Nocticadia - Keri Lake - E-Book

Nocticadia E-Book

Keri Lake

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Beschreibung

Mortui Visos Docent
DIE TOTEN LEHREN DIE LEBENDEN

Lilia Vespertine ist sich sicher: Der Tod ihrer Mutter war kein Selbstmord. Sie weiß, dass sie sich die seltsamen Parasiten nicht eingebildet hat, und erforscht sie auf eigene Faust - mit Erfolg. Ihr Ehrgeiz wird belohnt, und sie erhält ein Stipendium für die abgelegene Dracadia University. Eine einmalige Chance, denn dort lehrt der Experte ihres Forschungsgebiets, Professor Devryck Bramwell. Doch Dracadia ist kein gewöhnlicher Ort. Und Devryck ist kein gewöhnlicher Mann. Er ist Doctor Death, ebenso brillant wie unnahbar, ebenso faszinierend wie gefährlich. Und als seine talentierteste Studentin kommt Lilia schon bald nicht mehr nur der Wahrheit, sondern auch ihm immer näher ...

»Keri Lake ist die Königin der düsteren Gothic-Mystery-Romance.« Noctinoir

Ein Einzelband von Keri Lake, der Queen der Gothic Romance

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Seitenzahl: 1044

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Playlist

Vorwort der Autorin

Glossar & Übersetzungen

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Keri Lake bei LYX

Impressum

KERI LAKE

Nocticadia

Roman

Ins Deutsche übertragen von Nina Praun

ZU DIESEM BUCH

Vier Jahre sind vergangen, seit Lilia Vespertine den traumatischen Tod ihrer Mutter mitansehen musste. Und obwohl ihr niemand so recht glauben mag, ist sie sich sicher: Es war kein Selbstmord. Sie weiß, dass sie sich die seltsamen Parasiten, die den Körper und Geist ihrer Mutter befallen haben, nicht eingebildet hat, und erforscht diese auf eigene Faust – mit Erfolg. Ihre vermeintlich fiktive Fallstudie über die Krankheit verschafft ihr ein Stipendium an der Dracadia University, eine der renommiertesten Universitäten auf dem Gebiet der Parasitologie. Auf der abgelegenen Insel angekommen trifft sie auf den führenden Experten ihres Forschungsgebiets: Professor Devryck Bramwell. Doch Dracadia ist kein gewöhnlicher Ort. Und Devryck ist kein gewöhnlicher Mann. Er ist unter den Studierenden bekannt als Doctor Death – ebenso brillant wie unnahbar, ebenso faszinierend wie gefährlich. Als seine talentierteste Studentin arbeitet Lilia schon bald eng an seiner Seite und kommt nicht nur der Wahrheit hinter der mysteriösen Krankheit ihrer Mutter, sondern auch ihrem Professor immer näher …

Liebe Leser:innen,

Nocticadia enthält Elemente, die triggern können.

Wir möchten euch darauf hinweisen, dass dieses Buch eine Dark Romance ist und explizite Szenen, Darstellungen von Gewalt, derbe Wortwahl, detailreich beschriebenen Body Horror und Schilderungen von sexuellen Übergriffen enthält.

Hier findet ihr eine detaillierte Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Gebt bitte acht auf euch und lest diese nur, wenn ihr euch damit wohlfühlt. Hört beim Lesen auf euer Gefühl und wendet euch an jemanden, dem ihr vertraut, oder sucht euch professionelle Hilfe, wenn ihr merkt, dass es euch nicht gut geht.

Ihr seid nicht allein, und wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

PLAYLIST

You’re All I Want – Cigarettes After Sex

Liar – Paramore

Memento Mori – Nathaniel Drew X Tom Fox

Goodnight Baby – Tarune

Achilles Come Down – Gang of Youths

Please – Omido, Ex Habit

You, The Ocean and Me – Thalles

Without You – Lana Del Rey

Glass In The Park – Alex Turner

Sleepwalk – MOTHICA

bad idea! – girl in red

Feel Real – Deptford Goth

The Secret History – The Chamber Orchestra of London

Two Evils – Bastille

Bloodstream – Stateless

The French Library – Franz Gordon

She’s Thunderstorms – Arctic Monkeys

Crave You – Robinson

Crush – Sebastian Paul

2 Keri Lake

Misery – Michigander

October – Broken Bells

Sextape – Deftones

I Would – Coin

Romantic Homicide – d4vd

nostalgia – Teodor Wolgers

we fell in love in october – girl in red

Melancholia – Daniel Paterok, Roman Richter

Cinnamon Girl – Lana Del Rey

Make Me Feel – Elvis Drew

Old Letter – Imaginary Poet

Run – Coin

Without You – Omido, Bibi Silvja

Reflections – Toshifumi Hinata

Shakespeare – Fink

Tell Me The Truth – Two Feet

RU Mine – Arctic Monkeys

Fuck Em Only We Know – Banks

Knee Socks – Arctic Monkeys

Not Just A Girl – She Wants Revenge

VORWORT DER AUTORIN

Willkommen liebe Mit-Nocticadianer,

ich danke euch vielmals dafür, dass ihr mein Buch lesen wollt ♥. Ich hoffe, euch wird die Geschichte von Lilia und Professor Bramwell gefallen. Doch bevor ihr in ihre Welt eintaucht, will ich noch kurz erwähnen, dass einige Bestandteile des Buchs komplett erfunden sind. Etwa der Organismus, die Krankheit, an der Professor Bramwell leidet, sowie die Mottenart. Um innerhalb der Symptomatik konsequent bleiben zu können, sind auch die körperlichen Verfassungen und die Symptome, die ich beschreibe, reine Fiktion. Ich habe ein Glossar beigefügt, in dem man alles kurz nachlesen kann.

Zudem habe ich mir bei der Beschreibung von Professor Bramwells Hintergrund und seinem Berufsbild ein wenig Freiheit erlaubt wie auch bei seinem Labor, damit alles zu der Geschichte passt, die ich erzählen wollte. Mir ist vollkommen klar, dass sein Labor keinesfalls zugelassen werden würde.

Dies ist ein Dark-Academia-Romance-Roman. Ihr dürft daher Folgendes erwarten: dezente übernatürliche Elemente, eine düstere Atmosphäre, eine langsam aufflammende Romanze, eine launische, byronartige oder auch moralisch etwas zweifelhafte Hauptperson – und ein Hauch von Krimi. Wie die meisten meiner Gothic-Romane ist dies ein Einzelroman, und da ich nicht plane, noch weitere Bücher über dieses Paar zu schreiben, habe ich mich dazu entschlossen, euch ein klein wenig länger in dieser Welt gefangen zu halten.

GLOSSAR & ÜBERSETZUNGEN

*Casteyon – Ein Element, das in den schwarzen Felsenhöhlen auf der Insel Dracadia entdeckt wurde

*Jestwood-Pflanze – Eine Pflanze, die in Dracadia heimisch ist und die in hohen Dosen giftig ist

*Nocticadia – Der Name des Mitternachtslabors, in dem speziell Noctisoma erforscht wird

*Noctisoma – Lange schwarze Würmer, die als Parasiten in Insekten hausen, aber auch andere Spezies befallen. Ihr natürlicher Wirt ist die Sominyx-Motte

*Sominyx-Motte – Eine Nachtfalterart, die nur auf der Insel Dracadia gefunden wurde und die der natürliche Wirt für Noctisoma ist

*Stirlic-Säure – Ein Antiseptikum, das von Dr. Nathaniel Stirling entdeckt wurde und aus der Jestwood-Pflanze gewonnen wird; es wurde in grausamen Experimenten mit Patienten verwendet

Tapetum Lucidem – Ein lichtempfindliches Reflektorsystem bei wirbellosen Tieren (für gewöhnlich nicht im menschlichen Auge vorkommend, doch es wird als ein Symptom von Noctisoma im Buch beschrieben)

*Vonyxsis – Eine Verdunkelung der Venen, die als schwarze Linien auf Motten und Menschen erscheinen, die mit Noctisoma infiziert sind

*Zgliomyositis/Voneric-Krankheit – Eine seltene angeborene, neuromuskuläre Krankheit, die nach einem berühmten Maler benannt wurde, der darunter litt

*Fiktives Element in dem Buch

Übersetzungen

»Voulez-vous boire un verre, mademoiselle?«

Würden Sie gerne noch etwas trinken, Fräulein?

»Si vous comprenez, retrouvez-moi dans le placard dans dix minutes.«

Wenn Sie das hier verstehen, treffen Sie mich in zehn Minuten im Wandschrank.

»Je comprends. Et je décline votre offre.«

Ich verstehe. Und ich lehne Ihr Angebot ab.

PROLOG

Die Insel Dracadia

12. Oktober 1753

Lord Adderly war in seinem Leben schon oft dem Tod begegnet. Als Kommodore der Royal Navy hatte ihm sein süßlicher Geruch schon viele Male die Kehle zugeschnürt, so viele Male, dass er sich kaum mehr an alle erinnern konnte. Er hatte den kalten, dunstigen Atem auf seinem Fleisch gespürt und ein Verlangen empfunden, das die meisten Männer zum Erzittern gebracht haben würde.

Lord Adderly fürchtete sich nicht vor dem Tod. Einige hatten sogar gewagt, ihm vorzuwerfen, dass er ihn willkommen heißen würde.

Doch als er über das stürmische winterliche Meer vor sich hinwegblickte in Richtung einer unheilvollen schwarzen Rauchwolke, die aus dem alles umfassenden Nebel auftauchte, lief ein Angstschauer seinen Nacken hinab. Der Befehl an seine Männer, sofort dorthin zurückzurudern, woher sie gerade gekommen waren, lag schon schwer auf seiner Zunge, als in der Ferne die schattenhafte Silhouette der Insel durch den Nebel brach – eine gewölbte Steinformation, die sich am Horizont wie ein schlafender Drache auftürmte.

Die kleine Insel namens Dracadia lag auf halbem Wege zwischen der Küste von Massachusetts und dem von Frankreich besiedelten Acadia und war schon seit langer Zeit ein Quell des Ärgers – ein kleiner Streifen Land, von dem man behaupten könnte, dass es einst den Briten gehört hatte. Erst als ein Großteil der Acadianer die Insel rätselhafterweise verlassen hatte, wurde sie von Massachusetts als Provinz annektiert. Lord Adderly selbst hatte diesen Anspruch erhoben, bereit, dafür in die Schlacht zu ziehen. Für den Fall, dass die Franzosen zurückkehren würden, um das Dorf Emberwick am nördlichen Ende der Insel zurückzuerobern.

Doch dazu war es nie gekommen.

Die Briten, die sich stattdessen dort niedergelassen hatten, hatten plötzlich eine Reihe von Unglücksfällen zu beklagen gehabt. So waren auch sie von der Insel geflüchtet und hatten Dracadia wieder einmal verwaist zurückgelassen.

Natürlich wurden Gerüchte verbreitet. Einige beschuldigten den indigenen Stamm der Cu’unotchke, der sich in die südlichen Berge zurückgezogen hatte, seine heidnischen Götter wieder auferweckt zu haben. Doch egal was der wirkliche Grund gewesen war, die Spekulationen über böse Geister und unerklärliche Erkrankungen hatten die meisten Leute davon abgehalten, von dem Angebot, selbst Landbesitzer in Dracadia zu werden, Gebrauch zu machen. Das Ergebnis war, dass die Insel niemanden mehr beherbergte außer den Ketzern, die dorthin ins Exil geschickt worden waren. Die schlimmsten Verräter der heiligen Lehren.

Lord Adderly wandte seinen Blick nicht von dem Weg ab, der noch vor ihnen lag, als das Ufer plötzlich durch den Nebel hindurchbrach und das Wasser seichter wurde. Über der verwüsteten Landschaft kreisten in dichten Schwärmen schwarze Vögel. Leichen. Raben, deren Auftauchen lange Zeit Angst vor dem Bösen geweckt hatte. Lord Adderly hatte beobachtet, wie diese Vögel den Männern in den Krieg gefolgt waren – in der Hoffnung auf Aas. Die kreisenden Vögel konnten nur ein schlechtes Omen sein.

Ein Zeichen des Todes.

»Guter Gott«, sagte Leutnant Christ, der neben dem Kommodore saß. »Sind das die Wilden, Mylord?«

»Nein.« Obwohl der Kommodore mit fester Stimme antwortete, lautete die eigentliche Wahrheit, dass er es nicht wusste. Er hatte gegen alle möglichen Wilden gekämpft, doch obwohl sie alle mit einem ungeahnten Eifer in die Schlacht zogen, waren sie kaum von Natur aus böse.

»Es gibt Gerüchte über zugespitzte schwarze Steine, die ihnen als Zähne dienen, und Augen, die in der Dunkelheit aussehen wie die von Wölfen«, plapperte Christ weiter.

»Vielleicht glauben Sie auch an die Schauermärchen über Seeungeheuer und Sirenen.«

»Natürlich nicht, Mylord. Aber die Menschen, die von diesen Dingen berichten, sind bei klarem Verstand. Es sind gute Christen.«

Der Kommodore zweifelte keinesfalls an der Rechtschaffenheit jener Menschen. Doch den wahren Grund für ihre eigene Reise zu offenbaren hätte nur Panik ausgelöst.

Vielleicht sogar eine Meuterei.

Denn was Leutnant Christ nicht wusste, war, dass sie im Auftrag der Kirche zu der Insel geschickt worden waren, nachdem einige Geistliche und drei als Hexen beschuldigte Personen von dort nicht mehr zurückgekehrt waren. Die drei Frauen hatten unter der Obhut von Dr. Jack Stirling gestanden und sollten in Massachusetts anständig vor Gericht gebracht werden. Man hatte allerdings vermutet, dass der gute Herr Doktor verrückt geworden war, besessen von den Dämonen, die er schon vor Monaten den Frauen hätte austreiben sollen. Der Kommodore hatte Horrorgeschichten von Patienten mit schwarzen Adern gehört, die an ihren Füßen aufgehängt worden waren und so ausbluteten. Solche, deren Münder und Augen zugenäht worden waren, ihre Zungen herausgeschnitten. Der Kommodore und seine Männer waren auf die Insel geschickt worden, um diesen Anschuldigungen nachzugehen, und wenn er die düsteren Warnzeichen in der Ferne betrachtete, fürchtete er sich davor, was sie dort vorfinden würden.

Als sich das Boot der Insel näherte, über unerbittliche Wellen schaukelnd, und sich die Schatten lichteten, um den Blick auf verkohlte Baumstämme freizugeben, nahm Lord Adderly einen tiefen Atemzug, um den fettigen Geruch von verbranntem Fleisch hinunterzuschlucken. Der vertraute Geruch des Todes.

Sechs seiner Leute sprangen von Bord und zerrten das kleine Schiff durch das seichte Wasser. Als sie an Land ankamen, setzte Lord Adderly seinen Fuß auf den unheiligen Boden, von dem er sich geschworen hatte, nie darauf zurückzukehren. Er ließ seinen Blick über die unfassbare Zerstörung gleiten und überlegte, was in Gottes Namen solch eine Gräueltat vollbracht haben könnte.

Eine komplette Insel zu Asche verbrannt.

Der Nebel um sie herum verdichtete sich, und Lord Adderly runzelte die Stirn, als die weißgraue Wand sich zwischen ihnen und dem verbrannten Wald niederließ.

Leutnant Christ schritt neben ihm her. »Verzeihen Sie, dass ich das sage, Mylord, aber ich habe nicht vor, mich zu weit vom Ufer zu entfernen.«

»Hüten Sie Ihre Zunge«, sagte Lord Adderly mit gedämpfter Stimme, »wenn Sie nicht zur Meuterei aufrufen wollen.«

»Mylord!«, rief einer seiner Männer, und der Kommodore drehte sich um und sah, wie dieser in Richtung der Baumstämme zeigte.

Lord Adderlys Blick wanderte in die Richtung, in die der Finger des Mannes gezeigt hatte. Dort waren Schatten im Nebel. Eine Gestalt bewegte sich auf sie zu. Das Echo eines scharfen Klirrens von seinen Männern, die ihre Waffen zogen, hallte wider, doch als sich der weiße Dunst lichtete und einen kleinen Jungen, vielleicht zwölf Jahre alt, freigab, trat Lord Adderly einen Schritt vor. »Nehmt die Waffen herunter.«

Der Junge, der in die Uniform eines jungen Messdieners gekleidet war, stolperte in ihre Richtung. Seine Haut war mit schwarzem Ruß beschmiert und die Kleidung war befleckt mit etwas, das eindeutig Blut war. Bevor er den Kommodore und seine Männer erreichte, strauchelte der Messdiener und fiel in den Sand.

Als Lord Adderly herantrat und sich auf einem Knie zu dem Jungen herunterbeugte, kniete sich auch Christ zu den Füßen des Jungen. Kleine, blutende Wunden auf den Fußrücken deuteten darauf hin, dass sie ihm mit etwas Scharfem zugefügt worden waren. »Vorsichtig, Mylord. Wir haben keine Ahnung davon, was ihm hier widerfahren ist.«

Schnitte, blaue Flecken und glänzende Stellen, an denen die Haut abgezogen worden war, zeugten von unbeschreiblichem Missbrauch.

Sein Anblick erinnerte den Kommodore an seinen eigenen Sohn, und er kämpfte mit den Tränen, als er den Zustand des Messdieners in Augenschein nahm. »Was ist hier passiert?«

»Schwärze«, flüsterte der Junge röchelnd. »Der Himmel … wurde schwarz. Alles ist verbrannt.«

Lord Adderly strich dem Jungen eine klebrige, blutbefleckte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wer hat das getan?«

Inmitten der Erschöpfung, welche die Augen des Jungen verdunkelt hatte, flackerte ein Hauch von Angst auf. »Sie beherrschen die Flammen. Und die Flammen folgten ihrem Gebot.«

»Wer beherrscht die Flammen? Hexen?«

Ein langsames Blinzeln, und der Junge atmete aus. Als er wieder Luft holte, rasselte seine Brust wie Münzen in einem Zinnbecher. »Keine Hexen. Würmer. Schwarze Würmer, die aus den Mäulern des Wahnsinns herausströmen.«

Ein Schweigen legte sich über die Männer. Bei den Worten des Jungen lief eine Gänsehaut über den Nacken des Kommodores.

Christ lehnte sich zu dem Kommodore hinüber und flüsterte: »Dem Jungen scheint es nicht gut zu gehen, Mylord. Er spricht von dem Bösen.«

Der Kommodore ignorierte seinen Leutnant und legte eine Hand auf die Schulter des Jungen. »Bist du der Einzige, der übrig geblieben ist?«

»Alle sind verbrannt.«

Als er seinen Blick in Richtung Leutnant hob, versuchte der Kommodore trotz seiner Nervosität mit fester Stimme zu sprechen. »Wir nehmen den Jungen mit und kehren zum Schiff zurück. Jetzt.«

»Sie können nicht gehen.« Ein feuchter, bellender Husten ließ ein kleines Rinnsal Blut aus dem Mund des Messdieners tropfen. »Sie werden es nicht erlauben.«

Der Kommodore runzelte die Stirn, als er den Jungen ansah, und stellte sich wieder aufrecht hin. Er befahl zwei Männern, den Jungen zum Schiff zu tragen.

»Mylord!«, rief der Steuermann plötzlich mit einem Unterton von Panik in der Stimme. Der Kommodore drehte sich um und sah, wie er durch den Sand auf sie zustolperte. »Das Boot! Das Boot ist weg! Es ist weg!«

»Fürchten Sie sich nicht, Mylord.« Über das Getöse der Panik hinweg, die sich breitmachte, als nun auch die anderen Männer das bizarre Verschwinden realisierten, erreichten die Worte nur eben so die Ohren des Kommodores. »Ihr Schiff war von Anfang an gar nicht da.«

»Ich verstehe nicht, was du da sagst, Junge.«

»Sie und Ihre Männer … Sie kamen schon vor Tagen hier an … Zusammen mit den Priestern.« Jede Pause war von heftigem Keuchen erfüllt, der Junge schien nach Luft zu ringen.

»Du fantasierst, bist im Delirium. Ich wurde von der Kirche selbst hierherbeordert.«

Seine Augenlider waren nun geschlossenen, doch auf den trockenen, aufgesprungenen Lippen des Jungen zeigte sich ein schwaches Lächeln. »Sie träumen. Aber bald werden Sie von dem Knistern lodernder Flammen geweckt werden. Sie werden sich und Ihre Männer an Pflöcken festgebunden wiederfinden. Ihr Fleisch wird versengen. Und Ihr Schmerz und Ihr Elend wird bis in die Ewigkeit nachhallen.« Die Augen des Jungen flatterten, dann schlossen sie sich wieder, und er röchelte kurz auf, bevor sein Körper in den Armen seines Offiziers erschlaffte.

Kaltes Grauen krallte sich in den Bauch von Lord Adderly, und der Geruch von verbrannter Haut und Fett schnürte ihm wieder die Kehle zu. Er schloss seine Augen und fand Trost in der pechschwarzen Dunkelheit, und als die ersten Geräusche von Höllenqualen die Luft durchdrangen, wagte er es nicht, die Augen wieder zu öffnen.

1. KAPITEL

Lilia

In der Gegenwart …

Oh Gott, dieser Gestank.

Viel zu kross gebratenes Dosenfleisch brutzelte in der Pfanne, und ich hielt mir den Arm vor die Nase. Das Ploppen des aufplatzenden fettigen Fleischs war laut genug, um das eindringliche Flehen von Jean Valjean an Javert in Les Misérables zu übertönen, das gerade im Theater unter unserer Wohnung aufgeführt wurde. Ich hatte versehentlich die dünneren Stücke verbrennen lassen, während ich die Kartoffeln geschält hatte, und diese waren nun nicht mehr zu retten.

Die Finesse, die meine Mutter in der Küche immer gezeigt hatte, hatte meine Gene leider nicht beehrt.

Ich hasste es, den Dosenscheiß zu kochen, aber meine Mom hatte in letzter Zeit seltsame Gelüste auf Fleisch entwickelt, und die dünnen, runden Steaks, die sie mittlerweile am liebsten roh aß, waren uns ausgegangen. Ich fragte mich langsam, ob ihre absonderlichen Wünsche darauf zurückzuführen waren, dass ihr Körper versuchte, wieder zu gesunden.

Ich hoffte es jedenfalls.

Ihr dabei zuzusehen, wie sie rohes Fleisch verschlang und dabei das Blut aus ihren Mundwinkeln rann, gab mir jedoch eher das Gefühl, Zuschauerin einer besonders blutrünstigen Naturdoku zu sein. Bei dem Anblick verging einem jeglicher Appetit. Besonders, da meine Mutter eigentlich nie eine wirklich überzeugte Fleischesserin gewesen war. Das Dosenfleisch hatte zwar nur bedingte Ähnlichkeit mit den Steaks, aber da mein Stiefvater Conner, wenn man ihn überhaupt so nennen konnte, seit ein paar Tagen nicht mehr gearbeitet hatte, ging uns langsam das Geld für Lebensmittel aus.

»Bee!« Ich rief nach meiner kleinen Halbschwester – der Spitzname war die Abkürzung für Beatrix – und schubste das verkohlte Dosenfleisch auf die Teller, die ich schon bereitgestellt hatte. »Hast du nach Mama geschaut, wie ich’s dir gesagt habe?«

»Oh, Mist!« Auf den Fluch folgte das Trampeln ihrer Füße, und ich musste ein wenig schmunzeln, während ich den Kopf schüttelte. Mit ihren zwölf Jahren war sie vier Jahre jünger als ich und trug so viel mehr Verantwortung als die meisten Mädchen in ihrem Alter.

Wir beide taten das.

Mamas Krankheit hatte sich verschlimmert. Extrem verschlimmert, und die Tatsache, dass sie es vehement ablehnte, deswegen einen Arzt aufzusuchen, erhöhte nur noch den Druck auf Bee und mich, da wir mit dem Fortschreiten der seltsamen Symptome ganz allein klarkommen mussten. Obwohl es so schien, als ob Mama geistig noch ganz bei Sinnen war, gab es da diese Momente. Angsteinflößende Momente. Etwa die Nächte, in denen sie mir sagte, dass böse Männer hinter mir her seien. Die Nächte, in denen sie von Schweiß überströmt war und ihre Augen von unsichtbaren Schrecken glühten.

Monster nannte sie diese unsichtbaren Peiniger, aber in ihrem Kopf waren sie so real wie die tiefen dunklen Ringe unter ihren Augen. So schlimm sich das auch anhören mochte, aber mit ihrer krankhaft deformierten Wirbelsäule, den silbern glänzenden Augen und den tief hervorstehenden Knochen hatte sie schon selbst angefangen, genau jenen Monstern ähnlich zu sehen, von denen sie erzählte.

Beten war noch nie mein Ding gewesen, aber ich hatte in den letzten Wochen schon ziemlich oft auf meinen Knien ziellos jemanden angefleht. Falls Gott existierte, hatte er mir verdammt noch mal sehr wenig Hoffnung angeboten.

Als ich die letzten Klümpchen des Kartoffelbreis auf Bees Teller schaufelte, klopfte es an der Tür, und ich hielt inne. Ich runzelte die Stirn, stellte die Pfanne leise wieder auf die Herdplatte zurück und wischte meine Hände an dem nächstbesten Geschirrtuch ab. Vorsichtig schlich ich in den Gang hinunter und blickte in Richtung Wohnungstür. Ein weiteres lautes Klopfen ließ meine Muskeln zusammenzucken, und die Dreistigkeit dieses widerwärtigen »Besuchers« brachte mein Blut in Wallung. Ich trampelte in Richtung Tür, spähte durch das Guckloch und sah einen fremden Mann.

Tiefliegende kleine runde Augen, eine Narbe am linken Auge und eine seltsam gekrümmte Nase, als ob er schon zu viele Kämpfe überstanden hatte, ließen ihn wie ein zum Leben erwecktes Fahndungsfoto aussehen.

Eine Sache, die mir das Leben in einer Stadt wie Covington beigebracht hatte, war: Du öffnest Fremden nicht die Tür. Besonders nicht solchen, die wie Kriminelle aussehen.

Er schlug noch einmal gegen die Tür, und ich knirschte verärgert mit den Zähnen.

»Ja?«, rief ich durch die Barriere hindurch. »Was wollen Sie?«

Zuerst antwortete er nicht, und ich beobachtete, wie er sich im Treppenhaus umsah. Irgendetwas an ihm – diese dunklen Augen, auf die ich nur kurz einen Blick hatte werfen können, und das Grinsen, das seine Lippen umspielte – ließ mich eiskalt erschaudern.

Was für ein Widerling.

Ich sah zum Türriegel, um sicherzugehen, dass er auch verschlossen war. Leider besaß unsere Wohnungstür weder das beste noch das robusteste Schloss.

»Ich bin ein Freund von Conner«, sagte er schließlich. »Ist er da?«

»Nein.«

»Weißt du vielleicht, wann er wieder da sein wird?«

Es gestaltete sich schwierig, seine Absichten einzuschätzen, da der Typ offenbar nicht wieder hochschauen wollte. »Schau, ich will nicht …«

Ein markerschütternder Schrei ließ mich erstarren, und ich wandte meine Aufmerksamkeit den hinteren Zimmern zu. Ich ließ den Spinner an der Tür Spinner sein und düste durch die Wohnung in Richtung des Lichtspalts, der unter der Badezimmertür hindurchdrang.

Licht – das war das erste Zeichen dafür, dass etwas faul war. Mama hasste Licht mittlerweile. Sie sagte, es täte ihr in den Augen weh.

»Mama! Nein!«

Ein Flüstern von Angst lief meinen Rücken hinab, als ich realisierte, dass Bee auf der anderen Seite der Tür meine Mutter anschrie. Ich drückte die Tür auf und stolperte in das hell erleuchtete Bad hinein.

Mama stand neben der Badewanne und gab ein seltsames knurrendes Geräusch von sich, während Wasser auf den Boden spritzte. Zwei Füße in pinken Socken strampelten über dem Rand der Badewanne.

Oh Gott.

Bee!

Eiskalte Adrenalinschocks übernahmen die Kontrolle über meinen Körper, ich sprang auf sie zu und stieß meine Mutter weg, schubste sie gegen die Wand.

In dem Augenblick, in dem sie wieder frei war, rauschte Bee aus dem Wasser heraus. Ihr Oberkörper war patschnass, und sie keuchte bellend auf.

»Was zum Teufel machst du da?«, schrie ich meine Mutter an, deren Augen im Lichtschein schillernd aufflackerten.

Mit einem Kreischen rauschte meine Mutter wieder vorwärts, schubste mich weg und drückte Bee zurück ins Wasser.

Panik explodierte in meinen Muskeln, mein Körper gehorchte nicht mehr meinem Kopf, sondern reagierte nur noch instinktiv. Ich packte meine Mutter am Haar und riss sie von Bee weg. Plötzlich hielt ich einen Batzen stumpfer roter Haarbüschel in der Hand, als meine Mutter meinem festen Griff entkam und rückwärts gegen die Toilette fiel. Sie musste auf allen vieren kriechen, um auf dem glitschigen Boden wieder auf die Füße zu kommen, und ich zerrte währenddessen Bee aus der Badewanne und schlitterte mit ihr über die nassen Fliesen, während ich sie in Richtung Tür schubste.

Draußen im Gang zog ich die Tür hinter uns zu und umfasste fest die Türklinke, damit sie verschlossen blieb.

»Geh auf dein Zimmer! Schließ die Tür ab, und komm auf keinen Fall wieder heraus, bis ich es dir sage!«, befahl ich ihr.

»Ich wollte nur …« Sie keuchte und schluchzte. »Ich wollte … sie nur davon abhalten … das Badewasser zu trinken … und sie … hat mich angegriffen!«

Die Tür polterte laut einen Spalt auf und riss an meinem Arm, während meine Mutter auf der anderen Seite daran zerrte. »Sie ist eine von ihnen! Sie ist eine von ihnen!«, schrie meine Mutter durch die Barriere zwischen uns hindurch. »Lass sie nicht entkommen! Sie wird ihnen verraten, dass ich hier bin!«

»Geh! Jetzt! Schließ die Tür ab! Öffne sie nicht, egal, was du hörst!« Ich stellte meine Füße gegen die Wand, legte mein Gewicht nach hinten und hielt die Tür so verschlossen, während Bee in ihr Kinderzimmer flitzte.

Nach einer weiteren Minute, in der ich darum kämpfte, die Tür unter Kontrolle zu halten, hörte das Klopfen auf. Auch die Schreie von Mama versiegten.

Mit schwerem Atem entspannte ich langsam wieder meine Muskeln und stellte mich gerade hin, da ich von der anderen Seite der Tür keinen Widerstand mehr spürte. »Mama?«, fragte ich leise durch die verschlossene Tür und hoffte auf eine vernünftige Antwort. Eine Erklärung dafür, was zur Hölle hier gerade passiert war. Sie hatte schon einige Mal davon geredet, dass jemand sie verfolgte, aber sie hatte diese wahnhaften Gedanken niemals auf mich projiziert oder gar auf Bee.

Nichts.

Doch der süßliche Geruch, der die Erkrankung meiner Mutter von Anfang an begleitet hatte, wurde noch stärker als sonst. Dick und klebrig schnürte er mir die Kehle zu, und ich presste mir einen Handrücken ins Gesicht in dem armseligen Versuch, den Gestank zu unterdrücken.

Während der vergangenen Monate war der blumige Geruch meiner Mama, den ich schon mein ganzes Leben lang als tröstenden Duft gekannt hatte, irgendwie unter diesem fremden Gestank verschwunden.

Jetzt war der das Einzige, was ich noch einatmete.

Während ich versuchte, einen Würgereiz zu ignorieren, drückte ich die Türklinke herunter und betrat das Bad.

Mama lag nach vorne gebeugt über dem Badewannenrand, ihr Kopf unter Wasser.

»Mama!« Ich lief zu ihr, und sie drehte sich plötzlich zu mir um, ließ das Wasser dabei laut aufspritzen und fing wieder an zu schreien.

Ich wollte nach ihrem Arm greifen, doch sie holte zuerst aus, und ihre Fingerknöchel rammten sich in meine Wange. Ein Schmerz fuhr mir durch die Knochen, und vor meinen Augen ging ein kleiner Sternenhagel nieder, sodass ich kaum noch etwas sehen konnte.

Ich schüttelte das Schwindelgefühl in dem Moment ab, in dem sie noch einmal ausholte und konnte mich ducken. Dieses Mal traf sie mich nicht, und ihre Hände fuchtelten vor Wut wild in der Luft herum. Ich packte ihre Arme mit festem Griff und grub meine Fingernägel tief hinein, fast bis auf ihre zerbrechlichen Knochen, doch ein scharfer Schmerz stach durch meine Hand, als sie ihre Zähne in mein Fleisch versenkte.

»Aua! Scheiße!« Ich stieß sie von mir weg, und sie rutschte aus. Ihre Arme schlugen wild um sich, als sie rückwärts in die Badewanne hineinfiel. Als ich versuchte, sie wieder herauszuziehen, griffen ihre Hände nach mir, erwischten mein Shirt und zogen mich in Richtung Wasser.

Ein Schwall Flüssigkeit schoss mit einem tiefen Brennen in meine Nebenhöhlen hinein, doch ihr Griff war unerbittlich, während sie mich ins Wasser hineinzog. Panik ließ meine Muskeln erstarren. Wasser spritzte überallhin, während sie wild um sich schlug und meinen Hals gepackt hielt.

Ich streckte meine Hand nach dem Einzigen aus, das ich in diesem Nahkampf greifen konnte. Meine Handfläche fand ihre Kehle. Ich drückte fest zu, bis sie ihren Griff lockerte, und hielt sie weiter fest, während ich die Chance nutzte, um aufzutauchen und so schnappend Luft holen konnte.

Sie riss mich wieder hinab und tauchte mein Gesicht unter Wasser.

Ich drückte ihre Kehle fester zu, und wieder lockerte sie ihren Griff.

Jeder Atemzug brannte scharf in meinem Hals und schoss dann in einem Hustenanfall wieder aus mir heraus.

Verzweifelt kratzte sie über meinen Rücken in dem Versuch, mich wieder unterzutauchen.

»Mama! Bitte!« Mein Atem ging schwach, ich bekam die Worte kaum noch heraus, als sich meine Muskeln um meine Brust herum verkrampften. Meine Füße rutschten über die Fliesen, während ich mit ihren Armen rang, damit sie mich nicht wieder ins Wasser hinabziehen konnte.

Meine Mutter, die immer noch unter Wasser war, öffnete ihren Mund. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

Als ob sie den Kampf nun aufgegeben hätte, blitzte ein Ausdruck von besessener Erlösung in ihrem Gesicht auf und sorgte für ein kaltes Schaudern, das meinen Nacken kitzelte.

Ich drückte mich von ihr weg und stand da, über die Badewanne gebeugt. Ich hielt sie nicht mehr fest, doch sie machte sich nicht die Mühe, wieder aufzutauchen.

Mit Sicherheit war die Luft schon längst aus ihren Lungen gewichen. Mit Sicherheit brauchte sie Sauerstoff.

Komm schon! Steh auf!

Ich versuchte torkelnd, ihren Arm zu packen, um sie aus dem Wasser herauszuziehen, doch ich hielt inne, als aus ihrem Mund eine lange, dünne, faserige Kreatur schlüpfte und durch ihre Lippen ins Wasser glitt.

Drei weitere kamen hinterher – zwei aus ihrer Nase.

Ein markerschütternder Schrei entwich mir, und meine Glieder waren starr vor Schreck, während ich beobachtete, wie die Würmer sich über den Keramikboden der Wanne schlängelten und sich einen Weg durch das Wasser hin zum Abfluss bahnten. Mindestens zwei Dutzend weitere Würmer ergossen sich ins Wasser, weiteten Mamas Mund und Nasenlöcher. Immer mehr kamen nach. Sie alle bewegten sich in Richtung des verstopften Abflusses.

Meine Atemzüge kamen nur noch in kurzen keuchenden Abständen, während ich den Horror beobachtete.

Bis mich die Dunkelheit einhüllte.

2. KAPITEL

Lilia

Vier Jahre später …

»Lilia?« Eine Stimme schnitt durch das Nichts.

Ich schlug die Augen auf und fand mich über dem Abfluss eines verblichenen Waschbeckens gekauert wieder.

»Erde an Lilia«, sagte die vertraute Stimme noch einmal.

Verwirrt drehte ich mich um in Richtung meiner Kollegin Jayda, die neben mir stand. Ich drückte mich von dem Waschbecken hoch, das ich gerade eben noch geputzt hatte. Im Taumel der Benommenheit erinnerte ich mich daran, dass ich das Waschbecken geschrubbt hatte, als ich den Hauch eines seltsamen, aber doch vertrauten Geruchs nach Fäulnis und Dreck wahrgenommen hatte. So heftig war der Gestank gewesen, dass ich mich wieder in meinen Erinnerungen verloren hatte.

Ich grinste ein wenig verlegen und räusperte mich. »Sorry, ich bin wohl irgendwie abgedriftet.«

Das passierte manchmal. Irgendetwas triggerte meine Gedanken, und diese Gedanken ließen mich dann in den schrecklichsten Moment meines Lebens hineinfallen. Einen Moment, der es jedes Mal wieder schaffte, mich so tief hinunterzuziehen, dass ich jegliche Verbindung zur Realität verlor.

Es war jetzt vier Jahre her, dass meine Mutter gestorben war, und doch erinnerte ich mich an jedes noch so kleine Detail. Die Gerüche. Die Geräusche. Die Kälte.

»Ich wollte nur sagen, dass ich jetzt im Büro nebenan arbeiten werde.« Jayda hustete in ihren Ellbogen hinein. »Ich weiß ja nicht, was die letzte Person, die hier drin war, gegessen hat, aber das riecht echt nicht gesund. Also überlasse ich all diese Klos nun dir«, sagte sie kichernd.

Ich stand immer noch etwas neben mir, schnappte aber nun meinen Lappen, den ich auf den Boden fallen gelassen hatte, und schmiss ihn in den Putzeimer, der neben mir stand. Die gewohnte Übelkeit gluckerte durch meinen Bauch, und ich versuchte, das Zittern meiner Arme zu verbergen, indem ich meine Hände bewegte – ich wischte sie an meinem Kittel ab und ließ dann den Eimer wieder mit Wasser volllaufen für das nächste Waschbecken. »Du bist wirklich ein Schatz.«

Sie prustete auf und ging in Richtung Tür, blieb aber noch einmal stehen. »Bist du dir sicher, dass du okay bist? Du siehst etwas blass aus.«

»Super. Mir geht es wirklich super. Ich war nur irgendwie in meine Gedanken vertieft.«

»Ziemlich tief, so wie das aussah. Aber ernsthaft, ist das okay für dich, wenn ich im anderen Raum anfange? Ich dachte mir nur, wir zwei könnten früh rauskommen, wenn wir uns beeilen.«

Mit einem etwas schiefen Lächeln zuckte ich die Schultern. »Mir macht das nichts aus.«

Ehrlich gesagt hasste ich es, die Toiletten zu putzen, die Krankenzimmer, die Büros. Aber ich vermutete, dass ich der Arbeit in einem echten Krankenhaus nur auf diese Weise so nahe kommen würde wie eben jetzt. Mein Traum von einem Job in der medizinischen Forschung verblasste von Tag zu Tag mehr. Mein Körper wurde langsam des Lebens überdrüssig. In meinem Alter sollte ich eigentlich gerade meinen Bachelor machen und mich nur zwischen den verschiedenen Zulassungstests für Medizin oder BWL entscheiden müssen, aber mit den wenigen Kursen am Community College, die ich noch zwischen meine Arbeitsschichten hineinquetschen konnte, könnte es noch zehn Jahre dauern, bis ich diesen Punkt meiner Uni-Laufbahn erreichen würde.

»Danke, Kleine. Die ersten Schwangerschaftsmonate und Fäkalien vertragen sich leider nicht.«

Die Toiletten im Keller des Krankenhauses rochen grundsätzlich ziemlich eklig, doch der Gestank, der sich zu diesem Zeitpunkt gerade in der Luft breitmachte, war besonders streng. »Ich verstehe das«, sagte ich und winkte sie weiter. »Geh schnell raus. Ich will nicht auch noch deine Kotze wegwischen müssen.«

Sie schlüpfte kichernd durch die Tür, und als ich allein war, atmete ich lange zitternd aus. Ich hielt mich mit beiden Händen am Waschbecken fest, schloss die Augen und versuchte, meine Gedanken zu klären.

Schreie. Schwarze Würmer. Ausdruckslose Augen.

Mit einem Kopfschütteln vergrub ich diese Gedanken in den dunklen Ecken meines Geistes, um zu verhindern, dass sie mich wieder ganz einnahmen. Nein. Nicht heute Abend.

Ein Geräusch wie das leise Platschen eines Wassertropfens erreichte meine Ohren, und ich öffnete meine Augen und blickte im Spiegel auf die Toilettenkabinen hinter mir. Bei der allerletzten Kabine entdeckte ich etwas, das ich nicht bemerkt hatte, als ich den Raum betreten hatte: die Unterseite von Socken unter der Tür.

Ich fuhr herum, und mein Herz krampfte sich vor Schreck über diese Entdeckung zusammen. Da waren definitiv Füße unter der Tür. »Ist da jemand?«, fragte ich, obwohl ich ganz genau wusste, dass da verdammt noch mal tatsächlich jemand war. Über den Füßen sah ich ein wenig vom Saum eines Krankenhauskittels, den alle Patienten hier tragen mussten.

Patienten, die übrigens nicht die Toiletten im Keller benutzen sollten, die nur für das Personal da waren.

Ein leises Geräusch wie das Spritzen von Wasser erreichte mein Ohr. So, wie die Füße da gerade lagen, war die Person vermutlich im Moment nicht unpässlich, aber es könnte sein, dass sie kotzte.

»Brauchen Sie Hilfe? Ich kann loslaufen und jemanden holen, wenn Sie …« Ich hob meinen Finger und zeigte hinter meine Schulter, als ob die Person mich sehen könnte.

Keine Antwort.

Ich schlich auf Zehenspitzen näher. »Ist Ihnen schlecht?«

Immer noch keine Antwort.

Schließlich kam ich zur Kabine und spähte durch den dünnen Riss zwischen Tür und Kabinenwand. Langes, zotteliges rotes Haar lag über den Patientenkittel drapiert, der halb geöffnet war. Darunter war ein blasser, fleckiger Rücken und weiße Unterwäsche zu sehen. Die Gliedmaßen, die ich sehen konnte, ein Bein und eine Hand, hatten einen ungleichmäßigen violetten Hautton.

Mein erster Gedanke war Leichenflecken, aber ich schob diese Idee schnell zur Seite.

Eine stechende Trockenheit machte sich in meinem Hals breit, und ich schluckte schwer.

Bitte sei einfach okay.

Ich klopfte vorsichtig gegen die Kabine, fühlte, wie sich die unverschlossene Tür ein klein wenig bewegte, und hoffte, dass die Person mir empört irgendeinen unfreundlichen Protest entgegenschmettern würde.

Sie sagte jedoch kein Wort.

Ich drückte die Tür auf.

Der Kopf der Person steckte im Toilettensitz direkt unterhalb der Brille. Zottelige Haare verdeckten ihr Gesicht.

Ich streckte meine zitternde Hand aus, griff nach einer schlanken Schulter und zog gerade genug daran, sodass die Person zur Seite fiel. Sie rollte auf den Rücken und schlug mit dem Kopf gegen die Kabinenwand. Im selben Moment, in dem das Haar aus dem Gesicht fiel, stolperte ich zurück.

Mit dem mir bekannten milchigen Schimmer starrten mich die Augen meiner Mutter an.

In meinem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr, und ich schnappte laut nach Luft, als ich in die Richtung blickte und gerade noch ein langes schwarzes, glitschiges Objekt die Toilettenschüssel hinabrutschen sah.

Eiskalte Angst packte meine Muskeln. Ich blinzelte. Blinzelte noch dreimal.

Ich sah wieder zu meiner Mutter. Noch ein schwarzes, schlüpfriges Etwas glitt zwischen den violetten Lippen hervor, wand sich über ihre pflaumenfarbenen Wangen auf den gefliesten Boden. Es schlängelte sich direkt auf mich zu.

Ein Schrei entwich tief aus meiner Brust, als ich zurücksprang und auf meinen Hintern fiel.

Der Wurm kam auf mich zu, zügig und entschlossen.

Bevor er mich jedoch erreichte, schlüpfte er durch ein Abflussloch im Boden, das auf halber Strecke zwischen mir und dem leblosen Körper meiner Mutter lag.

Das Krachen der Tür gegen die Wand ließ mich erneut erschaudern, und als ich mich erschreckt aufrichtet, machte Jayda einen Satz in den Raum hinein.

»Lilia? Ist alles okay? Ich habe gehört, dass du geschrien hast.«

Meine Nase brannte schon vor lauter Tränen, die ich noch zurückhielt, doch ich schüttelte nur mit dem Kopf, unfähig, Worte zu formen.

Sie runzelte die Stirn und trat vorsichtig näher, während ihre Augen den Raum absuchten. »Was ist los?«

»Wir müssen jemanden holen«, schaffte ich nun zu sagen, während ich auf die Kabine zeigte.

»Jemanden holen?« Ihr Gesichtsausdruck näherte sich nun absoluter Verwirrung, während sie sich in die Richtung umdrehte, in die ich zeigte. »Lilia? Ist alles okay?«

Ich lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf die Kabine und sah nichts. Nicht eine einzige Spur davon, dass jemand darin gewesen war. »Ich, äh …« Scham brannte auf meinen Wangen, als sich die Wirklichkeit wie ein Schock in mir breitmachte. »Ich …« Mein Gehirn versuchte verzweifelt, nach einem Grund zu suchen, irgendetwas, das besser war als die Möglichkeit, dass ich meinen verdammten Verstand verloren hatte.

Jayda trat über meine Beine hinweg und schubste die Tür der nächsten Kabine auf, als sie mit einem Schrei zurücksprang. »Was zur Hölle!«

Mein Puls hämmerte.

Hatte sie sie auch gesehen?

Sie vergrub ihre Nase in ihrem Ellbogen, würgte und trat zurück. »Warte … Ich … Ich werde jemanden hier herholen. Halte durch.«

Ich runzelte die Stirn und stemmte mich vom Boden auf, als sie die Toiletten verließ. Ich spähte in die Kabine neben derjenigen, in der ich meine Mutter gesehen hatte. Ein dunkler Fellball mit einem langen nackten Schwanz trieb auf der Oberfläche des Wassers in der Toilettenschüssel. Eine Ratte.

Nun, das erklärte zumindest den Gestank.

Die Luft brach heftig aus mir heraus, als ich mich gegen die Wand gegenüber der Kabine lehnte und wieder auf den Boden hinabrutschte.

Eine Schwere legte sich auf meine Beine, die ganz schwach wurden. Eine betäubende Kälte pulsierte durch meine Glieder und meine Brust. Es gab keinen Zweifel: Ich hatte eine Panikattacke, weil sich nun auch noch ein kaltes, klammerndes Gefühl über mich legte, als ob Eiswasser meine Lungen füllen würde, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich, wenn ich mich nicht aufgesetzt hätte, in Ohnmacht gefallen wäre.

Mit geschlossenen Augen atmete ich durch die Nase und zählte dabei bis vier. Über das unaufhörliche Blutrauschen hinweg, das in meinen Ohren pochte, konnte ich Jaydas ruhige Stimme hören, die die Hausmeister anrief.

Übelkeit wallte aus meinem Magen in meinen Hals herauf, doch ich schluckte das heftige Verlangen, mich zu übergeben, wieder hinunter. Säure brannte in meinen Nebenhöhlen, und ich presste meine Augenlider noch fester zu und atmete konzentriert durch die Nase.

Als ich mich wieder traute, meine Augen zu öffnen, starrte ich auf die leere Kabine. Ich hasste mich dafür, wieder einmal direkt vor den Augen meiner Kollegin in eine Episode hineingerutscht zu sein. Auf wackeligen Beinen stand ich wieder auf, und dankenswerterweise senkte sich die Übelkeit aus meinem Hals wieder in den Bauch hinab. Das Atmen durch die Nase hatte geholfen.

Ich ergriff die kleine Glasphiole mit der Asche meiner Mutter, die an dem alten Rosenkranz, den sie immer in ihrer Tasche mit sich herumgetragen hatte, um meinen Hals hing. Es war ein alberner Aberglaube, von dem mir meine Mutter einmal erzählt hatte. Sie selbst hatte immer einen Ring meiner Großmutter an einer Halskette getragen. Als ich sie gefragt hatte, warum sie ihn die ganze Zeit trug, hatte sie mir erzählt, dass die Toten niemals einem Menschen etwas zuleide tun würden, der etwas von ihnen um den Hals trägt. Ich glaubte nicht einmal an Gott, aber meine Mutter hatte an ihn geglaubt, und ein Teil von mir fühlte sich dazu verpflichtet, den Rosenkranz aus diesem Grund zu behalten.

Ich zuckte zusammen, als die Tür wieder aufflog.

Jayda trat herein, aber blieb ein wenig auf Abstand. »Ich habe die Hausmeister angerufen. Es kommt gleich jemand herunter. Geht es dir gut?« Ihre beruhigende Stimme erinnerte mich an die meiner Mutter. Jayda war erst 23 Jahre alt und damit nur ein wenig älter als ich, aber das Leben schien uns beide früh gealtert zu haben.

»Ich glaube schon. Nur … ein bisschen durcheinander.«

»Nein, meine Süße. Ich meine: Geht es dir gut?«

Ich wusste, was sie meinte. Zurzeit schien mich einfach alles etwas nervös zu machen. Ich wusste auch nicht, was die Episode dieses Mal ausgelöst hatte. Vielleicht der Geruch. Vielleicht hatte ich auch die Ratte gesehen und als irgendetwas komplett anderes verarbeitet. Jayda war schon ein paarmal dabei gewesen, als ich etwas gesehen hatte, das gar nicht da war.

»Ich komme schon klar.« Worte, die in den vergangenen vier Jahren mein Mantra geworden waren.

Ich komme schon klar.

Zum größten Teil war ich auch klargekommen, außer die paar Male, in denen mich irgendetwas getriggert hatte.

Oder in denen ich von meiner Mutter halluziniert hatte.

Ob es mir gut ging?

Das würde sich schon noch herausstellen.

3. KAPITEL

Lilia

Nach der Arbeit mit der U-Bahn nach Hause zu fahren war echt scheiße. Mit der U-Bahn nach Hause zu fahren, nachdem ich meine tote Mutter bei der Arbeit gesehen hatte, war geradezu nervenzerfetzend. Obwohl mich Jayda dazu gedrängt hatte, eine Stunde früher als sonst aufzuhören, war ich noch ein bisschen länger geblieben, um ihr nicht die ganze Arbeit allein aufzuhalsen.

Ich war nie auf die Idee gekommen, die Halluzinationen ihr gegenüber zu erwähnen, obwohl sie eigentlich eher meine Freundin war als nur eine Kollegin. Und bei den Gelegenheiten, bei denen ich tatsächlich über den Tod meiner Mutter sprach, war ich auch nicht auf die Idee gekommen, von den schwarzen Würmern in ihrem Mund zu erzählen.

Vermutlich, weil ich das ungute Gefühl hatte, dass es sie gar nicht wirklich gegeben hatte.

Laut Bees Vater, Conner, hat meine Mutter sich an jenem Abend die Pulsadern aufgeschnitten. Die Geschichte ging so: Bee hatte sich irgendwann aus ihrem Zimmer herausgetraut und fand mich ohnmächtig auf dem Badezimmerboden liegen und Mom in der Badewanne mit aufgeschlitzten Pulsadern. Sie war in ihr Zimmer zurückgelaufen und hatte Conner angerufen, und als er heimkam, lag sie versteckt unter dem Bett, zitternd und irgendetwas vor sich hin murmelnd.

Die Geschichte hatte jedoch eine Ungereimtheit. Ein Loch, das auch nach so vielen Jahren, in denen ich versucht hatte, mich an jedes Detail des Abends zu erinnern, nie gefüllt wurde. Ich konnte mich einfach nicht daran erinnern, wie sich Mom ihre Pulsadern aufgeschnitten hatte. Vermutlich hatte ich solch ein grausiges Detail einfach verdrängt.

Als ich darauf bestanden hatte, gesehen zu haben, wie Würmer aus ihrem Mund gequollen waren, hatte Conner deren Existenz bestritten und den Bericht des Gerichtsmediziners hervorgeholt. Darin ragte schwarz auf weiß die Todesursache zwischen all den schaurigen Details hervor: schwerer Blutverlust aufgrund von Selbstmord. Das war das erste Mal gewesen, dass ich in ein schwarzes Loch fiel, in dem ich mir selbst nicht mehr trauen konnte. Ein schwarzes Loch, in dem die Realität und Albträume ineinander verschwommen.

Einige Monate später versuchte ich noch, unseren Hausarzt nach den schwarzen Würmern zu fragen, doch er fing quasi sofort an, mit mir darüber zu streiten, und sagte, dass er noch nie von so etwas gehört habe. Was schon irgendwie Sinn ergab, da ich sie mir vermutlich nur ausgedacht hatte. Einige Google-Suchen hatten auch nichts Sinnvolles in Sachen Würmer ergeben, und in jeder medizinischen Fachzeitschrift, in der ich etwas über Parasiten gelesen hatte, fehlten die Komplikationen und das Fortschreiten der Symptome, die ich bei der Erkrankung meiner Mutter beobachtet hatte.

Ich hatte keine andere Wahl, als zu akzeptieren, dass ich sie mir eingebildet hatte. Trauma kann schließlich einige beschissene Sachen mit dem Gehirn eines Menschen anstellen.

Als ich endlich mit der Arbeit fertig war, hatte ich das Gefühl, als ob ich einen geistigen Marathon hinter mir hätte. Ich war immer noch nicht so ganz bei Sinnen, und so erschien mir die U-Bahn anders als sonst. Angsteinflößender.

Es war kurz nach Mitternacht, also fuhr nur noch die rote Linie, und mal abgesehen davon, dass sie nach Pisse stank, waren auch nur wenige Leute darin. Die einzigen, die mitfuhren, waren Junkies und Kneipenbesucher. Einige von ihnen saßen etwas weggetreten da, andere schliefen. Covington war nicht die schlimmste Stadt der Welt, aber sie war auch nicht die sicherste.

Der strenge Geruch nach Urin, der in der Julihitze in der Luft festhing, war nur eine geringe Ablenkung, denn ich war immer noch ganz aufgewühlt von all den Turbulenzen in meinem Kopf.

Das Problem war, dass ich nicht besonders viel schlief. Das war wirklich ein Teufelskreis. Ich litt unter furchtbaren Albträumen, die mich nachts um einige Stunden länger wach hielten als durchschnittliche Menschen. Das wiederum führte dazu, dass ich manchmal Dinge sah. Und manchmal machten es mir diese Dinge wiederum sehr schwer zu unterscheiden, ob ich nun wach war oder doch schlief.

Mit geschlossenen Augen nahm ich ein paar tiefe Atemzüge und umklammerte dabei fest den Rosenkranz. Als ich die Augen wieder öffnete, erblickte ich einen älteren Mann, der auf der anderen Seite des Ganges saß und mich anzüglich anstarrte. Er war wohl so Ende vierzig, denn er hatte schon ein paar graue Strähnen in seinem Bart und Haar. Seine blasse weiße Haut ließ vermuten, dass er nicht allzu oft in die Sonne kam. Es war nur eine andere Frau im Waggon, um die sechzig, und die lag ziemlich bewusstlos in einer Ecke. Die anderen etwa ein Dutzend Menschen waren allesamt Männer.

Meine soziale Phobie hatte ich meiner Mutter zu verdanken, die die Vorstellung, dass Menschen von Natur aus gut sind, immer abgelehnt hatte. In ihren Augen war jeder Mensch potenziell ein Serienmörder, bis er das Gegenteil bewies, und irgendwie hatte sich ein klein wenig dieser Paranoia über die Jahre hinweg in mir festgesetzt.

Ich ließ den Rosenkranz wieder los und steckte meine Hand in meine Hosentasche, in der das Messer steckte, das ich überall mit mir herumtrug – das ich sogar mit ins Bett nahm. Ich hatte es vor einiger Zeit gekauft, als ich beschlossen hatte, die Nachtschicht zu übernehmen.

Als ob der Mann mein Unbehagen gespürt hätte, senkte er seinen Blick auf den Anhänger um meinen Hals. Wie sie da so in dem Anhänger an der schwarzen Perlenkette aufbewahrt war, war die Asche für mich die reinste Form meiner Mutter – die Krankheit, die sie umgebracht hatte, war komplett verbrannt. Das Verlangen, wieder nach dem Anhänger zu greifen, um meine Mutter vor seinen Blicken zu bewahren, zerrte ein wenig an mir, aber stattdessen schaute ich einfach weg, obwohl ich den Blick des Mannes noch immer auf mir spürte.

Die Stimme aus den Lautsprechern verkündete, dass mein Halt der nächste war. Erleichtert stand ich vom Sitz auf und eilte den Gang hinab, ohne noch einmal zu dem Typen zu schauen, während der Zug langsam anhielt. In der Sekunde, in der sich die Türen öffneten, hastete ich auf den leeren Bahnsteig hinaus.

»Hey!«, rief eine krächzende, raue Stimme hinter mir. »Hey, junge Frau!«

Bescheuerte Betrunkene. Ich musste mich mit ihnen mindestens dreimal pro Woche rumplagen, und heute war ich dafür nun wirklich nicht in der Stimmung.

Ich ignorierte ihn also und ging weiter auf die Treppe vor mir zu, während ich am ganzen Körper zitterte und meine Fingerknöchel vom festen Klammergriff um das Messer in der Hosentasche schon anfingen zu schmerzen. Ein kurzer Druck auf den kleinen Knopf ließ die Klinge herausspringen und gab mir ein Gefühl der Sicherheit, als ich sie durch den Stoff hindurch an meinem Oberschenkel spürte.

»Hey! Junge Frau!« Die Stimme war nun näher als beim ersten Mal, aber ich drehte mich nicht um, um ihn anzusehen. »Warte!«

Mein Herz klopfte laut in meiner Brust, und in dem Moment, in dem ich die erste Treppenstufe erreichte, ließ ein fester Griff an meinem Arm mich zusammenzucken. Ich drehte mich um, sah den Mann aus der U-Bahn vor mir, zog schnell das Messer aus meiner Tasche und hielt es mit zitternder Hand zwischen uns hoch.

»Ich schlage vor, dass Sie mich loslassen. Sofort.«

Er ließ mich los und hielt gleichzeitig meine Stofftasche in die Höhe. »Du hast die vergessen.«

Mein Blick wanderte aufgeregt zwischen ihm und der Tasche hin und her. Ich stand sprachlos da. Die Spannung in meinen Muskeln löste sich, und ich atmete noch etwas zitternd aus. Ich schnappte mir die Tasche und steckte das Messer zurück in die Hosentasche. »Danke.«

Der Mann zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Pass auf dich auf.«

Dann humpelte er davon, wieder zurück zum Bahnsteig.

Sobald er außer Sichtweite war, schloss ich meine Augen und atmete tief ein. Reiß dich zusammen, Lilia.

* * *

Das leuchtende Schild am Vordach des Luminet-Theaters warf ein helles Licht auf den Bürgersteig, als ich die Prather Street hinunterging, hin zu der unscheinbaren Tür gleich hinter dem Eingang des Theaters. Der Wohnungskomplex, in dem ich im Grunde genommen aufgewachsen war, lag direkt über dem Luminet und war in den 1920er-Jahren gebaut worden, als die Theater in der gesamten Stadt Hochkonjunktur hatten. Das Gebäude war so etwas wie ein Wahrzeichen von Covington – denn es war der Ort, an dem der erste bekannte Serienkiller von Massachusetts sein Opfer, eine damals ziemlich berühmte Schauspielerin, aufgeschlitzt in ihrer Garderobe liegen gelassen hatte. Trotz seines Rufs und seiner Geschichte war das Gebäude über die Jahrzehnte hinweg nicht besonders gut instand gehalten worden. Ich vermutete, dass nicht genug Geld da war, um es richtig zu renovieren.

Ich stieg die engen Treppen hinauf, deren alte Knochen unter meinen Stiefeln ächzten. Nicht einmal der starke Duft nach Schimmel und Mottenkugeln konnte den Gestank nach Urin, der immer noch meine Nase verstopfte, verdrängen. Als ich schließlich die Wohnung erreichte, ließen die Stimmen, die darin zu hören waren, ein plötzliches Gefühl von Angst in mir aufwallen, besonders als ich eine davon Angelo, einem Freund von Conner, zuordnen konnte. Er war vor etwa vier Jahren plötzlich aufgetaucht und wie ein hässlicher Leberfleck auf meinem Hintern einfach geblieben. Die Art Leberfleck, die ein Krebsgeschwür als Kern hatte.

»Ich weiß nicht, Mann. Diese Typen haben Beziehungen zum Kartell«, hörte ich Conner durch die Tür hindurch sagen. »Ich muss doch auch an meine Tochter denken.«

Meine Mom hatte vor ihrem Tod den Kontakt zu Conner hauptsächlich wegen Bee wiederaufgenommen. Die ersten zwei Jahre, nachdem Bee auf die Welt gekommen war, hatte er bei uns gelebt, bis Mom ihn rausgeschmissen hatte und er in New York landete und dort mit ein paar Leuten in einer WG in einer beschissenen Umgebung wohnte. Ein paar Jahre bevor Mom krank wurde, willigte er ein, wieder bei uns einzuziehen, um uns zu unterstützen, und um eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen. Da ich noch nicht volljährig war, als sie starb, wären wir ansonsten vermutlich ins Pflegeheim geschmissen worden, da meine Mom keine Familie besaß, von der ich etwas gewusst hätte. Conner war manchmal ein absoluter Vollidiot, aber wenigstens hatte er uns zusammengehalten. Meistens.

»Es ist ein verdammter Tausender. Schau dich mal um«, fauchte Angelo ihn an. »Du lebst hier nicht gerade im Luxus.«

Kurz nachdem Mom gestorben war, hatten die beiden zusammen ein geheimnisvolles Unternehmen gegründet, von dem Conner behauptete, sie würden Metallschrott verkaufen, den sie irgendwo erschnorrt hätten. Ich glaubte ihm nicht eine Sekunde, schon gar nicht, nachdem ich mal beobachtet hatte, wie die beiden in der Gasse hinter unserer Wohnung einen Typen praktisch krankenhausreif geschlagen hatten. Doch jedes Mal, wenn ich etwas zu dem Thema sagen wollte, fingen wir an zu streiten, und es endete damit, dass Conner sagte, ich solle mich gefälligst um meine eigenen Probleme kümmern.

Das gefiel mir gar nicht, und Angelo gefiel mir verdammt noch mal auch nicht. Der Typ war wie ein widerlicher Eisbecher mit einer verrotteten, schimmeligen Kirsche obendrauf.

Mit finsterem Blick betrat ich die Wohnung und sah, wie Angelo auf einem der Küchenstühle herumlungerte, während Conner daneben an einem Bier nuckelte.

Conner setze sich auf, offenbar überrascht darüber, dass ich eine halbe Stunde früher als sonst nach Hause kam. »Hey, Lil, was ist los?« Obwohl er erst in ein paar Jahren vierzig Jahre alt werden würde, sah Conner furchtbar aus mit seinen fettverschmierten Händen und den Hemden, die er aus der Autowerkstatt hatte, in der er die letzten sechs Jahre gearbeitet hatte.

Sein Freund sah dagegen etwas gepflegter aus, verbreitete jedoch einen Geruch, der mich an frisch verquirlten Dreck erinnerte, vermischt mit Baumarkt.

Als er an seinem Bier nippte, verfolgten Angelos Augen mich bis in die hinterste gegenüberliegende Ecke des Raumes, in dem ich weit von ihm entfernt auf Abstand blieb.

»Wir hatten ein Wartungsproblem bei der Arbeit.« Ich sah zwischen Conner und Angelo hin und her und hielt meine Tasche etwas höher vor meinen Körper. »Wir haben eine tote Ratte in den Toiletten gefunden.«

»Nett.« Conner prustete laut auf und kippte noch einen Schluck Bier hinunter.

»Ich bin erstaunt, dass du sie nicht zum Abendessen mit nach Hause gebracht hast«, sagt Angelo, und sein Mund war nur halb zu einem Lächeln verzogen.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist, hätte ich das schon gemacht.«

Seine Lippen zuckten. Angelo mochte es nicht, wenn man ihn herausforderte, insbesondere wenn man ihn dabei blöd aussehen ließ. »Ich glaube, dein Daddy sollte etwas mit deinem frechen Mundwerk tun.« Die Anspielung in seinen Worten ließ mich voller Abscheu schlucken.

»Vorsichtig.« Conner war wie immer schwer von Begriff und gab Angelos Stuhl einen kleinen Schubs genau in dem Moment, in dem der Drecksack sein Bier an die Lippen gesetzt hatte. Flüssigkeit spritzte auf seinen Schoß, und der blutrünstige Blick, den er Conner zuwarf, schien meinen Stiefvater etwas zu verunsichern. »Du musst nicht gleich so ein Idiot sein.«

»Manieren sind für Arschlöcher eine Fremdsprache«, platzte es aus mir heraus, bevor ich mich selbst zügeln konnte. Unglücklicherweise hatte Conner nicht die Eier, sich gegen seinen Freund zu stellen, wenn der sich würde rächen wollen, also war es nicht gerade klug von mir, so frech draufloszureden.

Angelo warf mir nur einen vernichtenden Blick zu, aber ließ sich dankenswerterweise nicht dazu herab, noch etwas darauf zu antworten.

Conner griff nach einem Pappteller, der auf der Arbeitsplatte neben ihm lag und auf dem noch ein Stück Pizza war. »Ich habe etwas vom Abendessen für dich aufgehoben, Lil, falls du noch hungrig bist.« Er warf den Teller auf den Tisch direkt vor Angelo, und der Aufprall ließ den Käse seitlich heabrutschen, was meinen Appetit nicht gerade steigerte.

Nicht, dass ich überhaupt viel gegessen hätte. Nicht seitdem diese Würmer in meinem Hirn in endloser Wiederholung abgespielt wurden.

Das Telefon klingelte und unterbrach damit Angelos Todesblick. Conner ging ran. Nach ein paar kurz angebundenen »Jupps« legte er wieder auf. »Fuck! Diese verdammten Vögel! Callahan regt sich schon wieder über die ganze Vogelkacke auf dem Beton auf.«

Die Vögel meiner Mutter. Auf dem Dach des Gebäudes standen große Käfige, in denen etwa zwanzig verschiedene Vögel lebten – hauptsächlich Tauben und Spatzen. Unsere Nachbarin Winnie, eine Freundin von Mom, die am Ende des Flurs wohnte, hatte angeboten, für sie zu sorgen, als Mom gestorben war, aber sie war nicht so wahnsinnig gut darin, hinter ihnen herzuputzen. »Oh, sorry. Das war so eine anstrengende Woche, ich mach das schon weg.«

»Nee, ist schon gut. Ich glaube, sie will auch noch, dass ich mir ihr Waschbecken anschaue.« Zusätzlich zu seiner Arbeit in der Autowerkstatt in unserer Straße war Conner zum inoffiziellen Hausmeister für den Wohnungskomplex ernannt worden, weshalb wir hundert Dollar weniger Miete zahlen mussten. »Ich bin gleich wieder zurück«, sagte er, stellte sein Bier ab und schlüpfte an mir vorbei.

Es schien mir ein wenig so, als ob die Witwe Callahan in letzter Zeit ein wenig zu oft anrief, und ich hätte schon leicht komatös sein müssen, um nicht zu sehen, was zwischen den beiden ablief. Aber das ging mich nichts an. Nur hasste ich es, mit Angelo allein gelassen zu werden.

Sobald Conner weg war, steckte sich Angelo eine an, und der Geruch von billigen Zigaretten machte sich im Raum breit.

»Wir rauchen hier drinnen nicht.«

Seine Mundwinkel zogen sich zu einem widerlichen schleimigen Grinsen hoch. »Mach sie doch aus. Wenn du dich traust.«

Ich rollte mit den Augen und trat neben ihn ans Spülbecken, um mir ein Glas Wasser einzuschenken, da mein Hals plötzlich extrem trocken war. Ich wäre eigentlich sehr gerne sofort in mein Zimmer gegangen, aber ich hatte Angst, dass er mir folgen würde. Es war wohl besser, in der Nähe der Küchenmesser zu bleiben. »Wieso bist du so spät noch hier?« Ich sah wieder zu ihm rüber, und als ich ihn dabei erwischte, wie er auf meinen Hintern starrte, stieg abermals Säure in meinem Hals auf. Ich schüttete das Glas Wasser in mich hinein und ertränkte damit das Verlangen, ihn deswegen blöd anzureden.

»Little Lily Cat«, sagte er und ignorierte damit meine Frage. »Du bist gar nicht mehr so klein, oder, Kätzchen?«

»Nenn mich nicht so.«

»Wieso stört dich das? Hast du einen Freund, oder was?« Der Ton seiner Lache, als ich ihm nicht darauf antwortete, ging mir ganz schön auf die Nerven. »Nein, natürlich hast du keinen Freund. Denn Männer sind ja blöde Schwänze, oder?«

»So ungefähr.«

»Hast du schon mal einen berührt? Ich meine, einen Schwanz.«

Ich schüttelte den Kopf und stellte das Glas in der Spüle ab. Meine Geduld war nun ganz offiziell am Ende. Doch als ich mich umdrehte, um zu gehen, stand er hinter mir und zwängte mich gegen die Küchenzeile.

»So ein hübsches Mädchen wie du. Sollte eigentlich schon eine Menge Schwänze berührt haben.«

Ich drückte mich von der Spüle weg, um an ihm vorbeizukommen, aber er presste seinen Körper gegen mich und sorgte dafür, dass sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf losschrillten. »Lass mich los, du beschissener Freak«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne hindurch und versuchte, meinen Arm aus seinem Griff zu befreien.

Scharfe Fingernägel bohrten sich in meinen Hals, und ich erstarrte, während ich wütend mit den Zähnen knirschte. Er lehnte sich vor, als ob er es wagen würde, mich zu küssen.

Seine Augen waren fest auf meine Lippen gerichtet, und er lächelte. Sein Atem stank nach Bier und Zigaretten. »Manchmal stelle ich mir vor, wie dein Blut über meinen Schwanz fließt, und er wird davon ganz hart.« Kalte schwarze Augen richteten ihren Blick von meinen Lippen hoch zu meinen Augen, und sein Lächeln verschwand. »Stört dich das, wenn ich so etwas sage?«

Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wangen, um mein zitterndes Kinn zu beruhigen. Der Typ machte mir unglaubliche Angst, aber ich wollte ihm das auf keinen Fall zeigen. Irgendetwas sagte mir, dass Angst ihn nur noch stärker erregen würde.

Das Messer. Das Messer war immer noch in meiner Hosentasche, aber so stark, wie ich zitterte, würde ich das blöde Ding wohl fallen lassen, bevor ich überhaupt dazu käme, ihn damit zu schneiden. »Lass mich sofort los, oder ich werde verdammt noch mal schreien.«

»Ich werde verdammt noch mal schreien«, äffte er mich nach. »Dann schrei doch. Glaubst du, dass das hier im Haus irgendjemanden kümmert?« Er zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in mein Gesicht.

Meine Lippen waren fest verschlossen, und ich wand mich in seinem festen Griff, um ja nichts einzuatmen.

»Wenn es mich nicht gäbe, würde dein Alter in Rechnungen ertrinken. Ich sorge dafür, dass deine Schwester weiter auf diese beschissene Quacksalber-Schule geht. Und ich sorge dafür, dass du deinen süßen kleinen Kätzchenarsch nicht auf der Straße verkaufen musst, um fürs College zahlen zu können.«

Nachdem meine Mutter gestorben war, hatte sich Bees seelischer Zustand rapide verschlechtert. Sie versank in einer so tiefen Depression, dass ich nachts nach ihr sehen musste und tagsüber immer in der Schule anrief. Meine Therapeutin hatte vorgeschlagen, dass Bee in ein Internat gehen sollte – Bright Horizons, das sich auf die seelische Gesundheit konzentrierte –, und angeboten, sie für die Zulassung zu beurteilen. Bee hatte mit Bravour bestanden und es sogar geschafft, eine kleine finanzielle Unterstützung zu erhalten, um einen Teil der Kosten für ihr Schulgeld zu decken. Conner und ich teilten uns den Rest – eher unwillig auf seiner Seite, da er der Überzeugung war, dass seelische Gesundheit einfach