Noch ist es Zeit - Rolf Waller - E-Book

Noch ist es Zeit E-Book

Rolf Waller

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Beschreibung

Ein Roman, und doch erlebt, erfahren, erlitten: Zürich, Mitte der 50er Jahre. Im "Niederdorf", der legendären Amüsiermeile mit der "Pigalle-Bar" und dem Rolls-Royce des "Reeperbahn-Zuhälters", tummeln sie sich, die vom Leben Gezeichneten, von den Lichtern und Verlockungen Angezogenen. Auch Roger, der klassische "Verlorene Sohn", geflüchtet aus der dörflichen Enge seiner Jugendjahre, dringt tief hinein in den sagenumwitterten Glanz, den all die Bars, Restaurants, Dancings und Cabarets anzubieten haben, Frauen, Freuden und Freiheiten inklusive. Lange ist Roger mit den erwachenden Trieben und Begierden überfordert gewesen. Der Umgang mit dem anderen Geschlecht war im strengkatholischen Milieu seiner Jugendzeit kein Thema gewesen, das offen diskutiert wurde. Zweifel und Verzweiflung wuchsen, Gott und die Welt wurden infrage gestellt. Die Auflehnung richtete sich gegen alles. Er fühlte sich verletzt, weidwund. Jetzt bricht er aus, will sich in den rauchgeschwängerten Etablissements und mit ausschweifendem Lebensstil neu erfinden. Aber Glück? Nein, Glück, findet er kaum. Gnade vielleicht?

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Rolf Waller Noch ist es Zeit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Fontis – Brunnen Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Foto Umschlag, sowie Foto letzte Seite ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Ans_01362 / CC BY-SA 4.0 E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-458-5 ISBN (MOBI) 978-3-03848-459-2

www.fontis-verlag.com

Rolf Waller

Noch ist es Zeit

Von der dörflichen Enge ins anrüchige Zürcher Niederdorf

Roman

1

Roger schob sich durch die große Tür. Eine schwarzbefrackte Gestalt mit blassem Gesicht, spitzer Nase und glänzenden Haaren trat ihm entgegen, forderte geziert den Mantel und schwebte wieder davon.

Das elegante Lokal schien gut besucht. Roger spähte nach allen Seiten. Eine freie Nische, ein leerer Tisch? – Nichts! Hier plauderten drei Frauen, dort paffte eine Gruppe Fünfzigjähriger graue Rauchschwaden um sich. An einem runden Tisch saßen zwei Männer, drei Plätze waren noch frei.

Roger trat näher. «Sie gestatten?» Der ältere der beiden Herren blickte auf.

«Bitte», sagte er lächelnd und wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu, der hastig auf ihn einredete.

Roger setzte sich, bestellte einen Kaffee und drehte sich weg. Der Gedanke, seine Tischnachbarn in ihrer angeregten Unterhaltung zu stören, war ihm peinlich, und so ließ er denn seinen Blick durch den Raum schweifen.

Auf den niedlichen Tischchen standen rote Lämpchen. Schwere Kronleuchter verbreiteten ein mattes Licht. Über den Boden lief ein buntfarbiger Teppich, und schwere Gardinen, wie riesige Bühnen-Gehänge den großen Fenstern vorgestülpt, fraßen Rauch und Lärm des vornehmen Raumes. An den Wänden hingen wertvolle Bilder in kostbaren Rahmen. Doch sie blieben unbeachtet. Ununterbrochen plauderten die Frauen und pafften die Männer. Ein verliebtes Paar hielt sich am Nebentisch die Hände.

In einer Ecke fand sich ein Flügel. Auf diesem stand eine brennende Kerze. Davor lehnte ein Geiger. Der flackernde Schein fraß sich mühsam durch die dichte Rauchfahne, die zarten Melodien drangen nur schüchtern durch das schwirrende Geplapper der undankbaren Zuhörer. Unbeachtete Kunst, taube Ohren!

Roger wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. Der jüngere der beiden Herren an seinem Tisch war aufgestanden.

«Auf Wiedersehen.»

«Auf Wiedersehen – und Kopf hoch!»

Der Jüngling versuchte zu lächeln, machte einen Katzenbuckel und schlich sich weg.

«Armer Freund», entfuhr es dem Sitzengebliebenen. Und langsam bewegte er seinen Kopf.

«Liebeskummer», meinte er dann schmunzelnd zu Roger. «Eine kleine Tragödie, wie sie zur Jugend gehört.»

Roger betrachtete den Fremden mit höchster Aufmerksamkeit. Er trug einen auserlesenen Anzug und wirkte äußerst gepflegt. Während er sprach, spielte seine rechte Hand neckisch mit der brennenden Zigarette. Seine geflüsterten Worte waren mehr Selbstgespräch. Jetzt wandte er sich wieder Roger zu.

«Sie sind fremd hier?»

Roger zögerte.

«Ja – erst vor kurzer Zeit in die Stadt gekommen.»

«Verzeihen Sie meine Indiskretion», meinte der Fremde mit einem sympathischen Lächeln. «Aber ich glaubte gleich, in Ihrer Sprache einen mir wohlvertrauten Tonfall festzustellen. Sonderbar, die engere Heimat lässt sich nie verleugnen. Auch ich bin einst vom Land in die Stadt gezogen, allerdings vor vielen Jahren.» Und wieder spielte er mit seiner Zigarette.

Ein Kellner nahm den Aschenbecher vom Tisch und brachte einen leeren. Er schien den Fremden zu kennen und fragte ihn respektvoll nach etwaigen Wünschen. Doch dieser verneinte und wandte sich wieder Roger zu.

«Wie gefällt es Ihnen hier?»

Roger, erst von der eleganten Erscheinung und der unerwarteten Zutraulichkeit des Fremden etwas verwirrt, fühlte sich plötzlich angezogen. Ein engerer Landsmann an seinem Tisch. In dem unruhigen und nervösen Getriebe und unter fremden, unnahbaren Gesichtern eines, das ihn plötzlich interessierte.

«Wie es mir gefällt?», lächelte er zurück. «Nun, die kurze Zeit dürfte kaum ausreichen, um mir ein gültiges Urteil zu bilden. Selbstverständlich bin ich beeindruckt von der unglaublichen Größe, der Unruhe, den Gegensätzen. Weggerissen wie ein – nun, vielleicht wie ein Hirtenknabe von seiner Alp-Weide und hineingeworfen in einen riesigen, bunten Park. Alles scheint neu, endlos, hübsch. Ich schaue, suche, finde und ahne, dass das Gefundene vielleicht doch nicht ganz dem Gesuchten entspricht. Ich pflücke hier, ich pflücke dort. Die Blumen in meinem Arm sind noch nicht zahlreich. Es ist noch nichts Ganzes, noch kein Strauß, den ich vor Sie hinstellen könnte. Ich suche täglich weiter. Die verlockendsten Blüten gedeihen oft an verborgenen Stellen. Und trotzdem – auch diese möchte ich pflücken.»

Der Fremde lächelte vergnügt. «Sie übersehen den Drohfinger Ihrer engeren Heimat und missachten Verbote?»

«Aber keineswegs», beteuerte Roger. «Ich anerkenne sie, wie auch jene, die sie mir mitgegeben haben. Ich bin ihnen sogar dankbar und bemühe mich, Sinn und Zweck der guten Ratschläge zu ergründen. Dann aber nehme ich mir die Freiheit, selbst zu entscheiden, was ich für richtig halte und was ich vor meinem eigenen Gewissen verantworten kann.»

Der Fremde schien sich zu amüsieren. «Schön», sagte er. «Aber riskieren Sie dabei nicht, hin und wieder etwas als gut zu bezeichnen, nur um Ihre Handlung zu rechtfertigen? Sie glauben nicht an die Güte der Sache, sind aber zu schwach, um zu verzichten, und decken sich ganz einfach mit gespielter Überzeugung?»

Roger wurde nachdenklich. «Vielleicht haben Sie recht. Vielfach Selbsttäuschung und Betrug. Aber geschieht es wirklich bewusst? Wer beweist uns den Selbstbetrug? Wer sagt uns, dass wir, indem wir eine Täuschung zu erkennen glauben, uns nicht nochmals oder erst jetzt täuschen?»

Roger schwieg einen Moment. Und da der Fremde ihn ebenfalls nur fragend ansah, entstand eine kleine Pause.

«Ich wuchs in dörflichen Verhältnissen auf», fuhr er dann fort. «Jeder kannte jeden. Der Nachbar zur Rechten wusste, dass ich schwarze Schuhe trug. Ich aber trug jene und nicht rote, weil dies vielleicht dem Nachbarn zur Linken missfallen hätte. Eine Handvoll Marionetten. Plumpe Figuren, Fäden – und Reichtum, der seine Finger um die unsichtbaren Garne krallte und beliebig mit ihnen spielte. Das dörfliche Geschick in den Händen von ein paar Großen, groß an finanziellen Mitteln, natürlich. Geld, Macht, Gewalt, Kälte! Ich fühlte mich eingeengt, gequält, lehnte mich auf und sagte mir, dass in der Stadt alles anders wäre. Ich träumte von Freiheit, Toleranz und Möglichkeiten. Und heute? Eine kurze Zeit erst. Doch ich fürchte, dass ich mich getäuscht habe. War es Täuschung? Glaubte ich wirklich daran? Glaubte ich damals, dass Reichtum hier nicht mit Ansehen und Stellung, Armut nicht mit harter Arbeit identisch sei? Betrog ich mich nicht bewusst, um meinen Glauben nicht verlachen zu müssen?»

Der Fremde reichte Roger die Zigarettenschachtel.

«Nein, danke!»

«Sie rauchen nicht?»

«Nein, nicht mehr.»

«Großartig. Dazu habe ich mich noch nicht durchgerungen.» Er steckte sich eine Zigarette in den rechten Mundwinkel und zündete sie an.

«Sie glauben also nicht an die Karriere der mittellosen Intelligenz, den Sieg von Ausdauer und Arbeit über die billigen Silberlinge?»

«Auch hier: Nein, nicht mehr!»

«Eigentlich verstehe ich Sie nicht ganz», sagte der Fremde und spielte wieder mit seiner Zigarette. «Zwar geschieht es tatsächlich, dass man in dörflichen Verhältnissen der Initiative eines Jungen, eines unbegüterten Jungen, argwöhnisch gegenübersteht. Dort wird man vielfach aufgrund des Ansehens und Reichtums des Vaters eingestuft. Ein Streber, ein armer Streber. Was kann er dem andern schon für Vorteile bringen? Man wirft ihm stämmige Balken zwischen die Beine, spottet und lacht, kein freies Lachen zwar, sondern ein recht künstliches, hinter dem sich vielleicht die Angst vor dem Wissen und der Fähigkeit des Verlachten verbirgt. Der Junge wird sich kaum durchsetzen, denn er ist in der kleinen Gemeinschaft auf das Wohlwollen der andern angewiesen. Doch hier in der Stadt, was kümmert sich der Nächste um Sie? Sie sind tüchtig, setzen sich ein, entwickeln Ideen und bilden sich weiter. Man schätzt, fördert und unterstützt Sie. Ach, bilden wir uns nichts ein. Ihr Arbeitgeber ist kein Pestalozzi. Er tut dies alles nicht aus altruistischen Gründen. Nein, rein persönliche Interessen. Ein Mensch! Er braucht Sie und will Sie nicht verlieren. Doch was kümmert es Sie? Einzig die Tatsache zählt, dass Sie sich durchsetzen.»

Roger lächelte wehmütig. «Unterschätzen Sie vielleicht nicht doch die Bedeutung von Einfluss und Beziehungen?»

«Aber keineswegs. Ich weiß auch um die Möglichkeit, dass Ihnen plötzlich ein Unfähiger vor die Nase gesetzt wird. Sie sind übergangen. Nun, sachlich erinnern Sie Ihren Arbeitgeber an seine Versprechungen und stellen Ihre Ansprüche. Sollte er nicht darauf eingehen, suchen Sie sich einen anderen Arbeitsplatz. Scheuen Sie aber diesen Schritt, dann haben Sie sich eben überschätzt. Ihr Zögern beweist, dass Sie von Ihrer Tüchtigkeit doch nicht ganz überzeugt sind, oder aber, dass Ihren Fähigkeiten jener wichtige winzige Teil fehlt, der Ihnen Mut verleihen würde, konsequent zu handeln. Sie bleiben also und begnügen sich mit jener Position, die Ihren Kenntnissen durchaus entspricht.»

«Herrlich, wie alles aufgeht», entfuhr es Roger unwillig. «An den Schluss der Predigt ein goldenes Versprechen. Der Geschichte das glückliche Ende, wie dem Krug der Deckel. Aber schmeißen wir den Deckel weg. Greifen wir hinein in den Krug der Wirklichkeit. Und lassen wir sie sprechen. Was haben uns diese Ärmsten zu sagen? – Vielleicht jener Geiger in der Ecke, dessen Aufgabe es ist, täglich stundenlang den alten Kasten zu kitzeln und zu wissen, dass seine Zuhörer kaum Notiz von ihm nehmen. Was stellt er den schnöden Bemerkungen der Gäste entgegen? Vielleicht eine Klage an den Lokalbesitzer, der ihn kurzerhand auf die Straße stellen wird?»

Der Fremde lächelte überlegen und spielte mit der Zigarette.

«Trägt er nicht selber die Schuld an seinem Schicksal? Was tut er, um der ihm vielleicht verhassten Atmosphäre zu entrinnen? Richtig, Sie sagten es selbst. Er antwortet bestenfalls mit einer plumpen Beschwerde, die ihn um Brot und Arbeit bringen wird. Ach, wie bezeichnend und jämmerlich. Die schwache Maus unter der Pratze des gewaltigen Bären, kratzend, piepsend, geifernd. Doch weshalb keine sachliche Beurteilung der Situation, kein Prüfen der Möglichkeiten, Beschlussfassen und zielbewusstes Handeln? Weshalb kein Geigenunterricht anstelle verbummelter Nachmittage, kein Konservatoriums-Besuch aus dem damit verdienten Geld, kein Wille, keine Ziele, keine Kraft?»

Der Kellner kam wieder diskret vorbei. In respektvoller Distanz blieb er stehen und lächelte.

«Ich habe Sie ganz gehörig gefordert», meinte der Fremde versöhnlich. «Darf ich Ihnen zum Zeichen meiner Friedfertigkeit Ihren Kaffee bezahlen?»

Roger dankte und bedauerte, dass er schon aufbrechen wollte. «Es war nett, Sie kennen zu lernen!»

Doch der Fremde schien ihn zu überhören. Abwesend starrte er für einen Augenblick in eine Ecke.

«Ich verstehe Sie ausgezeichnet», sagte er dann schnell. «Ach, war nicht auch ich einmal in jener peinlichen Lage der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit? Doch auch ich habe mich damals festgeklammert, um erschöpft wieder loszulassen, habe erneut zugepackt, gekämpft und gerungen, um schließlich weiterzukommen.»

«Es war äußerst interessant, Ihnen zuzuhören», versuchte es Roger noch einmal.

«Ich möchte Ihnen gerne mehr davon erzählen. Schade, dass ich in den nächsten Tagen für längere Zeit verreisen muss. Es wird mir aber ein Vergnügen sein, Sie nach meiner Rückkehr einmal in meinem Heim zu empfangen.»

«Ich werde der Einladung gerne Folge leisten», sagte Roger. «Sie können mich in meiner Pension jederzeit anrufen.» Und schon streckte er dem Fremden seine Karte hin.

«Bergen», las dieser. «Roger Bergen.»

«Gestatten Sie, dass auch ich mich vorstelle: François Suner. Zu Hause nannte man mich Franz. Hier bin ich François. Die Leute wünschen es so. Ich füge mich gerne. Es gab einmal eine Zeit, da hatte ich die einfältige Idee, mich Francis zu nennen. Francis F., um genau zu sein. Doch was tut schon der Name?»

«Es freut mich, Herr Suner. Und nennen Sie mich doch bitte Roger. Ich bin es so gewohnt.»

«Aber gerne!»

«Ich denke mit Vergnügen an unser Wiedersehen.»

«Leben Sie wohl!»

«Auf bald! … Und gute Reise!»

2

Roger durchpilgerte die Stadt. Neugierig strich er durch enge Gassen und guckte durch verstaubte Fensterscheiben in düstere Arbeiterstuben. Vorbei an schmutzigen Kneipen lockte es ihn, wo ihm dumpfe Musik, beißender Tabakqualm und stinkiger Schnapsgeruch entgegenschlugen. Vor renommierten Gaststätten blieb er stehen und schaute nach den auserlesenen Gerichten, die einer feinen Kundschaft auf zuvorkommende Weise serviert wurden.

Und weiter ging es, vorbei an prächtigen Villen und riesigen Gartenanlagen, vorbei an rauchenden Kaminen, dröhnenden Fabrikgebäuden und stampfenden Maschinenhallen, vorbei an mächtig großen Geschäftshäusern und alten Lagerschuppen.

Bald waren es frohe Menschen, die ihm begegneten, bald alte, gebeugte Leute. Elegante Damen, bärtige Gestalten, strengblickende Herren und kichernde Mädchen kreuzten seinen Weg. Hier war es ein schreiender Zeitungsmann, der vorüberhuschte; dort torkelte ein Betrunkener. Buntfarbige Autos glitten durch die Straßen. Trams rollten vorbei. Prallgefüllte Autobusse transportierten dichtgedrängte Massen.

Feierabend! Alles war bestrebt, dem unruhigen, gehetzten Treiben zu entfliehen und auszuspannen, sei es durch Lektüre, Geplauder, Nichtstun, Sport oder einen Sprung ins nächtliche Vergnügen. Jedermann suchte seinen Ausgleich. Die gewählten Zerstreuungen spiegelten all die verschiedenartigen Interessen, die sonderbaren Wünsche und Gelüste. Was dem einen Vergnügen, war dem andern Qual. Was dieser genoss, verachtete jener. Jedermann entspannte sich auf seine Art.

In Gedanken versunken schlenderte Roger dahin. Der Menschenstrom drängte an ihm vorbei, heimwärts. An einer großen Kreuzung wurde die Straße aufgerissen. Fünf Männer arbeiteten fieberhaft mit Pickel und Schaufel. Für sie gab es noch keinen Feierabend.

Knietief standen sie in der schmutzigen, kotigen Grube. Über die entblößten, braungebrannten Arme perlte glänzender Schweiß. Hemd und Hose waren alt und zerrissen. Auf den Köpfen saßen wetterfeste Helme. Darunter quollen Haarsträhnen hervor und hingen wirr in die geröteten Gesichter. Über die arbeitende Gruppe hinweg aber trugen die Autos ihre unbekümmerten, über die ständigen Baustellen samt der hinderlichen Verkehrsstörung fluchenden Besitzer und wirbelten große Staubfahnen auf die pickelnden und schaufelnden Gestalten.

Der Menschenknäuel lockerte sich allmählich. Die Straßen wurden leerer. Hier bot ein junger Mann Ballone, dort eine runzlige alte Frau Rosen zum Kaufe an, Kinder vergnügten sich mit einer alten Soldatenmütze. Ernst, beinahe ehrfurchtsvoll bestaunten sie das wertvolle Ding und drehten behutsam an den großen Silberknöpfen. Der Kleinste griff plötzlich nach dem begehrten Kopfschmuck, setzte ihn auf seinen blonden Lockenschopf und zückte eine Spritzpistole. Die Übrigen stellten sich vor ihm auf und erwarteten seine Befehle. Sie hatten ihn offensichtlich als Führer anerkannt, waren bereit, ihm zu gehorchen, und dies, obwohl sie ihn beträchtlich überragten. Doch was zählte es, dass er sich noch im Kindergarten mit Spielsachen begnügte und sie bereits die Schule besuchten? Er war es, der die Mütze trug, die wertvolle mit den blanken Silberknöpfen. Er allein war Besitzer des Schatzes, der umso kostbarer war, da die anderen nichts Ebenbürtiges besaßen, das sie ebenfalls zum Führer erhoben hätte.

Kinder!, dachte Roger und schüttelte den Kopf. War es ihnen wohl mitgegeben wie irgendeine andere Gabe, dieses Wissen um die Tatsache, dass materielle Güter das Recht auf Macht und irdisches Ansehen bargen? Oder ahmten sie ganz einfach das Beispiel der Erwachsenen nach, guckten ihnen dies ab wie alles andere auch, in der festen Überzeugung, dass das, was die Großen taten, gut und richtig sein müsste?

Der jugendliche Kommandant steckte die Pistole ein, führte die rechte Hand lässig zum Mützenrand, und schon stoben die Krieger davon. Eine Autosirene heulte auf. Bremsen knirschten. Der Trupp verschwand, das Kindergeschrei verstummte. Aus der Ferne ertönte der schrille Klang aufschlagender Pickel und kratzender Schaufeln.

Der helle Tag wich langsam mattem Dämmerlicht. Scheinwerfer flammten auf, Schatten huschten vorbei. Eine Mutter rief nach ihrem Kind. Es hatte auf der Straße nichts mehr zu suchen.

An der nächsten Straßenecke erschien eine graziöse Gestalt und pendelte unablässig hin und her. Elegante violette Schuhe trugen den zierlichen Körper, und ein raffiniert geschnittenes Kleid gab den guten Formen die gewünschte Betonung. Die Hände der Dame steckten in weißen Handschuhen. Um ihren Hals schmiegte sich ein bauschiger Fuchspelz. Am rechten Arm schwang eine Tasche, klein, versteckt und trotzdem auffällig, im gleichen Farbton gehalten wie die Schuhe. Glänzende blauschwarze Haare fielen auf die hohen Schultern und waren dem Gesicht ein würdiger Rahmen, einem feinen Gesicht mit weichen Zügen, einer wohlgeformten Nase und einem sanft geschwungenen Mund.

Nur die Augen waren anders. Groß und braun, überreifen Kastanien gleich, hatten sie einen eigenartigen, geheimnisvollen Glanz. War es das tiefe Dunkel, das so sonderbar berührte? War es der unruhige Schein, der Unverfrorenheit und Hemmung, Hohn, Verachtung und Charme gleichzeitig mit gekünstelter Überlegenheit und tiefer Unruhe spiegelte? – Die Dame entfernte sich langsam. Auch für sie gab es noch keinen Feierabend.

Roger schlich in sein Pensionszimmer, setzte sich an das schwere alte Schreibpult und griff nach seinem Tagebuch. Die vorderste Seite war leer. Das nächste Blatt enthielt seine ersten Aufzeichnungen:

Das Leben hier bewegt sich in anderen Bahnen. Der Rhythmus ist nicht derselbe und erfordert Umstellungen, ein oft aufwühlendes und verunsicherndes Umdenken. Alte, vertraute Gewohnheiten, ohne die zu leben mir früher unmöglich schien, müssen fallen gelassen und durch neue ersetzt werden.

Schweben mir dabei nicht oft heimatliche, vertraute Bilder vor? Nicht unliebsame Begebenheiten sind es, nein, vielmehr beglückende, nette Dinge, die sich heranpirschen und zu Erinnerungen formen. Alles Gute und Schöne aus fernen Tagen gaukelt dann vor meinem geistigen Auge, und obwohl ich mich beherzt dagegen wehre, gebe ich mich wohligen Träumen hin. Dabei wähne ich mich fern dem Vertrauten, einsam und verlassen. Wehmütige Gefühle steigen auf, Gefühle, die ich, das ist mir klar, später kalt verleugnen, bestimmt mit keinem Wort erwähnen werde.

Und trotzdem sind sie da! Ist es Heimweh? Ach lächerlich, Heimweh! Nach was denn? Bin ich nicht ausgezogen, fremde Menschen kennen zu lernen, mich mit anderen Auffassungen und Ansichten auseinanderzusetzen? War es mir nicht ein Bedürfnis, den Rahmen zu sprengen, der Gedrungenheit dörflicher Verhältnisse zu entfliehen und irgendwie ein eigenes Leben zu führen? Nicht gänzlich verschieden vom alten zwar, nein, keineswegs, nach denselben Grundsätzen und trotzdem aufgebaut nach eigenem Ermessen und frei vom Druck der sich kümmernden, sorgenden, kritisierenden und belehrenden Umgebung.

Froh und zuversichtlich nahm ich Abschied. Nun bin ich da – und mit mir dieses eigenartige Gefühl. Sonderbar: Strebte ich nicht nach all diesem Fremden, das mich, herausgerissen aus den alten Gewohnheiten, jetzt schockiert? Die Menschen hasten an mir vorbei. Sie kennen ihre eigenen Probleme und beschäftigen sich mit diesen, ohne sich um den Nächsten, seine Freuden und Leiden zu kümmern. Haben mir nicht immer solche Ideale vorgeschwebt? Schien es mir nicht lächerlich, meinen Namen auf die Liste einer Sammlung zu setzen, nur weil die Unterschriften von jedermann eingesehen und das Fehlen meines Namenszuges hier und dort unvorteilhaft gedeutet werden konnte? Stimmte mich der Gedanke nicht froh, einmal irgendwo unbekümmert zu sein, allein mit meinen Wünschen und Problemen? – Heimweh also?

Roger überflog das Geschriebene nochmals, klappte sein Tagebuch zu und verstaute es sorgfältig in der geräumigen Pultschublade. Dann legte er sich auf sein Bett und sah zur Decke.

Was hatte ihm der Tag Neues gebracht? Nachdenklich fuhr er sich mit der Hand durchs dichte Haar und kraulte seinen Hinterkopf. Und plötzlich wurde ihm klar, dass er noch keinen Schlaf finden konnte. Es zog ihn noch einmal hinaus in die Unruhe der Stadt, die ihn ungewöhnlich faszinierte, ohne ihm die erhoffte Geborgenheit zu schenken.

An der nächsten Straßenecke pinkelte ein hässlicher Köter gegen einen neuen weißen Mercedes. Roger trat nach ihm und sah in den erhellten Raum der gegenüberliegenden Revierkneipe. «Zur Eintracht», war ihr vielversprechender Name. Einen Moment zögerte er. Sollte er eintreten?

Dann ging er unschlüssig weiter. Gemächlich spazierte er durch lange Straßenzüge und um hohe Häuserblöcke. Er würde sich auf dem Rückweg einen Schlummerbecher gönnen.

Als Roger in die geräumige Wirtsstube trat, sah man sich erstaunt nach ihm um. Nur die Wirtin an der Theke grüßte freundlich. Sobald er bestellt hatte, setzte sie sich zu ihm an den Tisch.

«Sie sind der Neue aus der Pension von nebenan», meinte sie zutraulich. «Ich habe Sie anfänglich für einen Engländer gehalten.»

Roger lächelte.

«Auch Engländer sind schweigsame Menschen. Ich habe einmal einen gekannt, der täglich bei uns seinen Whisky trank. Oft stand er stundenlang an der Theke und hörte sich die Geschichten unseres Viertels mit an. Je gewaltiger die Meinungsverschiedenheiten, desto größer sein Spaß an der Sache. Unsere Fragen entlockten ihm bestenfalls ein verschmitztes Lachen!»

Ein älterer Herr setzte sich an Rogers Tisch und reichte der Wirtin die Hand.

«Ein neuer Bewohner im Viertel», meinte sie.

Der Mann zeigte sich wenig interessiert. Er strich über seinen linken Arm und verzog das Gesicht zu einer erbärmlichen Fratze.

«Ich habe mir ein schmerzvolles Leiden geholt», klagte er.

«Männer sind wehleidige Gestalten!», meinte die Wirtin. «Das schwache Geschlecht ist eindeutig stärker. Ich kannte eine Frau, die Jahr für Jahr ihrer Arbeit nachging und bei mir immer wieder aushalf. Tadellos verrichtete sie jede ihr übertragene Aufgabe und war stets bester Laune. Eines Tages bat sie mich um einen kleinen Vorschuss. Da ich ahnte, dass ihr Böses widerfahren war, fragte ich, ob ich ihr sonst noch irgendwie behilflich sein könnte. Anfänglich wehrte sie ab, und erst nach langem Drängen erfuhr ich von ihrem harten Los. Sie litt an einer unheilbaren Krankheit und durfte auf keine Rettung hoffen. Nächtelang lag sie wach. Die Arzneien verschlangen hohe Summen. Ihr Mann hatte sie längst verlassen. Nur hin und wieder tauchte er auf, um ihr bittere Vorwürfe zu machen. Als sie nun eines Abends nach Hause kam, hatte er ihr den letzten Hausrat ausgeräumt und blieb für immer verschwunden. Sie aber trug auch diesen Schicksalsschlag mit kaum gebrochener Tapferkeit. Ein kleiner Vorschuss könne ihr über das Bitterste hinweghelfen, meinte sie. Mehr brauche sie nicht.»

Der Fremde leerte seinen Kümmel in einem Zug. Dann strich er sich mit seinem Handrücken über den großen Schnurrbart, der ihm wie eine Scheuklappe über die Oberlippe hing.

«Frauen sind großartig», stellte er ironisch fest und ließ nachfüllen. «Und sie gefallen sich, ihre vermeintlich schwere Bürde mit Stolz und Demut zu tragen.»

«Sie sind ein unverbesserlicher Frauenhasser», provozierte die Wirtin.

Doch er ließ sich nicht beirren. «Das Männerlos ist härter!»

Die Wirtin lachte.

«Glauben Sie wirklich, dass pausenloser Einsatz in schwülen Fabrikhallen nur Zufriedenheit und Freude bereitet? Ist es nicht vielmehr Kampf ums tägliche Brot, ein Arbeiten für Geld und nur das?»

Roger bestellte ein zweites Bier und räusperte sich verlegen. «Muss es denn immer Fabrikarbeit sein?»

Der Fremde antwortete, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. «Wohl eine rhetorische Frage», meinte er verächtlich. «Es ist offensichtlich, das sich manch biederer Familienvater für anderes berufen fühlt und sein Leben nur deshalb in muffigen Räumen verbringt, weil ihm die finanziellen Verhältnisse in jungen Jahren keine andere Möglichkeit ließen. Doch man braucht sie, diese Arbeiter. Ohne ihren Einsatz stünden die goldenen Mühlen still. Ihre Betriebstreue ist gefragt und in Ehren gehalten – wenigstens so lange, bis unersättliche Habgier der hohen Betriebsleitung gewisse Produktionszweige als zu wenig interessant aufzeigt und man auf ihre weitere Mitarbeit, unter tiefstem Bedauern natürlich, verzichten kann.»

Als Roger die Wirtsstube verließ, hatte er einen schweren Kopf. Feierlich gelobte er sich, künftig weniger zu trinken.

Der Mond hing wie eine blassgelbe Scheibe zwischen den Hausdächern. In den Straßen war es still geworden, die Pension lag im Dunkeln. Vorsichtig tastete er sich die Treppe hoch. Und als sie knarrte, hielt er einen Moment inne und lauschte. Dann stieg er bedächtig weiter und legte sich müde ins Bett.

3

«Sind Sie heute Abend frei?»

Roger sah auf und blickte erstaunt in das hübsche Gesicht der reizenden jungen Dame, die ihm bei der Ankunft von der Schlummermutter Hanna als Mitpensionsgast und Fräulein Simone vorgestellt worden war. Sie stand plötzlich im kleinen Speisesaal, wo er sich über sein Frühstück beugte, und lächelte erwartungsvoll.

«Heute Abend … frei … gewiss! Aber wozu denn?»

«Ach, nichts Besonderes», meinte Simone und spielte verlegen mit ihren Handschuhen. «Ich feiere meinen Geburtstag und gebe eine kleine Party. Es ist so üblich in der Pension; die Geburtstagskinder müssen herhalten. Kein rauschendes Fest, nein, keineswegs. Es wird ein wenig getrunken und gegessen. Jeder trägt nach Möglichkeit zur guten Unterhaltung bei, und Hanna erzählt ihre ulkigen Geschichten, die uns alten Pensionsgästen bereits geläufig, den neuen eben neu und allen zusammen immer ein köstliches Vergnügen sind. Sie kommen also?»

«Sehr gern, falls ich nicht störe.»

«Aber weshalb sollten Sie stören? Sie gehören doch zu uns wie Fred, André und Florence, die alle erscheinen und sich bestimmt freuen werden.»

«Nun gut, ich nehme an!»

«Fein, auf heute Abend also!»

Ein zuversichtliches Nicken, und schon war sie weg.

«Liebliches Geschöpf», flüsterte Roger und aß weiter. Gleich bei der ersten Begegnung hatte sie ihn entzückt, wie es einer hübschen Frau gegeben ist, ungewollt schon durch ihr Äußeres zu faszinieren. Ihr süßes Lächeln erschien ihm wie ein Rettungsring dem Schiffbrüchigen auf der einsamen See. Ein verständnisvolles Wesen. Schönheit, Verehrung, Besitz. Geteilte Freuden, geteilte Leiden. Halt, noch nicht – Träume!

Dann sah er sie nur noch flüchtig. Sie aß in der Pension, ausgenommen am Morgen; er aber nahm das Mittag- und Abendessen in der Geschäftskantine ein. Auf der ständigen Suche nach einem Vorwand, sie anzusprechen, trug er ihr Bild ehrfurchtsvoll durch die ersten Wochen seines Stadtaufenthaltes. Er musste sie kennen lernen. Er würde sie – doch da stand sie plötzlich vor ihm und lud ihn ein. Gepriesenes Schicksal!

Roger verließ die Pension. Ein pfeifender Wind ließ ihn den Kragen hochschlagen. Die Hände verschwanden in den tiefen Manteltaschen. Gespenstisch spiegelte sich seine hohe Gestalt im feuchtglänzenden Asphalt. Kalter Regen fiel, doch Zuversicht pulste sein Blut heiß durch die Adern. Autos jagten neben ihm her und spien riesige Wasserfontänen. Was kümmerte es ihn heute?

Gespannt verfolgte Roger die flinken Bewegungen der Verkäuferin. Geschickt hüllte sie die Schachtel in ein hübsches Papier und umgab das Ganze mit einem roten Band, dessen Enden sie zu einer riesigen Schleife verarbeitete.

Roger trug den kleinen Schatz entzückt aus dem Laden und durch die düsteren Straßen des frühen Abends. Der Wind heulte noch immer. Eintönig sang der Regen. Vorsichtig presste er das Geschenk an sich. Wie würde sie es aufnehmen? Wo war sie, und was machte sie jetzt? Kannte auch sie das Gefühl geheimnisvoller Regung? Schlug auch ihr Herz in stiller Vorfreude jenem Moment entgegen, der für sie beide – ach, wie klammerte er sich voll Hoffnung an diesen Gedanken – der Beginn unvergleichlich schöner Stunden sein würde?

Mit besonderer Sorgfalt wechselte Roger seine Kleider. Noch blieb ihm eine halbe Stunde. Er legte sich aufs Bett, erhob sich wieder und durchschritt unruhig das Zimmer. Wild kreisten seine Gedanken. Dann setzte er sich ans Pult und öffnete das Tagebuch.

Ein kleines Fest in der Pension, schrieb er. Fräulein Simone feiert ihren Geburtstag. Scheint eine nette Person zu sein. Willkommene Gelegenheit, auch Hanna, Florence, Fred und André näher kennen zu lernen.

Roger erhob sich und ging zur Tür. Dort machte er plötzlich kehrt, kam zurück, setzte sich erneut in den breiten Sessel und griff sich unwillig an den Kopf.

«Weshalb nur dieser Unsinn?», rief er gequält. «Weshalb nur Unwahrheit, Betrug und klägliche Versuche, sich selbst zu täuschen? Weshalb dieses ewige Schauspiel? Weshalb die menschliche Schwäche, sich immer und immer wieder in der Vorspiegelung falscher Tatsachen und Gefühle zu gefallen?

Und wild riss er das frisch beschriebene Blatt aus seinem Tagebuch, zerknüllte es, strich es wieder glatt, las es nochmals und warf es schließlich, zerfetzt in kleinste Stücke, in den Papierkorb. Dann schrieb er von Neuem:

Kleines Fest in der Pension. Fräulein Simone feiert ihren Geburtstag. Wie nur deute ich das seltsame Gefühl, das ich seit meiner ersten Begegnung mit ihr empfinde? Was soll das sonderbare Etwas, das mich stets an sie denken, alles andere vergessen, hoffen, zweifeln und fürchten lässt? Tagelang bildete ich mir ein, sie anzusprechen. Ich zwang mir diesen Gedanken auf – trotz der Überzeugung, dass mir ihr Anblick die Kehle zuschnüren würde, um dann schließlich festzustellen, dass ich Unentschlossenheit und Hemmung niederrang, indem ich stolz an ihr vorüberschritt und ernst, kühl, beinahe hochmütig in ihr hübsches Gesicht blickte.

Wie schätzte sie mich ein: nett, eitel, hochnäsig? Erkannte sie die gespielte Überlegenheit und Ruhe als lose Maske, feig und plump unerklärlicher Schüchternheit vorgehängt? Vermutete sie dahinter tiefe Erregung, ein Fühlen für sie, Hoffnung, Glück, Angst vor Enttäuschung – und das prickelnde Gefühl junger erwachter Liebe?

Ja, ich glaube wirklich zu lieben! Denn nur Liebe kann es sein, die mein Blut so rauschend durch den Körper peitscht, die der Einsamkeit der letzten Tage plötzlich Tragik und Wichtigkeit abspricht, die mich leben lässt und mir unwirklich schöne Träume schenkt. Und, schäme ich mich dieser Liebe? Nein, ich bejahe sie und all die wahren Gefühle. Ich weiß um Hemmung und Schwäche, die sie mir aufzwang, und verlache es, meine Schüchternheit verneint oder mit Anstandsregeln gedeckt zu haben. Aufregung und Unruhe, ich will sie nicht leugnen, nein, ebenso wenig wie mein klopfendes Herz, das zunehmend stärker und laut hörbar jenem Augenblick entgegenschlägt, von dem ich mir so viel erhoffe.

Roger verräumte das Tagebuch in der Pultschublade und erhob sich. Nervös griff er nach der Schachtel und zupfte an der roten Riesenschleife. Trotzdem umschwebte ihn plötzlich ein wohltuender Friede. Sein Gewissen schwieg. Er bejahte seine Gefühle, umfasste sie und ahnte, wie viel ehrlicher, feiner, ja leichter es war, mit ihnen fertig zu werden als mit irgendeinem falschen, erzwungenen, unechten Gebilde, an das er in Wirklichkeit selbst nicht glaubte.

Das kleine Speisezimmer war für die Geburtstagsfeier hübsch hergerichtet. Überall lachten Blumen aus buntbemalten Vasen. Die Tischchen trugen blendendweiße Decken und waren überladen mit Konfekt, Bretzeln, Oliven, Mandelkernen und vielem mehr. Fred saß in einer Ecke und plauderte mit André. Simone und Florence unterhielten sich mit Hanna, die gewichtig in einem breiten Lehnsessel thronte.

Die Geburtstagsfeiern der Pensionskinder brachten der Schlummermutter immer eine Reihe heiterer Stunden. Und dem war gut so. Denn Tag für Tag umsorgte sie ihre Schützlinge mit Geduld und Aufopferung. Sie kochte, nähte und besorgte die Wäsche. Es bereitete ihr Spaß, all die vielen großen und kleinen Wünsche zu kennen und die Pensionsgäste bei jeder Gelegenheit mit Bevorzugtem zu überraschen.

Ein sonderbarer Instinkt ließ sie ahnen, wenn dieser oder jener ihrer vermehrten Aufmerksamkeit bedurfte. Sie fühlte aber auch, wenn einer ihrer Schützlinge mit seinen Problemen allein und ungestört sein wollte. Dann drängte sie sich nicht auf, wohlwissend, dass sie dem Geplagten nur mit einem verständnisvollen Schweigen dienen konnte.

Das Schicksal hatte in jungen Jahren geringes Verständnis für ihre eigenen Wünsche gezeigt. Das brennende Verlangen nach Heim, Kindern und Mutterfreuden blieb ungestillt. Doch sie sprach nie von ihrer grenzenlosen Enttäuschung, den Gründen und Umständen, dem kurzen Hader und dem nachfolgenden mutigen Vorwärts.

Der Eingeweihte, dem Gelegenheit geboten war, sich am hübschen Verhältnis in der kleinen Pension und dem aufopfernden Walten der Besitzerin zu freuen, war bald überzeugt, dass der große Jugendschmerz sie keineswegs gebrochen hatte. Hanna verstand es, all den Widerwärtigkeiten zum Trotz, selbst ein Heim zu schaffen. Ein wenig verschieden vom erträumten zwar – und trotzdem ein Heim. Sie hielt sich ihre Pensionskinder und umsorgte die kleine Familie mit wahrer Mutterliebe. Ihr Werk brachte ihr Trost und Zufriedenheit. Sie war stolz und arbeitete – arbeitete für die andern.

Nur am Geburtstag ihrer Schützlinge war es anders. Wohl ließ sie es sich nicht nehmen, mit einer kulinarischen Sonderleistung zum guten Gelingen beizutragen. Waren die zusätzlichen Küchenarbeiten beendet, suchte sie jedoch unverzüglich nach ihrer besten Bluse, steckte sich einen Ring an den molligen Finger und schlüpfte in ihre Sonntagsschuhe. Und dann war sie nicht mehr die scheuernde, schwitzende, sich kümmernde Schlummermutter, sondern die lächelnde Dame, die mit unermüdlichem Eifer Stimmung schuf, drollige Geschichten zum Besten gab, kleine Spiele organisierte und ihren blendenden Humor unwiderstehlich auch in die Herzen der andern trug. Es wurde ihr Fest und ihre Feier. Man gönnte ihr den Triumph und freute sich, und sie kostete genießerisch die wohlverdienten Mußestunden aus.

Auch an Simones Geburtstag trug Hanna ihr bestes Kleid und war gehobener Stimmung. Als Roger eintrat, sprang sie auf.

«Schön, dass Sie gekommen sind!»

«Wer würde der freundlichen Einladung nicht Folge leisten?», sagte Roger und schüttelte die ihm dargebotene Hand. «Ich glaube allerdings, dass mein kurzer Aufenthalt die mir erwiesene Ehre kaum rechtfertigt.»

Hanna lachte. «Auch Sie gehören zur Familie.»

Roger begrüßte Florence, Fred und André. Dann näherte er sich Simone.

Sie sah reizend aus. Er berührte ihre Hand. Ihre Augen strahlten. Das hübsche Gesicht, es war … wirklich, es war gleich jenem süßen Idealbild, das er – ein Geschenk beglückender Träume – in den letzten Nächten so oft gekost und an sich gepresst hatte. Er war verliebt. Sein Innerstes tobte. Und rauschend jagte das Blut durch seinen Körper.

«Meine besten Glückswünsche zum Geburtstag», kam es plötzlich wie erlösend über seine Lippen.

Simone errötete. «Recht herzlichen Dank», meinte sie, presste das kleine Geschenk an sich und zupfte verlegen an der Schleife.

Dann setzten sich alle an den Tisch. Dampfende Platten wurden aufgetragen und Flaschen entkorkt. Hanna hielt ihre Geburtstagsrede.

Nachdem sie Simone nochmals im Namen aller die besten Wünsche entboten hatte, hieß sie Roger erneut in ihrer Pension willkommen. «Ich hoffe», so schloss sie eifrig, «dass Sie sich bei uns wohlfühlen und mit uns viele glückliche Stunden verbringen werden.»

«Ich bin überzeugt», dankte Roger für die netten Worte und blickte erwartungsvoll in Simones große träumerische Augen. Und sie lächelte.

Kaffee und gebrannte Crème bildete den Abschluss des üppigen Mahles. Dann setzte man sich in die breiten Lehnsessel, plauderte, lachte und rauchte. Auch Roger zündete sich eine Zigarette an.

«Zur Feier des Tages eine Ausnahme!», meinte er gut gelaunt und beteuerte, dass er das Rauchen vor Monaten aufgegeben hätte.

«Aus gesundheitlichen Gründen?», wollte Fred wissen.

«Keineswegs», erwiderte Roger. «Aber der Glimmstängel war mir zum ständigen Begleiter geworden. Ich rauchte immer und überall, pumpte mir genießerisch graue Rauchschwaden in die Lungen und hatte gelbbraune Fingerbeeren. Die Zigarette wurde mir unentbehrlich und machte mich zum Sklaven. Ich gaukelte mir den Glauben an ihre beruhigende Wirkung vor und steckte sie in aufregenden Stunden zwischen die Lippen, um dann festzustellen, dass ich noch nervöser wurde. Ich rauchte trotzdem – gegen meinen Willen –, weil ich musste oder zu müssen glaubte. Ergrimmt beschloss ich dann eines Tages, dem zweifelhaften Vergnügen für immer zu entsagen. Und der Triumph über das kleine Laster, dem ich jahrelang unfreiwillig gefrönt hatte, machte mich glücklich. Wie immer im Leben schenkten auch hier zu überwindende Schwierigkeiten dem Errungenen vermehrte Bedeutung. Das Erkennen, dass der momentane Genuss des vermeintlich Unentbehrlichen sich niemals vergleichen lässt mit der tiefen Befriedigung, die der Erfolg über sich selbst verleiht, stimmte mich zuversichtlich und froh.»

Die Runde hatte gespannt zugehört. Fred zuckte belustigt die Achseln: «Recht komplizierte Gedankengänge!»

Er hatte sich noch nie überlegt, dass der Verzicht auf Zigaretten nebst materiellem auch noch anderen Gewinn bringen könnte. Unbekümmert lebte er sein Leben. Für ihn gab es nur kleine Probleme. Einmal hungrig, naschte er vom Gebotenen, ohne sich anderntags des schmerzenden Magens wegen zu grämen: ungestüm, sorglos, zufrieden – ein guter, lieber Junge!

«Auch ich habe schon versucht, das Rauchen bleiben zu lassen», meinte er dann. «Allerdings waren es andere Motive, die mich zwangen, das große Opfer zu bringen. Doch ich hielt durch – zehn, vierzehn Tage, um am fünfzehnten erschöpft aufzugeben, der alten Sucht wieder zu verfallen und ihr mit doppeltem Wohlgenuss zu frönen. – Und Ihnen wird es nicht besser gehen.»

Roger schüttelte bedächtig den Kopf. «Nie!», sagte er bestimmt.

Dann musste er von sich und seinem früheren Leben erzählen. Er tat dies freudig und geschickt und wusste die vielen Sonderheiten dörflicher Verhältnisse in hübschen, bunten Farben zu malen. Von seinen Sorgen sagte er nichts. Warum sollte er diese Menschen mit seinen Problemen belasten, sie wissen lassen um seine wilde Auflehnung, seinen Hunger nach Möglichkeiten, seine Flucht in die Stadt und … seine Zweifel.

Hanna, Florence, Fred und André hatten sich zurückgezogen. Jetzt waren sie allein, erstmals allein. Roger lehnte über den Polstersessel.

«Ich möchte Ihnen mein Album mit Bildchen aus meiner Jugend zeigen», hatte sie gesagt.

Gespannt schaute er hin. Die erste Großaufnahme zeigte sie in einem prächtigen Blumenbeet. Ein hübscher Mädchenkopf lachte ihm ins Gesicht: leuchtendes, kastanienbraunes Haar, zu wippenden, hüpfenden Korkenzieherlocken gedreht, ein neckisches Stupsnäschen und dunkle, verträumte Augen.

Roger starrte. Dunstig verschwammen die kindlichen Züge und heraus aus dem lieblichen Schleier wuchs in süßer Wirklichkeit ein feiner, zarter Hals, ein liebes Gesicht und … in wilder Verzückung drückte er seine heißen Lippen plötzlich auf das leuchtende Haar und die großen verwirrenden Augen.

4

Eine graue, schlammige Nebelmasse lag über der Stadt. Es war kalt, bitterkalt, und obwohl der Frühling schon vor Wochen sein Kommen angekündigt hatte, umklammerte eisige Kälte nochmals alles mit ihren frostigen Krallen. Die nassdunklen Straßen glichen heimtückischen Eisbahnen. Vorsichtig und scheu, gleich plumpen Käfern, krochen die Autos einher. Ihre Scheinwerfer fraßen sich wie Fühler in den milchigen Brei. Gespenstisch und verschwommen flackerten die riesigen Lichtreklamen. Der Wind heulte.

Das pulsierende, hastige Leben schien wie ausgelöscht. Leer und kalt lagen die Gassen zwischen den Häuserfronten. Vereinzelt nur bewegten sich vermummte Gestalten. Simone und Roger gehörten zu ihnen.

Planlos schlenderten sie durch die nasskalte Nacht. Sie hatten sich einen Film angesehen. Zusammen mit vielen anderen. Dann waren sie dem Saal enteilt, entwichen dem dichten Menschenknäuel, um allein zu sein, allein im unfreundlichen, feuchten Dunkel der Nacht und … allein mit ihrer jungen Liebe.

Hand in Hand zogen sie dahin, über Plätze und Brücken und vorbei an lärmigen Hallen und schlafenden Parks. In den weiten Gartenanlagen, die den schmucken See wie ein wohlgepflegter Teppich umsäumten, blieben sie stehen. Alles schien tot und leer. Traurig bewegten die hohen Tannen ihre schlaffen, schweren Arme. Die Sträucher waren kahl; die Bänkchen standen verlassen. Unter dichten Zweigen schlummerten die Blumenbeete, vom Frühling bis zum Herbst im prachtvollen Farbenschmuck das Prunkstück der Stadt, unbekümmert wärmeren Tagen entgegen.

Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen und schauten sich lange in die Augen. Dann küssten sie sich und gingen wortlos weiter.

Unablässig rauschten die Wellen ihr ewiges Spiel. Schroff schlugen sie gegen die harten Mauern und trugen den feuchten Atem bis hinauf zu den Zierbäumchen, die das Ufer säumten.