Noras einhundertacht Arten zu sterben - Patrick Sandro Nonn - E-Book

Noras einhundertacht Arten zu sterben E-Book

Patrick Sandro Nonn

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Beschreibung

Die phantasiebegabte, träumerische Nora macht ihrem Freund Frank an ihrem dritten Jahrestag einen Heiratsantrag. Als er daraufhin fluchtartig ihre Wohnung verlässt, steigert Nora sich in immer wildere Phantasien hinein, wie sie ihr Leben beenden oder verlieren könnte. Denn sie möchte Frank an ihrem Grab leiden sehen. Notfalls auch von einer Wolke im Himmel aus. Während Frank seine Feigheit mit Alkohol zu betäuben versucht und Nora verzweifelt durch die Stadt irrt, merken beide nicht, dass sie längst wieder aufeinander zujagen - mit nahezu tödlicher Geschwindigkeit.

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

SAMSTAG

Samstag, später Abend (22:34 Uhr)

Sonntag, 14. August

Montag, 15. August

Mittwoch, 17. August 2005

SONNTAG

Zur selben Zeit in Karls Kneipe

Im Brander Forst …

MONTAG

Montagnachmittag, 17:46 Uhr

In Noras Abstellkammer, 17:24 Uhr

Mitten in der Nacht in Franks Wohnung

DIENSTAG

Franks Arbeitsplatz 12:00 Uhr

Hotel Bergischer Hof, Heikes Arbeitsplatz, 12:45 Uhr

Bei Nora in der Stadt, 12:56 Uhr

EPILOG

PROLOG

Durch ein Hintertürchen in Raum und Zeit, nur einen Wimpernschlag von unserer Realität entfernt, gelangt man in eine Dimension, wo höhere Mächte und deren Gehilfen auch nicht großartig anders aussehen als wir. Dort trafen sich Zufall und Plan heimlich in der Nacht von Freitag auf Samstag in einer Bar namens »Mischen Impossible«. Sie lag an der Straße »Jenseits von allem Vorstellbaren«, dem Refugium der Querdenker. Wasser und Öl zusammen in einer grünen Weinflasche inspirierten ihren Inhaber zu diesem Namen. Aber das geschah vor Äonen. Die beiden Handlanger hatten verabredet, sich tüchtig die Kanne zu geben, und hatten auch allen Grund dazu. Universaler Stress. Ihre Herren und Meister, die kosmischen Mächte Schicksal und Vorsehung lagen seit Monaten miteinander im Clinch. Die beiden stritten unerbittlich, um die Zukunft eines irdischen Pärchens festzulegen. Dieser Streit wirkte sich natürlich auch auf ihre direkten Untergebenen und deren sorgsam gehütete Freundschaft aus. Zufall und Plan verspürten keinerlei Lust, sich tiefer als nötig in die Keilerei ihrer Vorgesetzten reinziehen zu lassen. Beide nippten versonnen an ihren Getränken.

Zufall hatte sich vom Barkeeper die Karte geben lassen, sich dann mit der linken Hand die Augen zugehalten und mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten willkürlich in die Getränkekarte getippt, währ«end Plan kopfschüttelnd ein großes Pils orderte. Zufall besah sich seine Wahl und bestellte schwer schluckend die Flasche 1683er Dom Pérignon.

»Dass du auch immer so theatralisch sein musst!«, brummte Plan kopfschüttelnd und musterte seinen Freund mit schalkblitzenden Augen.

»Hey, das steht so in meinem Arbeitsvertrag«, maulte Zufall und schob dem Barkeeper drei Geldscheine von kosmischen Dimensionen über die Theke.

»Was meinst du, ob sich unsere Bosse irgendwann noch einigen?«

»Trink, Freund Zufall, und tu nicht so sparsam. Denn ob es so ausgeht oder so, wir beide werden wieder mal die Drecksarbeit machen dürfen und dann als Dankeschön den schwarzen Peter zugeschoben bekommen.«

»Damit dürftest du Recht haben.«

»Bisher ist es doch immer so gelaufen.«

Zufall lächelte gequält und leerte sein Champagnerglas in einem Zug. Sein Kumpel tat es ihm mit dem Bierglas gleich.

Gemächlich schlenderte die Zeit draußen an der Bar vorbei, während sich die beiden Zecher alte Geschichten erzählten und neue Ränke schmiedeten. Ein jeder heimlich für sich, arbeiteten sie doch für konträre Seiten. Und auch wenn die Zeit keinen Zutritt zur Bar hatte, so ging sie doch vorbei.

Es galt, eine Zukunft zu formen, darüber waren sich beide einig. Nur wunderten sie sich über die Unnachgiebigkeit ihrer beiden Arbeitgeber, was die beiden Menschlinge anging. Derart harte Auseinandersetzungen beherrschten früher oftmals die Tagesordnung, wenn es um königliche Familien ging und die Verhandlung deren Fortbestand oder Untergang betraf. Vielleicht fingen beide aus purer Langeweile dieses kleinliche Gezänk um die beiden Menschlein an. Die Königs wurden ja auch immer gewöhnlichere Leute.

Oder sie suchten einen neuen Hiob zur Unterhaltung für die göttliche Ebene.

»Vier Uhr fünfzig!«, bemerkte Plan und tippte bedeutungsschwanger ans Glas seiner Armbanduhr. »Ich muss los.«

»Wieso?«

»Nora hat morgen einiges vor«, erläuterte Plan und wandte sich der Tür zu.

»Ach was«, meinte Zufall lässig abwinkend, »trink doch noch einen mit. Ich funke dir doch eh wieder dazwischen.«

Aber Plan schlüpfte schon hinaus, um rechtzeitig an seinen Einsatzort zu gelangen. »Absolute Pünktlichkeit« lautete ein Bestandteil seines Arbeitsvertrages und so leicht wie sein Freund glaubte, ließ er sich sicher nicht ins Handwerk pfuschen.

Die Nacht ging und machte die Bühne frei für den ersten Tag des letzten Aktes.

SAMSTAG

Nora saß in ihrem Wohnzimmer auf ihrem alten und mittlerweile viel zu weichen Sofa und heulte, dass die Wände ihrer Wohnung drauf und dran waren, zu butterweichem Wachs zu werden. Alles, woran sie glaubte, zerfiel und zerbrach in tausend Stücke wegen Frank. Frank, der Schuft, der Mistkerl, der sie verlassen hatte. Einige Tränen entkamen ihrem Taschentuch und fielen auf ihr T-Shirt. Es wurde bereits von mehreren salzigen Tropfen unterschiedlicher Nässe verunziert. Mit jedem von Seufzern begleiteten Atemzug hoben sich ihre prächtigen Brüste gleich einem unausgesprochenen Vorwurf an den Übeltäter. Sie putzte sich geräuschvoll die Nase, unterbrach damit jedoch nur kurz ihr Dauergrübeln. Die letzte Szene zwischen ihm und ihr spielte sich vor ihrem geistigen Auge immer und immer wieder ab.

Kniend, was ihren 173 Zentimetern Körpergröße keinen Abbruch tat, eine rote Rose zwischen den Zähnen, fragte sie: »Willst du mich heiraten?«

Sie trug ihr langes Goldhaar offen, denn das mochte er sehr gerne, und himmelte ihn mit ihren Rehaugen erwartungsvoll an, woraufhin sein Gesicht lang und länger wurde, bis es ein ungläubiges Fragezeichen imitierte. Vorsichtig tastend stolperte er rückwärts in Richtung Wohnungstür und verschwand so schnell er konnte. Einfach so, ohne einen Ton zu sagen. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. An einem Samstag, der den dritten Jahrestag ihres gemeinsamen Lebens darstellte. Nora dachte über die Rose nach. Denn es war nicht einfach irgendeine Rose. Nora entschied sich extra für die edelste aller Sorten: Baccara. Der Name spukte ihr im Kopf herum wie ein Zauberwort, das seine Wirkung verfehlte. Einen kleinen Moment dachte sie sogar darüber nach, ob vielleicht die Rose den Ausschlag für sein Verhalten gab, da er doch keine Pflanzen mochte. Aber die Idee zerfiel zu staubigen Gedankenfuseln angesichts der eigentlichen Gründe. Frank hatte eindeutig kalte Füße bekommen. Stunden vergingen schleppend langsam, die Zeit dehnte sich so gut sie es eben vermochte. Das macht sie immer so, wenn sie jemandes Leiden vergrößern möchte. ›Ein Mann, ein Wort, Batavia‹, dachte Nora immer wieder. Ihr Vater sagte diesen Satz oftmals, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie begriff nie richtig, was diese Aussage bedeutete, geschweige denn, dass sie mit dem Begriff »Batavia« etwas anfangen konnte. Nora verstand jedoch aus dem Kontext, dass es sich um ein gegebenes Ehrenwort handeln musste. Wozu verlobte er sich mit ihr, wenn er sie doch nicht heiraten wollte? Galt dieses Eheversprechen nur, falls er keine Bessere fand? Nora besah sich den silbernen Ring an ihrer linken Hand. Den hatte er ihr vor einem halben Jahr an den Finger gesteckt und in glühenden Worten ihre Liebe und die seinige beschworen.

Nora wartete. ›Baccara, Batavia, Baccara, Batavia‹, schwirrte es durch ihren Kopf. Sie warf der Rose giftige Blicke zu. »Egal ob er Schiss vor der festen Bindung hat, du bist es schuld«, beschimpfte sie das still vor sich hin duftende Rosenaas und freute sich darüber, für den Moment einen anderen Sündenbock als Frank oder gar sich selbst gefunden zu haben. Nora pupste. Auch um den Rosenduft zu übertünchen. Allein die Freude über den kleinen Schnitzer währte nur kurz. Noras Zweifel an jeder Kleinigkeit ihres kläglich gescheiterten Plans machten sich neugierig auf einen Streifzug durch die ganze Wohnung. Der große Zeiger legte eine weitere, besonders langsame Runde über das Ziffernblatt zurück und Nora übte sich in geduldigem Warten. Beherrscht, aber bebend vor innerer Anspannung. Vor lauter Frust begann sie schließlich unter Tränen ihre Wohnung aufzuräumen. Eine alte Tradition, die so noch aus Kindertagen herrührte. Alles Bitten und Betteln, Fordern und Befehlen seitens ihrer Mutter brachte keinerlei Erfolge. Töchterlein Nora räumte immer erst dann ihr Zimmer auf, wenn sie selbst richtig stinkesauer war. Heute nahm sie es, halb blind vor Tränen, mit dem Ordnungmachen etwas laxer. Aus den Augen, aus dem Sinn lautete das Motto. »Schlampenordnung herstellen« nannte es Nora. Ein Foto von Frank fiel ihr in die Hände und überlebte dies nicht. Sie zerriss ihren Freund in der Luft, warf die Fotofetzen über ihre rechte Schulter wie verstreutes Salz, das ihr trotz des Missgeschicks noch Glück bringen sollte, und schnaubte verächtlich. Sie trampelte mit den Füßen auf ihm herum, keilte aus und wirbelte die Drecksfetzen seines Mistfotos durch den Raum mit ihrem Huf. Seine Augenpartie blieb von ihrer Attacke verschont und nun schauten diese Augen sie liebevoll und nach Zärtlichkeiten bettelnd an. Sofort bereute Nora ihren Wutausbruch und machte sich ans Puzzeln. Wieso fand sie diesen Blick derart unwiderstehlich? Ächzend und stöhnend ließ Nora sich wieder ins Sofa fallen und brachte die Zeit abwechselnd mit Heulen und Vor-sich-Hinstarren herum. Bohrend stach die Frage, was sie wohl falsch gemacht hatte, in ihre Gedanken. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Franks wortlose Ablehnung brannte gleich einem Höllenfeuer in ihrer Seele. Dabei fing der Tag so gut und so vielversprechend an. Wehmütig erinnerte sich Nora. Um halb acht stieg sie freiwillig aus dem Bett, begrüßte den frühen Sonnenschein, frühstückte, putzte sich dem Anlass entsprechend heraus, ging die schönste Rose kaufen, die sie fand, und kam gut gelaunt nach Hause zurück. Dann wartete sie fröhlich auf ihren Liebsten, den sie, um die Überraschung vorzubereiten, ausnahmsweise eine Nacht in seine eigene Wohnung geschickt hatte.

Und dann DAS. Mit einem derartigen Reinfall rechnete sie wirklich nicht. In keiner ihrer Träumereien reagierte er so. Granitblöcke von unmenschlicher Schwere drückten ihr aufs Gemüt. Vielleicht lag der Fehler ja auch schon darin, ihn in seine Wohnung zu schicken. Nora fühlte sich degradiert, ausgelöscht, weggewischt und nutzlos. Sie schien kaum mehr die Luft wert zu sein, die sie atmete. Diese Ablehnung seinerseits stellte absolut alles in Frage, was in den letzten drei Jahren an Positivem geschehen war. Gab es etwas Erniedrigenderes als Zurückweisung? Nein. Nora fühlte sich irgendwie schmutzig, und dieser Mangel gehörte unbedingt abgestellt, obwohl sie heute Morgen ausgiebig geduscht hatte. Unter nörgeligem Gemurmel erhob sich Nora, verstreute über den ganzen Weg ins Badezimmer ihre Klamotten, stieg in die Wanne und begab sich unter die Duschbrause. Als der Genuss des warmen Wassers, das prickelnd über ihren Rücken und über ihren Körper rann, aus ihrem Ausatmen endlich ein Aufatmen machte, veranstaltete Nora ihre übliche Schaumparty. Gut aufgeschäumt eignete sich ihr Duschgel hervorragend, um riesige Seifenblasen zu produzieren. Zwischen zum Ring geformten Daumen und Zeigefinger ließ sie eine Seifenhaut entstehen und pumpte diese aus voller Lunge zu einer Blase von wirklich immenser Größe auf. Ein Seifenblasenplanet war das. Experiment gelungen. Danach versuchte sie einen anderen Seifenblasentrick. Sie rieb eine dünne Schicht Duschlotion auf ihren flachen Bauch, presste die Arme fest an den Körper und entspannte eine Seifenhaut zwischen ihrem Körper und ihren halbrund ausgestreckten Armen, die jeden Varietékünstler neidisch machen konnte. Sie vollführte mit den Armen einen schwungvollen Bogen abwärts, bis knapp über ihren Venushügel, und schon saß eine Seifenblase über ihrem Bauch, als wäre sie im neunten Monat schwanger. Mist, dachte Nora. Ein schlechter Einfall, wo doch gerade ihre Familienplanung so gründlich in die momentan nicht vorhandene Hose gegangen war. Nora biss die Zähne zusammen. Vergeblich. Als der Heulkrampf sie durchschüttelte, rutschte sie langsam an den eiskalten Fliesen der gekachelten Wand herunter, und ihre salzigen Tränen vermischten sich mit weggewaschenen Träumen vom Familienglück. Hätte ihr Zustand die Konsistenz ihres Körpers beeinflusst, sie wäre mit dem Seifenschaum weggespült worden. So hockte sie benebelt da, in trübsinniger Verzweiflung, und schaute aus tränenroten Augen dem wirbelnden Abwasser nach, das gurgelnd im Ausguss verschwand. Nora kauerte dort, die Arme um ihre Knie geschlungen, bis ihr das Rauschen des Wassers, sonst stetige Quelle der Entspannung für sie, einfach zu viel wurde. Sie drehte energisch die Wasserhähne zu, stakste aus der Wanne, beschloss, sich das Abtrocknen zu schenken, und schlüpfte in ihren Lieblingsbademantel aus streichelzartem Frottee. Ihren Frust ließ sie an der verteilten Wäsche aus, indem sie diese ins Schlafzimmer kickte. Aber sie weigerte sich, die Kleidungsstücke in die Wäschetonne zu werfen. Wenigstens ein bisschen Anarchie musste sein. Dann schlüpfte sie in ihre Lieblings-Jogginghose und zog sich ein frisches T-Shirt über.

Nora kehrte zurück in ein Wohnzimmer, das sie mit frostigem Schweigen empfing. Nicht einmal ihr lockeres Freizeitoutfit änderte etwas an der gespannten Atmosphäre. Wie ein Stein plumpste Nora in ihr Sofa und wäre fast von ihm verschluckt worden. Dies war einer der Gründe dafür, dass es den ungewöhnlichen Spitznamen »Titanic-Sofa« trug. Ihre beste Freundin Heike prägte diesen Namen vor einer gefühlten Ewigkeit, denn es bestand dauernd die Gefahr, auf Nimmerwiedersehen in ihm und mit ihm zu versinken.

Das Dämmerlicht des sich ankündigenden Abends füllte allmählich den Raum und die rote Rose auf dem Teppich vor ihr lechzte seit dem Morgen nach Wasser. ›Baccara, Baccara, tausend Tränen, die dich begleiten …‹, sang Noras bis hinten wieder überdrehter Verstand, verzweifelt um Abkühlung bemüht. Um Fassung ringend, biss sie sich auf die Zunge. Nora hoffte, Frank käme zurück, auch wenn er dann sturzbesoffen sein sollte. Wenigstens wäre seine Rückkehr ein positives Zeichen. ›Komm wieder her, komm wieder her!‹, flehten alle ihre grauen Zellen im Chor und gaben sich redlich Mühe, ihn telepathisch zu erreichen. ›Komm wieder her, komm her, komm her, komm he-er‹, lockten sie lieblich säuselnd.

Fließender Strom erzeugt ein magnetisches Feld, und arbeitende Gehirnzellen können mehr erreichen, als manch einer sich träumen lässt. Ihr Selbstvertrauen wuchs mit jedem Gedanken, den sie verarbeiteten. ›Komm wieder her!‹ Leider glaubte Nora nicht an Telepathie und schon deshalb waren alle Bemühungen umsonst.

Sie hob die Rose vom Boden auf, zog vorsichtig an einem der roten Blütenblätter und sagte so leise, dass es nur die Blume hörte: »Er liebt mich.« Sie verstärkte den Zug langsam, bis das Blütenblatt endlich abriss. Achtlos ließ Nora es fallen und widmete sich dem nächsten: »Er liebt mich nicht.« Das nächste Blatt segelte hinunter zum Teppich. »Ein klein wenig.« Wut übermannte Nora und sie rupfte eine Spur kaltblütiger an der Rose herum: »Von Herzen, mit Schmerzen, gar nicht«, leierte sie blechern den Spruch herunter und Rosenblätter fielen wie sachter Morgentau. Erbärmlich sah die arme Pflanze nun aus. Wahrscheinlich genauso erbärmlich wie sie selbst mit ihrem verheulten Gesicht. Teils aus Mitleid, teils aus Resignation ließ Nora die Rose wieder fallen und roch an ihren Fingern. So lieblich. So erotisch. So ein himmlischer Duft. Und leider so was von nutzlos.

Mit den verrinnenden Sandkörnern der Zeit stiegen ihr erneut die Tränen in ihre Augen. Nora schluchzte leise, sie versuchte mit dem rechten Handrücken auf ihre Lippen gepresst eine Lawine zurückzuhalten. Doch die Barriere zerbrach ganz einfach. Ja, eine Lawine, ein eiskaltes Schneebrett, das sie unter sich begrub und ihr den Tod brachte. Was für eine schöne Idee, angesichts der umsonst vergossenen heißen Tränen. Seit sie am späten Vormittag erstmals sein dämlichentsetzt fragendes Gesicht gesehen hatte, keimten Gedanken in ihr, wie man sie sonst nur von wütenden Comicfiguren kennt: Blitz, Donner, Bombe, Gift, Galgen und Guillotine. Nur richtete sie diese Aggressionen gegen sich selbst. Drei ihrer besten Jahre verschwendet an diesen zahmen Trottel! Sie sah sich selbst gefesselt am Boden liegen und Frank, den Henker, der mit dem schweren Rad auf sie einschlug.

Die Dunkelheit vor dem Fenster wurde immer kräftiger. Sie knabberte am Tageslicht, bis sie es endlich aufgefressen hatte. Noras Tränen versiegten allmählich. Da die erhofften und erträumten Dinge ausblieben, fing Nora mit dem Staubwischen an. Sie entstaubte eben tüchtig den Fernseher, als das Telefon klingelte und es schien, als ob es nur auf diesen Zeitpunkt gewartet hätte. Als das Läuten des Telefons endlich ihre Gedanken erreichte, hob sie ab, seufzte herzzerreißend in den Hörer und legte sofort wieder auf. Sie beschloss, sich das Hörerkabel straff um den Hals zu wickeln, um sich damit zu erdrosseln. Damals hatte sie das uralte Gerät in der bereits möblierten Wohnung vom verstorbenen Vormieter übernommen, das Plastikgehäuse an allen wichtigen Stellen mit allerlei Putzmitteln gründlich gescheuert und ein Massensterben unter den dort angesiedelten Keimen verursacht. So stellte sie es sich zumindest vor.

»Das ist kein Hörer, das ist ein Terror-Knochen!«, spottete Frank meistens, aber ihr gefiel das alte Ding. Warum sollte der Retro-Style ihres Telefons ihr nicht in der gegenwärtigen Situation zum Vorteil gereichen? Ihre kleine Wohnung brauchte kein schnurloses Telefon, fand sie. Was für ein Glück, dass sie niemals Franks ewigem Drängeln nach einem moderneren Kommunikationsspielzeug nachgab. Wo nähme sie sonst jetzt so ein schönes langes Telefonkabel her? Nora schlang es sich mehrmals um den Hals und zog leicht an beiden Enden. Schon der geringe Druck, den sie damit auf ihren Kehlkopf ausübte, bewirkte, dass sie husten musste. Nora Empfindlich wickelte das Kabel wieder ab und rieb sich den Hals. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie Kriminalbeamte Frank nach ihrem Ableben das Selbstmordinstrument aushändigten. Kabel mitsamt Hörer. Dann sah sie Frank damit an ihrem offenen Sarg stehen. Verzweifelt schlug er sich immer wieder mit dem Hörer gegen die Stirn, bis er Beulen davon bekam. Ihre Phantasie, die sowieso schon farbenreich und ausgeprägt war, verselbstständigte sich immer mehr in diese Richtung. Sie wollte Frank an ihrem Grab leiden sehen. Rache! Egal ob vom Himmel her oder aus der Hölle. Eiskalte Rache sollte ihren glühenden Zorn besänftigen. Rache, denn die allein gab ihrer verletzten Seele Ruhe. Und sie, Nora Heinrichs, fühlte sich bis ins Mark verletzt. Dieses Messer steckte zu tief in ihrem Herzen, als dass sie es ihm nicht zurückgeben wollte. Sauber lecken sollte er es, jawohl! Und an ihrem Blut ersticken, dieser Mistkerl.

Nach diesen Gedankenbildern widmete sich Nora knurrend und vor sich hin grollend wieder dem Staubwischen. Sie schwang Staubtuch und Wedel in einer Gründlichkeit und Sorgfalt, die ihre Wohnung selten zu Gesicht bekam. Außer natürlich, wenn ihre Gefühle zwischen wütend und traurig schwankten. Systematisch pfuschte sich Nora mit ihren Lieblingsgeräten vor bis in die Küche und probierte dort, des Staubens müde, jeden Stuhl am Esstisch aus, bis sie den bequemsten für ihre gegenwärtige seelische Notlage bestimmt hatte. Wieder klingelte das Telefon. Anscheinend brauchte da unbedingt jemand eine zweite Gesprächschance. Nora hob ab und rang sich dazu durch, sich ordentlich zu melden:

»Nora Hei…«

»Hallo mein Goldhäschen, ich wollte mal hören, wie es dir geht«, legte ihre Mutter gleich los, noch ehe Nora ihren guten Vorsatz beherzigen konnte.

»Hallo Mamichen!«, sie versuchte fröhlich zu klingen.

»Ist bei dir alles in Ordnung?«, erkundigte sich ihre Mutter.

»Ja Mama!«, erwiderte Nora und schaffte es nicht, die leichte Gereiztheit, die sie verspürte, hinter ihrer Stimmlage zu verbergen.

»Du klingst aber anders, wenn alles in Ordnung ist«, bohrte ihre Mutter weiter.

Nora seufzte laut und vernehmlich. Dies war wieder eine der typischen Situationen. Ihre Mutter war überfürsorglich und stets darauf bedacht, dass es ihr gut ging, und Nora fühlte sich dadurch kontrolliert und bevormundet. Natürlich wusste sie auch, dass dazu überhaupt kein Grund bestand. Eigentlich fürchtete sie sich nur vor zu großer Einmischung.

Andererseits, wem, wenn nicht ihrer Mutter, sollte sie ihr Herz ausschütten? Schließlich meinte ihr Mütterchen es nur gut mit ihr.

»Ich hab Frank heute ’nen Heiratsantrag gemacht«, ließ Nora die Bombe platzen.

»Hey, dann hab ich ja bald einen Schwiegersohn!«

»Keine Ahnung. Er hat noch nicht ›Ja‹ gesagt.«

»Das tut mir leid, mein Mäuschen.«

»Wird schon, Mama«, gab Nora knapp zurück und rang einen Schluchzer nieder, der unbedingt jetzt sofort aus ihrer Kehle wollte.

»Denk dran, wir sind immer für dich da und du kannst immer zu uns kommen.«

Nora seufzte.

»Ja Mama, weiß ich, danke. Aber im Moment muss ich da einfach selber erst mal durch.«

»Machs gut und pass auf dich auf, mein Schätzchen.«

»Tschüs Mama.«

Nora warf den Hörer auf die Gabel, tigerte ziellos durch alle Räume ihrer Wohnung und warf sich schließlich aufs Bett, entnervt davon, dem Tag nicht wenigstens ein bisschen mehr Sinn geben zu können. Ihre eigenen vier Wände wollten heute scheinbar ein Käfig sein. Zumindest fühlten sie sich so an. Ausbrechen mochte Nora trotzdem nicht, dazu lag sie augenblicklich zu bequem.

Leichtes Magenknurren machte sich bei ihr bemerkbar und der Hungerfrust mischte sich nachdrücklich in ihre Traurigkeit. Bitterschokolade, die einzige spärliche Tröstung, die sich in Sichtweite befand. Wenn auch nicht wirklich in Sichtweite, so doch zumindest im Barfach des Wohnzimmerschranks. Ach, sie fühlte sich viel zu traurig, um aufzustehen. Weil die Idee aber nun mal gedacht war und ihr Bauch sich entsetzlich hohl anfühlte, raffte sie sich mühsam zusammen und schlurfte wieder hinüber ins Wohnzimmer.

›Heute krieg ich vielleicht noch Kilometergeld, wenn ich so weitermache‹, dachte sie.

Der Schlüssel drehte sich entsetzlich krachend im alten Schloss des gebraucht gekauften Schranks, dann erschien Rettung in greifbarer Nähe. Nora schloss hinter der Tafel Bitterschokolade wieder ab. Ehe sie sich das erste Fruststückchen genussvoll in den Mund stopfen konnte, wurde an ihrer Wohnungstür Sturm geklingelt. Noras Augen begannen glücklich zu strahlen. Leuchtturmglanz spiegelte sich im vorhandenen Tränenozean und Feuerwerksraketen gleißten in hoffnungsvoller Explosion. Vielleicht kam da jemand zur Vernunft. Nora sauste zur Tür, sammelte sich ein winziges Sekündchen und fuhr sich mit der linken Hand sortierend durch ihre wilde Mähne, während ihre rechte mitsamt der Schokolade die Klinke herunterdrückte.

Sicher, es war einigermaßen erfreulich, ihre beste Freundin Heike vor der Tür stehen zu sehen, aber dem Leuchtturm ging augenblicklich das Lampenöl aus und die Feuerwerksraketen platzten wie simple Knallfrösche. Heike entging dies zunächst, denn sie schoss leicht aufgebracht an ihrer Freundin vorbei.

»Norimaus, was ist los?«, erkundigte Heike sich, stürmte an ihr vorbei durch den Flur und in Richtung Wohnzimmer. »Ich hab versucht, dich telefonisch zu erreichen, aber du hast bloß gestöhnt, als ob dich ein Deißigtonner überrollt, und gleich wieder aufgelegt.«

Heike blieb unter dem Türrahmen stehen und schaute sich nach ihrer Freundin um. Nora schob sich ein Stück Schokolade in den Mund und kam in ihre Richtung geschlurft wie eine Hundertjährige.

»Geh schon rein da«, seufzte sie und schielte absichtlich aus verheulten, geröteten Augen. Da erblickte Heike das zerrissene und sorgfältig wieder zusammengelegte Foto von Frank auf dem Wohnzimmertisch und Vorahnung wandelte sich in bitterschokoladige Gewissheit. Mit einem »Achduliebegüte« ließ Heike sich ins Sofa fallen.

»Ist das wirklich wahr?«, sie deutete kopfnickend auf das Foto. Die tränenreiche Norimaus bestätigte ebenso. Sie nutzte die günstige Gelegenheit, setzte sich neben Heike und verbarg ihr Gesicht an deren Schulter. Schon wieder stiegen Tränen in ihre Augen und sie scheute sich nicht, Heikes T-Shirt damit zu benetzen.

»Was ist denn passiert?«, erkundigte ihre Freundin sich. Ungewollt reimte sie: »Komm, mein Nörchen, sag’s mir ins Öhrchen«, erreichte damit aber wenigstens, dass Nora ein schnell vergehendes Lächeln übers Gesicht huschte.

»Wollte ihm einen Heiratsantrag machen« stammelte Nora. »Und … und er hat bloß geguckt wie ein schrottreifes Auto«, ihre Stimme zitterte leicht. »Dann ist er rückwärts zur Tür hinausgetaumelt.« Nora schniefte laut und sah ihre Freundin aus verheulten Augen fragend an: »Mit dreiundzwanzig bin ich doch alt genug fürs Heiraten, oder?«

Als Heike darauf sehr ernst schaute und sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht strich, ahnte Nora schon, was folgte. Jetzt kam bestimmt eine von Heikes großen Predigten. Danach stand ihr augenblicklich gar nicht der Sinn. Sobald Heike »Also weißt du, Norrita …« sagte, schaltete Nora auf Durchzug. Ihre tränenvollen Augen verbargen, dass sie eigentlich durch Heike hindurchschaute, ihre Stimme ausblendete und dass ihr Kopfkino etwas wesentlich Interessanteres auf die Wohnzimmertapete projizierte. Sie sah die Lippenbewegungen ihrer Freundin, hörte aber kein Wort von dem, was sie sagte. Auf der Wand lief ein interessanter Stummfilm ab:

Zunächst jagte sie mit ihrem guten alten Ford Fiesta in halsbrecherischem Tempo zur Stadt hinaus und eine pappelgesäumte Allee entlang. Sie suchte sich den schönsten Baum aus, um mit Vollgas dagegen zu brettern. Sie schlug heftig mit der Stirn gegen das Lenkrad und aus war es mit ihr. Abblende, Dunkelheit, fünf Sekunden dramaturgische Schwärze und Aufblende zur nächsten hausgemachten Hinrichtung: Nora als Tierpflegerin im städtischen Zoo, geht aus Liebeskummer als lebende Beute ins Löwengehege. Sehr romantisch, vor allem, wo sie doch als kleines Mädchen immer Tierpflegerin werden wollte. Die Löwen blickten sie zunächst misstrauisch an, aber die Fressgier siegte rasch über die Zweifel und so fielen sie über Nora her. Ein Hoch auf die Phantasie. Die Leinwand verdunkelte sich und Nora schaute ihre Freundin Heike an, die immer noch fleißig predigte. Wenn auch ohne Ton. Nora quetschte sich zwinkernd ein paar Tränchen aus den Augenwinkeln und nickte zustimmend, als würde sie ihr zuhören. Schon öffnete sich der Vorhang zur nächsten Vorstellung:

Krankenschwester Nora Heinrichs, verzweifelt und todtraurig aus Trennungsschmerz, vergiftet sich mit einem selbst gemixten Medikamentencocktail und jagt sich mit aufeinandergepressten Lippen und halb geschlossenen Augen eine Spritze in den Oberarm. (Nahaufnahme:) Nora drückt sich das Gift in die Ader. Sie beißt sich auf die Unterlippe und träumt mit schmerzhaft verzogenem Gesicht von einem umwerfenden, explosiv prickelnden Orgasmus. Sie taumelt durch den Raum und bricht sterbend zusammen, ehe sie die Türklinke fassen kann. Wie romantisch! Überhaupt schien die romantische Komponente eines Freitods aus Liebe mehr und mehr Oberhand in ihren Phantasien zu nehmen. Die Phantasien an sich drängten sich ihr geradezu auf. Sie verstärkten sich mit dem Versiegen ihrer Tränen. Und Heike erzählte noch immer.

Vor Noras geistigem Auge lief der vierte Akt des Dramas an: Sie rannte bis an die Zähne bewaffnet durch die Straßen der großen Kleinstadt, die sie ihre Heimat nannte, und knallte reihenweise gut aussehende Männer ab. Sie lief Amok, jawohl! All die Schweine, die sie erledigte, konnten ihr schon mal nicht mehr das Herz brechen. Sie entdeckte jemanden, der von hinten aussah wie ihr Frank, und feuerte ihm gleich sämtliche Kugeln, die ihr Revolver noch enthielt, in den Rücken. Sie zog eine Pumpgun unter ihrem Trenchcoat hervor und beschloss, wo sie schon einmal dabei war, auch ein paar potenzielle Rivalinnen auszuschalten. Schüsse krachten unaufhörlich durch die Fußgängerzone, Schaufensterscheiben zerbrachen klirrend, Leute jaulten auf und verstummten, wenn sie hart aufs Pflaster schlugen. Nora lautete der neue Name des Terrors. Sirenengeheul weckte ihr Interesse. Reifen quietschten, Autotüren wurden hektisch aufgerissen und Westernschurkin Nora zielte verächtlich grinsend auf die Schweißsheriffs. Sie wusste, was nun folgen würde, und die Lust am Ballern verließ sie. Damit sich ihre Phantasie aber erfüllte, zielte sie. Ein Schuss krachte, das Projektil zischte durch die Luft und traf Nora genau dorthin, wo sie es sich sehnlichst wünschte: mitten ins Herz. Sie fühlte den heißen Schmerz in ihrer Brust, wie es sie von den Füßen riss und sie mit verdrehten, weit aufgerissenen Augen zu Boden ging. Ein letzter Seufzer verließ ihre Kehle, dann starb sie. Ausblende und Rückkehr in die traurige Nacht. Heike beendete eben ihre Predigt mit den Worten: »Sag, hörst du mir eigentlich zu?«

Halb erreichten sie die Worte ihrer Freundin und Nora beantwortete diese Frage mit ehrlichem, aber betrübtem Kopfschütteln.

Weil sie Noras überschäumende Phantasie nur zu gut kannte, ließ Heike es mit einem verständnisvollen, gutmütigen Lächeln dabei bewenden. Die Situation verbot ihr, sich über Noras mangelnde Aufmerksamkeit zu ärgern. Nora rutschte noch ein Stückchen tiefer in die butterweichen Sofakissen und gähnte wie ein satt gefressener Löwe.

»Komm, Frau Heinrichs«, das sagte Heike nur im Ernstfall, »am besten gehst du jetzt ins Bett und versuchst ein bisschen zu schlafen.«

Nora schob sich zur Bestätigung, dass sie heute ausnahmsweise bereit war, derartige Bevormundung zu dulden, demonstrativ den rechten Daumen in den Mund. Heike half ihrem kleinen Nuckele hoch. Sie schob ihre erschöpfte Freundin vor sich her ins Schlafzimmer, schubste sie sanft aufs Bett und ging schnell ins Badezimmer, um ihr mindestens zwei Johanneskrautkapseln aus der Hausapotheke zu holen. Leichtfüßig machte sie auf dem Absatz kehrt und ging wieder ins Schlafzimmer.

Nora döste bereits vor sich hin, ihre Knie hingen noch aus dem Bett. Sie glaubte, Heike an ihrem Bett stehen zu sehen, obwohl sie schon die Augen geschlossen hielt. Dann hob jemand ihre Füße an und die leichte Sommerdecke schwebte zart auf ihren trägen Körper herab. Heike streichelte sacht Noras goldblondes Haar und löschte überall das Licht, ehe sie leise die Wohnung verließ.

Als der Schlaf sie überwältigte, verblasste das Bild der Freundin langsam. An ihrer Stelle sah sie nun im Traum Frank vor ihrem Bett stehen. Lächerlicherweise hielt er nun die nicht mehr ganz frische, arg zerrupfte Rose zwischen den Zähnen, sank auf die Knie und bat wie ihres Vaters Golden Retriever Charlie um Gnade für die zerfetzte Morgenzeitung. Nein, Frank erbat ihre Vergebung für sein unmögliches Verhalten am Samstagmorgen. Sie ließ ihn eine gute Minute im eigenen Saft schmoren, ehe er unter ihre Bettdecke schlüpfen durfte. Sie küssten sich. Erst zaghaft, dann immer heißblütiger und verlangender. Loderndes Feuer erfasste die beiden. Sein Frevel war vergeben und vergessen, weil er doch so schön »Männchen machen« konnte. Ihre Liebe schmolz sie wieder zusammen. So wie die Kerzenflamme früher oder später jede bunte Verzierung an sich reißt, verschmolzen Nora und Frank fester als je zuvor. Deshalb wollte sie ihn spüren, bei sich, in sich und um sich herum. Franks Hände streichelten jeden Zentimeter ihrer Haut, er liebkoste zärtlich ihre Brüste, während er sie leidenschaftlich küsste. Ihre Zungen tanzten miteinander und umeinander. Die beiden rollten und tollten quer durchs ganze Bett, sie über ihm, er über ihr, bis er schließlich missionierend zu ihr fand. So leicht gab Nora heute jedoch nicht nach und bäumte sich gegen ihn auf. Sie stieß ihn sanft, aber bestimmend zur Seite und schwang sich über ihn.

»Dann wollen wir den bösen Hengst mal zureiten!«, meinte sie, als sie sich auf ihm niederließ. Ihre Stimme war fein abgemischt zwischen gurren und knurren.

Sie ließ ihn in sich eindringen. Franks vor Lust aufloderndes Gesicht schaute sie widerspruchslos an. Sie spürte seine Begierde und sein Verlangen deutlicher denn je zuvor. Es schien ihr, als führte sein kopfloses Verhalten sie nun näher zusammen. Noras eigene Gluthitze vermischte sich mit seiner. Zu Anfang ihrer Beziehung brauchten sie eine Weile, bis aus purem Sex und dem Geschenk gegenseitiger Befriedigung die Intensität eines Liebesspiels wurde, wie sie nur eine dauerhafte Partnerschaft schenkt. Heute standen sie sich noch einmal so nahe. Sie schmiegten sich aneinander wie zwei Hälften, die eigentlich eins sein sollten. Lust wogte im Rhythmus ihrer Bewegungen. Rauschende Meereswellen schlugen über ihren Köpfen zusammen. Schaumkronen wippten dem Strand entgegen. Aus der Tiefe schauten sie ins unendliche Blau über sich. Eine riesige Woge sog sie mit sich ins flache Wasser. Sie bekamen wieder Boden unter die Füße und rollten und tollten übereinander her. Er über ihr, sie über ihm und wieder andersherum, und sie ließ es zu, dass er missionierend in das Geschehen eingriff. Er war bei ihr, mit seinen mächtigen verlangenden Liebesstößen, er tauchte voll Feuer in ihr auf und ab, er wand sich in ihre Lust, bis sie zu jenem tosenden Rhythmus zusammenfanden, in dem sie absolut eins wurden. Ekstase peitschte und pulste in Noras Adern. Sie verdichtete sich zu jener Welle, die hochfliegende Glückseligkeit verhieß, doch leider blieb ihr der Genuss versagt.

Nora erwachte. Benommenheit machte sich in ihr breit, gemeinsam mit dem Gefühl, um Gottes willen nicht richtig wach werden zu wollen. Zu spät. Tastend stellte sie fest, dass sie nur ihre Bettdecke umklammert hielt, und die quälende Einsamkeit ergriff schleichend wieder Besitz von ihr. Sie kniff die Augen einen Moment zusammen, bis farbige Muster in der Schwärze ihrer geschlossenen Lider zu tanzen begannen. Sie entspannte sich und wünschte sich sehnlichst zurück in den unterbrochenen Traum. Doch leider hatte die Erkenntnis die Müdigkeit schonungslos und restlos vertrieben. Ruhelos wälzte sie sich im Bett herum, zerwühlte Decken und Kissen, bis ihr alles scheußlich unbequem erschien. Jetzt konnte vom Weiterschlafen beim besten Willen keine Rede mehr sein. Noras Phantasie schaltete sich ein und durchdrang ihre Gedanken mit tödlichen Ideen. Sie hörte allerdings nicht wie sonst ihre eigene Stimme. Ausnahmsweise sprach ihr Innerstes in einem wohlklingenden männlichen Tenor. Sie flüsterte leise von Möglichkeiten, schnell wieder ins Reich der Träume zu finden. Die unbekannte, fremde, schmeichelnde Stimme drängte sie, ins Bad zu gehen und nach den Schlaftabletten zu schauen. Sie versprach süße und endlose, ewige Träume, ein Paradies, das sie nie wieder verlassen musste. Sie brauchte bloß alle Tabletten auf einmal zu nehmen. Ihre Schönheit würde so lange erhalten bleiben, bis jemand sie fand. Nora stand langsam auf. Sie bewegte sich, als hinge sie an Fäden wie eine Marionette. Das Licht im Flur blendete sie kurz, bis sie die Dunkelheit ihres Schlafzimmers weggeblinzelt hatte. Sie tappte barfuß ins Badezimmer, ging zielstrebig zum Medikamentenschrank und drehte den Schlüssel ganz langsam und vorsichtig, wie bei einer zeremoniellen Handlung und gerade so, als ob er gleich abbrechen könnte. Hinter den Aspirin und einem uralten Plastikschächtelchen blutstillender Watte gegen Nasenbluten fand sie die Schlaftabletten und schaute prüfend in die Pappverpackung. Nur noch eine da. Fürs Erste jedoch besser, als ohne dazustehen. Sie trug die Tablette wie eine Trophäe vor sich her ins Schlafzimmer und spülte sie dort mit einem Mund voll Mineralwasser hinunter. Wegen ihrer Angewohnheit, die Verschlüsse nicht richtig zuzudrehen, war es reichlich still. Nora plumpste wieder in ihr Bett und strampelte sich die zerwühlte Decke zurecht, bis diese sie endlich vollkommen einhüllte. Im aschgrauen Licht, das durch die Jalousien fiel, wartete sie darauf, dass der Schlaf sie überwältigte. Still lag sie da und bewegte sich keinen Zentimeter. Sie stellte sich vor, sie wäre in Beton gegossen, unfähig, sich zu rühren. Endlich drückte bleierne Schwere ihre Lider zu und erzwungene Entspannung machte sich breit. Nur die erhoffte Ruhe brachte die Schlaftablette nicht.

Nora fiel durch die Wolken. Sie jagte dem Erdboden entgegen im ungebremsten Sturz. Die Sonne strahlte mild dazu und das unendliche Himmelsblau verbreitete wohlige Stimmung. Nora fiel. Es dauerte so verdammt lange, dass ihr bald die Luft zum Schreien ausging. Die Lust am Schreien verging ihr einfach und ihre Panik hörte noch dazu schlagartig auf. Sie landete sanft und sicher auf dem Dach eines Hochhauses. Nora stand ganz nah am Rand, vor dem nächsten Abgrund. Sie stellte sich mit den Fußspitzen dicht an die Mauerkante und lugte hinunter. Dies war wahrscheinlich schwindelerregender als der freie Fall und doch wollte sie unbedingt den harten Aufprall auf den Beton der Straße spüren. Nora war sich sicher, sie brauchte den körperlichen Schmerz unbedingt zum Ausgleich für ihre Seelenqualen. Ihr Herz schrie nach diesem Kontrast zum leichten Schweben durch die Luft. Sie wollte sich selbst und ihre Liebe zu Frank ein für alle Mal auslöschen. Es fehlte nur ein Schritt dazu. Nora zögerte. Widerstreitende Gedanken gaben sich gegenseitig Argumente in die Hand. ›Alles aufgeben wegen diesem Kerl?‹ Um ihn zu treffen, ihn aufzurütteln. ›Das eigene Leben dafür wegwerfen? Ist’s das wirklich wert?‹ Aus Verzweiflung, Kummer und überwältigender Traurigkeit, durchaus, ja.

Nora brachte die debattierenden Stimmen zum Schweigen. Sie ließ sich langsam kerzengrade vornüberkippen. Hunderte Fenster rasten an ihr vorbei. Sie sah die Straße unter sich, dann wieder den Himmel, Leute, die ihr gebannt und erschreckt entgegenstarrten. Ihr Unterbewusstsein reagierte auf die Bedrohlichkeit der Situation und schickte schleunigst die wichtigsten Bilder ihres Lebens durch das Labyrinth ihrer Gedanken. Die Träume ihrer Kindheit, ihre erste Liebe Daniel, ihre Eltern, Kindergeburtstage, Partys mit Freundinnen und Freunden, Traumberufe, die Highlights ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau, ihre erste eigene Wohnung, Frank. Ende, aus, vorbei.

Nora krachte auf den Bürgersteig. Es wurde ihr unheimlich warm und plötzlich stand sie neben sich und blickte auf ihren sterbenden Körper. Sie bot einen traurigen Anblick. Blut tropfte aus ihrem Mundwinkel, ihr Gehirn verband sich langsam mit blondem Haar und grauem Asphalt. Trotzdem fühlte sie sich leicht und befreit, denn mit diesem armen Häuflein Mensch verband sie nichts mehr. Sie stieß sich mit den Füßen ab und schwebte zurück in die Wolken, aus denen sie zuvor abgestürzt war. Nora streckte die Arme seitlich nach hinten und jagte mit rasantem Tempo durch den Himmel. Der Tod machte sie unaufhaltbar, unbesiegbar, stark und frei. Sie erinnerte sich an einen ihrer Filme aus Kindertagen, Peter Pan, und schwamm wie er durch das weite Himmelsmeer. Ein wirklich köstliches Vergnügen. Sie flog einfach immer geradeaus, überquerte die Grenze zwischen Tag und Nacht und ging vollkommen auf in der Dunkelheit. Ein mächtiger Instinkt zog sie hinaus ins All. Nora änderte ihren Kurs in Richtung der funkelnden Sterne, die verheißungsvoll auf sie zu warten schienen. Die Kälte des Weltraums besänftigte ihre glühenden Gedanken. Alles Irdische verblasste zur Nebensächlichkeit. Was von Nora übrig war, ihre Seele und ihre Energie, strebte mit Lichtgeschwindigkeit von der Erde weg, neuen Zielen entgegen.

Nora rollte durch ihr Bett, von einer Hälfte auf die andere. Traumbilder verblassten und vergingen. Nebelschleier der Phantasie, die tanzend bewaldete Bergrücken erklimmen, federleicht durch die Lüfte schweben und niemals greifbar sind. Nora lag in ihrem Bett, aber der Raum um sie herum war nicht mehr ihr Schlafzimmer. Er veränderte sich. Langsam, aber sicher glich er immer mehr dem Turmzimmer einer uralten Märchenburg. Nora sah sich selbst schlafend in ihrem Bett liegen, das lange Goldhaar über dem Kissen ausgebreitet. Gegen die Nachtkühle des offenen Fensters kämpfte ein Kaminfeuer an, das sich gierig durch große trockene Holzscheite fraß. Hin und wieder knackte es gewaltig im Holz und rote Funken stoben in den Schornstein hinauf. Den ganzen Raum erfüllte das orangegelbe Glühen des Feuers mit magisch anmutendem Glanz. Die brennende Fichte in der Feuerstelle verströmte ihr ganz eigenes Aroma. Aber auch hier stellte das Versprechen nächtlicher Ruhe einen Trugschluss dar.

Noras dämmernde Phantasie kannte ausschließlich ein Ziel: Die Suche nach immer neuen Möglichkeiten, ihr Leben zu beenden, um jemandem furchtbaren Schmerz zu bereiten. Dazu kamen auch die phantastischsten Ideen gerade recht. Nora hieß sie träumend willkommen. Draußen vor dem Fenster, im nahen angrenzenden Wald, schrie ein Käuzchen seine beängstigenden Vorahnungen in die Nacht. Nora sah, dass sie davon erwachte. Kalter Wind blies durchs Fenster und ließ das Feuer bedrohlich flackern. Eben dieses Flackern malte dämonische Schatten an die rauen Wandsteine. Die grobe hölzerne Zimmertür seufzte in ihren Angeln. Von außerhalb kroch eisige Angst in Noras Knochen. Die schlimmste Kreatur der Nacht flatterte durchs Fenster herein und landete zielsicher auf Noras Kopfkissen. Sie kroch zu ihrem Hals und in diesem schreckensstarren Moment verließ Nora ihre Beobachterposition und kehrte in ihren Körper zurück. Schmerz durchzuckte sie, als zwei messerscharfe Zähne ihre Halsschlagader anritzten und ein Mund, der ganz und gar nicht zu einer Fledermaus passte, genüsslich zu saugen begann. Schlagartig war Nora hellwach. Sie wollte sich gegen den Angreifer wehren, aber er hielt ihre Hände mit eisernem Griff fest. Seine Gedanken drangen in ihre und stifteten irritierendes Chaos. Seine spitze, raffinierte Zunge tat ihr Möglichstes