Nordische Mythen - Carl Oberleitner - E-Book

Nordische Mythen E-Book

Carl Oberleitner

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Beschreibung

Nordische Mythen – Die schönsten Märchen und Sagen des nordischen Kulturkreises. | Mit aktualisierter Rechtschreibung und eBook-Inhaltsverzeichnis | Von Thors Riesenabenteuer, Lokis Betrafung, Hagbard und Signe – bis hin zu Per Gynt und dem Goldenen Schloss werden hier die Nordischen Mythen in leicht verständlichen Worten nacherzählt.

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Inhalt

Innentitel

Klappentext

NORDISCHE SAGEN

Thiassi und Skadi

Die Kleinode der Asen

Thors Riesenabenteuer

Balders Tod

Lokis Bestrafung

Helgi und Sigrun

Rolf Kraki und seine Mannen

Alf und Alfhild

Hagbard und Signe

Ottar und Sigrid

Amleth

Beowulf

Frithjof

Nornagest

MÄRCHEN AUS ISLAND

Der Küster von Mörkaa

Das Seemännchen

Der Mann von Grimsö und der Bär

Der Bräutigam und das Gespenst

Der Huldrekönig auf Selö

MÄRCHEN AUS NORWEGEN

Per Gynt

Peter und Paul und Esben Aschenbrödel

Die Mühle, die auf dem Meeresgrund mahlt

Von Aschenbrödel, welcher die silbernen Enten, die Bettdecke und die goldne Harfe des Trollen stahl

Von dem Burschen, der zum Nordwind ging und sein Mehl zurück verlangte

Der Bursche, der sich in einen Löwen, einen Falken und eine Ameise verwandelte

Aschenbrödel, der mit dem Troll um die Wette aß

Die drei Prinzessinnen aus Witenland

Aase, das kleine Gänsemädchen

Der weiße Bär König Valemon

Der Pfarrer und der Küster

Von den Burschen, die die Trolle im Hedalwalde trafen

Der Bursche, der beim König diente

MÄRCHEN AUS SCHWEDEN

Die drei Großmütterchen

Das Schloss, das auf Goldpfählen stand

Der Knabe, der das Kind des Riesen in den Brunnen fallen liess

Das schöne Hirtenmädchen

Das Goldpferd, die Mondlampe und die Jungfrau im Zauberkäfig

Silfwerhwit und Lillwacker

Die kleine Rosa und die lange Leda

MÄRCHEN AUS DÄNEMARK

Der Salbyer Rabe

In des Wolfes Bau und Adlers Klau’

Hans und Grete

Das Siebengestirn

Einer, der’s faustdick hinter dem Ohr hat

Der filzige Lars

Der Lohn guter Taten

Drei rote Ferkelchen

Der treue Svend

Impressum

Klappentext

Bei den nordischen Mythen ist die Unterscheidung zwischen Sagen und Märchen nicht ganz trennscharf. Man könnte diese Gruppen bilden: Sagen – Götter- und Heldenerzählungen. Märchen – Geschichten aus dem einfachen Volk. Gemeinsam haben sie, dass ihre Entstehung weit zurück liegt. Aus zunächst mündlicher Überlieferung stammend, wurden sie im Lauf der Jahrhunderte schriftlich festgehalten. Wie bei vielen frühen Mythen aller Gegenden gibt es auch hier zahlreiche Überschneidungen und Parallelen zu Erzählungen aus anderen Kulturkreisen, und auch mit religiösen Themen.

Die vorliegende Zusammenstellung liefert zahllose Quellen, die jeden, der dem alten nordischen Kulturkreis näher kommen möchte, faszinieren werden.

 

 

Odin auf seinem Götterthron

NORDISCHE SAGEN

Thiassi und Skadi

 

Einst wanderte Odin mit Hönir und Loki in die Berge gen Norden, dem Gebiet der Eisriesen zu. Sie litten großen Hunger in der öden Wildnis. Endlich, als sie in ein Tal hinabstiegen, erblickten sie eine Rinderherde; aus ihr griffen sie sich einen feisten Ochsen und töteten ihn. Unter einem hohen Eichbaum setzten sie sich nieder und legten das Fleisch zwischen heiße Steine, um es zu rösten. Als sie nach geraumer Frist den Deckstein aufhoben, fanden sie das Fleisch noch roh. Sie versuchten es ein zweites Mal, aber wieder wollte das Fleisch nicht gar werden. Verwundert fragten sie sich, woran das liege; da sprach eine Stimme aus der Eichenkrone: »Ich bin es, der das Fleisch nicht gar werden lässt! Versprecht mir Anteil an eurer Mahlzeit, dann will ich sie euch sogleich fertigmachen!« Sie schauten empor und sahen in den Ästen einen mächtigen Adler sitzen. »So komm und hilf uns!« riefen sie hinauf; er stiess herab auf den Stein, und im Nu war der Braten gebräunt.

Aber jetzt griff der Vogel, ohne die Teilung abzuwarten, sofort mit den Klauen nach den besten Stücken, er nahm ohne Umstände die beiden Hinterkeulen und die beiden Schultern für sich. Das ärgerte Loki, er packte eine große Stange und schlug nach dem Adler; der wich aus, dass ihn der Hieb nur leicht streifte, und flog auf: aber die Stange blieb an ihm haften, und im gleichen Augenblick fühlte Loki, dass auch er nicht mehr loslassen konnte. Festhängend wurde er von dem Adler, der dicht am Boden hinstrich, mitgeschleift über Stock und Stein; die Arme drohten ihm aus den Schultern zu reißen, die Beine auf dem Felsgrund zu zerschmettern.

Da begann er zu bitten, bis der Adler ein wenig innehielt und abermals zu sprechen begann: »Ich bin der Riese Thiassi, auf meinem Grund und Boden tötetet ihr meinen Ochsen, und du schlugst sogar noch nach mir, als ich mein Eigentum wiedernehmen wollte. Nun habe ich dich, und du wirst nicht frei werden, ehe du mir nicht schwörst, Idun mit ihren Äpfeln aus Asenheim wegzuführen und in meine Hand zu bringen!« Sehr ungern willigte Loki darein; aber die Zauberkraft des Adlers liess ihn nicht los, so dass er endlich den Eid leistete. Jetzt gab der Riese ihn frei, und er kehrte zu seinen Gefährten zurück; aber er verschwieg ihnen wohlweislich, was er hatte versprechen müssen.

 

 

Loki

Als sie wieder daheim waren, ging er an dem vereinbarten Tag zu Idun und erzählte ihr, er habe draußen im Walde hinter Asgards Grenze einen Apfelbaum gefunden mit noch schöneren Äpfeln, als sie selbst besitze. »Komm mit, wenn du es nicht glaubst, und nimm auch deine Äpfel mit, damit du sie vergleichen kannst!« Idun liess sich überreden. Aber als sie die Grenze Asgards überschritten hatten, brauste der Adler heran, ergriff die Göttin und fuhr mit ihr davon zu seinem Hof nach Riesenheim, wo er sie gefangen hielt.

Den Göttern ging es schlecht, als sie Idun verloren hatten, an deren Äpfeln sie sich immer neue Jugend gegessen hatten. Ihre Haut welkte, ihr Haar ergraute, sie alterten wie Menschen. Da gingen sie zu Rate, um nach dem Verbleib der Verschwundenen zu forschen, und stellten bald fest, dass am Tag, da sie verschwand, als letzter Loki bei ihr gewesen war. Sie ergriffen und verhörten ihn, und als er Ausflüchte machte, drohten sie ihm mit Marter und Tod. Da bekannte er, was geschehen war, und erbot sich, Idun wieder herbeizuschaffen, wenn Freia ihm ihr Falkengewand leihe. Als Falke flog er nach Riesenheim und kam zu Thiassis Gehöft, gerade als der Riese aufs Meer hinausgerudert war und Idun allein im Hause saß. Er verwandelte sie in eine Nuss, ergriff sie mit den Klauen und flog pfeilgeschwind nach Asenheim zurück.

Als Thiassi heimkehrend Idun nicht mehr fand, fuhr er in sein Adlergewand und brauste dem Diebe nach. Die Götter spähten nach Norden aus und sahen den Falken heran fliegen – und mit gewaltigem Flügelschlag hinter ihm den Adler. Rasch rannten sie vors Tor und häuften um den Wall Späne und Reisig auf. Sobald der Falke über den Wall hinweggeschossen war, warfen sie Feuer in die Späne, lichte Lohe schlug empor, hinein ins Gefieder des nachjagenden Adlers, der den Flug nicht mehr hemmen konnte. Brennend stürzte er zu Boden: da waren die Asen schnell über ihm und schlugen ihn tot. Mit großer Freude feierten sie Iduns Wiederkehr, die ihnen die ewige Jugend zurückbrachte.

Nicht lange darauf erschien in Asgard Skadi, Thiassis Tochter, eine schöne, gewaltige, wilde Jungfrau, angetan mit Brünne und Helm, die Lanze in der Faust, und verlangte Mordbuße für ihres Vaters Tod. Den Asen schien es billig, ihr einen Vergleich zu bieten, und sie bewilligten ihr zur Sühne dreierlei. Für den Verlust des Vaters boten sie ihr einen Gatten; sie sollte ihn selbst wählen dürfen unter den Asen, aber bei der Wahl nur die Füße sehen. Damit war sie einverstanden. Ihr Blick war, als sie eintrat, auf Balder gefallen, der ihr der Schönste von allen schien, und sie vermeinte, sie werde ihn an den Füßen erkennen. Aber sie irrte sich: als die Götter hinter einem Vorhang, der nur die Füße frei liess, an ihr vorbei schritten, erwies sich der, den sie wegen seiner schönen Füße erwählte, als Njörd; und ihm ward sie vermählt.

Zum zweiten sollte der Trauernden das Lachen wiedergeschenkt werden, das sie durch den Tod des Vaters verloren hatte; und das übernahm Loki. Er band das Ende eines Seils einer Ziege an den Bart und das andere Ende um seinen Leib, meckernd und zerrend tanzten sie in krummen Sprüngen umeinander wie ein verliebtes Paar, bis Loki erschöpft in Skadis Schoss fiel: da musste sie laut auflachen. Und zum dritten verlangte sie, dass dem schmählich erschlagenen Thiassi Genugtuung werde durch ewigen Ruhm. Da nahm Odin Thiassis Augen und warf sie an den Himmel, wo sie als zwei herrlich leuchtende Sterne stehenblieben.

So war der Streit geschlichtet, und die Asen hatten zu der zurückgewonnenen Idun noch als neue Genossin die schöne Riesentochter erhalten. Aber es erwies sich, dass Njörd und Skadi nicht füreinander geschaffen waren. Njörd liebte das Meer, dicht am Strande stand sein Saal; Skadi aber war gewöhnt, in den hohen Bergen zu hausen und auf flüchtigen Schneeschuhen hinter dem Wild zu jagen – sie verlangte zurück nach ihres Vaters Gehöft im Eisriesenreich.

Die Gatten einigten sich: immer nach neun Tagen wollten sie das Heim wechseln. Aber sie vermochten sich beide nicht zu gewöhnen. Fremd blieben Njörd die Berge; er sehnte sich, den Gesang der Schwäne zu hören statt des Geheuls der Wölfe. Und Skadi fuhr alle Nächte aus dem Schlaf vor dem Donner der Brandung und dem Schrei der Möwen. Da trennten sie sich endlich, und Skadi wanderte wieder hinauf in das wilde, eisige Gebirge.

Dort traf sie später Uller, den jagdfreudigen Asen, der nicht gern in Asgard weilte, sondern es wie sie liebte, auf gleitenden Schuhen über die weiten Schneeflächen zu fliegen. Sie wurden ein Paar, das in wilder Freiheit hoch oben in den Bergen hauste, und nur selten kehrten sie einmal bei den Göttern ein.

 

 

Die Kleinode der Asen

Einen bösen Streich beging Loki gegen Sif, die Gattin Thors. Sie hatte das schönste blonde Haar, üppig wie ein goldenes Feld; es war ihr Stolz und die Freude des starken Gottes. Als sie einmal allein und unbewacht schlief, schlich sich Loki zu ihr und schnitt ihr das ganze Haar dicht über der Wurzel ab. Aber Thor entdeckte, wer den Frevel begangen hatte; er packte Loki bei der Gurgel und schüttelte ihn, dass ihm die Knochen zu zerbrechen drohten. Da bekam der Tückische Angst und flehte um Gnade: »Ich will – das schwör ich dir mit den stärksten Eiden! – zur Sühne von den Zwergen ein neues Haupthaar für Sif machen lassen, das ganz aus Gold ist und wächst wie anderes Haar!«

Darauf liess ihn Thor aus den Fäusten, und Loki ging zu drei Zwergen, die er als kunstreiche Schmiede kannte. Sie fertigten ihm nicht nur das Haar, wie er es verlangte, sondern außerdem noch ein wunderbares Schiff, groß genug, alle Asen zu fassen, und doch zusammenfaltbar, dass man es in die Tasche stecken konnte; und zum dritten den bezauberten Speer Gungnir, dessen Stoss keiner aufzuhalten vermochte. Als Loki mit diesen köstlichen Kleinoden auf dem Heimweg war, begegnete er dem Zwerge Brock und rühmte ihm die kunstvollen Werke über die Maßen. Aber Brock sagte: »Mein Bruder Sindri ist ein Schmied, der Kleinode von gleichem und noch höherem Wert herzustellen versteht!« Das wollte Loki nicht glauben; und so schloss er mit Brock eine Wette darüber, Kopf gegen Kopf.

Sie gingen miteinander zur Schmiede Sindris und erzählten ihm, was sie ausgemacht hatten. »Wir wollen’s erprobenl« sprach Sindri, legte eine Schweinshaut ins Schmiedefeuer und setzte den Bruder an den Blasebalg mit der Ermahnung: »Hör nicht auf mit Blasen, bis die Arbeit fertig ist!« Loki stellte sich heimlich hinter die Tür und schaute zu. Als er sah, wie eifrig Sindri schmiedete und Brock blies, bangte er um seinen Kopf; er verwandelte sich in eine Fliege, die sich auf Brocks Hand setzte und ihn stach. Doch der Zwerg achtete nicht darauf und blies weiter, bis Sindri das fertige Werk aus dem Feuer zog: da war es ein Eber mit goldenen Borsten.

Dann legte der Meister ein Stück Gold ins Feuer und hiess abermals den Bruder blasen, ohne auszusetzen. Die Fliege kam wieder, setzte sich auf Brocks Hals und stach ihn doppelt so lange als vorher; er zuckte ein wenig mit der Haut, aber fuhr unbeirrt mit Blasen fort. Als der Schmied das Werk aus der Glut nahm, war es der Ring Draupnir.

Endlich legte er Eisen ins Feuer und schärfte dem Bruder wiederum ein: »Jetzt höre keinen Augenblick auf, sonst wird das Werk unbrauchbar!« Brock blies mit Macht; da setzte sich die Fliege zwischen seine Brauen und stach ihn so heftig, dass ihm das Blut in die Augen rann und er nichts mehr sah. Blitzschnell fuhr der Zwerg mit der Hand ins Gesicht, die Fliege wegzujagen, und einen Augenblick lang sank der Balg zusammen. Sindri schalt, nun sei das Werk verdorben. Aber als er es aus dem Feuer nahm, war es ein blitzender Hammer, ganz untadelig bis auf den Stiel, der ein wenig zu kurz geraten schien.

Sindri gab die drei Kleinode seinem Bruder und sprach: »Nun geh mit Loki nach Asgard, damit dort über die Wette entschieden werde!« Die Asen kamen zusammen und bestimmten, dass Odin, Thor und Frey Richter sein sollten. Als erster bot Loki seine Schätze. Er gab Odin den Speer Gungnir, dessen Stoss keiner aufhalten konnte; er gab Thor das Goldhaar für Sif, und als sie es aufs Haupt setzte, war es sofort angewachsen und umwallte sie als goldene Flut; er gab Frey das Schiff und erklärte ihm seine Tugenden: wie man es zusammen- und auseinander falten könne, und dass es, wohin es auch fahre, stets günstigen Wind in den Segeln habe.

Dann aber kam Brock und gab Odin den Ring Draupnir: jede neunte Nacht würden von ihm acht neue Goldringe tropfen, gleich schwer wie er selbst. Er gab Frey den goldborstigen Eber: der könne über Luft und Meer rennen, schneller als jedes Ross, bei Tag und auch bei Nacht, denn dann würden seine Borsten den Weg hell erleuchten. Und zuletzt gab er Thor den Hammer, Mjölnir geheißen: »Nichts kann seinem Schlage widerstehen, niemals verfehlt er im Wurf sein Ziel, und immer wieder kehrt er in die Hand zurück!« Thor ergriff den Hammer, und der lag trotz des kurzen Stiels fest in seiner Faust.

Thor mit seinem gewaltigen Hammer

Da sprachen die Schiedsrichter das Urteil: der Hammer sei von allen Kleinoden das köstlichste, die stärkste Waffe gegen die Urfeinde, die Riesen. Damit hatte der Zwerg die Wette gewonnen, und jetzt forderte er den Kopf des Gegners. Vergebens bot ihm Loki Lösegeld, der Zwerg bestand auf seinem Recht. Endlich sagte Loki: »Nun, so fass mich!« – und im Augenblick war er weit fort von der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte; denn er trug ein Paar Schuhe, mit denen er windschnell davoneilen konnte. Nun bat der Zwerg Thor, Loki zu ergreifen, und Thor musste ihm um des Hammers willen wohl willfahren. Der Zwerg warf sich sofort auf den Gefangenen, um ihm den Kopf abzuschneiden; aber der Listige sagte: »Das darfst du nicht: dir gehört wohl mein Kopf, aber nicht mein Hals!« Darauf nahm der Zwerg einen Faden und ein Messer; er wollte Loki die Lippen durchstechen und den Faden durchziehen, um ihm den Lügen- und Lästermund zuzuschnüren, dass er nicht mehr essen und atmen könne. Doch das Messer schnitt nicht; da sagte der Zwerg: »Dass ich meines Bruders Ahle hier hätte!« – griff in die Luft, und schon hielt er sie in der Hand. Damit nähte er Loki die Lippen zusammen und glaubte seinem Willen genug getan zu haben. Aber Loki riss den Faden heraus, und ob ihm auch das Blut von den zerfetzten Lippen rann, so gewann er doch Leben und Freiheit wieder.

Die drei Asen, die Schiedsrichter gewesen waren, freuten sich der gewonnenen Kleinode. Die Tücke Lokis war diesmal den Göttern zum Segen ausgeschlagen. Und Thor war fortan, kraft seines Hammers, der Riesen gefürchtetster Feind.

Das Symbol von Thors Hammer

 

Thors Riesenabenteuer

Thors Kampf mit Rungnir

Als Thor einmal fern auf Ostfahrt weilte, ritt Odin auf seinem Hengst Sleipnir nach Riesenheim. Der Riese Rungnir sah ihn kommen und rief ihn an: »Wer bist du, Mann mit dem Goldhelm, der durch Wind und Wellen reitet? Und was hast du für einen schönen Hengst?« »Ja, gut ist mein Hengst«, antwortete Odin, »fast möchte ich meinen Kopf wetten, du hast keinen besseren!« »Oho«, antwortete Rungnir, »ist deiner gut, so ist mein Gulfax noch besser – du sollst sehen, dass er größere Sprünge macht!« Odin schüttelte lachend den Kopf und sprengte davon, da warf sich Rungnir zornig auf Gulfax und jagte ihm nach. Sie sprangen von Berg zu Berg, aber Odin blieb dem Riesen immer um einen Gipfel voraus. Blindwütend stürmte ihm Rungnir nach; er kam erst zur Besinnung, als er sich plötzlich innerhalb des Gatters von Asenheim sah.

Aber die Asen empfingen ihn freundlich, sie führten ihn in den Saal wie einen willkommenen Gast und luden ihn zum Trinken ein. Sie boten ihm die Krüge, aus denen sonst Thor trank – dem genügte einer auf einmal nicht! –, und der Riese leerte sie hintereinander. Da wurde er bald betrunken und begann große Sprüche zu machen. »Wartet nur, ich packe mir ganz Walhall auf den Rücken und schleppe es nach Riesenheim! Asgard schmeiß ich ins Meer! Freia und Sif nehme ich beide mit – und euer ganzes Bier sauf ich allein aus!« Dabei trank er mächtig, die Göttinnen wichen scheu vor ihm zurück, und nur Freia traute sich noch, ihm einzuschenken.

Endlich wurden den Asen seine groben Prahlereien zuviel. Sie riefen Thors Namen, und sofort trat der Donnerer in den Saal, den Hammer hoch in der Faust. Zornig fragte er: »Wer hat den wüsten Kerl eingelassen, dass er sich hier volltrinken kann? Wer hat ihm Frieden in Walhall versprochen, dass ihm Freia einschenkt wie einem Festgenossen?« Aber Rungnir liess sich nicht einschüchtern, er sah Thor rauflustig an und sagte: »Odin hat mich eingeladen, ich habe hier Gastrecht.« »Die Einladung wird dir leid werden«, entgegnete Thor, »noch ehe du wieder draußen bist!« Trotzig sprach Rungnir dagegen: »Das wäre ein mäßiger Ruhm für einen großmächtigen Asen, einen Waffenlosen umzubringen! Wenn du Herz hast, dann miss dich mit mir auf der Grenze unserer Reiche! Hätte ich nicht dummerweise meinen Schild und meinen Schleifstein daheim gelassen, dann könntest du es sogleich Mann gegen Mann mit mir versuchen! So aber handeltest du wie ein feiger Schuft, wenn du mich erschlügst!«

Odin auf seinem Rosse Sleipnir

Die Herausforderung kam dem Donnergott recht; noch hatte es bisher kein Riese gewagt, sich ihm zum Zweikampf zu stellen. Sie bestimmten Ort und Stunde, und Rungnir ritt im Galopp zurück nach Riesenheim. Dort empfingen ihn seine Genossen mit großem Hallo, sie machten viel Rühmens von seiner Fahrt und von seinem Mut, dass er Thor zum Kampf gefordert hatte. Aber sie hatten doch auch ein wenig Angst um den Ausgang; denn Rungnir war ihr stärkster Mann, und wenn er unterlag, so stand ihnen allen nicht viel Gutes bevor. Darum wollten sie ihm einen Gefährten zum Streit geben und bauten einen Riesen aus Lehm, neun Meilen hoch und drei Meilen breit über der Brust; aber als der Lehmriese fertig dastand, fanden sie kein Herz, das groß genug für ihn gewesen wäre, bis sie es aus einer Stute schnitten und ihm einsetzten. Doch das war ein furchtsames Herz, nicht geeignet, vor Thor standzuhalten. Rungnirs Herz dagegen war von hartem Stein, an allen drei Ecken scharf zugespitzt. Auch sein Haupt war von Stein, und von Stein sein riesiger Schild, den er vor sich hielt; einen gewaltigen Wetzstein trug er als Waffe über der Achsel. Grimmig und entschlossen wartete er auf Thor; aber der Lehmriese neben ihm wackelte vor Angst und benässte sich, als er den starken Asen von weitem sah.

Dem Gott voran rannte sein hurtiger Diener Thialfi; er eilte hin zu Rungnir und rief ihm zu: »Achtung, Riese! Du kennst Thors Kampfesweise nicht, darum hältst du den Schild gerade vor dich hin. Aber Thor wird von unten her aus der Erde auf dich losfahren – schnell, wirf den Schild unter deine Füße!« Rasch warfRungnir den Schild auf den Boden und stellte sich darauf, den Wetzstein schwang er hoch in den Händen. Da kam Thor gestürmt in Asenzorn, von Donner umgrollt, von Blitzen umzuckt; schon in weiter Entfernung redete er den Arm hoch und schleuderte den Mjölnir gegen den Riesen, der aber warf in gleichem Schwunge seinen Wetzstein gegen den Gott. Beide Waffen trafen sich im Fluge, der Wetzstein zersprang in tausend Stücke, eins davon fuhr in Thors Haupt, so dass er vornüber zur Erde fiel; der Hammer aber traf mitten in Rungnirs Schädel und zertrümmerte ihn. Wie ein Felsblock stürzte der Riese nieder, über Thor hinweg, so dass einer seiner Füße über des Asen Hals zu liegen kam.

Ohne große Mühe hatte indessen Thialfi dem Lehmriesen den Garaus gemacht; doch vergebens versuchte er, den zentnerschweren Fuß Rungnirs von Thors Halse wegzuheben. Jetzt liefen die Asen herbei, die dem Kampf aus der Ferne zugesehen hatten; aber auch ihnen gelang es nicht, Thor zu befreien. Da kam Magni, Thors Sohn von einem Riesenweib, vor drei Tagen erst geboren, aber schon fest auf den Beinen und von gewaltiger Kraft; er hob den Fuß auf und schleuderte ihn beiseite. Thor stand auf, streichelte den Sohn übers Haupt und schenkte ihm als Lohn Gulfax, den Hengst des Riesen. Damit waren alle zufrieden außer Odin; der meinte, Thor hätte den Hengst lieber seinem Vater schenken sollen als dem Sohn einer Riesin. Aber Thor kehrte sich nicht daran.

Von dem zersprungenen Wetzstein Rungnirs stammen alle Wetzsteine in der Welt. Das Stück, das Thor ins Haupt fuhr, blieb darin stecken, und keine Beschwörung vermochte es herauszuziehn. Wenn aber jemand einen Wetzstein unachtsam auf die Tenne wirft, rührt sich der Stein in Thors Schädel und macht ihm großen Schmerz: darum gehe jeder sorgsam mit seinem Wetzstein um!

 

Die Heimholung des Hammers

Beim Erwachen griff Thor nach seinem Hammer und fand ihn nicht. Erschrocken tastete er um sich, zornig schüttelte er den Kopf, dass Bart und Haare wie rotes Feuer um ihn stoben, überall suchte er, aber umsonst. Da ging er, Rat zu suchen bei dem listigen Loki: »Höre, was noch niemand auf Erden und im Himmel ahnt: Mein Hammer ist geraubt!« Sie schritten beide zum Palast der Freia, und Loki fragte sie: »Willst du mir dein Federhemd leihen, dass ich Mjölnir suchen kann?« Freia antwortete: »Und wäre es von Silber oder von Gold, du solltest es haben!«

Loki fuhr ins Federhemd und flog mit rauschendem Gefieder davon, über die Grenze des Götterreichs hinweg ins Riesenland. Auf einem Hügel fand er den Riesenfürsten Thrym sitzen, wie er seinen Hunden goldene Halsbänder umlegte und seinen Pferden die Mähnen strählte. Gut gelaunt begrüßte ihn Thrym und fragte: »Wie geht’s den Asen? Und warum kommst du allein ins Riesenreich?« »Schlecht steht’s bei den Asen«, antwortete Loki und fragte geradezu: »Bist du’s, der Thors Hammer verborgen hält?« »Ich halte ihn verborgen«, erwiderte der Riese; »er liegt acht Meilen tief unter der Erde. Und keiner soll ihn zurückholen, er brächte mir denn Freia als Braut ins Haus.«

In Eile flog Loki zurück, Thor stand vor der Schwelle und rief ihm schon von weitem entgegen: »Hat deine Fahrt die Mühe gelohnt? Gib Bericht, noch ehe du dich niederlässt, ohne Zaudern, der Wahrheit gemäß!« Noch aus der Luft antwortete Loki: »Thrym, der Riesenkönig, hat den Hammer – niemand holt ihn zurück, er bringe ihm denn Freia als Braut ins Haus.«

Zusammen schritten die beiden zu der schönen Göttin, und Loki sprach zu ihr ohne Umschweif: »Schmücke dich mit dem Brautlinnen, Freia! Du musst mit mir zu Thrym nach Riesenheim!« Da ergrimmte Freia, sie fauchte vor Zorn und riss sich das köstliche Geschmeide von der Brust: »Hältst du mich für mannstoll, Loki, dass du meinst, ich möchte eines Riesen Braut werden?« Sie riefen die Götter zum Thing. Alle Asen und Asinnen eilten herbei, sie sannen und stritten hin und her, aber keiner fand einen Rat. Endlich nahm Heimdall das Wort, der kluge, scharfsichtige, und riet: »Kleiden wir Thor in das Brautlinnen, legen wir ihm das Geschmeide Freias um den Hals! Schlüssel sollen an seinem Gürtel klingen, das Frauengewand falle ihm übers Knie, auf dem Kopf trage er die hohe Brauthaube mit dem Schleier!« Aber Thor rief unmutig dagegen: »Wollt ihr euch lustig machen über mich, dass ich mich als Weib verkleiden soll?« »Nein«, entgegnete ihm Loki, »so sollst du nicht reden, Thor! Willst du denn, dass die Riesen in Walhall einziehen? Du musst den Hammer heimholen!«

Da willigte Thor ein. Sie kleideten ihn ins Brautlinnen und legten ihm das Brustgeschmeide um, die Schlüssel klirrten ihm am Gürtel, das Gewand fiel ihm übers Knie, und auf seinem Kopf türmte sich, das Gesicht verhüllend, die Haube mit dem Schleier. Loki aber erbot sich, als Zofe verkleidet, die falsche Braut zu begleiten. Sogleich wurden die Böcke von der Weide geholt und an den Wagen geschirrt, das Gefährt brauste hin, dass Felsen barsten und Funken stoben: so fuhr Thor nach Riesenheim.

Thrym, der Riesenkönig, rief sein Gesinde: »Nun schnell, bestreut die Bänke mit grünen Zweigen und goldenen Ringen! Führt mir Freia, die Tochter Njörds, als Braut herein! Ich habe Kühe mit goldenen Hörnern und rabenschwarze Ochsen, habe in Fülle Schmuck und Schätze – nur Freia fehlte mir noch!«

Schnell strömten die Gäste zur Hochzeit herbei. In großen Kesseln wurde Bier und Met gebracht, die Tische bogen sich von der Last der Speisen. Thor langte mächtig zu, er aß einen Ochsen und acht Lachse, verschlang alle Süßigkeiten, die für die Frauen bestimmt waren, und trank drei Tonnen Met. Staunend brummte Thrym: »Hat man je eine Braut so schlingen sehen, sah man je ein Mädchen so gierig trinken?« Aber sofort war der schlaue Loki zur Hand, der als zierliche Zofe neben der Braut saß: »Acht Tage lang hat Freia nichts gegessen, so sehnte sie sich nach Riesenheim!«

Das gefiel dem Riesen, und er lüftete ein wenig den Schleier, um der Braut einen Kuss zu rauben: aber sofort prallte er zurück, er tat vor Schreck einen Sprung rückwärts durch den ganzen Saal: »Wie furchtbar flammen Freias Augen, als wollten sie mich verbrennen!« Aber wieder griff die schlaue Magd ein: »Acht Nächte lang hat Freia nicht geschlafen vor lauter Sehnsucht nach Riesenheim!«

So blieb der Betrug unentdeckt, und es begannen die Bräuche der Hochzeit. Zuerst trat die Schwester des Riesen vor die Braut, um ihr die Herrschaft im Hause zu übergeben, und erbat goldene Ringe als Gegengabe und Unterpfand. Aber schon rief Thrym, ungeduldig, die Braut zu besitzen: »Bringt endlich den Hammer, die Braut zu weihen! Legt ihr den Mjölnir in den Schoss! Und dann gebt uns zusammen!«

Thor lachte das Herz im Leibe, als er den Hammer auf seinen Knien sah. Er packte ihn und fuhr empor, dass ihm der Kopfputz vom Haupte fiel; seine Augen sprühten, und der rote Bart umloderte sein Gesicht. Mit dem ersten Schlage traf er Thrym, er zahlte der Schwester den Brautpfennig mit Hammerhieben, das ganze Geschlecht des Riesen im Saal erschlug er, dass nicht einer entrann. So holte Thor seinen Hammer heim.

 

Thors Besuch bei Geirröd

Seit Thor sich siegreich den Hammer von Thrym zurückgeholt hatte, verlangte kein Riese mehr danach, sich mit ihm zu messen; allzusehr gefürchtet war die unwiderstehliche Waffe des starken Asen. Wohl aber meinte mancher ihm gewachsen zu sein, wenn es gelänge, ihn ohne den Mjölnir ins Riesenreich zu locken. Einmal sollte das geschehen.

Loki hatte, wie er gern tat, wieder Freias Falkengewand entliehen und war, vergnüglich schweifend, bis zum Hof des Riesen Geirröd geflogen. Dort setzte er sich aufs Dach der Halle und guckte neugierig durch das Lichtloch in den Saal. Aber der Riese erspähte den Vogel von seinem Sitze aus gleichfalls und befahl einem Diener, ihn zu greifen. Der Mann kletterte auf das steile Dach, er kam sehr mühsam hoch, und Loki hatte seine Freude daran, dass es so schwer und langsam ging; er wollte den Verfolger foppen und blieb ruhig sitzen, um erst im letzten Augenblick ihm vor der Nase wegzufliegen. Aber als es soweit war und er sich flügelschlagend abstossen wollte, merkte er zu seinem Schreck, dass er selbst der Betrogene war: seine Füße hafteten fest an dem Dach, als sei er angeleimt. Da packte ihn der Mann beim Kragen und brachte ihn seinem Herrn.

Als Geirröd dem Falken in die Augen blickte, merkte er sofort, dass das kein richtiger Vogel war, und befragte ihn, wer er sei; aber der Falke machte den Schnabel nicht auf. Da sperrte ihn Geirröd in einen dunklen Käfig und liess ihn drei Monate lang hungern, bis er mürbe wurde und dem Riesen seinen Namen gestand. Geirröd drohte, ihm den Hals umzudrehen, wenn er nicht auf der Stelle schwöre, ihm den Donnerer in die Hände zu spielen. Darauf leistete Loki schwere Eide: er werde Thor in das Gehöft des Riesen bringen, und zwar ohne seine Waffen.

Als er glücklich zurück nach Asenheim gekommen war, beschwatzte er Thor, friedlich mit ihm auf Gasterei zu fahren zu einem gutmütigen Freunde der Götter. Arglos machte sich der Gott ohne Hammer, Kraftgürtel und Eisenhandschuhe mit ihm auf den Weg nach dem Gehöft, wo ihn festliche Schmäuse und gewaltige Trünke erwarten sollten. Zu seinem Heil kamen sie unterwegs auf den Hof der Riesin Grid, die den Göttern zugetan war; denn sie hatte Odin selbst einen Sohn, den schweigsamen Widar, geboren. Von ihr erfuhr Thor, dass Geirröd ein wüster Riese sei, dem man nicht trauen dürfe. Trotz der Warnung wollte Thor nicht umkehren; aber Grid liess ihn wenigstens nicht ungerüstet ziehen, sondern gab ihm ihren eigenen Kraftgürtel und ihre Eisenhandschuhe sowie einen schweren eisernen Stab mit. Loki aber musste ihn weiter begleiten, obgleich ihm nicht wohl dabei war.

Vor der Gemarkung Geirröds strömte der Fluss Wimur mit gewaltigen Wogen. Thor band den Kraftgürtel der Riesin um und stemmte sich mit dem Eisenstab gegen die Strömung; Loki aber musste sich am Gürtel festhalten, denn er wäre sonst fortgeschwemmt worden. In der Mitte des Stroms stieg das Wasser so hoch, dass es Thor über die Schultern flutete. »Wachse nicht weiter, Wimur«, besprach ihn der Gott, »ich muss dich durchwaten zu der Riesen Reich! Wächst du aber dennoch, so wachse mir selber die Asenkraft hoch bis zum Himmell« Doch der Strom schwoll weiter, und jetzt sah Thor auch die Ursache: ein Stück weiter aufwärts stand, die Beine gespreizt, die Riesentochter Gjalp auf beiden Ufern und vermehrte sein Wasser. Da nahm er einen Stein und warf nach ihr, dass sie davon sprang; im selben Augenblick aber erfasste er einen überhängenden Ebereschenzweig und zog sich ans Land.

Triefend kamen die beiden Weggenossen auf den Hof. Man führte sie nicht in den Saal, sondern in den Ziegenstall. Dort stand ein Stuhl, und Thor setzte sich darauf. Sofort stieg der Stuhl empor gegen die Decke, um den Gott zu zerquetschen; er aber stützte den Eisenstab mit aller Kraft gegen den Dachbalken und drückte den Stuhl abwärts. Da hörte er es unter dem Sitz krachen und schreien; dort hatten voll Tücke die beiden Riesentöchter Gjalp und Greip gehockt, mit ihren Nacken hatten sie ihn hochgestemmt – nun lagen sie da mit zerbrochenem Rückgrat.

Geirröd liess die Gäste rufen: zu einem Spiel sollten sie kommen vor der Mahlzeit. Sie traten in den Saal, durch seine ganze Länge hindurch brannten Feuer; über sie hinweg sah Thor an der hinteren Wand den Riesen stehen: der fasste mit einer Zange in die Flamme, zog einen glühenden Eisenbolzen heraus und schleuderte ihn gegen Thor. Der Gott fing den Klump mit seinen Eisenhandschuhen in der Luft auf und schwang ihn hoch, um ihn zurückzuwerfen. Da sprang Geirröd, um sich zu schirmen, hinter einen Eisenpfosten, der das Dach stützte. Aber Thor zielte und warf der Bolzen durchschlug den Pfosten, durchbohrte Geirröd und fuhr durch die Wand tief in den Erdboden. So fiel Geirröd, getötet von der eigenen Waffe in der Faust des hammerlosen Thor. Und der Donnerer ward in Riesenheim gefürchteter denn je.

 

Utgard-Lokis Blendwerke

Immer, wenn Thor mit Riesen zusammenstiess, mussten sie es mit dem Leben bezahlen. Nur einmal geschah es, dass der Gott den kürzeren zog, wenn auch nicht durch die Stärke des Gegners, sondern durch seine List.

Nach Osten war Thor übers Meer gefahren, dann wanderte er zu Fuß hinein nach Riesenheim, begleitet von Loki und Thialfi, seinem schnellen Diener, der den Sack mit Mundvorrat trug. Denn Nahrung war hier nicht zu finden, finstrer Wald dehnte sich endlos, und sie wanderten vom Morgen bis zum Abend, ohne ein Dach oder einen Menschen zu treffen. Aber als die Nacht schon hereingebrochen war und es sie sehr nach einer Herberge verlangte, stiessen sie auf ein großes Haus; die Tür stand offen, so breit wie der ganze Saal, in den sie hineinführte. Drinnen legten sie sich zur Ruhe nieder. Um Mitternacht begann der Boden zu erbeben, dass das Haus schwankte wie ein Schiff, und sie glaubten auch den Sturm schnauben zu hören. Da standen sie auf und tasteten sich im Dunkel weiter, bis sie den Eingang zu einer kleinen Nebenhöhle fanden. Dort setzte sich Thor, den Hammer in der Faust, auf die Schwelle, und die beiden andern verkrochen sich, da das Schnauben fortdauerte, in der äußersten Ecke.

Endlich brach der Morgen an, und Thor ging hinaus. Draußen im Walde sah er einen riesigen Kerl liegen, der schnarchte ungeheuer. Dem Donnerer stieg der Zorn auf er wusste jetzt, was das in der Nacht für ein Schnauben gewesen war. Sofort legte er den Kraftgürtel um und packte mit gewaltiger Faust den Hammer, aber da erwachte der Mann und erhob sich schnell in seiner ganzen Länge: zum ersten Male fehlte dem Gott der Mut, zuzuschlagen, und er fragte den Riesen nach seinem Namen. »Ich heiße Skrymir«, antwortete der, »und du bist doch wohl Asa-Thor? Hast du mir etwa meinen Handschuh fortgeschleppt?« Er bückte sich und hob den Handschuh auf, da fielen Loki und Thialfi heraus: das Haus, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, war der Handschuh gewesen und die Nebenhöhle der Däumling. Als er dies sah, sagte Thor nicht nein, da der Riese ihm anbot, friedlich zusammen weiterzuwandern. Sie setzten sich zum Frühstück und aßen, der Riese aus seinem Sack und die Asen aus dem ihren. »Sind wir Genossen, so wollen wir künftig auch zusammen aus einem Sack essen«, meinte der Riese, und als Thor zustimmte, nahm er alles, was an Speise da war, steckte es in seinen Ranzen, den er zuschnürte und auf den Rücken warf, und schritt voraus.

Sie mussten sich große Mühe geben, seinen langen Schritten zu folgen; den ganzen Tag führte er sie weiter durch den Wald, und sie waren recht froh, als er am Abend unter einer großen Eiche halt machte und sagte: »Hier wollen wir übernachten!« Er selbst wollte sich gleich hinlegen und schlafen, die andern könnten sich das Nachtessen zurechtmachen, sie hätten ja den Sack. Kaum hatte er sich hingelegt, so war er auch schon eingeschlummert. Unterdessen wollten die Asen die Riemen des Sacks lösen; aber so sehr sie sich mühten, sie bekamen keinen einzigen Knoten auf. Das verdross Thor gewaltig, er ergriff zornig den Hammer mit beiden Händen, und indem er vorsichtig hinüber trat, schlug er Skrymir auf den Kopf. Davon erwachte der Riese und brummte schläfrig: »Mir ist wohl ein Blatt vom Baum auf den Kopf gefallen? Hat euch das Abendessen gut geschmeckt? Dann geht nur auch schlafen!« Thor antwortete, das wollten sie tun, und die drei legten sich mit leerem Magen ein Stückchen weiter hin unter eine andere Eiche. Aber es war ihnen nicht wohl zumute, und sie schliefen recht unruhig.

Um Mitternacht hörte Thor den Riesen wieder schnarchen, dass es durch den ganzen Wald brauste. Da trat er leise zu ihm hin und schlug ihn mit dem Hammer, rasch und fest, mitten auf den Schädel; er glaubte zu sehen, wie das Eisen tief eindrang. Abermals erwachte Skrymir, sah ihn an und fragte verdriesslich: »Was ist denn schon wieder los? Mir ist wohl da eine Eichel auf den Kopf gefallen? Und was willst du denn hier, Thor?« Verlegen stotterte Thor, er sei eben aufgewacht; aber es sei wohl erst Mitternacht, und sie könnten ruhig weiterschlafen. Damit ging er an seinen Platz zurück; aber er lag wach und lauschte auf die Atemzüge des Riesen – wenn Skrymir wieder einschliefe, wollte er so zuschlagen, dass er das Aufwachen vergäße.

Gegen Morgen endlich schien es ihm soweit zu sein, er stand auf, und mit einem Anlauf heran springend, traf er den Schlafenden so mächtig auf die Schläfe, dass der Hammer bis an den Schaft versank. Aber siehe, Skrymir setzte sich auf, fuhr sich mit der Hand über das ganze Gesicht und sprach gähnend: »Die Vögel da oben schmeißen mich wohl mit Zweigen! Da wollen wir aufstehen, Thor, und uns auf die Socken machen. Wenn ihr dort geradeaus nach Osten geht, dann kommt ihr zur Burg Utgart; ihr werdet staunen, was ihr da für Kerle finden werdet, gegen die bin ich nur ein Krümel – und ich bin doch auch nicht gerade winzig, nicht wahr? Mit denen anzubinden ist keine Kleinigkeit, die lassen sich’s nicht gefallen, wenn ihr große Sprüche macht. Wenn ich euch gut raten soll, dann kehrt lieber vorher um! Ich selbst habe noch woanders zu tun, ich muss nach Norden in die Berge!« Damit nahm er den Ranzen samt der ganzen Speise auf den Rücken und schlug sich seitwärts in den Wald; die Asen vergaßen ganz, ihm glückliche Reise zu wünschen.

Aber sie gingen doch weiter auf dem gewiesenen Weg, und am Mittag kamen sie an die Burg, die war so hoch, dass sie sich fast das Genick verrenken mussten, um bis zum Mauerrand hinaufzusehen. Die Toröffnung war mit einem Gitter verschlossen; Thor rüttelte vergeblich daran, es öffnete sich nicht, und sie mussten sich zwischen den Stäben hindurch quetschen, um in den Hof zu gelangen. Durch eine offene Tür traten sie in eine große Halle; auf den Seitenbänken saßen grimmige Kerle von ungeheurer Größe, und auf dem Hochsitz, gewaltiger als alle, der König Utgard-Loki. Als sie vor ihn traten, liess er sie eine ganze Weile warten, ehe er sie auch nur ansah; dann zog er spöttisch die Lippe hoch, dass seine Hauer blitzten, und sagte: »Man soll doch nie glauben, was einem von draußen zugetragen wird! Dieser Knirps soll der große Thor sein? Nun, vielleicht steckt mehr in dir, als wonach du aussiehst! Hier könnt ihr alle drei herzeigen, was ihr könnt; bei uns gilt nur der etwas, der andere im Wettstreit besiegt. Wer will anfangen?«

Da meldete sich Loki, der sich bisher zuhinterst gehalten hatte: »Ich verstehe mich besonders gut aufs Essen und will’s euch beweisen! Keiner in diesem Saal wird imstande sein, seine Speise so schnell zu verzehren wie ich!« »Das lässt sich hören«, entgegnete Utgard-Loki; »wir wollen es probieren! Komm du mal her, du da von der hintersten Bank, ja du, Logi!« Es trat einer vor von den Plätzen, wo die Geringsten zu sitzen pflegen, gehäuft voll von Fleisch. Von den entgegengesetzten Enden an begannen die beiden zu schlingen, in der Mitte trafen sie aufeinander; aber es fand sich, dass Loki nur das Fleisch verzehrt hatte, Logi aber auch die Knochen und den halben Trog dazu. Da waren alle der Meinung, dass Loki schlecht abgeschnitten habe.

Nun fragte Utgard-Loki: »Worauf versteht sich denn der junge Mensch da?« Thialfi erwiderte, er wolle wohl mit jedem hier im Saale um die Wette laufen. »Ausgezeichnet«, sagte Utgard-Loki; »du musst fix auf den Beinen sein, wenn du dich dazu erbietest; sehen wir zu!« Er führte sie hinaus zu einer guten Rennbahn auf ebenem Felde und rief ein Bürschchen namens Hugi herbei, das sollte mit Thialfi um die Wette laufen. Im ersten Lauf war Thialfi noch nicht am Ende der Bahn, da kam ihm Hugi schon wieder entgegen; und Utgard-Loki rief »Fest, Thialfi, schmier deine Knochen, sonst verlierst du, obwohl du der beste Läufer bist, der bisher zu uns kam!« Beim zweiten Lauf war Hugi einen ganzen Pfeilschuss voraus, und Utgard-Loki sagte: »Thialfi läuft gut, aber den Vorsprung holt er nicht mehr auf!« Und in der Tat hatte Thialfi beim dritten Lauf noch nicht die Mitte der Bahn erreicht, da war Hugi schon am Ziele. Damit war auch dieser Wettstreit für die Asen verloren.

Jetzt wandte sich Utgard-Loki an Thor selbst: »Nun sind wir wirklich gespannt, womit du uns in Erstaunen setzen willst; von dir erzählen sich die Leute jaWunderdinge!« »Am liebsten versuchte ich es mit dem Trinken«, antwortete Thor. »Schön«, sagte Utgard-Loki und hiess alle ihm wieder in den Saal folgen; »bringt das Horn her, aus dem unsere Leute den Strafschluck trinken müssen!« Der Schenke brachte das Horn, und Thor nahm es; es schien ihm zwar etwas lang zu sein, aber nicht übermäßigen Umfangs. »Die besten Zecher von uns leeren es in einem Zug, die mäßigeren in zweien; Schwächlinge, die drei Züge dazu brauchen, haben wir nicht unter uns«, bemerkte Utgard-Loki. Thor hatte schönen Durst, er setzte das Horn mit Hochgenuss an den Mund und sog so gewaltig, dass er meinte, damit müsse unbedingt der Rest getrunken sein. Aber als er nicht mehr schlucken konnte und absetzen musste, fand er, da er hineinsah, dass kaum die Blume abgetrunken war. »Ganz gut geschluckt«, sagte Utgard-Loki, »aber lange nicht genug, um Staat damit zu machen! Du hast mich enttäuscht, Thor, aber ich hoffe, beim zweiten Male schaffst du die Kleinigkeit!« Sehr beschämt und ohne zu mucken setzte Thor wieder an, er tat einen entsetzlichen Zug, bis ihm der Atem ausging; trotzdem wollte sich die Spitze des Horns nicht heben, und als er aufhören musste, schien es ihm, als habe es noch weniger abgenommen, als beim ersten Mal. Utgard-Loki lachte: »Du sparst wohl deine Kräfte für den dritten Schluck? Wohl bekomm’s! Aber dieser muss wirklich der größte sein, sonst schaffst du’s nun und nimmermehr und bist elend durchgefallen!« Zornig hob Thor das Horn zum dritten Male; er trank, dass er vor Anstrengung blau im Gesicht wurde, und diesmal hatte sich die Flüssigkeit wirklich sichtbar verringert. Aber das war auch alles, und Thor gab unwirsch das Horn zurück; er hatte von diesem Wettstreit genug und wollte keinen Tropfen mehr.

»Du bist doch nicht der Kraftkerl, für den wir dich hielten«, sagte Utgard-Loki; »aber vielleicht liegt deine Stärke auf einem andern Gebiet: Dann könntest du die Scharte noch auswetzen!« »Bei den Asen würde mir keiner sagen, dass das schwache Tränke waren«, antwortete Thor; »aber was für ein Wettspiel habt ihr mir noch anzubieten?« Utgard-Loki erwiderte: »Unsere jungen Burschen machen sich gern einen Spass damit, meine Katze vom Boden hochzuheben. Das ist weiter kein Kunststück, und ich würde mich nicht unterstehen, dem großen Thor eine so leichte Probe anzubieten, wenn ich nicht eben gesehen hätte, dass wir dich früher sehr überschätzt haben.« Da kam die Katze schon in den Saal gelaufen, sie war grau von Farbe und wirklich recht groß. Thor trat zu ihr hin, legte ihr eine Hand unter den Bauch und versuchte sie hochzuheben. Aber die Katze machte einen Buckel, der wölbte sich immer höher, je höher Thor die Hand emporzog. Endlich stemmte er die Hand mit aller Gewalt hoch, aber er erreichte nicht mehr, als dass sich ein Fuß der Katze vom Boden löste; weiter kam und kam Thor nicht, da gab er es auf. »Das hab’ ich mir gleich gedacht«, spottete Utgard-Loki, »die Katze ist zu groß für den kleinen Thor, mit ihr werden nur Riesen fertig, wie hier welche sitzen!«

»Käme nur einer von ihnen her und ränge mit mir!« schrie Thor, nun in voller Wut; »so klein ich bin, ich will ihn lang auf die Erde werfen!« »Langsam, langsam«, antwortete Utgard-Loki und musterte die Riesen auf den Bänken; »die hätten allzu leichtes Spiel mit dir! Versuch es erst nur mal mit meiner Amme, die ist mit Männern deines Wuchses schon öfter fertig geworden!« Auf seinen Wink trat ein altes Weib in den Saal, es ging sofort auf Thor los, und er hatte alle Mühe, sich zu wehren. Mit aller Kraft gelang es ihm nicht, die Alte von der Stelle zu rücken, sie stand um so fester, je mehr er sich anstrengte. Jetzt aber ging sie ihm mit allen Regeln der Kunst zu Leibe und riss ihn mit einem starken Schwunge nieder, dass er auf ein Knie fiel. Da schied Utgard-Loki die beiden: »Genug damit! Auf einen Kampf mit den Männern wird Thor ja nun nicht mehr wild sein!« Inzwischen war es Nacht geworden. Der Riesenkönig wies den Gästen Sitze an der Tafel und später ein gutes Nachtlager an, sie hatten sich über seine Gastlichkeit nicht zu beklagen. Doch die Niederlage wurmte sie im tiefsten Herzen.

Des Morgens in der Frühe standen die drei auf und machten sich gleich reisefertig. Aber Utgard-Loki nötigte sie noch zum Frühstück, er liess reichlich und vom Allerbesten auftragen, und als sie aufbrachen, begleitete er sie hinaus aus der Burg. Draußen nahm er Abschied und fragte Thor: »Nun, wie hat es dir bei mir gefallen? Hast du schon einmal einen mächtigeren Mann getroffen?« Thor antwortete: »Ich habe wenig Ruhm geerntet, das kann ich nicht leugnen, und ich ärgere mich wütend, dass ihr euch nun alle über mich lustig machen werdet!«

Da sprach Utgard-Loki: »Jetzt sollst du die Wahrheit hören, da ich dich glücklich aus der Burg habe – solange ich lebe, sollst du mir nicht wieder hereinkommen! Ich hätte dich bestimmt auch diesmal nicht eingelassen, hätte ich deine Kraft gekannt. Wahrhaftig, schlecht wäre es uns gegangen, wenn ich dir nicht die Sinne verblendet hätte Skrymir, dem ihr im Walde begegnetet, war ich selbst; du hast mich nicht wiedererkannt. Dass du den Ranzen nicht aufkriegtest, war kein Wunder: ich hatte ihn mit einem Zauberdraht verschnürt. Von deinen drei Hammerhieben hätte der schwächste genügt, um mich totzuschlagen – wenn er mich nur getroffen hätte! Aber da war ein Berg in der Nähe, den zog ich jedes Mal, ohne dass du es merktest, rasch vor mich, wenn du zuschlugst – du musst ihn haben liegen sehen, als wir vorbeigingen, er hat drei tiefe Täler: das sind die Spuren deines Hammers! Und die Wettkämpfe in meinem Saal waren lauter Gaukelspiele. Loki musste im Essen unterliegen, denn der Logi, den ich gegen ihn stellte, war das Wildfeuer, seine Flamme fraß Speise und Trog zugleich. Thialfi lief wie der Wind, aber Hugi, der gegen ihn stritt, war mein Gedanke, der lief freilich noch schneller. Dass du das Horn nicht leeren konntest, wird dich nicht länger wundem, wenn du hörst, dass seine Spitze ins Meer tauchte – du sahst es bloss nicht; wenn du aber den Strand hinabkommst, wirst du sehen, wie sich das Wasser durch deinen Zug verringert hat: das wird fortan Ebbe heißen. Wir staunten alle, als du meine Katze hochzogst, und erschraken sehr, als du ihren Fuß von der Erde löstest: denn die Katze war die Midgardschlange, die die ganze Erde umklammert hält – du stemmtest sie so hoch, dass sie einen Fuß loslassen musste und ihr gekrümmter Rücken fast den Himmel berührte! Deine größte Tat aber war der Kampf mit der, die du für meine Amme hieltest: denn sie war das Alter selbst. Keiner ward geboren und keiner wird geboren werden, den das Alter nicht endlich zu Boden wirft; aber dich zwang es nur auf ein Knie. Dies ist die Wahrheit – und nun wollen wir uns trennen und, soweit es nach mir geht, niemals wiedersehen! Komm nicht wieder, mich zu besuchen! Ich habe diesmal Ängste genug ausgestanden; von nun an will ich durch meine Künste die Burg so schützen, dass ihr gar nicht erst hineinkommt!«

Als Thor hörte, wie er genarrt worden war, ergrimmte er und riss den Hammer empor. Doch ehe er noch zuschlagen konnte, war Utgard-Loki schon verschwunden, und verschwunden war auch die ganze Burg. Wo sie eben noch gestanden hatte, dehnten sich Berge und Täler einsam und leer. So blieb Thor mit seinen Begleitern nichts übrig als heimzufahren. Er war sehr ärgerlich über das Abenteuer und liess sich nicht gern daran erinnern.

 

 

Idealisierte Darstellung der Walhall, um 1840

 

Fahrt zu Hymir

Gute Freundschaft hielten die Asen mit dem Meerriesen Ögir. Sein Weib Ran war böse und tückisch; sie erregte Stürme, zertrümmerte Schiffe und fischte nach den Leichen der Ertrunkenen. Aber Ögir war friedlichen Sinns, er glättete das Meer und war Menschen und Göttern hold. Odin hatte ihn in Walhall gastlich bewirtet und war auch bei ihm schon eingekehrt. Einmal waren die Asen auf Jagd gezogen und hatten viel Wild erbeutet; sie hatten Lust auf Schmaus und Gelage und wollten sich insgesamt zu einem Fest bei Ögir einladen: denn er, sagten sie, besitze den größten Bierkessel. Als Bote wurde Thor zu ihm vorausgesandt, Ögir nahm ihn freundlich auf, aber die Bitte kam ihm für diesmal nicht gelegen, darum sagte er zu dem starken Asen: »Auch mein größter Kessel ist zu klein für euch alle; aber es gibt noch einen größeren, ihn besitzt der Riese Hymir. Wenn du mir den bringen könntest, so solltet ihr mir liebe Gäste sein!«

Das liess sich Thor nicht zweimal sagen, denn ihm stand das Herz stets nach Abenteuern im Riesenreich. Als Fahrtgenossen wählte er sich Tyr, der mit Hymirs Sippe verwandt war und den Weg wohl wusste. Sie hatten eine weite Reise, denn sie mussten den nördlichen Eisstrom überqueren und dann noch weit nach Osten fahren, bis sie Hymirs Reich erreichten.

Dort kauerte am Eingang die Ahnfrau des Geschlechts, ein altes Ungeheuer mit neunhundert Köpfen; Tyr graute es ob dieser Verwandtschaft. Aber drinnen begrüßte sie eine schöne Frau, goldhaarig und mit lichten Augenbrauen, und dieser Base freute sich Tyr. Freundlich bot sie ihm den Willkommentrunk und sprach: »Liebe Blutsfreunde, ich will euch hinter den Kesseln verstecken, die dort hinten im Saale hängen, damit euch Hymir nicht sofort erblickt, wenn er nach Hause kommt; denn er ist grimmig und sieht Gäste nicht immer gern.«

Spätabends kam der Riese heim von der Jagd; mit dröhnenden Schritten trat er in den Saal, von Eis klirrend, der Bart umstarrte sein Kinn wie ein gefrorener Wald. »Freude mit dir, Hymir!« grüßte ihn die Frau; »Freunde sind zu uns gekommen: Tyr, unser Blutsfreund, den wir so lange nicht bei uns gesehen haben, und mit ihm zusammen der starke Thor.« Und sie fuhr leise fort, immer darauf bedacht, seine Wildheit zu besänftigen: »Die beiden sitzen hinten an der Giebelwand, von der Säule verborgen; denn sie sind bange vor dir.« Da sah der Riese nach ihnen hin, und seine Augen waren so scharf, dass vor ihrem Blick die Säule zersprang; der Querbalken brach, die Kessel stürzten herab, acht an der Zahl, und alle zerbarsten, nur einer, der größte, hartgehämmerte, kam heil auf den Boden. Die beiden Götter traten vor in den Saal; der graue Riese beäugte sie misstrauisch, denn ihm ahnte nichts Gutes. Aber er gab Befehl, das Mahl zu rüsten; drei Stiere liess er braten und auftragen, und zwei davon verzehrte Thor allein. Dem Riesen gefiel das wenig, und er brummte: »Nun werden wir uns morgen unsere Mahlzeit erjagen müssen!«

Beim Morgengrauen erhob er sich, um auf den Fischfang zu gehen, und Thor sprang vom Lager, um ihn zu begleiten. Der Riese schüttelte den Kopf »Du wirst mir nicht viel helfen können beim Rudern, klein wie du bist, und frieren wirst du auch, denn ich fahre weit hinaus in die See.« »Fahr nur zu«, antwortete Thor mit unterdrücktem Zorn, »ich werde es gewiss nicht sein, der zuerst umkehren will! Aber was soll ich mir für einen Köder mitnehmen?« »Für dich habe ich keinen«, sagte Hymir unwirsch, »sieh selbst, wie du dir einen besorgst!« Da ging Thor hinaus auf die Weide, wo die Rinder des Riesen grasten, und sah unter ihnen einen pechschwarzen Stier stehen, den größten von allen; den packte er an den Hörnern und drehte ihm den Kopf ab. »Es wäre besser, du gingest müssig, deine Arbeit bringt mir wenig Nutzen«, murrte der Riese, als Thor mit dem Köder zum Strande kam. Er hatte inzwischen das Boot fertiggemacht, und sie ruderten zusammen hinaus, der Riese vorn am Bug, Thor hinten im Schöpfraum. Das Boot flog dahin, dass es den Riesen wunderte, und bald gebot er Halt: »Hier sind die Fischgründe, wo ich die Angel auszuwerfen pflege.« Aber Thor hielt nicht inne, sondern rief: »Bist du schon müde, Hymir?« Da schwieg der Riese und ruderte verdrossen weiter. Endlich aber sagte er: »Nun lass uns wirklich einhalten, jetzt wird das Fischen gefährlich, denn bald stossen wir auf die Midgardschlange.« »Fahren wir noch ein Stückchen!« antwortete Thor, und ohne der schlechten Laune Hymirs zu achten, ruderte er noch eine mächtige Strecke.