Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit - Gabriele Albers - E-Book

Nordland. Hamburg 2059 - Freiheit E-Book

Gabriele Albers

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Beschreibung

"Er lenkte die Limousine um die nur scheinbar harmlosen Pfützen herum. Im Schanzenviertel durfte man nichts und niemandem trauen." Hamburg im Jahr 2059. Die Bundesrepublik ist Geschichte. Die nördlichen Bundesländer haben sich zu "Nordland" zusammengeschlossen, einem Staat, in dem allein das Geld regiert. Politiker, Richter, Frauen - in Nordlands Hauptstadt Hamburg ist alles käuflich. Als ein Mann aus dem heruntergekommenen Schanzenviertel für ein Verbrechen hingerichtet wird, das er nicht begangen hat, regt sich ein lang vergessener Widerstand. Lillith, die zu den reichen Birds gehört, sympathisiert mit den Rebellen. Sie ahnt, dass mehr hinter dem Aufstand steckt. Aber Nordland ist ein gefährlicher Ort für Frauen, die das bestehende System hinterfragen. Die Männer an der Spitze räumen jeden aus dem Weg, der das fragile Gleichgewicht des Landes bedroht. Und Lilliths Vater ist nicht dafür bekannt, Ausnahmen zu machen …

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Gabriele Albers

NORDLAND

Hamburg 2059 - Freiheit

Roman

Albers, Gabriele: Nordland. Hamburg 2059 – Freiheit, Hamburg, acabus Verlag 2018

1. Auflage

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-551-6

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-550-9

Print: ISBN 978-3-86282-549-3

Lektorat: ds, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © Annelie Lamers, © pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

für BJj

ohne euch wäre alles nichts

Diese Geschichte ist frei erfunden. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entstammen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv genutzt. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden, lebenden oder bereits verstorbenen Personen, Unter­nehmen und Ereignissen ist rein zufällig.

Libertatem quam peperere maiores digne

studeat servare posteritas.

Die Freiheit, die schwer errungen die Alten,

möge die Nachwelt würdig erhalten.

– I –

Ratten

Manche Dinge änderten sich nie. Egal, wie sehr sich die Welt verändert hatte.

Die dunkle Limousine rauschte durchs Schanzenviertel, als wären Geschwindigkeitsbegrenzungen nur für die anderen Verkehrsteilnehmer erdacht worden.

Es regnete und auf der Straße standen Pfützen. Die dunklen Spiegel verbargen tiefe Löcher unter ihrer wässrigen Oberfläche. Um einige Schlaglöcher lenkte das selbststeuernde Auto herum. Andere waren nicht in der aktuellen Navigationssoftware enthalten: Die Limousine setzte mehrfach auf und dem Mann auf dem Fahrersitz schlug es heftig in den Rücken.

Er übernahm die Kontrolle und drückte das Gaspedal herunter. In diesem Viertel waren er und seinesgleichen schon vor 30 Jahren nicht willkommen gewesen. In wildem Slalom lenkte er die Limousine um die nur scheinbar harmlosen Pfützen herum.

In dieser Gegend durfte man nichts und niemandem trauen.

Die Scheinwerfer glitten über beschmierte Fassaden, von denen der Putz in langen Fladen herunterblätterte. Das Licht huschte über mit Brettern verrammelte Fensterhöhlen und über tiefgelegene Hauseingänge, in deren Schwärze sich die Schatten zurückzogen, wenn ihnen das Licht zu nahe kam.

Jenseits davon versank alles in schwarzem Regen.

Männer, die an die Dunkelheit gewöhnt waren, warteten, bis das Auto an ihnen vorbei war. Dann folgten sie der Limousine, angezogen von dem Scheinwerferlicht, das immer schwächer wurde. Aber da der Fahrer grundsätzlich den Blick zurück verweigerte, sah er sie nicht.

Der Fahrer schlug den Cordkragen seiner Barbour-Jacke hoch. Etwas stimmte nicht mit der Heizung. Den Griff nach dem Flachmann hatte sein Körper fast so automatisiert wie Herzschlag und Atmung. Dabei übersah er das nächste Schlagloch. Der Schnaps lief dem Mann über Wangen und Hände.

Die Scheibenwischer blieben auf halber Strecke stehen und verweigerten den Dienst. Regentropfen schlugen dicht an dicht auf die Windschutzscheibe. Der Fahrer schlug aufs Lenkrad, drückte auf Tasten herum, kontrollierte die Energieanzeige: Die Batterie war fast voll.

Ein letzter Sprung nach vorne, dann blieb das Auto stehen.

Die Scheinwerfer dimmten herunter. Die Notbeleuchtung reichte zwei Meter weit.

Straßenlaternen gab es in diesem Viertel nicht.

Die Männer, alle in schwarz, ließen sich Zeit.

Der Fahrer stieg aus, ging um seine Limousine herum, verpasste ihr einen Fußtritt.

»Verdammte Scheißkarre«, rief er und: »Vidja, stell eine Verbindung her mit – « Weiter kam er nicht. Die Männer manifestierten sich aus dem Dunkel der Schatten. Ihr Opfer sprang zurück in sein Auto, wollte es von innen verriegeln, aber nicht mal dafür reichte der Strom. »Notfall! Hilfe! Vidja, stell sofort – «, schrie er, bevor ihn die Faust mitten ins Gesicht traf.

Die Männer zogen ihn aus dem Auto heraus.

»Hilfe!«, rief er nochmals. Seine Stimme klang nasal, fast weinerlich. »Was wollt ihr?«

Einer der Angreifer lachte. Es klang wie das Schleifen einer schlecht geölten Kette.

»Alles! Alles, was ihr scheiß Birds habt.«

»Ich …, hier, meine Brieftasche und, und – « Ein Schlag in die Magengrube verhinderte, dass er weiter verhandelte. Die Männer um ihn herum hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Sie hatten Stöcke dabei und Messer. Aber die brauchten sie nicht, um ihn zusammenzuschlagen.

Er lag auf dem Boden, zusammengekrümmt. Das Licht entfernte sich, mehrere Männer schoben die tonnenschwere Limousine davon. Einer der Angreifer zog ihm die Jacke vom Leib, dann die Schuhe und den Anzug. Ein weiterer Tritt in die Seite. Er wand sich, versuchte mit letzter Kraft davonzukriechen, aber der Fuß des anderen genügte, ihn an Ort und Stelle zu halten, während er ihm die goldenen Knöpfe aus den Manschetten riss. Der Mann auf dem Boden versuchte, etwas zu sagen, ein letztes Mal zu verhandeln, aber statt Worten quoll Blut aus seinem Mund.

Ein Messer näherte sich seinem Gesicht. Er wehrte sich, bäumte sich auf, ein Schlag aufs Ohr setzte ihn außer Gefecht, aber er blieb bei Bewusstsein. Alles drehte sich um ihn, und das Messer, das sich seinen Augen näherte, wurde zu hundert Messern.

Die Frau, die alles aus der Ferne verfolgte, konnte nicht helfen. Sie versuchte, die Polizei zu rufen, aber niemand reagierte auf ihren Anruf. Sie nahm den Ohrring ab, der den letzten Schrei des Mannes zu ihr trug und schloss die Augen.

Kurz zuvor

Besuch

Die Kieselsteine waren rund und glatt. Es waren perfekte kleine Kieselsteine für die perfekte Auffahrt zu einer perfekten Villa. Sie waren eine Katastrophe für Frauen mit hohen Absätzen. Lillith knickte um und klammerte sich an den Arm ihres Vaters, bevor ihre Röckepracht sie komplett aus dem Gleichgewicht brachte und sie wie ein gestrandeter Feuerfisch auf den Steinen landete.

»Einen gebrochenen Knöchel können wir gerade nicht gebrauchen, meine Liebe«, sagte ihr Vater und hastete weiter.

Sehr witzig. Als ob sie sich darum reißen würde, in Stilettos herumzulaufen.

»Mit flachen Schuhen – «

» – siehst du aus wie ein Dienstmädchen.«

Sie freute sich auf ihr Sofa und darauf, die Dinger gleich in die Ecke zu schleudern. Der Tag war lang gewesen und trotz diverser Polster und Ausgleichsmechanismen im Inneren des Schuhs brannten ihre Füße. Langsam humpelte sie die Treppe hoch. Ihr Vater war bereits oben und bog in den Bürotrakt ab. Lillith blieb stehen und löste den Riemen um ihre Fessel. Sobald ihr Vater in seinem Büro verschwunden war, würde sie auf Strümpfen weiterlaufen.

»Ich brauche dich noch für eine halbe Stunde im Grauen Salon. Willem will gleich vorbeikommen.«

Sie stöhnte auf. »Muss das sein? Kannst du die alte Krähe nicht ohne mich empfangen?«

Ihr Vater beachtete ihren Einwand gar nicht. »Außerdem gibt es erste Kandidaten.«

In Lilliths Bauch krampfte sich ein ungutes Gefühl. »Kandidaten? Wofür?«

»Lillith.« Ihr Vater drehte sich zu ihr um und schaute sie an, als ob er nicht glauben konnte, dass sie nicht begriff. »Du bist fast 25. Ich habe unseren Geschäftspartnern eine offizielle Note zukommen lassen, dass ich ihre Angebote erwarte.«

Es dauerte einen Moment, bis die Nachricht einsickerte.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Du weißt seit Jahren, dass du eines Tages heiraten wirst. Tu nicht so, als käme das jetzt überraschend.«

Aber Lillith war überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, das Schicksal ihrer Freundinnen jemals teilen zu müssen.

Ihr Vater ging weiter den langen Gang hinunter.

»Warte!« Lillith stöckelte hinter ihm her. Das Wasser in ihren Augen hatte nichts mit den schmerzenden Füßen zu tun. »Wie kannst du mit den Verhandlungen anfangen, ohne mich vorher zu fragen? Mich wenigstens darüber zu informieren? Was ist mit unserem Abkommen?« Sie hasste sich für ihren jammernden Ton. Und dafür, die Tränen nicht wegdrücken zu können.

Ihr Vater hatte den Grauen Salon erreicht und hielt die Tür für sie auf. Seine Mundwinkel zuckten, als er die beiden schmalen Spuren in ihrem Makeup entdeckte. »Beherrsch dich gefälligst«, sagte er so leise, dass sie nicht sicher war, ob er überhaupt geredet hatte oder ob seine Stimme automatisch in ihrem Kopf angesprungen war.

Lillith wischte sich über die Augen, zog undamenhaft die Nase hoch und schluckte ein paar Mal, bis der Kloß in ihrem Hals so klein geworden war, dass die Luft zum Argumentieren wieder daran vorbeipasste.

»Ich dachte, ich soll erst über alles Bescheid wissen, bevor ich heirate. Damit ich meinen Zukünftigen bei seinen Geschäften beraten kann.« Ihre Stimme zitterte heftiger als ihr lieb war.

»Daran hat sich nichts geändert. Deshalb bist du jetzt hier und nicht auf deinem Zimmer.«

»Aber wenn ich verheiratet bin – wie soll ich dich dann unterstützen?«

»Ich war in der Vergangenheit erfolgreich, ich werde es auch in Zukunft sein.« Ihr Vater setzte sich an seinen gläsernen Arbeitstisch und öffnete mit einigen schnellen Fingerbewegungen mehrere Dokumente. Für ihn war die Diskussion beendet.

Aber nicht für Lillith. »Und was ist, wenn ich mich weigere?« Ihr Vater reagierte nicht. In seinem Gesicht bewegte sich kein einziger Muskel. Nur die Ader an der Schläfe pulste. Lillith stellte sich vor den Tisch, die Hände auf die Glasoberfläche gestemmt. »Ich bin keine Ware«, rief sie und es war ihr egal, dass die Stimme zitterte und die Tränen wieder nach oben drängten. »Ich lasse mich nicht meistbietend verkaufen.«

»Ich kann dir versichern, dass es nicht nur eine Frage des Preises sein wird«, sagte ihr Vater, ohne seinen Blick von einem Kurvendiagramm abzuwenden. »Du wirst jemanden heiraten, der außerdem gut fürs Geschäft ist.«

Die Logik ihres Vaters. Lillith blieb der Mund offen stehen, aber eine passende Antwort wollte ihr nicht einfallen.

Ein gelber Punkt blinkte auf dem Glastisch. Der Besuch war auf dem Weg zu ihnen.

»Wir reden später über die Kandidaten. Und jetzt beruhig dich. Bis die Verhandlungen abgeschlossen sind, werden noch gut und gerne zwei Jahre vergehen. Du hast also noch reichlich Zeit, um zu lernen, wie man sich beherrscht.«

Ihr Vater schaltete das Bild einer Kamera auf die Arbeitsplatte und Lillith sah, wie Willem Duhnkreih sich die Treppe hochquälte, eine Hand am Treppengeländer, den Blick starr auf ihren Sicherheitsmann gerichtet, der ihn zum Grauen Salon begleitete.

Sie hätte gut Lust, sich aus dem Staub zu machen. Aber wenn sie jetzt herumzickte, würde sie in den nächsten Wochen einen Vorgeschmack auf ihre Ehe bekommen und sich mit langweiligen Frauen über Kosmetik, Mode und ausländische Königsfamilien unterhalten, anstatt mit ihrem Vater zu reisen und über Windgas zu verhandeln. Lillith bückte sich und schloss den Riemen ihres Schuhs. Eine halbe Stunde lang konnte sie die schmerzenden Füße noch aushalten. Aus ihrer Handtasche holte sie Makeup und Spiegel und beseitigte die Spuren ihres Wutausbruchs. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. Das sollte reichen, um sich unersetzlich zu machen. Sie zog die Lippen nach und bemerkte erst, als es zu spät war, dass sie den blutroten Lippenstift erwischt hatte, nicht den roséfarbenen.

An ihrem Stehpult öffnete sie das Übungsprogramm für chinesische Schriftzeichen. Die Geschäftspartner akzeptieren ihre Anwesenheit als eine Marotte des mächtigen Davide Civetta, solange sie sich unauffällig im Hintergrund hielt und scheinbar beschäftigt war. Keiner von ihnen wusste, dass sie mehr war als schmückendes Beiwerk.

Sie war Teil des Geschäfts.

»Was für ein Scheißwetter.« Willem Duhnkreih stand im Türrahmen und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Lillith betrachtete ihn: das fahle Gesicht, die Schatten unter den Augen, die bläulich schimmernden, dünnen Lippen. In seiner vor Nässe fast schwarzen Barbour-Jacke sah er aus wie der Tod persönlich. Sie roch seinen Schweiß und den nach Schnaps stinkenden Atem. Ihr wurde übel, als er näher kam, und sie trat einen Schritt zurück. Der Gestank ließ nach, aber die Übelkeit blieb. Sie schluckte.

»Und was für ein Scheißteil.« Duhnkreih warf die Jacke über einen der Sessel. »Die Russen kriegen echt alles kaputt. Das kann doch nich’ so schwer sein, ’ne Jacke wasserdicht zu machen. Ich mein, selbst die Engländer haben das früher geschafft, und die – «

»Guten Abend, Willem«, unterbrach Davide ihn und schloss mit einer kleinen Handbewegung die Dokumente auf seinem Tisch. »Soll ich dir eine neue Jacke bringen lassen oder reicht dir ein Handtuch?« Der Ton ihres Vaters war sachlich, kontrolliert, als er seinem Gast entgegenging und ihm die Hand schüttelte. Aber Lillith spürte seine Abneigung Duhnkreih gegenüber genauso deutlich wie die Übelkeit, die von ihrem Besucher ausging.

Sie reichte ihm ebenfalls die Hand. »Guten Abend, Herr Duhnkreih.«

»Lillith!« Willem drückte ihr einen feuchten Handkuss auf. »Du wirst deiner verstorbenen Mutter immer ähnlicher. Welchem Designer haben wir diese atemberaubende Wespentaille zu verdanken?«

»Baoxiniao.«

»Ich wusste gar nich’, dass die auch in Businessmode für Damen machen.«

»Scheint ein Markt zu sein in China.«

»Ist das so?« Duhnkreih grinste schief. »Ich muss gestehen, die Bekleidungsindustrie verfolge ich mangels Frau und Tochter nur am Rande.« Endlich ließ er ihre Hand los.

»Und dich braucht das auch nicht zu interessieren, Lillith.«

»Ach lass sie doch, Davide. Ein bisschen Konversation muss erlaubt sein. Ich hab gehört, du kommst bald unter die Haube? Wird ja auch langsam Zeit. Ich stehe zur Verfügung.« Er tätschelte mit nassen, kalten Fingern ihre Wange.

Lillith wich zurück und musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufwenden, um Duhnkreih nicht zu ohrfeigen. Sie wischte ihre Hand an den zahlreichen Lagen ihres langen Rocks ab und sah dabei zu ihrem Vater. Wenn jemand wie Duhnkreih auf der Liste stand, dann konnte er sich seine Pläne aber sowas von aus dem Kopf schlagen. Da würde sie eher ins Kloster gehen.

»Danke, alter Freund, aber du weißt doch, dass meine Tochter niemanden aus Nordland heiraten kann. Das würde unser Gleichgewicht zu sehr stören.« Davide legte seinen Arm auf Duhnkreihs Schulter und steuerte ihn zum Konferenztisch. »Was möchtest du trinken?«

»Ach, du immer mit deinem Gleichgewicht.« Duhnkreih zog lautstark die Nase hoch. »Ich nehm ’nen schönen steifen Grog. Aber nicht mit Hamburger Wasser verdünnen, das kriegt Meik grad nicht anständig gefiltert. Tu mir lieber ’nen zweiten Schuss Rum dazu.« Er schlug Davide auf den Rücken. »Der Löffel muss drin stehen, dann ist er richtig.«

Als ob Alkohol den Grog zähflüssiger machen würde. Lillith verdrehte die Augen, zog sich an ihr Stehpult zurück und rieb die virtuelle Stangentusche, während sie Duhnkreih weiter beobachtete und sich an ihre eigentliche Aufgabe machte: ihren Vater über die Emotionen seines Gegenübers zu informieren. Mit einem leichten Druck auf den Goldreif an ihrem Handgelenk aktivierte sie ihre Vidja. Zwei Wimpernschläge später hatte sie die Verbindung zwischen sich und ihrem Vater hergestellt.

»Ihm ist schlecht vor Nervosität und Aufregung«, twinkerte sie lautlos und für alle anderen unsichtbar auf Davides Vidja-Kontaktlinse. Und mir auch, fügte sie in Gedanken hinzu. Das war der Preis, den sie für ihre besondere Fähigkeit bezahlen musste. Sie wusste genau, was die Menschen um sie herum fühlten – weil sie es selbst fühlte. Fühlen musste.

»Schön hier, mit dem Feuer«, sagte Duhnkreih und rückte seinen Stuhl mit lautem Schrammen an den Konferenztisch. Die Übelkeit ließ ein klein wenig nach, aber der schlechte Geschmack im Mund blieb. Lillith griff nach dem Wasserglas und konnte gerade noch verhindern, dass es ihr aus der schweißnassen Hand glitt. Ihr Puls raste. Himmel, was war denn nur mit Duhnkreih los? Sie hatte nicht damit gerechnet, dass diese halbe Stunde so anstrengend werden würde.

Das Kaminfeuer prasselte.

»Und? Mit der Energieversorgung alles im Lot?«, fragte Duhnkreih.

»Natürlich. Oder gibt es bei dir Probleme?«

»Ja. Also nee, keine, für die du was kannst. Mein Wandler ist kaputt und meine Karre könnte noch etwas Energie vertragen. Kannst du mir mit ein paar Kilowattstunden aushelfen? Damit ich nicht im Schanzenviertel liegenbleibe? Also, natürlich nur, wenn du selber genug Energie hast.«

»Warum sollte ich nicht genug Energie haben?« Davide war verstimmt. Nicht, dass Duhnkreih das bemerkt hätte.

»Na, wegen dieser Steinzeittechnik hier.« Duhnkreih zeigte auf den Kamin.

Davide ließ diese Bemerkung einen Moment im Raum stehen. »Solange ich für die Stromversorgung zuständig bin, wird Nordland immer genug Energie haben. Ich halte meinen Teil der Abmachung.«

»Ja, ja, schon klar.« Duhnkreih nickte. Lillith fühlte, wie sich neben seiner Nervosität Ärger breitmachte. Sie spürte genauer hin. Nein, kein Ärger. Das Gefühl war anders, intensiver: Groll. Tiefsitzender, uralter Groll.

»Er nimmt dir etwas sehr, sehr übel«, twinkerte sie.

Davide lenkte sofort ein. »Ich mag diese Wärme einfach. Hast du bei dir in Finkenwerder keine Kamine?«

»Ja, doch schon, aber ich benutz’ die Dinger nich’. Mutter meint, die machen zu viel Dreck.« Er räusperte sich.

Duhnkreih faltete die Hände vor sich auf dem Tisch, fasste dann ins Jackett und lehnte sich zurück. Seine feuchten Handflächen hatten Flecken auf dem Glastisch hinterlassen. Lillith blickte an ihm vorbei aus dem Fenster und atmete langsam ein und aus. Sie bekam kaum noch Luft. Duhnkreihs Emotionen schnürten ihr, zusammen mit ihrem viel zu engen Mieder, die Luft ab. Sie versuchte, sich auf das Wasser der Außenalster zu konzentrieren, aber es war zu dunkel. Sie sah die Lichter, die im Garten die Uferpromenade beleuchteten, und am anderen Ufer die trüben Lampen der von Eschenburgs. Die Alster selbst verschwand im Schwarz des regennassen Abends. Wie der Rest der Stadt.

Die Tür zum Grauen Salon öffnete sich und Maja kam herein. Sie blieb mit gesenktem Kopf in respektvollem Abstand neben Duhnkreih stehen und bot ihm ein Handtuch und einen dampfenden Grog an. Duhnkreih ignorierte das Handtuch. Gier und Vorfreude verdrängten für einen Moment seine Nervosität und Lillith bekam wieder Luft. Aus der Innentasche seines Jacketts holte Duhnkreih eine Flasche hervor und goss einen weiteren Schluck brauner Flüssigkeit ins Glas. Die auf dem silbernen Flachmann eingravierte Krähe war vermutlich sein persönlicher Scherz.

»Also, Willem, was gibt es so Dringendes, dass du mich um diese Uhrzeit besuchst?«

»Ja, also, da ist die Geschichte mit den chinesischen Staatsanleihen«, fing Duhnkreih an. »Ich hatte da eine Menge investiert, sollte angeblich alles so sicher sein. Hast du von gehört, oder?«

Davide ließ seine halb geöffnete Hand kreisen, um zu zeigen, dass Duhnkreih sich mit seiner Geschichte beeilen solle. Natürlich wussten sie, dass die chinesische Regierung von einem Tag auf den anderen beschlossen hatte, die Kredite ausländischer Investoren nicht zurückzuzahlen. Und natürlich hatten sie – wie alle mit etwas Vermögen – Geld dabei verloren.

»Ich hab deshalb grad Probleme mit meiner Liquidität. Ich weiß, ich weiß, meine Kredite bei dir sind übermorgen fällig. Aber es wär klasse, wenn du sie mir noch einmal stunden könntest. Unserer alten Freundschaft wegen. Und mir vielleicht, ich mein, echt, ein allerletztes Mal, Geld leihst? Drei Millionen? Zwei reichen auch. Ich mein, im nächsten Monat bin ich bestimmt wieder flüssig und kann die Zinsen bezahlen.«

Lillith kannte die Antwort ihres Vaters und es fühlte sich so an, als ob auch Duhnkreih sie kannte.

»Er rechnet mit deiner Ablehnung«, twinkerte sie an Davide.

Ihr Vater ließ sich Zeit mit der Antwort. Er nahm die schwere Wasserkaraffe, in der sich langsam synthetische Coca-Blätter auflösten. Sein drittes Glas heute.

»Nein.«

Duhnkreih sackte zusammen wie ein herausgesaugter Fettklumpen nach einer Schönheitsoperation.

»Aber …«, setzte er an.

»Bei aller Freundschaft, Willem: nein. Du hattest neun Monate Zeit, deine Geschäfte in Ordnung zu bringen. Neun Monate, in denen ich dir deine Zinsen gestundet habe. Ich werde dir kein weiteres Geld leihen, und ich muss darauf bestehen, dass du deine Kredite bei mir wieder bedienst. Wenn du das nicht kannst, werden deine Sicherheiten wie vereinbart zum 1. Oktober in meinen Besitz übergehen.« Er nahm einen Schluck Tee. »Also übermorgen.«

Lillith wusste nicht, welche Sicherheiten Duhnkreih an ihren Vater verpfändet hatte. Aber es war etwas, an dem sein Herz hing. Aus Duhnkreihs Verzweiflung kristallisierte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen eine neue Emotion heraus: Wut. Pure, eindeutige Wut. Sie versuchte, den nächsten Strich zu malen, aber statt einer eleganten Linie schmierte der Pinsel einen breiten Klecks auf die Fläche.

Sie biss die Zähne zusammen. Sie spürte, wie Duhnkreih kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Er griff zum Grogglas und Lillith rechnete damit, dass er es gegen die Wand schleuderte. Aber er nahm nur einen tiefen Zug.

Die Übelkeit war fort, die Nervosität hatte sich in Luft aufgelöst. Ihre Hände waren trocken. Alles, was sie noch spürte, war eine kalte, mörderische Wut.

»Vorsicht«, twinkerte Lillith an ihren Vater, »extreme Wut.« Davide beobachtete seinen alten Schulfreund gelassen.

Duhnkreihs Mundwinkel war nach oben gezogen.

»Da werd’ ich Mutter wohl beibringen müssen, dass sie auf ihre alten Tage umziehen muss. Du wirst sie nicht dort wohnen lassen, wenn du Finkenwerder übernimmst, oder?«

Das also hatte Duhnkreih aufs Spiel gesetzt. Kein Wunder, dass er darum kämpfte.

»Das wusstest du, bevor du mir euer Anwesen als Sicherheit angeboten hast.« Davide machte eine kurze Pause. »Hast du wirklich keine laufende Einnahmequelle mehr? Keine Geschäfte, die kurz vor dem Abschluss stehen? Was ist mit Aeroflot, kannst du mit denen nochmal verhandeln?«

Duhnkreih wand sich. Sowohl Davide als auch Lillith wussten, dass er die russischen Manager mit einer Bemerkung über deren angebliche Homosexualität vor den Kopf gestoßen hatte. Aber vielleicht ließ sich noch etwas retten.

»Die Schwuchteln haben ihre Flugzeuge gestern bei den Chinesen bestellt. Die wollen lieber sechs olle Comacs statt schöner neuer Airbusse.«

Davide wischte über den Konferenztisch und durch die Details von Willems Vermögen. »Was ist mit den Einnahmen aus dem Luftverkehrsnetz?«, fragte er. »Du könntest die Gebühren anheben, das müsste dir jährlich etwa dreieinhalb Millionen bringen.«

Duhnkreih verzog keine Miene, aber Lillith schmeckte, wie seine Wut einen bitteren Beigeschmack bekam.

»Mit den paar Flugzeugen, die heutzutage in der Luft sind, kann man kein Geld verdienen.« Er nahm einen langen Schluck und stellte das Glas vor sich auf den Tisch. »Mit dem Luftverkehrsnetz habt ihr mich damals echt über den Tisch gezogen«, fuhr Duhnkreih fort. »Während ihr euch die Perlen gesichert habt, gab’s für mich nur die Glasklunker.«

»Wenn du es nicht willst, verkauf es. Petersen bietet dir sicher einen anständigen Preis.«

»Und ich bin dann raus aus allem, was Spaß macht? Nee, nee, ich bin Gründungsmitglied von Nordland, ich bin der Präsident der Bürgerschaft, ich gehöre dazu, wenn ich auch sonst nicht mehr viel hab.«

»Was ist mit deinen Anteilen an Airbus?«

»Da hat Liborius schon den Daumen drauf.« Wieder wanderte eine Hand in die Jackettasche. »Davide, echt, du bist meine letzte Hoffnung.«

Davide tippte auf die Glasfläche des Tisches, rief Zahlen, Diagramme und Kurven auf und hob schließlich in einer entschuldigenden Geste die Hände. »Es tut mir leid, alter Freund, aber ich fürchte, ich kann dir nicht helfen.«

Lilliths Innerstes wurde von einer Welle des Hasses überflutet. Der Pinsel fiel ihr aus der Hand, instinktiv trat sie ein paar Schritte vom Pult zurück. Weg von Duhnkreih. Er würde nicht wagen, ihrem Vater etwas anzutun. Oder? Sie blinzelte und überprüfte in ihrer Vidja Duhnkreihs Körperscan: kein Metall, keine Waffen. Sie atmete aus. Duhnkreih hasste ihren Vater, aber er würde nicht den Pakt aufs Spiel setzen. Seine Schulden verschwanden nicht, wenn Davide starb.

Aber bis der Nachlassverwalter einen Überblick über alle Finanzen hatte … vielleicht spekulierte Duhnkreih darauf, dass er dann wieder flüssig war? Oder dass der Verwalter entgegenkommender war und ihm die Kredite erneut stundete?

Das könnte die Übelkeit am Anfang des Besuchs erklären. Duhnkreih war kein Killer.

Der Hass schwächte sich ab. Aus der Flutwelle war ein ruhig strömender Fluss geworden. Duhnkreih hatte sich entschieden. Aber wofür? Sie beobachtete seine Hand, die nach wie vor in seiner Jackettasche steckte. Was hatte er in der Tasche?

Er nahm die Hand heraus, griff nach Davides Cocatee und schob ihn ihrem Vater über die Balkendiagramme hinweg zu. Dann hob er sein fast leeres Grogglas, um ihm zuzuprosten.

»Tja, schade. Das war’s dann wohl. Auf die Freundschaft.«

Gift!

Davide nahm das Glas und erwiderte die Geste. Mit einem Wimpernschlag kehrte Lillith ins Hauptmenü ihrer Vidja zurück und steuerte zum ersten Mal den kleinen roten Punkt in der unteren Ecke ihres Sichtfeldes an. Gelacht hatte sie, als ihr Vater diesen virtuellen Alarmknopf vor ein paar Monaten in das Gerät hatte programmieren lassen. »Wer sollte dir was Böses wollen? Der Pakt hält seit 25 Jahren. Alle profitieren davon.« Sie hatte ihm vorgeschlagen, den Kurzbefehl lieber mit »Cocatee« oder »Ruhe« zu belegen.

Ihr Vater hatte darauf bestanden.

Und jetzt leuchtete direkt vor ihm und nur für ihn sichtbar das Wort »Lebensgefahr«.

Lillith drängte sich an dem Konferenztisch vorbei. »Bitte entschuldigen Sie mich, meine Herren, eine kleine Unpässlichkeit«, brachte sie leise heraus. Ihr Vater war im Begriff, das Glas an die Lippen zu setzen. Wie konnte er so schwer von Begriff sein? Lillith tat, als ob sie stolperte, ruderte mit den Armen und schlug das Glas aus Davides Hand. Der Cocatee verteilte sich auf dem Tisch und über Davides Anzug.

Aus Willems Entschlossenheit wurde Panik, Lilliths Knie zitterten. Auf ihrer Kontaktlinse tauchte ein »Danke« auf. Dann: »Ich kümmere mich um den Rest.«

Lillith wusste, was das bedeutete. Sie raffte ihre Röcke und verließ den Grauen Salon. Auf der Treppe hoch zu ihren Räumen stolperte sie wirklich, die Röcke zogen sie zurück, sie griff nach dem Geländer, ihre schweißnassen Finger glitten ab, sie schwebte für einen winzigen Moment zwischen Halt und Fall – und dann tauchte Maja aus dem Nichts auf und hielt sie.

Lillith kämpfte die Tränen zurück und ließ sich von der alten Frau nach oben helfen, die ganze Zeit verfolgt von einem irrationalen Schuldgefühl.

Als ob sie für diese Situation verantwortlich wäre. Dabei hatte Duhnkreih sich das ganz alleine zuzuschreiben. Duhnkreih hatte gegen den Pakt verstoßen, er hatte ihren Vater ermorden wollen! Alles, was heute Nacht noch passieren würde, war die Folge seines unüberlegten Verhaltens.

Aber egal, wie oft sie sich einredete, nicht schuld zu sein – ihr Gewissen war anderer Meinung.

Der Tod war in ihr Haus gekommen. Und er hatte die russische Barbour-Jacke gegen ein chinesisches Baoxiniao-Kostüm getauscht.

Ω Opfer Ω

Sie hatten sich in einem der Hauseingänge versteckt, als die Angreifer über den Mann herfielen. Zu zweit konnten sie nichts gegen die Männer ausrichten, die sich die Reichtümer nahmen und mit der Limousine davonschoben. Als der letzte Täter endlich hinter dem nächsten Häuserblock verschwunden war, liefen sie über die Straße zu dem Eingang der alten S-Bahn-Station, wo das fast nackte Opfer lag. Wie ein Mistkäfer, dachte Bo und schämte sich nicht für den Vergleich.

Joris suchte zwischen den Falten am Hals nach einem Puls.

»Er lebt noch, hilf mir, ihn in die stabile Seitenlage zu bringen.«

Bo setzte den Arztkoffer ab, in dem sein Vater eine medizinische Grundausstattung aufbewahrte und ohne den er nie das Haus verließ. Er packte den Mann an der Schulter, drehte ihn zu sich, sah das blutverschmierte Gesicht und dann die leeren Augenhöhlen. Fast hätte er ihn losgelassen.

»Oh Gott«, rief er. »Die haben ihm die Augen ausgestochen.«

Der Mann auf dem Boden stöhnte.

Joris nahm die Hand des Mannes in seine und legte den Arm vorsichtig in die vorgesehene Position. »Alles wird gut, ich bin Arzt, ich kann Ihnen helfen«, sagte er leise und voller Zuversicht.

Bo bewunderte seinen Vater für die Fähigkeit, selbst in solch einer Situation Hoffnung zu verbreiten. Er war kein Arzt, aber er hatte genug Verletzte gesehen, um zu wissen, dass dieser Mann nicht mehr lange zu leben hatte. Aus der Tiefe des riesigen Körpers kam ein Gurgeln und im nächsten Moment spuckte er Blut. Ein dunkler Bach rann über die hellen Steine.

Bo richtete sich auf. »Lass uns gehen.«

Joris hielt immer noch die Hand des Mannes. Sein Ärmel war blutverschmiert. Aber er rührte sich nicht. »Einen Moment noch.« Ein erneutes Gurgeln, dann ein tiefer, rasselnder Atemzug. Dann Stille.

»Das war’s.« Mit einer verinnerlichten Geste wollte Joris dem Toten die Augen schließen, ließ die Hand aber wieder sinken. »Er hätte ihnen die Kontaktlinse bestimmt auch freiwillig gegeben«, sagte er. »Die Ratten werden immer brutaler.« Er stand auf und wusch sich die Hände in einer der Pfützen.

»Beeil dich, ja?«, sagte Bo. »Wir müssen abhauen, bevor die Bullen kommen.« Er zog sich die Kapuze seines Pullovers noch tiefer ins Gesicht. Die wahren Gegner waren nicht die Ratten, sondern die Polizisten und ihre Überwachungskameras. Ein Wunder, dass sie nicht schon lange hier waren. Er nahm die Tasche und marschierte los. Als er sich nach seinem Vater umdrehte, stand der immer noch vor dem Toten. Der Mond hatte sich zwischen die Regenwolken geschoben. Sein weißes Licht warf scharfe Schatten.

»Komm!«

»Willem Duhnkreih«, murmelte Joris. »Seit wann hast du nicht mehr genug Geld, um dein Auto anständig zu betanken?«

»Joris!«

Endlich setzte sich sein Vater in Bewegung. Er ging gebeugt, als hätte ihm jemand eine unsichtbare Last auf die Schultern gelegt. Bo lief ihm entgegen, besorgt über die plötzliche Veränderung seines sonst so aufrechten Vaters. »Was ist los?«

Aber der antwortete nicht. Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er nach hinten, zum Dach der alten S-Bahn-Haltestelle. Jetzt hörte Bo es auch. Ein leises Surren. Er musste nicht hinschauen, um zu wissen, was es bedeutete. Eine Überwachungs­kamera hatte sich in ihre Richtung gedreht. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon lief und was sie alles aufgezeichnet hatte. Er hatte nicht einmal gewusst, dass dort oben eine Kamera hing.

Und dann hörte er die Sirenen.

Sie rannten los, tauchten ein in das Gewirr der Straßen. Aber sein Vater war alt. Schon nach wenigen Minuten lehnte er keuchend an einer Wand. Sie waren in einem kleinen Quergang zwischen zwei größeren Straßen, zu klein für Autos und nach allem, was er wusste, auch ohne Überwachung.

»Gib mir die Tasche, Bo, schnell!«

Er drückte seinem Vater das abgewetzte Stück in die Hand. Der öffnete den Arztkoffer und löste an einer Stelle das Innenfutter. Dahinter, ganz genau konnte Bo es nicht erkennen, lag etwas, an das Joris seinen Daumen drückte. Der Fingerabdruck startete einen Mechanismus, der die feste Außenwand der Tasche wegklappen ließ. Oder das, von dem Bo bisher gedacht hatte, dass es die Außenwand sei. Als Joris seine Hand wieder aus dem schmalen Geheimfach hervorzog, befand sich ein alter, vergilbter Briefumschlag darin.

»Nimm.«

»Was …?«

»Betrachte es als mein Erbe. Lass dich nur nie damit erwischen. Auf den Besitz steht die Todesstrafe.«

»Aber …«

Joris’ Atem ging immer noch viel zu schnell. Trotzdem unterbrach er Bo. »Wir haben nicht viel Zeit. Der Tote, das war Duhnkreih, der Bürgerschaftspräsident. So jemand wird nicht einfach überfallen. Ich weiß nicht, wer ihn aus dem Weg räumen wollte, aber die Polizei wird uns für seinen Tod verantwortlich machen. Du musst untertauchen, Bosse. Sofort. Geh zu Tom, der kann dir helfen.«

»Warum kommst du nicht mit?«

Joris lächelte. Zum ersten Mal an diesem Abend. Er legte seine Hand auf Bos Schulter und sah ihn voller Zuneigung und Zärtlichkeit an. Sein Atem hatte sich beruhigt.

»Ich hab meine Kämpfe gekämpft. Ich bin zu alt für ein Leben im Untergrund. Außerdem möchte ich mich von Johanna verabschieden. Du weißt doch: Sie wird wahnsinnig vor Angst, wenn wir nicht nach Hause kommen. Ich will ihr erzählen, was passiert ist und was passieren wird, bevor sie mich abholen.«

»Dich abholen? Aber du hast doch nur versucht zu helfen.«

»Das ist denen egal. Sie brauchen einen Schuldigen und mich werden sie schneller finden als die Ratten.« Joris drückte ihm den Briefumschlag in die Hand. »Hier steht alles, was du über die Birds wissen musst. Ein Journalist hat diese Sachen recherchiert, damals, vor der Blutnacht, und dafür mit seinem Leben bezahlt. Aber dieser Text hat die Menschen dazu gebracht, sich zu wehren. Auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Vielleicht gelingt es dir erneut.«

»Aber …«

»Lauf. Lauf so schnell du kannst. Und mach mich stolz.«

Joris umarmte ihn. Bo fühlte die festen Arme seines Vaters, roch die Wolle des alten Mantels und dahinter, ganz leicht nur, den Geruch von Desinfekt. Er weigerte sich, diesen Abschied als endgültig zu akzeptieren. Aber in ihm keimte die Ahnung, dass das die letzte Umarmung gewesen sein könnte. Er hatte lange genug in Nordland gelebt, um zu wissen, dass den Birds alles zuzutrauen war. Außer Gerechtigkeit.

Und während sein Vater, die Tasche in der Hand, in die eine Richtung ging, rannte Bo in die andere, immer im Mondschatten der Häuser, die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen.

Pakt

Die Ohrstecker ihrer Vidja filterten einen Teil des Hubschrauberlärms heraus. Aber eben nur einen Teil. Lilliths Kopf fühlte sich an, als ob er von den Rotorblättern in Stücke geschnitten wurde. Immer und immer wieder. Duhnkreihs Emotionen gestern Abend hatten sie ausgelaugt. Wie gerne wäre sie heute auf ihrem Zimmer geblieben, um wieder zu Kräften zu kommen.

Davide hatte darauf bestanden, dass sie ihn zur Eröffnung des neuen Methangasspeichers begleitete.

Aus dem Fenster des Helikopters sah sie die grünen Rasenflächen und die goldenen Beete voller Herbstastern. Die Weitläufigkeit des Parks half gegen die Enge im Kopf, aber nicht gegen den Rotorenlärm. Sie drückte auf das Pflaster an ihrem Unterarm und erhöhte die Schmerzmitteldosis. Es war ihr ein Rätsel, warum ihr Vater die alten kerosingetriebenen Hubschrauber bevorzugte. Die viel angenehmer zu fliegenden und deutlich leiseren Elektrokopter stürzten genauso selten ab.

Das Positive an diesem Ausflug ins südliche Nordland: Sie hatte ihren Vater eine halbe Stunde lang ganz für sich. Niemand würde heute in ihre Mittagsrunde hineinplatzen. Titus, der persönliche Assistent ihres Vaters, saß vorne beim Piloten und war in die Vorbereitungen für die bevorstehende Veranstaltung vertieft. Die Leibwächter beobachteten den Luftraum um sie herum und alle anderen Störenfriede waren zu Hause geblieben.

Sie würde mit ihm über Duhnkreih reden können. Der Bürgerschaftspräsident hatte die Nacht nicht überlebt und Lillith quälte sich mit der Frage nach dem »warum«. Sie wünschte sich überzeugende Argumente von ihrem Vater, Gründe, die ihr eigenes Gewissen erleichterten. Lillith wünschte sich Absolution.

Sie tippte mit ihren Fingerkuppen auf die Armlehnen, beobachtete abwechselnd ihren in Geschäftszahlen vertieften Vater und die Welt auf der anderen Seite des Fensters. In der Ferne hingen Zeppeline in der Luft und sorgten für die problemlose Übertragung der Vidja-Daten. Unter ihr wichen die manikürten Rasenflächen einer grau-braunen Landschaft aus ärmlichen Behausungen, verlassenen Straßen und leeren Plätzen. Hier irgendwo musste gestern Nacht der Überfall passiert sein.

Davide machte weiterhin keine Anstalten, mit der Mittagsrunde zu beginnen. Gut, dann würde sie eben auch arbeiten. Sie nahm eine lippenstiftgroße Schachtel aus der Handtasche, drückte auf einen Knopf und wartete, bis sich die Nanoteilchen neu sortiert hatten. Ein leichter Druck in die Vertiefung ihres goldenen Armreifs aktivierte ihre Vidja und stellte die Verbindung zu dem 21-Zoll-Monitor her, zu dem die Schachtel sich entfaltet hatte. Lillith überprüfte die neu eingegangene Post und löschte ungelesen die zahlreichen Werbe- und Bittbriefe, die es durch die Filter des Systems geschafft hatten. Sie leitete weitere Zusagen zur heutigen Eröffnungsfeier an Titus weiter, speicherte ein aktuelles Angebot für die nächste Generation Windrad-Rotoren und warf einen Blick auf die Tagesordnung für die Bürgerschaftssitzung morgen, bei der ein neuer Bürgerschaftspräsident gewählt werden musste.

Die letzte Nachricht kam von Kuwait Petroleum, die sich für die gute Zusammenarbeit bedankten. Die Araber kündigten an, ab sofort kein Q8-Getriebeöl mehr liefern zu können. Wieder ein Produzent weniger auf dem Weltmarkt. Lillith runzelte die Stirn. Jetzt waren die Russen die einzigen, die synthetische Spezialöle für Windenergieanlagen verkauften. Die Preise würden deutlich steigen. Auch das würde sie gleich mit ihrem Vater besprechen müssen.

Der schien sie heute ignorieren zu wollen. Sie presste die Lippen zusammen. Es war immer das Gleiche. Sie hatte wichtige Dinge mit ihm zu besprechen und er hatte keine Zeit. Dabei hatte er selbst dieses Mittagsgespräch ins Leben gerufen, als er merkte, welches Potenzial dank ihrer Hochsensibilität in ihr steckte. Seit ihrem 16. Geburtstag half sie ihm bei Verhandlungen. Im Gegenzug brachte Davide ihr alles bei, was sie über das Civetta-Imperium wissen musste. In den vergangenen neun Jahren hatte sie die Grundlagen der Betriebswirtschaft, der Energiewirtschaft und des Vermögensmanagements verinnerlicht, Schwedisch, Russisch und Chinesisch gelernt und jede Menge Praxiserfahrung in Taktik und Strategie gesammelt.

Sie war die perfekte Nachfolgerin.

Leider sah das Rollenverständnis Nordlands so eine Position für Frauen nicht vor.

Stattdessen schwebte das drohende Eheschwert nun auch über ihr. Sie verdrängte den Gedanken daran. Zwei Jahre, hatte ihr Vater gestern gesagt. In zwei Jahren konnte noch viel passieren.

Unter ihnen glitzerte die Elbe im Sonnenlicht. Die Reste der Köhlbrandbrücke ragten schwarz in den Himmel. Zu Füßen der Ruine steuerte ein Zollboot langsam durch das flache Gewässer. Bei Ebbe kam der Verkehr in diesem Teil des Hafens fast vollständig zum Erliegen. Nur Schiffe mit wenig Tiefgang hatten noch genug Wasser unter dem Kiel.

Hatte Lillith bislang gedacht.

Als der Hubschrauber leicht den Kurs änderte, sah sie ein Segelschiff, das trotz Wind nicht von der Stelle kam. Es musste auf eine der Sandbänke aufgelaufen sein, die in letzter Zeit an unerwarteten Stellen in diesem Teil der Elbe auftauchten. Sie blinzelte ein paar Mal und aktivierte die Vergrößerungsfunktion ihrer Vidja, aber den Mann, der an Deck stand und das Ufer beobachtete, hatte sie noch nie gesehen. Drei Wimpernschläge später hatte die Datenbank dem auffällig kantigen Gesicht einen Namen und einen Kontakt zugeordnet: Erik Drach, Sohn des vor Kurzem verstorbenen Senators Alexander Drach. »Brauchen Sie Hilfe?«, twinkerte Lillith ihm zu. Drach kniff die Augen zusammen und suchte nach dem Absender der Nachricht. Lillith lächelte freundlich und hob grüßend die Hand zum Fenster, ließ sie aber sofort sinken, als sie ein schlichtes »Nein« empfing.

»Dann warte halt, bis die Flut kommt«, murmelte sie und speicherte aus einem Impuls heraus diesen kurzen Dialog. Damit er ihr später nicht vorwerfen konnte, sie hätte ihm ihre Hilfe verwehrt.

Endlich aktivierte ihr Vater den abhörsicheren Kommunikationskanal seiner Vidja. »Also Lillith, was beschäftigt uns heute?«, fragte er. Der Lärm des Hubschraubers bildete nach wie vor die schrappende Hintergrundkulisse, trotzdem hörte sie die Stimme ihres Vaters dank Knochenschall klar und deutlich in ihrem Kopf.

Sie zupfte an ihren mit Goldfäden durchzogenen Röcken. »Willem Duhnkreih ist gestern Nacht im Armenviertel überfallen und totgeschlagen worden.«

»Ja, ich weiß. Gibt es bereits Details?«

Lillith spürte nach. Ihr Vater hatte nicht den Hauch eines schlechten Gewissens. Unglaublich. Sie fasste die Nachrichten zusammen: »Laut Heimatschutzbehörde ist Duhnkreihs Auto im Schanzenviertel liegengeblieben. Man vermutet technisches Versagen. Er wurde zusammengeschlagen und ist noch auf der Straße an seinen inneren Verletzungen gestorben. Sein Auto wurde gestohlen, ebenso seine Kleidung und seine – Vidja.«

Lillith versagte die Stimme. Sie sah wieder das Bild vor sich, das von der Heimatschutzbehörde am Vormittag veröffentlicht worden waren: der nackte, massige Körper, die leeren Augenhöhlen mit dem angetrockneten Blut. Das hatte sie nicht gewollt.

Sie räusperte sich. »Was sagen wir, wenn uns jemand nach ihm fragt?«

Davide hatte ihre kurze Pause anscheinend nicht bemerkt.

»Willem hat mich besucht, wir haben Geschäftliches besprochen, dann ist er gefahren.«

»Was ist, wenn ich mich getäuscht habe? Wenn er gar nicht vorhatte, dich …?« Sie brauchte den Satz nicht zu beenden.

Die dunklen Augen ihres Vaters bohrten sich in ihre. »Warum solltest du dich getäuscht haben?«

»Ich weiß nicht. Hast du den Tee analysieren lassen?« Sie hoffte, dass Fakten ihre Gefühle bestätigten. Empathie war eine ungenaue Wissenschaft.

»Dafür war gestern Abend keine Zeit.«

»Und heute?«

Davide antwortete nicht. Was Antwort genug war.

Willem Duhnkreih war von ihrem Vater mit einer fehlerhaften Energieanzeige nach Hause geschickt und im Armenviertel zu Tode geprügelt worden, weil sie seinen unbändigen Hass gefühlt hatte. Weil sie geglaubt hatte, dass dieser Hass in einem Mord­anschlag gipfeln würde. Sie hätte ihn genauso gut selbst umbringen können.

»Gab es keine Alternative?« Sie versuchte, ihre Stimme sachlich kontrolliert zu halten, ihr Schuldgefühl nicht zu zeigen. Ihrem Vater war diese ganze Gefühlsduselei zuwider. »Er war einer deiner ältesten Freunde. Ihr seid zusammen zur Schule gegangen.«

Davide fuhr sich durch sein weißes Haar. Für einen Moment kam Lillith der Gedanke, dass die Schuldgefühle nicht nur ihre eigenen waren.

»Er wusste, dass er einen so massiven Verstoß gegen unseren Pakt mit dem Leben bezahlen würde.«

Lillith schwieg. Der Pakt. Die Grundlage Nordlands. Ihr Vater war bei der Neuordnung damals federführend gewesen. Er und seine Freunde, alles Unternehmer, hatten schnell begriffen, dass ihr kleines Land im Norden der ehemaligen Bundesrepu­blik auf Dauer nur bestehen konnte, wenn die Elite sich nicht in sinnlosen Führungskämpfen selbst auslöschte. Also hatten sich die Männer Nordlands auf ihre Stärken konzentriert, Landwirtschaft und Windenergie, und gemeinsam ein rechtsstaatliches Wirtschaftssystem aufgebaut, das schnell zu einem echten Wettbewerbsvorteil geworden war. So viele Länder gab es nicht mehr, die friedlich waren und funktionierten. Um diesen Zustand auf Dauer zu erhalten, hatten sich die führenden Familien Nordlands auf den Pakt verständigt, der unter anderem besagte, dass sie sich gegenseitig niemals schaden würden. Jeder von ihnen hatte die Mittel, die anderen aus dem Weg zu räumen. Aber allen war bewusst, dass – sobald sie zu diesen Mitteln griffen – die Kämpfe um ihr persönliches Überleben im Bürgerkrieg enden würden.

Fast 25 Jahre war dieser Pakt nun alt. Seit 25 Jahren hatte die Führungsriege das Geld in die Entwicklung ihrer Unternehmen statt in Waffen gesteckt, sie hatte prosperiert und ein kleines, feines Land geschaffen, das vielleicht nicht perfekt, aber im Vergleich zu den Nachbarländern schon ziemlich gut war. Für Lillith war der Pakt immer etwas Selbstverständliches gewesen. Etwas, das nicht in Frage gestellt wurde. Etwas, an das sich alle hielten, weil alle den Sinn dahinter verstanden. Willems Anschlag war völlig überraschend gekommen.

»Gab es früher eigentlich Verstöße gegen den Pakt?«, fragte sie.

»Ganz zu Beginn gab es ein paar Probleme mit weniger bedeutenden Familien, aber die haben wir lösen können. Willems Versuch ist der erste aus dem alten Gründerkreis.« Davide strich sich durchs Gesicht und Lillith fühlte sein Bedauern.

»Seine finanzielle Situation muss prekärer gewesen sein, als ich gedacht habe.« Davide griff zu seinem Manschettenknopf. Er schien das Gespräch beenden und sich wieder an seine Arbeit machen zu wollen. Lillith legte ihre Hand auf seine. Sie war noch nicht fertig.

»Aber warum musste er sterben? Hätte man ihn nicht anders bestrafen können, ins Gefängnis stecken oder ins Exil schicken?«

»Nein. Wenn jemals öffentlich wird, dass Willem mich umbringen wollte, wird es das Ende von Nordland sein. Wenn nur ein einziger offen den Pakt missachtet, dann wird sich kein anderer mehr daran halten. Das wäre das Ende unseres friedlichen Zusammenlebens.« Davide umfasste Lilliths Hände mit seinen. »Deshalb darfst du niemals über diesen Vorfall reden.« Er drückte ihre Hände fest zusammen. »Glaub mir, diese Entscheidung war eine der härtesten meines Lebens. Aber manchmal ist das Opfer eines einzelnen der einzige Weg, um das Leben aller anderen zu schützen.«

Lillith entzog sich ihm. »Es gibt immer mehr als einen Weg. Man muss nur intensiv genug darüber nachdenken.«

Unter ihnen erstreckten sich riesige Maisfelder. Ein grünes Dickicht aus Stangen und Blättern, kurz vor der Ernte. Manchmal entdeckte Lillith eine kleine Siedlung um einen Gutshof herum. Ansonsten war das Land menschenleer, bewirtschaftet von Maschinen, die keine Fahrer benötigten, bewacht von Drohnen, die jeden unbefugten Eindringling sofort betäubten, bevor sie die Sicherheit verständigten.

Davide hatte mit Lillith über das Ende von Q8 diskutiert, aber ihre Sorgen über das russische Monopol auf die speziellen Windkraft-Getriebeöle nicht geteilt. Dann hatte er sich wieder in seinen eigenen Bildschirm versenkt und an seiner Rede gefeilt.

»Hast du gesehen, dass Heinrich Schedalke kommen wird?«, fragte Lillith, als die aluminium-glänzenden Rohre und Türme der Methangasspeicheranlage unter ihnen auftauchten.

»Mhm.« Davide machte keine Anstalten sich vom Bildschirm zu trennen.

»Beunruhigt dich das nicht? Immerhin hat er gedroht, dir den Speicher notfalls mit Gewalt zu nehmen.«

Davide seufzte und reduzierte seinen eigenen Vidja-Bildschirm auf Streichholzkistenformat.

»Ich habe den größten unterirdischen Gasspeicher Westeuropas instand setzen lassen. Natürlich hätten die Westfalen ihn auch gerne, jetzt, wo er wieder funktioniert. Aber Rehden gehört zu Nordland. Mit allem was auf und unter der Erde ist. Schedalke hat nicht die Mittel, daran etwas zu ändern, weder als Geschäftsmann noch als Mitglied der westfälischen Regierung. Diese Drohung ist ein ziemlich durchsichtiges Manöver, um vom Bürgerkrieg im eigenen Land abzulenken.«

»Und du meinst, eine Einladung reicht, um ihn zu befrieden?«

»Nein. Vermutlich nicht. Ich habe ihn deshalb auf die Liste deiner potentiellen Heiratskandidaten setzen lassen.«

»Du hast was?«

Davide sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Lillith mühte sich, die Kontrolle über ihre Emotionen zurückzubekommen. »Aber er ist nicht wirklich einer der Kandidaten, oder?«

»Natürlich nicht.«

»Und du hast keine Sorge, dass er sich rächt, wenn ihm klar wird, dass er nur Füllmasse war?«

»Er wird in einem fairen Verhandlungswettkampf ausscheiden und nicht bemerken, dass er nie zur Debatte stand.«

»Hoffentlich behältst du recht.«

»Selbst wenn nicht: Heute wird er sich jedenfalls zurückhalten.«

Der Hubschrauber landete mitten auf dem Firmengelände, nur wenige Schritte vom Festplatz entfernt. Am Arm ihres Vaters ging Lillith zum Hauptzelt. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Reihe armseliger Behausungen, ganz schief und grau. Aus den Fenstern schauten blasse Gestalten auf die Veranstaltung vor ihrer Haustür. Lillith zog ihr Schultertuch enger. Sie fröstelte.

»Was sind das für Leute?«

Davide blickte in die Richtung, in die Lillith zeigte.

»Ehemalige Landarbeiter.«

»Warum sind die hier?« Lillith spürte Gram und Resignation.

»Es gab ein paar Familien, die unser Angebot für neuen Wohnraum nicht annehmen wollten, nachdem ihre Häuser bei den Vorbereitungsarbeiten abgesackt sind. Sie wollten lieber hier bleiben und ich habe anderes zu tun, als die Leute zu ihrem Glück zu zwingen.«

Unter den ganzen Kummer mischte sich Wut. Offenbar hatten einige der Anwohner Davide erkannt. Lillith drehte sich weg von den Menschen. Nicht schon wieder so intensive Gefühle. Ihre Kopfschmerzen hatten gerade erst nachgelassen.

Sobald sie das Zelt betraten, brandete Applaus auf. Davide nahm seinen Borsalino ab und ging, freundlich nach links und rechts grüßend, zum Rednerpult. Nach einer Stunde voller Ansprachen, Grußworten und Dankesreden schritt Davide zum Gashahn und drehte an dem großen, extra für diese Gelegenheit am Ventil angebrachten Metallrad. Windgas, das Elixier der modernen Gesellschaft, floss aus den großen Umwandlungs­anlagen an den Küsten in den unterirdischen Speicher. Unsichtbar, geruchlos, sauber. Mit diesem Speicher war die Energieversorgung Nordlands für Monate gesichert.

Lang anhaltender Applaus beendete den offiziellen Teil. Auch der westfälische Handelsminister und Geschäftsfeind Heinrich Schedalke applaudierte. Langsam. Kraftsparend. Lauernd.

Der Wind bauschte Lilliths Röcke, als sie eine Stunde später wieder in den Hubschrauber stieg. Lillith spürte die Nervosität des Piloten und überprüfte die Wettervorhersage. Ein Sturmtief näherte sich von Nordosten, aber sie sollten zurück in Hamburg sein, bevor es in ihre Nähe kam.

Sie schafften es nicht einmal bis zur Elbe.

»Wir müssen landen. Sofort!« Der Pilot hatte panische Angst, Lillith krallte sich an den Armlehnen fest, ihr Atem ging flach und schnell, in ihren Ohren dröhnte es. Der Helikopter sackte ein Stück nach unten.

Davide sah stirnrunzelnd von seinem Bildschirm auf und nach draußen. Der Wind peitschte Regentropfen an die kleinen Fenster. Mehr war in dem schwarz-grauen Wolkenmeer um sie herum nicht zu sehen. Ein Windstoß schob den Heckausleger zur Seite, der Pilot steuerte sofort dagegen, Lillith biss sich auf die Lippen, um den Schrei nicht herauszulassen. Als ob die eigene Angst nicht schlimm genug war.

»Ich kann den Heli nicht mehr lange in Position halten, Senator Civetta.«

»Sie werden fürs Fliegen bezahlt, nicht fürs Jammern«, mischte sich Titus ein.

»Wo sind wir?«, fragte Davide.

»Etwa 20 Kilometer südlich der Elbe.«

»Stellen Sie sich nicht so an.« Titus wieder. »Es ist doch nur noch ein Katzensprung bis zum Anwesen der …«

»Wir landen«, unterbrach Davide seinen Assistenten. »Versuchen Sie, so nahe wie möglich an die Autobahn zu kommen.«

»Sie haben gehört, was der Chef gesagt hat. Landen, sofort.«

Die Panik des Piloten ließ nach, er wusste, was er zu tun hatte und steuerte den Hubschrauber langsam Richtung Boden. Die Windstöße schienen nachzulassen.

Lillith löste ihre Hände von den Armlehnen und schaltete den Bordfunk aus. »Kannst du bitte Titus entlassen?«, schickte sie als stumme Nachricht auf die Kontaktlinse ihres Vaters.

»Warum? Er ist klug, ehrgeizig und loyal«, bekam sie zur Antwort.

»Ein Opportunist ohne eigene Meinung.«

»Für Diskussionen habe ich ja dich. Organisiere uns bitte Limousine und Geleitschutz.«

Lillith öffnete den Kommunikationskanal. Die Windstöße wurden erneut heftiger. Sie twinkerte dem Fuhrpark die Anweisungen und war froh, sich dabei wieder an den Armlehnen festkrallen zu können. Ihre Vidja sendete die aktuelle Position. »20 Minuten bis zum Rendezvous«, meldete das System und mit einem letzten, viel zu heftigen Ruck setzte der Hubschrauber auf. Nur um sofort wieder den Kontakt zum Boden zu verlieren. Die Kabine überschlug sich, dann ein Ruck, ein weiterer Aufprall, noch ein Ruck. Lillith wurde in die Gurte gedrückt, um die eigene Achse geschleudert, sie schrie, sie hörte und fühlte die Todesangst der anderen, die Sekunden dehnten sich, während die Rotorblätter des Hubschraubers mit einem lauten Knall zerbarsten und zusammen mit der von ihnen aufgewühlten Grasnarbe davonflogen.

Und dann war alles ruhig.

Draußen verschwand die Welt in einer Matschwolke.

Schmerzen, Verwirrung, Angst. Lillith hing kopfüber in ihrem Sitz, gehalten von dem Gurt, gepolstert von den Luftkissen, die sich um sie herum aufgeblasen hatten. Sie stützte sich an der Decke ab, die nun der Boden war, löste die Gurtschnalle und machte eine wenig elegante halbe Rolle. Neben ihr kam Davide auf die Füße, der Pilot drückte bereits zusammen mit den Leibwächtern gegen die Tür, niemand schien ernsthaft verletzt worden zu sein. Mit einem Knall riss der Wind die halb geöffnete Tür aus der Verankerung und heftiger Regen prasselte auf sie ein.

»Dahinten sind Hütten, vielleicht bieten die uns ein bisschen Schutz«, rief der Pilot. Er schob sich nach draußen und reichte Davide die Hand.

»Was für ein Wetter«, murmelte der und kletterte behände aus dem Helikopter. Er drückte den Borsalino fest auf seinen Kopf, bevor er Lillith heraushalf.

Sie waren auf einer kahlen Anhöhe gelandet, an deren Rand halb verfallene, barackenartige Häuser standen. Der nächste Windstoß riss Davides Hut davon und blähte Lilliths Rock wie das Hauptsegel eines Dreimasters. Die Absätze ihrer Pumps versanken im Matsch, Lillith ließ sie zurück. Davide griff nach ihrer Hand und lief los, aber mit ihrem eng geschnürten Korsett konnte sie sein Tempo nicht mitgehen. Sie blieb stehen und versuchte, den Knoten zu lösen. Keine Chance. Maja hatte sie heute Morgen gründlich verpackt. Dafür schien der Sturm nur auf so eine Gelegenheit gewartet zu haben: Er verfing sich in ihren Röcken, gleich würde sie abheben. »Hilfe«, twinkerte sie an ihren Vater. Kurz fürchtete sie, mit wehenden Röcken von einer Sturmbö davongetragen zu werden, da fassten die beiden Leibwächter sie an den Armen und erdeten sie.

Ein Rudel wilder Hunde kam ihnen mit aufgerissenen Mäulern entgegen. Der Sturm war lauter als ihr Kläffen. Und lauter als die Schüsse, die einer der Leibwächter auf sie abfeuerte und mit denen er drei, vier, fünf von ihnen erschoss. Die überlebenden Hunde rannten zurück zu den flachen Ruinen. Lillith bemerkte erst jetzt, dass in einer der Türöffnungen jemand stand. Hinter ihm flackerte ein Licht. Auch der Leibwächter, der gerade die Hunde erschossen hatte, bemerkte ihn und hob die Pistole.

»Nicht!«, brüllte Lillith gegen den Sturm an. Sie spürte die knochentiefe Angst des Unbekannten. Im nächsten Moment schlug er die Tür zu und das gesamte Haus versank im Dunkelgrau des Unwetters.

»Seit wann leben hier Menschen?«, twinkerte sie an Davide. »Ich dachte, der alte Drach hat seinen Besitz komplett räumen lassen.«

»Wir sind nicht in Wilhelmsburg«, las sie auf ihrer Kontaktlinse. »Das hier muss Neugraben sein.«

Neugraben! Neugraben war Niemandsland. Es gehörte zu den Vierteln, für die sich bei der Neuaufteilung Nordlands niemand interessiert und die man deshalb den Armen der Stadt und dann sich selbst überlassen hatte. Eine der Gegenden, in die man sich besser nicht verirrte. Oder notlandete.

Sie überprüfte die Karte ihrer Vidja. Drei helle Punkte bewegten sich langsam in Richtung Süden. Die Fahrzeuge hatten noch nicht einmal die Grundstücksgrenze des Civetta-Anwesens erreicht. Noch 18 Minuten bis die Verstärkung hier war. Ihren Vater schien das nicht zu kümmern. Er hämmerte an die Tür, die sich gerade eben erst geschlossen hatte.

»Ich glaube nicht, dass der Mann gut auf uns zu sprechen ist«, twinkerte Lillith.

»Warum rennen seine Hunde auch frei herum?«, bekam sie zur Antwort. »Das Problem lösen wir mit ein paar Nordmark.«

Die Tür öffnete sich, erst nur einen Spalt, dann weiter, und Davide winkte ihr und den beiden Leibwächtern ungeduldig zu. Titus hatte bereits ein Bündel durchnässter Geldscheine aus seiner Jacke gezogen und hielt es jemandem vor die Nase. Der Mann hatte das Feingefühl eines Betonsenkkastens.

Je näher Lillith kam, desto stärker wurden die Gefühle von Angst, Unsicherheit und von Trauer. Um die Hunde? Aber die Menschen, die in diesem Haus wohnten, schienen keine Rachegelüste zu hegen, unter all der Angst und Unsicherheit war Resignation das vorherrschende Gefühl. Gut. Wenigstens mussten sie sich keine Sorgen um ihre Sicherheit machen. Sie löste sich von den beiden Leibwächtern und trat über die Schwelle.

Eine dichte, feuchte Wärme hatte sich dank eines Kanonenrohrofens in dem kleinen Raum breitgemacht. Die Löcher, die einmal Fenster gewesen waren, hatten die Bewohner mit schimmliger Pappe verklebt. Es stank nach ungewaschenen Menschen und feuchter Wolle – und nach Kohlsuppe. Der schmiedeeiserne Topf auf dem Ofen schien die aktuelle Mahlzeit zu enthalten. Um den Tisch in der Mitte des Raums hatte sich die Familie versammelt, die Hausherrin stand am Ofen und versuchte, Blickkontakt zu ihrem Mann aufzunehmen. Der Mann war riesig, bestimmt zwei Köpfe größer als Lillith. Er starrte auf Davide herab, die Arme vor der Brust verschränkt. Eine ältere Frau, seine Mutter?, zupfte an seinem Ärmel. Eine Fliege hätte mehr Eindruck hinterlassen. Ein halbes Dutzend Orgelpfeifenkinder blickte die Neuankömmlinge mit großen Augen an. Die Kerze auf dem Tisch brannte ohne das geringste Flackern.

»Wir können …«, begann Titus und wedelte wieder mit dem Geldbündel, aber Davide brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen.

»Angst«, twinkerte Lillith, »Zorn und Stolz. Titus soll endlich das Geld wegstecken.«

Der Wind heulte um die Baracke.

Mit einem kurzen Nicken bot der Hausherr Davide einen Platz an.

»Sie haben Ihre Leute kontaktiert?«

»In einer Viertelstunde belästigen wir euch nicht länger.«

Jemand hämmerte an die Tür.

»Peer, ich bin es, Lasse.«

Peer öffnete die Tür einen Spalt breit.

»Was willst du?«

»Hast du den Hubschrauber gesehen? Ich hab den anderen Jungs schon Bescheid gesagt. Die Insassen können noch nicht weit gekommen sein.«

Lillith spürte eine unbändige Lust und Gier. Als ob ihr Vater seine Geschäftsfreunde zur Jagd geladen hätte.

»Kein Interesse.«

»Aber Peer, denk doch mal nach, was da für ein Lösegeld fällig wird. Das muss einer der Birds gewesen sein, der da vom Himmel gefallen ist.«

»Ich mach bei sowas nicht mit.« Peer schlug die Tür zu und drehte sich wieder zu ihnen, das Gesicht unlesbar, das Gefühlsleben chaotisch. Er blickte kurz zu seiner Frau, die ihm zunickte.

»Komm, Tonja, lass uns endlich zu Abend essen.«

Tonja nahm ein fast leeres Schraubglas vom Regal und schüttete die wenigen Kräuter in eine dickbäuchige Teekanne. »Wir müssen morgen nochmal los und Kräuter suchen«, sagte sie zu ihrer ältesten Tochter. »Begleitest du uns, Kimon?« Das war an den ältesten Sohn gerichtet, der schon fast die Statur seines Vaters hatte. »Muss das sein?«, murmelte er. »Ich wollte morgen …«

»Seit wann lassen wir unsere Frauen ohne Schutz vor die Tür, Kimon?« Peer sprach langsam und gedämpft. »Wenn du in diesem Winter Tee möchtest, begleitest du deine Mutter und deine Schwester.«

Tonja drückte Lillith einen angeschlagenen Emaillebecher in die Hand. Lillith schnupperte an dem aufsteigenden Dampf. Pfefferminze.

»Wir schicken euch Tee und Kräuter«, bot Lillith an. »Als Dank für eure Hilfe und dass ihr nicht …« Lillith zeigte mit dem Kopf zur Tür. »Tut mir wirklich leid, die Sache mit den Hunden.« Sie schaute auf ihren Tee. »Können wir es wieder gut machen?«

»Genug zu Kreuze gekrochen!«, las sie auf ihrer Kontaktlinse.

Sie ignorierte Davide. »Was braucht ihr?«

»Nichts.« Peer drehte sich zu seiner Frau. »Wir haben alles, was wir brauchen, nicht wahr?«

Tonja nickte, aber der Stolz – das einzige, was dieser Peer im Überfluss besaß – wurde von Tonjas Verzweiflung überlagert. Lillith folgte ihrem Blick. Auf dem schmalen Regal standen mehrere Schraubgläser, die meisten davon leer. In einigen glaubte Lillith, Reste von Zucker und Mehl zu erkennen. Ein paar mickrige Kohlköpfe lagen in einer Schüssel, daneben verschrumpelte Kartoffeln voller Triebe. Neben dem Ofen lagen zwei, drei Holzscheite. Der Rest war Gestrüpp, das innerhalb von Minuten verbrennen würde.

Lillith nippte an ihrem Tee. Tonja rührte in der Suppe und eines der Mädchen stellte Teller auf den Tisch. Sie scheuchte ihre Geschwister fort und bat die Civettas und ihre Angestellten, Platz zu nehmen. Tonja füllte allen dünne Kohlsuppe auf und schnitt einen kleinen Laib Brot in Scheiben.

Davide ließ seinen Teller unangetastet vor sich stehen.

Lillith zögerte, unsicher, ob sie aus Höflichkeit essen oder angesichts der schmalen Gesichter der Kinder das Essen ablehnen sollte. Sie entschied sich, das Verhalten ihres Vaters zu kopieren.

Titus aß, als ob er seit drei Tagen gehungert hätte.

Der Pilot und die beiden Leibwächter winkten ab. Sie blieben neben der Tür stehen, bereit, sofort aufzubrechen, wenn Davide das Kommando gab.

Niemand redete. Die Kinder beobachteten fassungslos, wie Titus zwei weitere Scheiben Brot aß.

»Es reicht, Titus«, twinkerte Lillith.

Aber der reagierte nicht, sondern tunkte eine weitere Scheibe Brot, die letzte, in seine Suppe.

Jemand trommelte an die Tür. Davides Augen bewegten sich hin und her, er schien Kommandos zu twinkern. Noch bevor Peer aufgestanden war, hatten die neu angekommenen Sicherheitskräfte der Civettas die Tür bereits eingetreten. Lillith schaute entschuldigend zu Tonja, die mit offenem Mund die Männer und ihre Waffen anstarrte. Die beiden kleinsten Kinder fingen an zu weinen und versteckten sich hinter ihrer Mutter.

»Musste das sein?«, herrschte Lillith die Männer an. »Es gab wirklich keinen Grund für so ein …«

»Gut, dass ihr so schnell gekommen seid«, unterbrach Davide sie und ging ohne ein weiteres Wort des Dankes an Peer vorbei. »Komm, Lillith!«

»Es tut mir leid«, flüsterte sie und hoffte, dass Tonja ihr glaubte.

Peer beugte sich zu seiner Frau: »Vom Schlächter der Blutnacht war nichts anderes zu erwarten.« Tonjas Antwort wurde von einem weiteren »Komm jetzt, Lillith« übertönt.

Lillith stolperte über eine der herausgerissenen Türangeln. Die scharfe Kante schnitt in ihre nur von Nylon bedeckten Zehen. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie nach draußen. In ihrer Vidja-Navigation markierte sie das Haus ihrer Gastgeber und twinkerte eine Nachricht an sich selbst: »Nahrung und Energie schicken (Maja).«

Lillith setzte sich Davide gegenüber und untersuchte den verletzten Fuß: Ein glatter Schnitt, aber nicht allzu tief. Blut tropfte auf das helle Leder. Davide reichte ihr mit angewidertem Ausdruck ein Taschentuch, das sie auf die Wunde drückte. Sie spürte Ärger und Zorn und wollte sich gerade bei ihrem Vater für die Blutflecke entschuldigen, als sie bemerkte, dass der Ärger nicht von ihm ausging. Vor den Baracken standen Männer, die mit gierigen Blicken ihre Kolonne verfolgten. Angesichts der bis unter das Dach munitionierten Geländewagen wagten sie nicht, näher zu kommen. Lillith konnte durch die Panzerglasscheibe die Behausung erkennen, in der sie 20 Minuten lang sicher gewesen waren. Peer hatte die Reste der zersplitterten Tür wieder in die Öffnung gestellt, aber das letzte bisschen Wärme würde in wenigen Minuten aus ihrer kleinen Hütte verschwunden sein. Das Kerzenlicht flackerte und erlosch. In dem roten Licht ihrer Rückleuchten bewegten sich die Männer langsam durch den Sturm auf Peers Hütte zu. Voller Zorn. Voller Wut.

Wenige Minuten später erreichten sie die Mauer, die den Hamburger Hafen vor dem Mob schützte. Die Einfahrt zum Hafengebiet war mit einer automatischen Kontrolle gesichert. Lillith hob die Hand ans Fenster und drehte den Kopf, damit die Kameras ihre biometrischen Daten abgleichen konnten. Aber das Eingangstor stand bereits offen. Lillith spürte Davides Nervosität und durchsuchte die Vidja nach Neuigkeiten. Weder die aktuellen Berichte der Heimatschutzbehörde noch die Protokolle der Hafenaufsicht zeigten ungewöhnliche Aktivitäten, die das geöffnete Tor erklärten.

»Vermutlich ein technischer Defekt aufgrund des Sturms«, sagte Davide. »Wir sollten trotzdem Erik Drach informieren. Titus!« Davide verschwand hinter seinem Vidja-Monitor, Lillith lehnte sich zurück und versuchte, das ungute Gefühl zu ignorieren, dass sich in der Limousine breit machte. Sie war jetzt in Sicherheit. Trotzdem blieben ihre Handflächen feucht.

Vor ihnen lag der Elbtunnel. Sie traute diesem Bauwerk nicht. Lieber querte sie die Elbe mit dem Hubschrauber oder, wenn das nicht ging, über die Brücke bei Moorfleet.

Davide hasste Umwege.

In einer langgezogenen Linkskurve näherte sich ihre kleine Kolonne der letzten verbliebenen Elbröhre. Drei Röhren hatte sich die Elbe im vergangenen Jahr mit tatkräftiger Unterstützung eines tief liegenden Containerschiffes zurückerobert. Dessen Kiel hatte die ersten beiden Elbtunnel-Röhren aufgeschlitzt. Erst die dritte Röhre bremste das chinesische Schiff so weit ab, dass es kurz vor der vierten zum Halten kam.

Die Entschädigungszahlungen waren lachhaft gewesen. Aber was war Nordland im Vergleich zu China? Bürgermeister Rabe – reich geworden mit dem Bau von Straßen und immer noch verantwortlich für das gesamte Straßennetz Nordlands – hatte mit dem Geld nicht viel reparieren können. Er hatte die Straße neu asphaltiert, die Kacheln komplettiert und mit strahlender Lichttechnik dem Tunnel das Düstere genommen. Die Fahrstreifenbegrenzung leuchtete in frischem Weiß und Verkehrsschilder wiesen darauf hin, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung bei 80 km/h lag. Sogar die Höhenkontrolle funktionierte. Behauptete Rabe. Lillith wusste es besser: Die Fassade war hübsch anzusehen, dahinter verrottete die Substanz.

»Hat Rabe schon neue Pläne für die Sanierung bekanntgegeben?«, fragte Lillith.

»Pläne hat unser Bürgermeister genug. Aber ihm fehlt das Geld, sie umzusetzen.« Davide sah aus dem Fenster. »Beim nächsten Mal sollten wir den Weg über Moorfleet nehmen. Ich traue der Statik nicht mehr.«