leergeräumt. Drei Monate waren eine lange Zeit und ich musste für jedes Klima Klamotten bereithalten.

Als ich Viola mitteilte, dass ich mitkommen würde, flippte sie komplett aus, schrie das ganze Wohnhaus zusammen und zerquetschte mir die Rippen. Sie plante schon jetzt all unsere Sightseeing Trips, was mich ein wenig ruhiger stimmte. Ich würde nicht allzu viel Zeit mit Jay verbringen müssen, wenn ich mit Viola durch die Städte zog.

Mein Dad nahm mir den schweren Koffer ab, um ihn die fünf Stockwerke nach unten zu tragen. Ich trottete ihm hinterher, inhalierte die feuchte Luft des Treppenhauses und dachte mir dabei, dass ich dieses Haus vermissen würde. Dass ich unsere kleine dunkle Wohnung vermissen würde. Dass ich Dad vermissen würde.

Aber so langsam begann ich mich auch zu freuen. Viola und Dad hatten recht. Es würde eine einmalige Erfahrung werden und ich wollte versuchen, es soweit es ging zu genießen.

Vor der Tür wartete Cordan, der an einem wirklich teuer aussehenden Sportwagen lehnte, der absolut nicht in diese Gegend passte. Cordan trug eine enge schwarze Jeans mit Rissen, Springerstiefel und eine Lederjacke. Seine braunen Haare standen in alle Richtungen ab, sein Gesicht war sauber rasiert, zwischen seinen Lippen klemmte eine Zigarette.

Das Wetter war trüb und regnerisch, typisch für unsere Stadt, und dennoch trug er eine Sonnenbrille. Ich musste mir ein Schmunzeln verdrücken. Er hatte sich kaum verändert in den zwei Jahren. Hatte immer noch diese rebellische Bad-Boy-Ausstrahlung.

Er nickte mir zu, als er mich sah und ging zum Kofferraum, um ihn zu öffnen. Er nahm mir und meinem Dad das Gepäck ab.

»Wo ist Viola?«, fragte er, als er mein Gepäck im Kofferraum verstaut hatte. Das war typisch für ihn. Kein Hallo. Kein wie geht es dir? Er war noch nie ein Mensch der großen Worte gewesen. Ich zuckte die Achseln. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder die Zeit vergessen, was wiederum typisch für sie war.

Und als hätte sie geahnt, dass wir von ihr sprachen, riss sie im dritten Stock ein Fenster auf und brüllte so laut, dass es wahrscheinlich die ganze Nachbarschaft mitbekam: »Ich bin sofort da!«

Dann knallte sie das Fenster wieder zu. Ich kicherte leise, als ich bemerkte, wie sich Cordan unter der Sonnenbrille die Augen rieb und verzweifelt seufzte. Und während Viola den Hausflur hinuntergepoltert kam, nutzte ich die Gelegenheit, mich von meinem Dad zu verabschieden.

Ich umarmte ihn fest und schnupperte nochmal an seinem Hemd, das nach Öl und Bratfett roch. Als ich mich von ihm löste, war Viola unten angekommen und kämpfte mit ihrem Gepäck. Sie blieb immer wieder an der Haustür hängen und gab einen frustrierten Laut von sich.

Cordan legte stöhnend den Kopf in den Nacken, nahm einen letzten Zug von der Zigarette und schmiss sie dann auf den Asphalt, wo er sie mit dem Schuh zerdrückte. Dann ging er zu Viola, um ihr das Gepäck abzunehmen. Ich versuchte, das Schauspiel auszublenden und wandte mich wieder an meinen Dad.

»Ich werde dich vermissen«, sagte ich.

»Hab Spaß«, befahl er mir und drückte mir noch einen Kuss auf den Scheitel. Cordan warf Violas Gepäck auf den Rücksitz und setzte sich dann wortlos auf den Fahrersitz.

Uff. Welche Laus war ihm denn über die Leber gelaufen?

Hoffentlich bereute er es nicht schon, uns beide eingeladen zu haben. Viola drückte ebenfalls meinen Dad zum Abschied und kletterte dann auf den Beifahrersitz. Ich quetschte mich hinten neben Violas Koffer. Dieses Auto war definitiv ungeeignet für so viel Gepäck.

Als Cordan losfuhr, hatte ich mich noch nicht mal angeschnallt, ließ den Gurt aber hektisch los, um das Fenster runterzulassen und meinem Dad zum Abschied zu winken. Er winkte zurück und ich hörte nicht auf, bis wir um die Ecke gebogen und er verschwunden war.

Dann setzte ich mich und versuchte mich anzuschnallen, dabei konnte ich mich kaum bewegen, da ich von Violas Gepäck förmlich zerquetscht wurde. Die schien gar nichts davon mitzubekommen, da sie aufgeregt davon erzählte, dass sie noch nie in Europa war und jede Sehenswürdigkeit aufzählte, die sie sich unbedingt ansehen wollte.

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und beobachtete lieber amüsiert, wie Cordan immer, wenn Viola zu ihm sah, ein Lächeln aufsetzte und energisch nickte, jedoch sobald sie sich wegdrehte, um aus dem Fenster zu sehen, das Gesicht verzog, als wären sieben Tage Regenwetter.

Als wir an einer roten Ampel hielten, ertappte mich Cordan schließlich im Rückspiegel beim Feixen und zog seine Sonnenbrille runter. Der Blick aus seinen braunen Augen war herausfordernd. Ich errötete und wandte schnell den Blick ab. Den Rest der Fahrt sah ich schweigend aus dem Fenster.

***

Als wir in der Tiefgarage des Hampton Inn in Waterbury parkten, wartete bereits ein Portier, der unser Gepäck auslud und auf einen Rollwagen legte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Cordan dem Portier einen zerknitterten Stapel an Scheinen in die Hand drückte, der sich anschließend dankend davonmachte.

Viola hüpfte aufgeregt neben Cordan her und krallte sich dabei in den Ärmel seiner Lederjacke. Ein Aufzug, der Innen komplett verspiegelt war, brachte uns in den neunten Stock.

Während die Zahlen wanderten, warf ich einen Blick in den Spiegel gegenüber von mir. Mein Herz machte einen Hüpfer, als ich daran dachte, dass ich morgen früh Jay am Flughafen begegnen würde. Es war eine Weile her, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten und ich fragte mich nun, wie er sich entwickelt hatte.

Charakterlich, meine ich natürlich. Ich wusste, wie er auf Paparazzi Bildern aussah. Zum Anbeißen. Hör auf, so etwas zu denken!

War er noch der, der er früher mal war? War er noch immer so kalt? So unnahbar? So berechnend? Würde ihm gefallen, wie ich aussah…?

Moment. Was interessierte es mich?

Ich zupfte an meinen schwarzen Haaren, die mir wild über die Schultern fielen. Meine großen blauen Augen blickten mir erschrocken entgegen. Ich war blass, klein und zierlich. Vermutlich würde ihm nicht wirklich gefallen, was er sah. Wieso auch? Er konnte jede haben. Er war eine Berühmtheit. Ein Rockstar. Warum also sollte ich ihm gefallen? Außerdem hatte er mir bereits klipp und klar verdeutlicht, dass er mich nicht mochte.

Das Ping brachte mich ins Hier und Jetzt zurück und wir gingen den blauen Teppich des Flurs entlang bis zu unserem Hotelzimmer.

Zimmer 69. Wie typisch für die Band. Überall mussten zweideutige Dinge sein. Unter anderen Umständen hätte ich vermutlich darüber geschmunzelt, doch die Aufregung in mir ließ mich lieber tief durchatmen.

Viola nahm lächelnd meine Hand, als Cordan die Tür aufschloss. Vorfreude glitzerte in ihren Augen und ließ zu, dass sie mich ebenso packte. Ich lächelte zurück und drückte ihre Hand. Doch das Lächeln erstarb auf meinen Lippen, als die Tür geöffnet war und ich die Stimmen darin wahrnahm.

Ich wollte auf der Stelle umdrehen, doch Viola zog mich hinter sich ins Zimmer, wobei sie meinen Fluchtversuch ignorierte. Mir wurde wieder schlecht. Wahrscheinlich war ich leichenblass.

Eine große offene Suite mit schönem Marmorboden und steriler Einrichtung erstreckte sich vor mir. Doch ich kam gar nicht dazu, mich weiter umzusehen oder den luxuriösen Anblick in mir aufzunehmen.

Keith und Bowan kamen lachend auf uns zu geschlendert und klopften beide Cordan begrüßend auf die Schulter. Wenn sie hier waren, hieß das, dass Jay nicht weit war.

Und das war nicht gut. Gar nicht gut. Es ließ mich einer erneuten Ohnmacht gefährlich nah kommen.

»Viola, du bist ja richtig erwachsen geworden!«, rief Keith aus und umarmte sie herzlich. Ihre Hand ließ mich los, als sie ihn in die Arme nahm, als wären sie alte Freunde. Das waren sie auch irgendwie… schätze ich.

Sein silberblondes Haar glänzte in dem Licht der untergehenden Sonne, seine blauen Augen so schön wie Saphire. Seine Piercings an Augenbraue und Unterlippe reflektieren das Licht und lenkten die Aufmerksamkeit auf sein kantiges, glattrasiertes Gesicht

»Oh ja, und wie erwachsen du aussiehst «, ergänzte Bowan und stieß einen leisen Pfiff aus. Er sah so gut aus wie eh und je. Ein richtiger Aufreißer, wie man sagen würde. Ein schwarzes Shirt umspannte seine wirklich beachtlichen Muskeln, auf seinen Armen schlängelten sich schwarze Tattoos entlang.

Er machte Anstalten, Viola zu umarmen, doch Cordan packte ihn am Kragen seines Shirts und hielt ihn zurück. Er setzte sich die Sonnenbrille ab und steckte sie in den Ausschnitt seines Shirts, als er sich zwischen die beiden stellte. Seine braunen Augen funkelten böse in Bowans Richtung.

»Nichts da, Casanova«, sagte er. »Denk nicht einmal daran, ihr zu nahe zu kommen!«

»Cordan!«, stieß Viola empört aus und blickte ihren Bruder fassungslos an. Sie konnte es nie leiden, wenn ihr Bruder den Beschützer raushängen ließ, obwohl ich Cordan in diesem Fall verstehen konnte. Bowan hatte die Eigenschaft, Frauen mit Leichtigkeit in seinen Bann zu ziehen. Dieser hob lachend die Hände. Strähnen seines schwarzen Haares fielen ihm in die Stirn, als er mit einem Welpen-Blick zu Cordan aufblickte.

»Ach komm schon!«, stieß er aus, als hätte man ihm sein Lieblings-Spielzeug weggenommen. »Ich verspreche auch, nichts Unanständiges zu tun.« Sein Grinsen war zu diabolisch, um ihm die Unschulds-Nummer abzukaufen.

»Noch nicht«, fügte er leise hinzu, was Cordan dazu bewegte, Bowan am Kragen zu packen und gegen das Sofa zu rempeln. Dieser lachte jedoch nur, ein gefährliches Funkeln in seinen grün-braunen Augen. War er wahnsinnig geworden?

Er suchte immer Ärger. Das hatte er schon damals in der Highschool getan. Keine Ahnung, wie oft er sich schon nach einer Schlägerei die Nase hatte richten lassen.

»Wag es a nicht, sie anzufassen!«, zischte Cordan ihm so leise ins Gesicht, dass ich es kaum verstand.

»Cordan, hör auf damit!«, protestierte Viola erneut und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. Ihre elfenartigen Ohren färbten sich tiefrot, was ihren Ärger umso mehr unterstrich. »Ich bin kein Baby mehr!«

»Oh nein, definitiv nicht,«, konnte sich Bowan nicht verkneifen und zwinkerte Viola zu, was sie die Stirn runzeln ließ. Er konnte es einfach nicht lassen, zu provozieren. Das quittierte Cordan mit einem Stoß gegen seine Brust. Er sah so aus, als würde er ihn jeden Moment vermöbeln.

»Schluss jetzt!« Keith ging dazwischen, bevor sie sich die Köpfe einschlagen konnten. Er packte beide an den Armen und zog sie auseinander. Er war schon immer der Vernünftigste von ihnen gewesen. Ruhig, bodenständig, auf eine interessante Art süß. Irgendwie liebenswürdig.

Ohne ihn würden sie sich vermutlich ständig prügeln.

Ich stand noch immer hinter Viola und versuchte mich unauffällig zu verhalten. Wenn ich mich unsichtbar machen könnte, würde ich vielleicht von hier verschwinden können, ohne dass es jemandem auffiel.

Doch Bowan entdeckte mich unglücklicher Weise, als sein Blick über Viola glitt und er mich hinter ihr entdeckte. Sein Grinsen reichte nun fast über sein ganzes Gesicht.

»Na sieh mal einer an«, sagte er. Jetzt hatte auch Keith mich erfasst. Mist. Zu spät für eine Flucht.

Mit hochrotem Kopf verschränkte ich die Hände vor der Brust. Viola legte einen Arm um mich und schob mich weiter in den Raum hinein. Sie schien gar nicht zu bemerken, wie unwohl mir war, stattdessen strafte sie Cordan mit einem tödlichen Blick.

»Erinnert ihr euch noch an Rosalie?«, fragte sie in die Runde und rieb mir über den Oberarm, was mich etwas beruhigte. Doch mein Herz hörte nicht auf, unentwegt in meiner Brust zu hämmern.

»Natürlich«, behauptete Bowan und musterte meinen Körper mit einem Blick, der mir ganz und gar nicht gefiel. »Wie könnte man so eine Schönheit vergessen?« Mir wurde immer unwohler zumute und mein Kopf glühte mittlerweile heißer als Lava.

»Hey«, sagte Keith und nickte mir mit einem offenen Lächeln zu. Ich nickte ebenfalls und lächelte unsicher zurück. Bowan machte sich nichts daraus, dass ich mich ganz offensichtlich unwohl fühlte und reichte mir die Hand hin.

»Hi. Ich bin Bowan«, stellte er sich vor, als wüsste ich nicht, mit wem ich ein Jahr lang in dieselbe Klasse gegangen war, der nun zufällig auch Bassist der Band No Mercy war. Ich hatte ihnen damals stundenlang beim Proben zugesehen. Aber es wunderte mich nicht, dass ich aus ihrem Gedächtnis so gut wie verschwunden war. Ich hatte mir auch nie Mühe gegeben, irgendwie aufzufallen.

Sein Lächeln war entwaffnend. Es war die Art von Lächeln, die Frauen weiche Knie bereitete. Zum Glück war ich immun gegen schmeichelnde Sprüche und ein hinreißendes Männer-Lächeln.

Ich ergriff sie zögerlich, doch statt meine Hand zu schütteln, führte er sie an seinen Mund und drückte einen sanften Kuss auf meine Knöchel, wobei er mir tief in die Augen sah. Oh Gott, bitte lass mich in Luft auflösen.

»Was soll das hier werden?«

Ich spürte ihn, bevor er seinen Mund aufgemacht hatte, und als seine Stimme die Luft durchschnitt, war es endgültig. Er war hier. Und es war kein Traum.

Es schien mindestens zehn Grad kälter im Raum geworden zu sein und auf meinem Arm breitete sich eine Gänsehaut aus, was Bowan grinsend zur Kenntnis nahm, ehe er meine Hand losließ. Ich traute mich nicht, ihn anzusehen. Es würde mich zerstören. Ich wusste es einfach. Ich wusste, wenn ich ihm nur einmal in die Augen sehen würde, wäre es das Ende für mich.

»Wir unterhalten uns nur ein bisschen, Jay. Kein Grund zur Panik«, erklärte Bowan, wobei er mir den Arm um die Schulter legte. Ich sackte unter seinem Gewicht etwas zusammen. Am liebsten hätte ich seinen Arm von mir geschoben, doch dann spürte ich Jays versengenden Blick auf mir und erstarrte. Als würden seine Augen mich magisch anziehen, warf ich einen Blick auf ihn. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich ihn sah. Mein Gehirn hörte auf zu funktionieren. Seine dunklen Augen schienen mich zu durchbohren und ich ließ es zu. Starrte ihm wie ein verängstigtes Reh entgegen.

Er sah umwerfend aus in seiner locker sitzenden Jeans und dem schwarzen Shirt, das aussah, als hätten es Motten zerfressen. Sein dunkles Haar war auf eine sexy Weise durcheinander und er hatte einen Dreitagebart, der seine markanten Wangenknochen nur hervorhob.

Er war… perfekt. Auf eine Weise, wie nur ich es sehen konnte. Weil ich mit ihm verbunden war. Weil ich für einen kurzen Moment sein wahres Gesicht gesehen hatte. Und weil ich mich damals in ihn verliebt hatte. Auch wenn dieses Gefühl nur einseitig war.

»Das war nicht meine Frage«, wandte er sich an Bowan und unterbrach unseren Blickkontakt. Ich blinzelte verwirrt, als wäre ich gerade aus einer Trance erwacht.

»Ich sagte dir doch, dass deine Schlampen nichts auf unserer Tournee zu suchen haben.«

Bitte was?!

Ich schnappte empört nach Luft. Ich konnte gar nicht fassen, was ich gerade gehört hatte. Vielleicht war das ganze ja doch nur ein Traum und ich würde jeden Moment erwachen. Viola trat neben mich und stemmte ihre Hände in die Hüften.

»Na hör mal!«, rief sie aus. »Rosalie ist keine seiner Schlampen!« Sie deutete abfällig auf Bowan, während sie Jay anfunkelte. Ich wollte im Boden versinken. Auch wenn ich ihr dankbar war, dass sie für mich einstand, war diese Situation mein Tiefpunkt. Mir war bewusst, dass Jay mich nicht leiden konnte, doch dass ich für ihn nichts weiter als ein beliebiges Mädchen war, bewies mir erneut, wie unwichtig und unsichtbar ich für jeden war. Vielen Dank auch, Welt!

Jay ignorierte sie und richtete seinen wütenden Blick auf Bowans Arm, der auf meiner Schulter lag. Seine Nasenflügel blähten sich auf.

»Kann mir dann irgendjemand erklären, was dieses Mädchen hier will?« Seine Stimme klang angestrengt, als würde er versuchen, seine Wut im Zaum zu halten. Cordan hob beschwichtigend die Hände. Er schien zu merken, dass Jay kurz vor einer Explosion stand.

»Beruhige dich, Bro. Das ist Rosalie, Violas Freundin.« Er deutete auf mich und ich fühlte mich wie auf dem Präsentierteller. Nun, da alle ihre Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hatten und mich anstarrten wie der hässliche Fleck, den man nicht wegpolieren konnte.

»Du kennst sie aus der Highschool.« Jay ließ seinen gleichgültigen Blick über meinen Körper schweifen. Ich konnte seinen Blick nicht einschätzen. War er abwertend, angeekelt oder einfach nur desinteressiert?

»Mir egal«, winkte er ab, als würde er sich tatsächlich nicht an mich erinnern. »Sorgt nur dafür, dass sie mir aus den Augen geht.«

Resigniert blickte ich auf den Boden und versuchte mir nicht die Niedergeschlagenheit anmerken zu lassen, die seine Worte in mir verursachten. Meine Wangen standen in Flammen. Doch diesmal nicht aus Scham, sondern aus Wut und Ungläubigkeit. Ich konnte nicht glauben… ich wollte nicht glauben, dass er mich so einfach vergessen konnte. Doch das tat er, denn er wandte sich ab und ging in Richtung eines der Schlafzimmer.

»Sei kein Arschloch, Jay!«, rief ihm Bowan hinterher, doch dieser drehte sich nicht um, sondern zeigte nur seinen Mittelfinger, bevor er in dem Zimmer verschwand und die Tür hinter sich zuknallte.

3. Ein fucking Problem

Jay

Take What You Want – Post Malone

Fuck, fuck, fuck, fuck. Fuck!

Ich raufte mir die Haare, während ich im Zimmer auf und ablief. Mir pochte der Schädel wie verrückt und es lag nicht an meinem Schlafmangel. Nein, auch nicht an dem Alkohol, den ich gestern Abend mit den anderen in mich reingeschüttet hatte. Sondern an ihr.

Es war einzig und allein ihr geschuldet, dass ich kurz vor einem gigantischen Ausraster stand. Ich versuchte mich in den Griff zu bekommen, ging zum Fenster und riss grob die Gardine beiseite, um einen offenen Blick auf die Straße zu ergattern. Prompt entdeckte ich drei Vans mit getönten Scheiben. Natürlich waren es wieder die großen Fernsehsender: NBC, FOX und CBS.

Diese elendigen Blutsauger…

Ich zog schnell die Gardinen wieder zu, bevor sie mich entdecken konnten und rieb mir übers Gesicht. Als ich die Hände vom Gesicht nahm, öffnete sich gerade meine Zimmer-Tür. Ich hätte fast losgebrüllt, dass derjenige verschwinden sollte, doch dann erfasste ich Cordans Dickschädel.

Er sah mich nicht an, als er das Zimmer betrat und schloss vorsichtig die Tür, als wäre ich ein gereiztes Raubtier, was ihn bei jeder kleinsten Regung anspringen würde. Vielleicht war es auch so.

Doch ich gesinnte mich, tief durchzuatmen und verschränkte meine Arme vor der Brust. Ausrasten würde nichts bringen, das wusste ich. Ich war nicht jemand, der sehr impulsiv und von seinen Emotionen geleitet handelte. Ich dachte immer rational, durchdachte noch einmal die Situation, bevor ich handelte. Auch und vor allem, was das Thema Frauen betraf.

Dass ich gerade kurz davor war, meine Beherrschung zu verlieren, war nicht typisch für mich und es sollte auf keinen Fall noch einmal passieren! Doch sie hatte schon immer eine Ausnahme für mir dargestellt. Und genau deswegen musste sie von hier verschwinden.

Cordan lehnte sich an die Tür und steckte die Hände tief in seine Hosentaschen. Seine Haltung war locker, doch sein konzentrierter Blick auf den blauen Teppich unter ihm belehrte mich des Gegenteils. Er war angespannt und er wusste genau, dass er jetzt vorsichtig seine Worte wählen musste, damit ich mich nicht in den Hulk verwandeln würde.

Er atmete tief durch, bevor er sich an mich wandte und mich fragte: »Bist du aufgeregt?« Ich runzelte die Stirn. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Sie war komplett irrsinnig aus dem Kontext gerissen.

»Was meinst du?« Er zog einen Mundwinkel hoch.

»Die Tournee« erklärte er, als wäre ich irgendwie schwer von Begriff. »Wir haben alle noch nie Amerika verlassen.«

Ich nickte verstehend. Natürlich war das etwas Großes für uns. Nachdem wir vor neun Monaten unser erstes Album rausgebracht hatten und es durch die Decke ging, wurde uns eine Amerikatournee angekündigt, die jedoch schnell in eine Europatournee umgewandelt wurde, da unser internationaler Erfolg noch größer war.

Es war das erste Mal für uns, dass wir diesen Kontinent verlassen würden und eine leichte Aufregung machte sich in mir breit. Doch da war auch diese Vorfreude, dieses Kribbeln in meiner Magengrube, wenn ich daran dachte, was das für einen Karrieresprung für uns alle bedeutete. Wir hatten es in kurzer Zeit bis ganz nach oben geschafft! Nur wenige junge Künstler konnten das von sich behaupten.

»Klar«, sagte ich schließlich und zuckte die Schultern, als wäre das nichts Besonderes. Cordan hob den zweiten Mundwinkel nun zu einem Lächeln an.

»Aber das ist nicht der Grund, warum du in mein Zimmer gekommen bist«, stellte ich fest und fixierte ihn, um seine Reaktion zu beobachten. Er stieß seinen Atem aus und das Lächeln erstarb auf seinen Lippen.

»Nein«, gestand er und blickte erneut auf den Boden. Was an ihm wohl so interessant war? »Du weißt ja, dass ich echt Mist gebaut habe«, rückte er endlich mit der Sprache raus. Ich hob eine Braue. Er hatte Riesenmist gebaut. Aber darüber wollte er sicher nicht mit mir sprechen. Das Thema hatten wir schon vor Wochen ausführlich diskutiert.

»Und du warst einverstanden, dass Viola mitkommen kann… ihr alle wart das. Aber sie hat das Angebot nicht annehmen wollen.« Ich verstand nicht. Warum war sie dann hier? Er hatte mir doch erzählt, dass sie eingewilligt hatte, oder hatte sie ihre Meinung geändert?

»Zumindest nicht einfach so«, ergänzte er und blickte mich wieder an. Sein Blick war bedauernd und… schuldbewusst.

Oh. nein.

»Sie hat mir eine Bedingung gestellt und ich wusste, dass, wenn ich nicht darauf eingehe, sie mir nicht so schnell diesen Schlamassel verzeihen würde. Ich hatte keine andere Wahl.« Nun war er es, der die Schultern zuckte, als wäre es nichts Besonderes. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und schnaubte.

Dieser blöde Wichser!

»Und du kamst nicht auf die Idee, uns darüber zu informieren oder uns zu fragen, ob es in Ordnung ist, noch so eine Göre anzuschleppen?«, gab ich entnervt von mir. Ich spürte, wie die Ader an meiner Stirn zu pochen begann. Cordan nahm die Hände aus den Taschen und rieb sich die Augen. Sein Blick war erschöpft.

»Mann… es tut mir echt leid, okay? Ich wusste nicht, dass das so ein Problem für dich darstellt.« Ich legte stöhnend den Kopf in den Nacken. Ein Problem. Sie stellte kein Problem für mich da, sie hatte hier einfach nichts zu suchen! Nicht in diesem Hotel, nicht in unserer Band und ganz sicher nicht in meiner Nähe!

Wie sie schon dastand mit ihrer geschlossenen Kleidung und dem hochroten Kopf. So prüde. So unschuldig. So… argh! Ich musste mich wieder abregen!

»Sie ist kein Problem für mich, Cordan!«, kam es aggressiver aus mir heraus, als ich es wollte. Cordan hob seine Brauen und sagte mir mit seinem Blick: Ach nein? Ich rieb mir erneut übers Gesicht, um mich runterzufahren, bevor ich weitersprach.

»Ich will… ich will nur nicht noch eine weitere Göre dabeihaben, die uns mit ihrem Mädchenkram und ihrem Periodenmist auf die Nerven geht!«, brachte ich etwas ruhiger heraus, doch es klang wie ein drohendes Zischen. Cordan lachte.

Er lachte einfach! Dieser Drecksack.

»Was ist jetzt so lustig, Wichser?« Ich legte den Kopf schief und versuchte ihn mit meinem Blick zu erdolchen. Er schüttelte nur grinsend den Kopf und ignorierte meine aggressive Haltung, womit er eine gebrochene Nase riskierte.

»Du wirst von den beiden gar nichts mitbekommen, Jay. Sie werden im Hotel hocken und Sightseeing und so… Mädchenkram machen«, behauptete er.

»Und wir werden mit Soundchecks und Auftritten beschäftigt sein. Wir werden sie kaum sehen.« Unmöglich, dachte ich mir. Wie zur Hölle sollte ich sie nicht bemerken, wenn sie im selben Hotel nächtigte und in derselben Stadt Sightseeing und… Mädchenkram machte?

Ich würde sie immer bemerken. Und das gefiel mir nicht. Mir gefiel der Gedanke nicht, sie so nah um mich zu haben und sie in mein Umfeld zu lassen. Auf gar keinen Fall!

»Hör mal«, begann Cordan nochmal, als er merkte, dass seine beruhigenden Worte nichts brachten. Wenigstens hatte er aufgehört so dämlich zu grinsen.

»Du weißt, dass mir Familie sehr wichtig ist. Und Viola ist