NOTIZ ZUM UNTERGANG DER WELT - Mile Stojić - E-Book

NOTIZ ZUM UNTERGANG DER WELT E-Book

Mile Stojić

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Beschreibung

Diese Sammlung vereint Gedichte und Erzählungen von fünf der bedeutendsten literarischen / poetischen Stimmen aus Bosnien und Herzegowina: Mile Stojić, Adisa Bašić, Ferida Duraković, Faruk Šehić und Abdulah Sidran – Texte, die vom Krieg erzählen und sich dem Vergessen widersetzen. Ausgewählt, übersetzt und nachgedichtet durch Cornelia Marks mit Sorgfalt und Empathie, geben sie Zeugnis von Schmerz, Verlust und der Hoffnung auf Menschlichkeit. Ein Buch, das berührt – und erinnert, und das leider aktueller ist denn je. Mit einer Einführung von André Schinkel, einem bedeutenden Lyriker aus Halle an der Saale.

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Seitenzahl: 89

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Notiz zum Untergang der Welt

Notiz zum Untergang der Welt

Texte gegen Krieg aus Bosnien und Herzegowina

Ausgewählt, übersetzt und nachgedichtet von Cornelia Marks. Mit einer Einführung von André Schinkel.

VON UFER ZU UFER

IMPRESSUM

© 2025 Adisa Bašić, Ferida Duraković, Mile Stojić, Faruk Šehić, Abdulah Sidran, André Schinkel

Übersetzungen: Cornelia Marks

Die Rechtschreibung im Text »Zum Geleit« folgt den Intentionen des Autors.

Verlagslogo & Zeichnung auf dem Cover: Léonard Marks

Covergestaltung: Dirk Bierbaß

Satz: Birte Janzen

Druck und Distribution im Auftrag des Verlags:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Verlag verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Verlags, zu erreichen unter:

Verlag VON UFER ZU UFER

Dirk Bierbaß, Frohe Zukunft, Dessauer Str. 28, 06118 Halle (Saale), Deutschland Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

ISBN: 978-3-384-72325-3

Abdulah Sidran (1944–2024)

ALPTRAUM

Was tust du da, mein Sohn?

Ich träume, Mutter. Ich träume, Mutter, dass ich singe, und du fragst mich in meinem Traum: Was tust du da, mein Sohn?

Worüber singst du im Traum, mein Sohn?

Ich singe, Mutter, dass ich ein Haus hatte.

Und jetzt habe ich kein Haus mehr. Das ist es, worüber ich singe, Mutter.

Dass ich eine Stimme hatte, Mutter, und meine Sprache.

Und jetzt habe ich keine Stimme und keine Sprache mehr.

Mit einer Stimme, die ich nicht habe, in einer Sprache, die ich nicht habe,

über das Haus, das ich nicht habe, singe ich ein Lied, Mutter.

Aus dem Bosnischen von Cornelia Marks

ZUM GELEIT: WORÜBER SINGST DU IM TRAUM

And I’m all dressed up

I know it isn’t right

Pour myself another glass

Turn off all the lights

And sit for a while

Aching and alone

Waiting in the dark for you

Robert Smith.

Es gibt Dinge, die dauern. Wirklich kennen lernte ich den Balkan, diese tragische, zugleich mit einer atemberaubenden Schönheit, Tiefe und einem großen Reichtum in den Kulturen ausgestattete Großlandschaft, erst 2008, als ich das erste Mal in Bosnien und Herzegowina war. Ich hatte zuvor Bulgarien gesehen und natürlich von Griechenland gehört. Aber mit meiner Landung in Sarajevo, und so ist mir noch heute, öffnete sich der Blick auf das Los und die Möglichkeiten des Landstrichs auf eine Art und Weise, die mich bis heute berührt und beschäftigt. Und ich habe die Orte, die ich dort sah und die auf kleinem Raum verschiedene Welten im Uhrglas dann doch einer Welt darstellen, bis heute nicht vergessen, schrieb darüber und werde wohl auch weiter schreiben dazu.

Es ist auch das Rätsel, hinter das Licht über den bosnischen und herzegowinischen Flüssen zu kommen, das Nachdenken über die Zerreißproben, die dieses bergige Land heimsuchten und wohl bis heute heimsuchen, zugleich die Freundlichkeit der Menschen und das große Fragezeichen, das über ihrem Schicksalssignum der jüngsten Zeit steht, den Bosnienkriegen, deren Nachhall das Land bis heute prägt und in Teilung hält, von denen Schreckliches erzählt wird und sich ausdrückt in ungezählten Gräbern, die sich durch dieses so licht-, wasser- und karstreiche Land ziehen.

Mit jeder Begegnung, jedem Ort in Bosnien und Herzegowina spürte ich, daß ich nicht mehr aufhören konnte, an es zu denken; und ich stellte mir in den mich dazu erreichenden Versen und Fragmenten vor, daß es so etwas wie eine dauerhafte Brücke gäbe, über die sich alle Fragen und Sorgen lösten. Das war natürlich atlantisch von mir gedacht. Und es gab doch eine Brücke aus Worten, das stellte ich auch 2010 fest, als ich noch einmal dort war und mein Gedicht »Zdrava Voda« vorlas. Es war das erste, das ich den Blicken und Gesprächen dort widmete, ich hatte es in meinem Sarajevoer Hotel geschrieben, als ich aus Mostar über Jablanica an die Miljacka zurückgekehrt war. Diese Brücke, glaube ich, war und ist die Poesie: als eine, reale, Sprache der Welt …

Ist das so? Ich bin bis heute damit beschäftigt, das herauszufinden – oft verzagt, zuweilen in Hoffnung. Und weiß doch, es kann nur so sein.

Es gibt einen Popsong von großer Zärtlichkeit, Rock Me Gently von Erasure, von ihrem eponymen Album von 1995, das meilentief unterschätzt ist. Es ist nur Synthiepop, aber dieses Album, das Erasure heißt, gehört zum Schönsten, was das Genre hervorgebracht hat – dieser Song ist ganze zehn Minuten lang, im Background lamentiert und raunt il diva Diamanda Galás, und davor und danach heißt es: »And I dream you’re with me / You hold me sweetly / And rock me gently to sleep / In your arms …«

Das Gegenprogramm mögen die späten Zeilen von Robert Smith aufmachen, aber zwischen diesen Visionen spannt sich, glaube ich, die Tragödie des Doppeljahrhunderts, in dem wir leben müssen. Mehr noch, so wie die Ahnung der Finsternis in den Stücken beider Bands, das Beschwören des Traums bei Erasure wie The Cure eben noch von einer halbwegs sicheren Warte aus verhandelt wird, ist die Finsternis mehr denn je in die Welt zurückgekehrt, und das Antlitz des Entsetzens, das sie auslöst, läßt uns stumm und auch verzweifelt mit unserem Glauben an die nun ganz offenbar verwehenden Maßgaben der Aufklärung ringend zurück. Und so neu uns das vorkommt: Das ist es nicht, auch wenn es nun von einem Ausmaß in die Festungen unseres Dahinlebens pliert, daß einem angst und bange werden muß: Der Krieg. Zurück in Europa. Jetzt.

Zugleich hätte man gemahnt sein können und eben wiederum müssen. Denn es sind unsere Generationen, auch in Europa, und doch gleichsam in der ganzen Welt, die mit dem Krieg leben, leben mußten, ihn fürchten, beobachten müssen, wie er in ihr Leben einzog und Ruß und Dunkelheit und Epigenetik stiftet. Und wir sind uns bewußt an diesem Beispiel, das uns nah und lieb ist, Bosnien und Herzegowina, wie wenig weit weg ist das und betrifft Menschen, die uns nah und lieb sind, betrifft Menschen, die ganz auf unsere Weise von einem Leben träumten, das nicht darin bestehen sollte, den Nachbarn zu belauern oder vielmehr noch vom Nachbarn belauert zu werden. Ja, und das ist nicht neu, das wissen wir seit über dreißig Jahren, daß es so war. Und es rummelt noch in der Tiefe, ist zu fürchten, ja, in solcher sich entfesselnden Ära zumal.

Auch wenn ich 2008 und 2010 die Schußnarben in Sarajevo, den zertrümmerten Boulevard von Mostar gesehen habe, ich habe nur eine vageste Ahnung, was es heißt, sich inmitten des Inferno zu befinden, die durch so viele Texte, die von diesem Land berichten, sprechen. Sie gemahnen uns, und zugleich sind wir in unserem Stolpern durch die jüngste Geschichte unaufmerksam, global unaufmerksam … und könnten doch vielfach belehrt sein. Vielleicht haben wir das verlernt, in aller Stille Gedichte zu lesen und die Berichte, die uns davon erzählen. Dabei liegt sie uns in der Vielzahl Stimmen, die aus Bosnien und Herzegowina auf uns kommen, doch vor. Man tat gut daran, die reiche Dichtung dieses Landes zu übersetzen, wie es in dieser Sammlung geschah.

Ein anderer Song auf besagtem Album heißt Sono Luminus. Und Licht zu sein, das ist eine edle Aufgabe der »Sängerinnen und Sänger« – ihren Versen und Zeugnissen, was möglich ist am Grat der Jahrzehnte, erleb-, erleid-, bestehbar. So faßt dieses Buch auch das Entsetzen … und ist doch Licht dadurch, daß es spricht.

Die Dichterinnen und Dichter dieses Bands, die wir bewundern, haben eben dies in ihrer Lebenszeit erfahren, sie waren im Exil, oder sie hielten aus, mußten aushalten, einer von ihnen hat gekämpft, wurde verwundet, sein Werk leuchtet wie eine blutende Wunde vor Verletztheit und Kraft. Sei es, daß ihre Familien, ihre Träume zerrissen wurden – sie sind allesamt von dieser Erfahrung, jede/jeder für sich und doch auch gemeinsam (wenn man diese heikle Union als Außenstehender versuchen darf) gezeichnet. Wie auch ihre Texte. Wie auch ihre Art und Weise, in der Gegenwart zu stehen. Und so Teilmenge dieser Welt zu sein. Wie es der Welt gebührt. Wie uns. Und umgekehrt. Auf dem Balkan ist das so. Im Osten, sei er, wo er sei. In der Mitte. Bergkarabach. Wo immer. Überall. Es ist kein Ort wert, mit Krieg überzogen zu werden. Es ist richtig, solidarisch zu sein. Solidarität begründet keinen Wert im Krieg. Sie läßt uns menschlich bleiben.

Ist dies so? Ich möchte noch nicht aufhören, daran zu glauben. Und indem ich mir die Welt ansehe, wünsche ich mir, diese Ideale, sie sind nicht vom Tisch. Es ist, sehe ich, das Anliegen dieser Kompilation bosnischer Texte, dies auszudrücken.

Illusion und Desillusion. Daß von ihnen durch ihre Verse und Fiktionen gezeugt ist, ist das Wesen der Kunst, die alle Aufgenommenen betreiben – der Literatur.

Sie ist bewahrend, und auf dem Papier, auf dem sie gedruckt ist, in den flimmernden digitalen Äthern kündet sie von den Zumutungen der Zeit, von der Bedrängnis, auch der Hoffnung, in der sie entstand. Und wird das Zeugnis eines brüchigen Friedens sein, den man sich für das Leben fest wünscht und der mehr denn je obsolet scheint in einer Zeit, in der man gleichzeitig nicht anders kann als versuchen, auf die Seite der Gerechtigkeit zu gelangen, ohne in Rechthaberei und Überhebung zu landen.

Schon der mittlerweile weltweite Streit darüber ist ein Grund für neue Gräben, für neue Kontroversen. Auch über dieses doppelte, nein, mehr noch, dieses vielleicht sogar dreigeteilte Land, Bosnien und Herzegowina (daß es einem wie ein Kleineuropa erscheint und von dem der große Dichter Hadžem Hajdarević einmal sagte, es sei ein »Land, das es nicht gibt«), scheint das wie Mehltau gelegt, und es rumort zugleich in der Tiefe. Zu tief mögen die Verletzungen sein … sie münden natürlich in Sprache, ins Hinterfragen, den Blick und die Visionen, wie es, so oder so, sein könnte. Sein sollte.

Solange geschrieben und gesprochen wird, ist das nicht verloren. »Einmal weinte / eine deutsche Mutter / genauso wie eine kroatische Mutter / um den, den sie hatte und / der zusammenbrach / und hinsank, ohne Laut« – heißt es bei Mile Stojić. Allein das zu sagen, das zu wissen, macht bei aller integrierten Traurigkeit Hoffnung. Und bei Abdulah Sidran steht: »Worüber singst du im Traum?« Sein Gedicht gibt nicht nur Motto und Entrée dieses Buchs, nein, es schließt alle in ihm gestellten Fragen mit ein.

Ich war zweimal in diesem Land, mit der Übersetzerin dieser Sammlung, Cornelia Marks, auf das gleiche Festival eingeladen. Ich trage in mir die Bilder von einem der schönsten Länder, das ich je sah, aber auch die Trauer und den Nachruch des barbarischen Durcheinanders, den die Kriege auf dem Balkan auslösten. Ich werde stets daran gemahnt sein und das nicht vergessen.