Novembernachtskuss - Lisa F. Olsen - E-Book

Novembernachtskuss E-Book

Lisa F. Olsen

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Aber Morgen klingt noch Ewigkeiten entfernt und heute will ich einfach mal glücklich sein." Ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher sein, trotzdem haben sie eine Sache gemeinsam: Sie fühlen sich allein, obwohl sie es nicht sind. Vor einigen Monaten hat Arian seinen Vater verloren und seitdem gleicht sein Leben einem schlechten Film. Alles, was ihm geblieben ist, ist seine Musik und seine beste Freundin. Dabei würde er alles dafür tun, seine Entscheidungen in der Vergangenheit zu verändern. Elias hat das, was Arian nur aus seiner Vergangenheit kennt: Eine liebevolle Familie, viele Freunde und die Aussicht auf einen Vertrag im Profifußball. Trotzdem kämpft er damit, glücklich zu sein. Auf einer Stufenparty, auf der beide nicht sein wollen, treffen sie zum ersten Mal aufeinander. Arian bringt den betrunkenen Elias nach Hause. Dieser will sich bei seinem "Retter" bedanken, kann sich aber an kaum etwas aus der Nacht erinnern. Der einzige Hinweis, der im bleibt, ist der Ring den Arian bei Elias vergessen hat …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 416

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lisa F. Olsen

Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Inhaltswarnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog
Danksagung

Impressum

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2021 BY ELYSION BOOKS GMBH, LEIPZIG

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert

www.dreamaddiction.de

LAYOUT &WERKSATZ: Hanspeter Ludwig

www.imaginary-world.de

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-165-2

ISBN (ebook) 978-3-96000-166-9

Für Jonah.

Inhaltswarnung

Liebe Leser*innen,

in diesem Buch sind potenziell triggernde Inhalte zu finden.

Folgende Themen werden u.a. angesprochen:

Depressionen

Schilderung von Erbrechen

Essstörung

Tod

Suizidale Gedanken

Kapitel 1

Arian

Das Gewicht der Gitarre ruht schwer auf meinem Brustkorb. Die Melodie, die meine Finger wie im Schlaf auf den warmen Saiten spielt, füllt meinen Körper, bis es nur noch dieses Lied gibt. Bis ich eins werde mit den Klängen jahrelanger Musikgeschichte. Bis ich nicht mehr daran denken muss, was ich vor nicht allzu langer Zeit verloren habe. Der Sound meiner Akustikgitarre ist mir so vertraut, wie seine Stimme, die jetzt nur noch eine blasse Erinnerung ist.

Ich fange an zu singen. Leise. Aber laut genug, dass ich nicht mehr daran denken muss, dass ich vor einem halben Jahr meinen Vater verloren habe. Dass ich seither ein Leben lebe, das sich anfühlt als würde es nicht mir gehören. Bei jeder weiteren Zeile wünsche ich mir, ich könnte wieder zurück. Zurück zu dem Tag, als mir meine Stiefmutter noch in die Augen gucken konnte. Zurück zu dem Moment, als wir eine Familie waren.

Ich kämpfe mich durch das Lied, weil mir das Atmen plötzlich schwerfällt und meine Fingerspitzen zu schmerzen beginnen.

»Hast du auch noch andere Stücke in peto, Cobain?« Ihre Stimme erschreckt mich so sehr, dass ich vergesse umzugreifen und ein ätzender Ton in der kleinen Kammer, die seit einigen Monaten mein Zimmer ist, zu hören ist. Wobei Zimmer in dem Fall eine absolute Übertreibung ist. Ich bezeichne es eher als Loch mit einem kleinen Fenster. Manchmal frage ich mich, ob der Brief der Zauberschule, der mich aus meinem elendigen Leben befreit, noch kommt. Vielleicht klopft auch irgendwann ein Filmteam an unsere Haustür, um eine moderne Aschenputtel-Verfilmung abzudrehen. Aber es sammeln sich weder irgendwelche Eulen vor unserem Haus, noch singt jemand im Hintergrund Only time, wenn ich durch die Schulflure streife. Ich hatte einfach Pech und das ist kein modernes Märchen, sondern mein verdammtes Leben.

»Was willst du?«, entgegne ich, halte den Blick aber weiterhin auf die Decke über mir gerichtet.

»Dich aus deinem Niemandsland holen.« Dann greift Alexis einfach nach meiner Gitarre, legt sich ungefragt neben mich und beginnt irgendeinen fetzigen Song zu spielen. Lexi ist eine meiner Stiefschwestern. Die Nettere der beiden.

»Was machst du hier?«, hake ich nach. Sie legt die Gitarre weg und dreht sich zu mir.

»Du hast eben so verloren gewirkt, als du gegangen bist  … ich fands nicht in Ordnung, was Hanna gesagt hat.« Dabei funkelt sie mich entschuldigend aus ihren schlammbraunen Augen an. Eigentlich war es nicht anders als sonst. Ihre Zwillingsschwester und ich haben immer schon Differenzen. Als Hanna heute aber gesagt hat, dass sie sich wünscht, ich würde einfach wieder nach Hamburg verschwinden, bin ich aufgesprungen und gegangen, anstatt etwas zu erwidern.

»Du hättest nicht vorbeikommen müssen«, entgegne ich und rutsche ein Stück von ihr weg.

»Doch. Ich habe ihr auch gesagt, dass sie sich entschuldigen soll. Aber … Warum ist das so zwischen euch?«

Wenn ich ihr das beantworten könnte, würde ich es wahrscheinlich auch schaffen eines der sieben ungelösten Millennium-Probleme der Mathematik zu lösen.

»Keine Ahnung«, erwidere ich.

»Ich lasse ihr das auf jeden Fall nicht mehr durchgehen. Ich will nicht, dass du dich hier unerwünscht fühlst«, entgegnet Alexis entschlossen und fährt sich durch ihre braunen, kurzgeschnittenen Haare.

»Ich schaffe das schon allein.« Ich will mich auf gar keinen Fall zwischen die beiden stellen. Wir schweigen einen Moment, bis ihr Räuspern die Stille durchbricht.

»Ich werde auch nochmal mit Mama sprechen«, flüstert sie und ihre Worte treffen mich. Ich weiß, dass sie ihre Mutter liebt. Aber sie wird trotzdem nie verstehen, warum Iris mich keines Blickes mehr würdigt. Warum wir uns im selben Raum aufhalten und trotzdem beide irgendwie nicht da sind. Dennoch würde ich meine Stiefmutter manchmal gerne schütteln und ihr sagen, dass sie doch die einzige Familie ist, die mir bleibt.

»Musst du nicht«, antworte ich und seufze frustriert. Dann schweigen wir wieder. Lexi und ich sind sehr gut darin, die Leere mit unseren Gedanken oder unserer Musik zu füllen. Ich greife wieder nach meiner Gitarre, spiele mehrere Lieder, bis Lexi sich irgendwann gähnend verabschiedet.

Der nächste Morgen startet wie jeder andere, eine feuchte Zunge leckt über meine Finger und binnen Sekunden bin ich wach. Ich kraule dem kleinen Beagle den Kopf und lege ihm dann sein Geschirr an. Nachdem ich mich fertig gemacht und meine Jacke übergeworfen habe, verlassen wir das Haus. Kurt schnüffelt wie wild herum, während ich versuche, nicht wieder einzuschlafen. Der kühle Oktobermorgen ist farblos und leise, lediglich der Wind, der durch die Blätter weht, ist zu hören. So früh ist selten jemand unterwegs. Schon gar nicht in unserer Nachbarschaft. Als Papa gestorben ist, mussten wir in einen günstigeren Stadtteil ziehen und sehr wenige der Nachbarn verlassen vor zehn Uhr ihre Wohnung. Mein Blick wandert über die betonfarbenen Mehrfamilienhäuser, die genauso trist und trostlos wirken wie mein Leben. Nur schmerzlich erinnere ich mich an die schönen Fachwerkhäuser und den für den Norden typischen Backstein­expressionismus. Davon ist in Bromburg wenig zu sehen. Eigentlich wirkt es sogar fast wie ein Mahnmal, das mich daran erinnert, dass ich einmal alles hatte und davon nicht mehr als ein grauer, eintöniger Rest zurückgeblieben ist.

Auf dem Rückweg lässt sich langsam die Sonne blicken. Der kleine Hund streckt immer wieder sein Köpfchen gen Licht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er der Einzige ist, der diese Familie noch zusammenhält.

Im Hausflur begegne ich Hanna, die sich offenbar gerade zurück in unsere Wohnung schleicht und hofft, nicht von Iris erwischt zu werden.

»Morgen«, murmele ich und leine Kurt ab, der sie freudig begrüßt. Während sie dem Hund den Kopf tätschelt, erhalte ich nur ein knappes Nicken.

Das Frühstück ist wie immer ein Kampf, auch wenn sich Alexis bemüht mich ins Gespräch einzubeziehen, aber von Iris kommt keine Reaktion. Danach gehen Lexi und ich schweigend nebeneinander zur Straßenbahn, die uns zur Schule bringt.

Nach zwanzig Minuten erreichen wir endlich die Haltestelle des Ludwig-Bechtstein-Sportgymnasiums. Lustlos greife ich die Träger meines Rucksacks enger und bewege mich gemeinsam mit Marla in Richtung des neuen aluminiumverkleideten Traktes des Schulgebäudes. Lexi hat sich den Rauchern angeschlossen, die neben der Haltestelle stehen. Warum ich ein Sportgymnasium besuche, obwohl ich in keiner Aktivität, die mit körperlicher Bewegung zutun hat wirklich gut bin? Keine Ahnung. Scheinbar hat der Verlust meiner Mutter, der meines Vaters und der meines vorherigen Lebens dem Schicksal nicht ausgereicht. An der letzten Schule war ich einer der beliebtesten Schüler und ich habe es genossen. Seit ich zu Beginn der 11. Klasse hierher gewechselt bin, nennen mich die meisten nur den Neuen. Den anderen bin ich ziemlich egal. Aber sie mir auch. Deswegen gebe ich mir auch keine Mühe, überhaupt jemanden kennenzulernen. Ich will nächstes Frühjahr Abi machen und dann weg von hier.

»Hast du mit Lexi endlich mal über Hanna gesprochen?«

»Nein. Aber sie kam gestern in mein Zimmer und hat sich für das Verhalten von ihrer Schwester entschuldigt«, erwidere ich und mustere meine beste Freundin.

Wenn man Marla das erste Mal sieht, fällt einem wahrscheinlich kaum etwas auf, außer, dass sie mit den hellblauen Augen, den schwarzen Haaren und der hellen Haut an Schneewittchen erinnert. Ihre Augen stehen etwas zu weit auseinander und ihr Gesicht ist mit Sommersprossen gesprenkelt. Aber spätestens, wenn sie anfängt zu sprechen, wird deutlich, dass sie ziemlich besonders ist. Ihre Stimme klingt unmelodisch und zwischen den Wörtern lässt sie oft zu lange Pausen.

Vor zwei Jahren hatte sie eine schwere Mittelohrentzündung, bei der es Komplikationen gab, woraufhin sie ihr Gehör verloren hat. Seitdem haben sich ihre Freundinnen von ihr abgewandt und sie ist ähnlich wie ich, wie ein einsamer Wolf durch die Schule gestreift. Bis sie neben mir im Sportunterricht auf der Auswechselbank gesessen hat und wir uns auf Anhieb verstanden haben. Seither sorgt sie dafür, dass mein Leben sich nicht mehr ganz so scheiße anfühlt, wofür ich ihr unendlich dankbar bin.

»Finde ich gut«, erwidert sie, viel zu spät und ich sehe, dass ihr Blick irgendjemanden hinter mir fixiert. Ich will mich gerade umdrehen und nachsehen, da legt sie mir schon die Hand auf den Arm.

»Er guckt gerade her«, flüstert sie und ich kann mir ein Grinsen kaum verkneifen.

»Jonas?«, forme ich mit den Lippen, was sie mit einem Nicken bestätigt. »Sprich ihn endlich mal an«, fordere ich flüsternd, woraufhin sie nur mit dem Kopf schüttelt und ihre schwarzen Locken durch die Luft fliegen. Marla ist, seit ich sie kenne in Jonas verliebt. Allerdings weiß der Fußballspieler nichts von seinem Glück und wenn es nach Marla geht, dann wird das auch so bleiben. Auf dem Weg zum Mathekurs versuche ich sie weiter zu überzeugen, während sie mir Gründe liefert, warum sie ihn nicht ansprechen kann.

»Er kann sich garantiert nicht mehr an unseren Kuss erinnert. Und ich werde ihm sicher nicht erzählen, wie viel es mir bedeutet hat, nur damit er mir am Ende das Herz bricht.« Ihre zarten Finger tanzen durch die Luft, während ihr trauriger Gesichtsausdruck die Gebärden unterstreicht.

»Trotzdem musst du dich irgendwann entscheiden, ob du ihn nochmal küssen oder ihn weiter anschmachten willst.«

Daraufhin formt sie ihre rosigen Lippen zu einem Schmollmund und erwidert nichts mehr.

Kapitel 2

Elias

Das Gewicht in meiner Fußinnenseite wiegt schwer, denn die ganzen Erwartungen der anderen scheinen sich auf meinen nächsten Schuss auswirken. Trotzdem schiebe ich den Ball mit überraschender Leichtigkeit an dem letzten Verteidiger vorbei. Das Adrenalin fließt heiß durch meinen Körper, während der Herbstwind kühl über meine Haut streicht. Das Stadion des ersten FC Bromburg ist für ein Amateurspiel ziemlich gut besucht und ich habe eben schon auf den Rängen viele bekannte Gesichter gesehen. Doch all das tritt in den Hintergrund, als nur noch der Torwart in dem hellen Schein der Flutlichter vor mir steht. Jeder meiner Gedanken verstummt. Die Stimmen und Rufe der anderen vermischen sich mit dem Rauschen des Windes. Ich blicke kurz hoch und kann den kämpferischen Ausdruck in seinem Gesicht erkennen. Es sind nur noch er und ich, die entscheiden, wie das Spiel ausgeht. Der Ball scheint an meinem Fuß zu kleben. Ich laufe weiter auf ihn zu darauf hoffend, dass er endlich rauskommt. Wenigstens ein kleines Stück. Nur einen Wimpernschlag später kommt er meiner stummen Bitte nach. Der Ausdruck in seinen Augen ist entschlossen. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen.

Blitzschnell schieße ich und versenke den Ball rechts unten im Netz. Ich zähle stumm bis drei und plötzlich bricht der ganze Lärm über mir zusammen. Mein Körper befindet sich in einem Zustand zwischen High sein und absoluter Glückseligkeit, als Jonas mir auf den Rücken springt und seine Faust in die Höhe reckt. Ich blicke in die jubelnden Gesichter meiner Mannschaftskollegen, die alle in ihren blau-weißen Trikots auf mich zugelaufen kommen.

Doch bevor wir uns wirklich in Sicherheit wiegen können, müssen wir noch die letzten Minuten runterspielen und keinen Treffer kassieren.

Als der Schiri wieder anpfeift, erhöht die gegnerische Mannschaft den Druck Richtung unseres Tors enorm. Aber es ist das erste Mal im Spiel, dass unsere Abwehr gut steht. Mathis Sommer, unser Torwart bekommt letztlich die Zähne auseinander und stellt die vier Jungs vor sich, sodass wir hoffentlich keinen Gegentreffer mehr erhalten.

Als endlich der Abschlusspfiff ertönt, rasten auch unsere Zuschauer aus, als hätte wir irgendwas Wichtiges gewonnen. Dabei war das hier lediglich die Qualifikationsphase für den U20 Regiocup, die wir erfolgreich, wenn auch knapp, hinter uns gebracht haben.

Beim Verlassen des Platzes klebt mein Trikot schweißnass an meiner Brust und meine Waden brennen, aber ich hatte schon viel zu lange nicht mehr dieses Gefühl von Leichtigkeit in meinem Körper. Das Gefühl, alles erreichen zu können.

Um die Glückseligkeit, die meinen Körper wie eine warme Decke umhüllt, zu halten, verbiete ich es mir, zur Tribüne zu blicken, weil die Enttäuschung darüber, dass meine Eltern mal wieder nicht da sind, mich nur runterziehen würde. Und das kann ich definitiv nicht gebrauchen, weil ich gleich mit den anderen feiern gehen will.

Außerdem weiß ich, wie gerne sie mir zuschauen, es aber momentan einfach nicht geht. Und ihnen das Übel zu nehmen, macht mich zu einem richtig großen Arschloch.

Also schlucke ich das seltsam drückende Gefühl hinunter und gehe mit dem Rest unter die Dusche.

»Hey Mathis, guck auf deinen eigenen Schwanz!«, ruft Tom, woraufhin unser rothaariger Torwart ihm nur den Mittelfinger zeigt. Seit dieser sich letztes Jahr geoutet hat, muss er immer wieder dumme Sprüche einstecken. Allerdings habe ich schon mit dem ein oder anderen Idioten unserer Mannschaft ein ernstes Wörtchen geredet, weshalb es nur bei kleinen Neckereien bleibt. Ich schnappe mein Duschgel und gehe auf nassen Sohlen zurück in die Kabine. Ich habe gerade meine Boxershorts angezogen, als Jonas, nur mit Handtuch um die Hüften auf die Bank steigt. Was zur Hölle hat er vor?

»Ich habe sturmfrei! Die Party findet also bei mir statt.«

Wir jubeln alle so laut, als hätten wir die Meisterschaft schon gewonnen. Jonas grinst breit, springt von der Bank und beginnt sich anzuziehen. Normalerweise treffen wir uns nach den Spielen in einer kleinen Kneipe, in der Nähe der Sportanlagen.

Doch bevor wir uns weiter darüber unterhalten können, welche Getränke noch besorgt werden müssen, betritt unser Trainer die Kabine und einige Sekunden später ist es mucksmäuschenstill.

»Gratulation zum Sieg, Jungs. Es war ziemlich knapp, aber das wisst ihr ja. Die Abwehr war heute miserabel! Sommer, es ist deine Aufgabe als Torwart, hinten für Ordnung zu sorgen. Daran arbeiten wir nächste Woche. Ansonsten war die Leistung in Ordnung. Aber da geht definitiv noch mehr. Trotzdem fällt die Konditionseinheit morgen früh aus. Das heißt aber nicht, dass ihr euch heute Abend betrinken dürft! Morgen Nachmittag will ich euch fit auf dem Platz sehen, damit wir an den Defiziten arbeiten können. Und jetzt zieht euch an, dass ich den Platz gleich abschließen kann und den Tatort nicht verpasse.«

Seine zusammengezogenen Augenbrauen untermalen seinen harten Ton, wobei er zum Ende hin seichter wird. Anfangs hat sein strenges Auftreten den ein oder anderen vor Angst in die Knie gezwungen. Coach Reinharts trainiert viele von uns seit der achten Klasse. Er ist allerdings immer fair und hat sich schon oft für sozial schwächere Jungs eingesetzt.

Nachdem er die Kabine verlässt, geht die Planung weiter und jeder verspricht etwas von zuhause mitzubringen.

Auf dem Weg zum Auto checke ich doch mein Handy, obwohl ich mir geschworen hatte, die gute Stimmung beizubehalten.

Dad [14:03]:

Wir drücken dir die Daumen, Champ.

Dad [17:10]:

Schreib mal, wie es ausgegangen ist: )

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und antworte ihm, bevor ich nach Hause fahre. Wie erwartet, ist niemand da. Ich schmeiße die Fußballsachen in den Korb vor der Waschmaschine und ziehe mich um. Im Badezimmer werfe ich einen Blick in den Spiegel. Blaue, leere Augen schauen zurück. Ich bin absolut nicht in der Stimmung auf eine Party zu gehen. Andererseits will ich aber auch nicht hier warten, bis sie wieder zurück sind. Mit den Fingern fahre ich mir durch meine schwarzen Haare, die an den Seiten etwas kürzer sind. Mit ein bisschen Wachs bekomme ich sie einigermaßen geordnet.

Bevor ich das Haus verlasse, lege ich meinen Eltern noch einen Zettel hin, damit sie sich keine Sorgen machen, falls sie heute überhaupt noch nach Hause kommen.

»Kannst du mir mal mit der Zapfanlage helfen?«, fragt Jonas, kurz nachdem ich sein Haus betreten habe. Einige aus der Mannschaft lümmeln schon in dem großen Wohnzimmer. Im Schrank unter der Küchentheke steht das Aluminiumfass und wartet nur darauf, von uns angeschlossen zu werden. Nach einigen Anläufen klappt es endlich und perfekt gekühltes, goldenes Pils läuft aus dem Hahn direkt in meinen Becher.

»Auf uns«, ruft Jonas, stößt mit seinem Becher gegen meinen und besudelt den Boden mit dem Bier. Ich erwidere sein Lächeln, auch wenn es noch etwas gezwungen wirkt. Die großzügige Schnapssammlung, zu der ich zwei Flaschen Rum beigesteuert habe, wird es bestimmt schaffen, dass ich auch in Party­stimmung komme.

Mit unseren Getränken gesellen wir uns zu den anderen und ich versuche, mich so gut es geht mit belanglosen Gesprächen abzulenken.

Als wüsste er, dass etwas nicht stimmt, legt mein bester Freund den Kopf schräg und mustert mich. Doch bevor er den Mund öffnen und irgendwas fragen kann, strömen weitere Leute aus unserer Stufe in den großen Raum mit den hohen Decken und den dunkelblauen Sofas.

»Hey. Gratulation zu deinem Tor.« Die Berührung am Arm und die Stimme gehören zu Kim, die sich wenige Sekunden später in mein Blickfeld drängt.

»Danke«, erwidere ich und schenke ihr ein echtes Lächeln. Wir sind im letzten Jahr ein paar Mal miteinander ausgegangen. Sie ist klug, wunderschön und wir haben uns schon immer gut verstanden, aber für mich hat es sich nicht richtig angefühlt. Vor allem weil Jonas schon immer für Kim geschwärmt hat.

»Wie geht’s deiner Schwester?«, fragt sie und wenig später ist die Leichtigkeit zwischen uns verschwunden. Sie macht sich nur Sorgen, aber ich will heute Abend nicht daran denken. Mich wenigstens ein paar Stunden so fühlen wie die anderen um mich herum. Leicht und sorgenfrei.

»Ich will nicht darüber reden«.

Ihr Gesichtsausdruck spiegelt Enttäuschung wider. Am liebsten würde ich mich entschuldigen. Ich habe damals Schluss gemacht, obwohl ich wusste, dass sie noch Gefühle für mich hat. Sie war immer meine beste Freundin, aber seither ist es mit ihr seltsam angespannt. So, als würde irgendetwas zwischen uns stehen. Als ich meinen Blick hebe, begegne ich dem von Jonas, der beinahe genauso traurig wirkt wie ihrer. Früher waren Kim, Jonas und ich unzertrennlich. Wir sind in derselben Straße aufgewachsen und haben jeden Tag miteinander gespielt. Umso mehr schmerzt es, dass wir nichts mehr zu dritt unternehmen, obwohl wir wie Geschwister aufgewachsen sind.

Ganz plötzlich sind die unausgesprochenen Gefühle zwischen uns dreien viel zu viel. Mir schnürt es den Hals zu. Also trete ich einen Schritt zurück, um Abstand zwischen uns zu schaffen und endlich wieder Luft zu bekommen. Ich hebe meinen Becher kurz, um ihr zu signalisieren, dass ich mir Nachschub besorge. Kim nickt nur und wendet sich ab. Ihre Augen glitzern immer noch verdächtig. Auf dem Weg in die Küche lege ich den Kopf in den Nacken, um den Rest auszutrinken. Dabei stoße ich mit jemanden zusammen und das klebrige Bier läuft mir übers Gesicht. Super.

»O sorry, Mann«, höre ich eine Stimme, reagiere aber nicht darauf, weil ich immer noch in Gedanken bin und mein gesamtes Gesicht klebt.

Ich stelle den Becher auf die Küchenzeile und drehe mich um, kann aber niemanden erkennen, zu dem die unbekannte Stimme passt. Der süßlich, herbe Biergeruch steigt mir in die Nase und ich bahne mir einen Weg durch die Menge zu den Toiletten. Dabei klopft mir immer wieder irgendwer auf die Schultern und beglückwünscht mich. Die meisten Mädels strahlen mich an, als würde ich jeden Moment die Welt retten und die Jungs so, als wäre ich irgendein Fußballstar. Obwohl ich es natürlich niemals zugeben würde, sind das Streicheleinheiten für mein Ego. Selbstverständlich muss ich mich nicht anstellen, weil Maik von ganz vorne mich einfach vorlässt.

Nachdem ich die gröbste Sauerei von meinem Gesicht und meinem Hemd entfernt habe, widme ich mich wieder der Getränke­auswahl in der Küche. Als ich gerade nach dem goldbraunen Rum greifen möchte, legt sich eine Hand auf meine Schultern.

»Danke für deine Vorlage, Captain. Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre der Ball drin gewesen.«

»Kein Ding«, erwidere ich. Tom grinst mich an und greift dann nach dem Wodka.

»Auch?«, fragt er dann, weil ich immer noch die Flaschen vor mir betrachtet, anstatt mir etwas einzuschenken. Ich schüttele mit dem Kopf, weil er nicht unbedingt sehen muss, was ich mir zusammen mischen will. Schließlich hat der Trainer deutlich gemacht, dass wir es nicht übertreiben sollen. Als Kapitän muss ich zumindest den Schein eines guten Vorbilds waren.

»Man sieht sich«, sagt Tom und hebt seinen Becher kurz an. Dabei landet mein Blick auf seinen tätowierten Unterarmen. Tom ist genau wie ich achtzehn, trotzdem sind schon so viele Motive auf seiner Haut, als würde er seit Jahren regelmäßig zum Tätowierer gehen. Als er mir den Rücken zudreht, fange ich an mir einen Long-Island-Ice-Tea zu mischen.

Ein Getränk mit ordentlich Umdrehungen, was dafür sorgt, dass das überlegene und selbstbewusste Gefühl bleibt und nicht wieder Platz machen muss für die Dunkelheit. Die wird dafür morgen mit hundertprozentiger Sicherheit kommen. Aber Morgen klingt noch Ewigkeiten entfernt und heute will ich einfach mal glücklich sein.

Ich schmeiße ein paar Eiswürfel in meinen Becher, schütte ein bisschen Cola hinein und fülle den Rest mit Rum, Whisky, Wodka, Tequila und einem Schuss Limettensaft. Allein der Geruch schüttelt mich. Aber ist es nicht immer so? Das meiste ist beim ersten Mal komisch. Der erste Kaffee, die erste Zigarette, der erste Sex. Bei jedem weiteren Mal wird es besser. Nicht, dass ich wirklich mit praktischen, sexuellen Erfahrungen glänzen kann, aber mein theoretisches Wissen ist dank der unzähligen Gespräche in der Kabine weitreichend. Ich genehmige mir einen großen Schluck von meinem Cocktail und geselle mich danach zum Rest der Meute ins Wohnzimmer. Höre mir unser Spiel aus verschiedenen Perspektiven einhundertmal an, lächele an Stellen, an denen ich es sollte, und lasse mich von allen feiern und beglückwünschen. Mit dem nächsten Schluck vernichte ich mein Getränk und besorge mir postwendend ein neues.

»Hey Captain, wir spielen ne Runde Flaschendrehen. Bist du dabei?«, ruft Tom vom anderen Ende des Raums. Da ich absolut keine Lust habe heute irgendwen zu knutschen, geschweige denn jemanden falsche Hoffnungen zu machen, schüttele ich den Kopf.

»Alter, komm schon«, fordert er, ich bleibe aber standhaft und verlasse den Raum.

Auch nach dem dritten Long-Island wird meine Laune nicht besser, aber das drückende Gefühl in meinem Magen schlimmer. Ich ignoriere es geflissentlich. Die Stimmung im Raum ist ausgelassen, die Musik dröhnt laut und trotzdem fühle ich mich allein. Lustlos lasse ich den Blick durch den Raum gleiten. Die Gesichter der anderen und die Lichter vermischen sich und ich kann kaum noch etwas erkennen. Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus.

Nach und nach treten die Gespräche in den Hintergrund. Mir wird plötzlich schlecht und Flüssigkeit sammelt sich in meinem Mund. Ich stehe augenblicklich auf und schwanke kurz. An irgendeiner Schulter kann ich mich festhalten und stürze aus dem Raum. Die Schlange vor der Toilette ist ziemlich lang. Aber da Jonas mein ältester und bester Freund ist, weiß ich genau, wo ich ein Klo finde, auf dem ich ungestört bin. Lange Zeit zum Überlegen habe ich nicht, denn nur einen Wimpernschlag später krampft sich mein Magen kurz zusammen. Ich laufe die Treppe hoch, den Gang entlang und als ich die Türe rechts von mir öffne, sammelt sich bereits Galle in meinem Mund. Ich sprinte durch sein Schlafzimmer und komme genau im richtigen Moment vor der weißen Schüssel zum Knien.

Arian

Früher mochte ich Partys. Heute nicht mehr.

»Nur ein paar Stündchen.« Sie unterstreicht ihre Aussage mit den passenden Gebärden und einem flehenden Ausdruck in den Augen. Ich verschränke meine Arme. Als sie mich gefragt hat, ob ich heute Abend vorbeikommen will, dachte ich, wir hängen einfach ab und gucken einen Film. Dann hat sie mir geschminkt und in einem engen, schwarzen Kleid die Tür geöffnet und verkündet, dass sie auf diese lächerliche Fußballparty will. Deswegen stehen wir jetzt vor dem großen Haus, mit dem noch größeren Vorgarten in dem schon ein paar Kerle rumtorkeln und lachen.

»Du hast gesagt, ich soll Jonas endlich ansprechen. Heute Abend könnte ich es zumindest mal versuchen.« Ihre Augen werden groß, ihr Blick unschuldig und ich bereue es, sie immer wieder ermutigt zu haben.

»Ich kenne hier niemanden«, erwidere ich, wobei mir die Gebärden entfallen sind. Aber trotz der Dunkelheit kann Marla an meinen Lippen das Gesagte ablesen. Insgeheim vermute ich schon länger, dass sie eigentlich Gedanken lesen kann, so gruselig genau antwortet sie mir, obwohl ich manchmal zu schnell oder zu undeutlich spreche. Wahrscheinlich kennt sie mich einfach sehr gut und weiß, was ich in vielen Situationen antworten würde. Sie wusste auch ganz genau, dass ich niemals vorbeigekommen wäre, wenn sie vorher in ihrer Nachricht etwas von der Party erwähnt hätte.

»Du bist seit zwei Jahren auf dieser Schule. Ein paar Leute kennst du wohl«, entgegnet sie nur und zuckt dann mit den Schultern.

Ich lasse meinen Blick an ihr hinab gleiten und komme nicht umhin zu bemerken, wie perfekt sich das dunkle Kleid an ihren zarten Körper schmiegt und ihre blasse Haut betont.

Wenn ich da zu meiner weiten, ausgeblichen Jeans und dem beigen Shirt hinunterblicke, will ich direkt gehen.

Und wieder entgehen ihr meine Gedanken nicht.

»Du siehst aus wie ein heißer Rockstar, mit den langen Haaren und den abgenutzten Sachen.« Dabei lächelt sie mich liebevoll und aufmunternd an.

Ich bemühe mich, die Augen nicht zu verdrehen, ein ironisches Schnauben kann ich aber nicht zurückhalten.

Mein Blick gleitet von dem hellerleuchteten Backsteinhaus wieder zurück zu ihr. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich darüber nachdenke, wie es wäre Marla zu küssen. Wie sie sich unter meinen Händen anfühlen würde. Aber das aufgeregte Flattern in meiner Brust und die schwitzigen Hände bleiben bei den Überlegungen aus. Und irgendwie will ich es gar nicht erst versuchen, weil sie und Kurt, dass einzig Gute in meinem Leben sind. Das, wofür es sich lohnt, morgens aus dem Bett zu steigen.

Und das will ich mir definitiv nicht verspielen, nur weil ich seit über zwei Jahren keinen Sex mehr hatte.

Einen Augenblick später greift sie nach meiner Hand und zieht mich mit nach drinnen. Es ist voller, als ich vermutet habe. Die gesamte dunkelmarmorierte Küchenoberfläche steht voll mit alkoholischen Getränken, von denen sich gerade ein paar Leute bedienen, die ich vom Sehen her kenne. Marla lässt sich ein Bier zapfen und ich nehme mir einen Becher Cola. Auf dem Weg ins Wohnzimmer stoße ich mit einem Kerl zusammen, der im Gehen trinkt.

»O sorry, Mann«, sage ich reflexartig. Der Typ reagiert nicht und bevor ich überhaupt erkennen kann, wer es war, zieht mich Marla weiter in den großen Raum.

»Dann eben nicht«, murmele ich mehr zu mir als zu ihm. Man lernt doch schon als Kind, dass man nicht im Gehen trinken sollte. Aber bevor ich meinen Gedankengang fortsetzen kann, stehen wir inmitten des geräumigen Wohnzimmers. Alle Sofas sind aus dem Weg geschoben und ein großer Tisch mit Bechern an jedem Ende steht stattdessen in dem Raum. Die Einrichtung sieht schick aus und ist in gedeckten Blautönen gehalten. Aus den Boxen dröhnen Green Day mit einem meiner Lieblingslieder, das mein Gitarristenherz höherschlagen lässt.

Es wird gejohlt, gelacht und gerufen und obwohl ich nur ein paar Gesichter kenne, wirkt es doch wie jede andere Party. Bis auf die Tatsache, dass ich auf meiner alten Schule ein beliebter und gerngesehener Gast auf Hauspartys war. Hier nimmt niemand Kenntnis von mir. Auch wenn es mir scheißegal sein sollte, stört es mich. Nur widerwillig stelle ich mich mit Marla zu den begeisterten Beerpong-Zuschauern. Das aufgeregte Glitzern in ihren Augen erinnert mich daran, dass sie hier ist, obwohl sie nichts hören kann. Nicht die Rockmusik, die aus den eingelassenen Boxen in der Decke kommt und auch nicht all die Menschen um uns herum. Trotzdem steht sie hier mit genauso viel Begeisterung wie die anderen. Mir fehlt kein Sinn, ich bin völlig gesund, also habe ich gar nicht das Recht dazu, mich in meinem Leid zu suhlen. Sie dreht sich zu mir um und ihr trauriger Blick sorgt dafür, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Ich hebe meine Mundwinkel ein wenig und bemühe mich, wenigstens so zu tun, als würde es mir gefallen.

»Hey. Du bist doch der Neue, oder?«, fragt ein brünettes Mädchen, das plötzlich neben mir steht. Ich versuche, mein Augenrollen zu unterdrücken. Wie lange mir dieser Titel wohl noch anhaftet? Mindestens fünf Schüler sind nach mir ans Bechtstein gekommen.

»Arian.« Dabei bemühe ich mich, ihr nett zu zulächeln.

»Nayomi«, antwortet sie und strahlt mich aus dunkelbraunen Augen an.

»Hast du Lust zu tanzen?«, fragt sie und greift nach meiner Hand. Ich werfe Marla einen entschuldigenden Blick zu, die mir mit ihrem Nicken versichert, dass alles in Ordnung ist. Ihre Aufmerksamkeit wird den Rest des Abends sowieso auf Jonas liegen.

Wir bewegen uns zu Dressed for success, wobei Nayomi mir immer wieder ein Stück näherkommt. Ich tanze ziemlich gerne, auch wenn sich in letzter Zeit kaum eine Gelegenheit dazu ergeben hat. Es ist ein schönes Gefühl, nur auf die Musik zu hören und den Körper folgen zu lassen. Und schon wenige Augenblicke später merke ich, wie der Druck der Ausweglosigkeit von meiner Brust verschwindet. Wie jeder Gedanke an mein jetziges Leben, welches mich nachher zu Hause erwartet, wie weggeblasen ist.

Immer wieder schließe ich meine Augen, nur um den Moment ein Stück länger festzuhalten. Als ich sie das nächste Mal öffne, liegt ein sinnliches Lächeln auf ihren Lippen und sie streckt sich noch ein Stück mehr zu mir. Dann lasse ich einfach los, schließe meine Lider und küsse sie. Ihr Mund fühlt sich weich auf meinem an. Und auch wenn der Kuss kein Kribbeln verursacht, ist er trotzdem schön. Sie öffnet ihre Lippen und nur wenige Sekunden später berührt ihre Zunge meine. Sie schmeckt so süß wie sie riecht. Eine leichte Gänsehaut streicht über meinen Körper und ich ziehe sie noch ein Stück näher zu mir. Meine Hände liegen an ihrer Taille, während sie ihr Becken an meins drückt. Nur einen Wimpernschlag später löse ich mich wieder von ihr. Ihre Augen glitzern verführerisch. Doch bevor sie sich noch weiter an mich pressen kann und ich am Ende mit einem Ständer mitten auf der Party stehe, mache ich einen Schritt zurück. Früher hätte ich kein Problem damit gehabt, mit ihr auf irgendein Zimmer zu verschwinden.

In der achten Klasse habe ich mit meinen besten Freunden eine Band gegründet und wir waren schnell bekannt auf der Schule und in einigen Städten und Ortschaften drum herum. Es hat mir das Herz gebrochen, als Papa dann Iris auf seiner Geschäftsreise getroffen hat und wir nur wenige Monate später zu ihr gezogen sind. Damals bin ich noch siebzehn gewesen, sonst wäre ich womöglich dortgeblieben. Aber wahrscheinlich hätte ich Papa sowieso nie verlassen.

Nayomis verwirrter Blick reißt mich aus der Vergangenheit. Sie beugt sich näher zu mir. »Habe ich was falsch verstanden?«

Ich schüttele mit dem Kopf und will gerade etwas ergänzen, da hat sie wieder ihren Mund auf meinen gedrückt. Diesmal ist ihr Kuss nicht mehr so unschuldig wie zuvor. Ihre Lippen gleiten zwar immer noch zart, aber fordernder über meine. Ihre Beine stehen zwischen meinen, die sich im Takt zu einem langsamen Song bewegen. Unsere Zungen tanzen in einem ganz anderen Rhythmus miteinander. Auch wenn sich immer noch kein prickelndes Gefühl in meinen Adern ergießt oder die Musik in den Hintergrund tritt, kann ich mich trotzdem nicht von ihr trennen. So, als würde mein Körper nach Zuneigung lechzen. So, als hätte er meinen Verstand gestürzt und die Kontrolle übernommen. Also gebe ich mich hin und folge ihr, als sie meine Hand nimmt und mich aus dem Raum zieht.

Im Flur drücke ich sie gegen die Wand und küsse ihre Lippen. Dann wandere ich an ihrer Wange entlang, bis ich die Stelle unter ihrem Ohr erreiche.

»O Gott, du bist so heiß«, haucht sie, was meinen Schwanz härter werden lässt. Und obwohl ich ihr am liebsten hier schon den lächerlich kurzen Jeansrock hochschieben will, besinne ich mich eines Besseren. Ich umschließe ihre Finger wieder mit meinen und wir gehen die Treppen hoch. Nicht, ohne ein paar Pfiffe von denen zu erhalten, die gerade im Flur stehen. Sie öffnet irgendeine Tür und zieht mich mit sich. Meine Lippen liegen heiß und begierig auf ihren. Während meine Zunge ihren Mund erobert, reibt sie ihr Becken gegen meins und stöhnt genüsslich auf. Ihre Töne feuern meinen Schwanz an und ich spüre, wie es immer enger in meiner weiten Jeans wird.

»Zieh dich aus«, verlange ich von ihr. Ihr süßer Geschmack haftet immer noch an meinen Lippen, als sie sich schwer atmend von mir löst. Dann greift sie nach dem Saum ihres Shirts und streift es ganz langsam ab. Dabei hält sie meinen Blick mit ihren lustverhangenen Augen gefangen. Ihre Hände wandern ihren Körper bis zum Bund des Jeansrocks hinunter und ich wünschte, es wären meine.

»Du bist unglaublich schön«, flüstere ich, was sie verführerisch lächeln lässt. Als sie den Knopf ihres Rocks langsam öffnet, pocht mein Schwanz und meine Atmung geht schneller.

»Dreh dich um«, murmele ich verlangend, als sie sich das Kleidungsstück von den Hüften schieben will. Sie blickt mich kurzzeitig verwirrt an, kommt meiner Bitte aber dann nach. Als sie mir ihren knackigen Arsch, in einem knappen, schwarzen Höschen präsentiert, stöhne ich erregt auf. Fuck.

Dann dreht sie sich wieder zu mir um und leckt sich über die Lippen, bevor sie ein paar Schritte auf mich zukommt. Ich will gerade die letzten Meter überbrücken und weiter von ihr kosten, als seltsame Geräusche den Raum erfüllen.

Im ersten Moment kann ich sie nicht genau einordnen, im zweiten wird mir klar, dass sich irgendwer gerade übergibt. Keuchend löse ich mich von ihren Lippen. Sie greift nach dem Verschluss ihres BHs, während mein Blick durch das Schlafzimmer streift, bis er an der geschlossenen weißen Tür hängen bleibt.

»Warte kurz«, sage ich und wende mich von ihr ab.

»Was?« Aber ich höre ihre Stimme kaum noch, als ich die Tür aufmache.

Über der Kloschüssel hängt ein Kerl mit dunklen Haaren und leert ziemlich geräuschvoll seinen Mageninhalt. Er scheint so hinüber, dass er noch nicht mal mitbekommt, wie ich den Raum betrete. Ich will gerade etwas sagen, da spüre ich Nayomi hinter mir.

»Wer ist das?«, fragt sie, weil mein Körper ihr die Sicht versperrt.

»Warte bitte einfach. Ich will nur sichergehen, dass er allein klarkommt«, antworte ich und drehe mich noch kurz zu ihr, bevor ich die Tür zu mache. Aus irgendeinem Grund will ich nicht, dass sie ihn sieht. Am Ende wird nur darüber geredet, weil die Leute ihr eigenes Leben zu langweilig finden. Mein Blick wandert wieder zu dem Typen, der aufgehört hat zu würgen und jetzt ziemlich ungemütlich an der Schüssel hängt. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu und stupse ihn vorsichtig an. Er rutscht sofort von der Klobrille ab und ich kann geradeso noch nach ihm greifen, bevor sein Kopf gegen die Glastür der Dusche geschlagen wäre. Schwer hängt er in meinen Armen und seine Lider flattern immer wieder, ansonsten reagiert er kaum. Ich lasse ihn sanft auf den Boden gleiten und lege ihn auf die Seite. Keine Ahnung, ob das medizinisch so korrekt ist, aber er kann so zumindest nicht an seinem Erbrochenen ersticken. Ich mache mich auf die Suche nach einem Waschlappen, da klopft es an der Tür.

»Adrian, bist du bald fertig?« Arian.

»Kannst du Marla holen gehen?«, frage ich laut und werde im selben Moment im Unterschrank fündig.

»Was?« Ich verdrehe die Augen und lasse kaltes Wasser über den blauen Lappen laufen.

»Sorry. Das wird heute nichts mehr. Könntest du vielleicht, wenn du runter gehst, Marla Bescheid sagen? Schwarze Haare, schwarzes Kleid«, beginne ich sie zu beschreiben, werde jedoch von Nayomis Stimme unterbrochen.

»Fick dich.« Dann eben nicht.

Ich wringe den Waschlappen etwas aus und fahre ihm damit über die Stirn. Sein Körper erschaudert kurz, aber die Augen bleiben geschlossen. Ich streiche mit dem Lappen über die dunklen Augenbrauen und seine Lider, an denen dichte, lange Wimpern hängen. Dann wische ich die klebrigen Reste des Erbrochenen von seinen Mundwinkeln ab. Seine Gesichtszüge kommen mir bekannt vor, ich kann sie aber niemanden zuordnen.

Ich mache das Bad sauber, werfe den Lappen in den Wäschekorb und blicke nochmal zurück zu dem Typen mit den fast schwarzen, strubbeligen Haaren und dem ebenso schwarzen Hemd, auf dem von meiner Waschaktion einige nasse Flecken verblieben sind. Ich weiß nicht so recht, was ich machen soll, weil Nayomi natürlich nicht Marla gerufen hat. Ich will den Kerl aber auch nicht hier liegen lassen. Nach kurzer Überlegung nehme ich mein Handy und tippe eine Nachricht an Marla.

Arian @Marla [1:23]:

Ich muss einen betrunkenen Typen nach Hause fahren. Lasse mein Handy aber an, melde dich also, wenn ich dich abholen soll. X

Da ich leider absolut keine Ahnung habe, wer er ist und somit auch nicht weiß, wohin ich ihn fahren soll, versuche ich ihn wach zu rütteln. Als das nicht funktioniert, atme ich einmal kurz durch und gebe ihm eine Ohrfeige. Das klatschende Geräusch hallt von den Fliesen wider. Dann öffnet er flatternd seine Lider. Seine rechte Wange läuft derweilen rot an, was mich ihn entschuldigend angrinsend lässt.

»Wo?«, lallt er und guckt aus blauen, glasigen Augen zu mir auf.

»Ich bring dich jetzt heim. Hab allerdings keine Ahnung, wo du wohnst.«

»Okay«, antwortet er nur und versucht sich aufzurichten. Ich reiche ihm meine Hand und ziehe ihn nach oben. Dann lege ich ihm meinen Arm um die Schulter, da er ein gutes Stück kleiner ist als ich. Er hält sich an meinem weiten T-Shirt fest und so verlassen wir schwankend das Bad. Bei jedem Schritt versuche ich seine unkoordinierten Bewegungen auszubalancieren. Wir schaffen es die Treppe runter, ohne dass er fällt, und kommen sogar ungesehen an der Menge an Leuten vorbei, die sich im Flur aufhält. Aber nur, weil sich gerade zwei Typen schubsen und alle Umstehenden lautstark nach einer Schlägerei verlangen.

Ich schleppe seinen schweren Körper zu Marlas Golf, den ich heute fahren darf.

Nachdem ich ihn und mich angeschnallt habe, frage ich nach seiner Adresse.

»Garrrtennstraße zwöölf«, bringt er lallend hervor. Ich gebe die Adresse in mein Handy ein und hänge es an die vorgesehene Halterung. Nach zehn Minuten biege ich bereits in die Zielstraße ein. Wahrscheinlich hätten wir den Weg auch zu Fuß meistern können. Allerdings wären wir mit ihm bestimmt eine Stunde unterwegs gewesen. Nachdem ich ihm beim Aussteigen geholfen habe, gehen wir einen gepflasterten Weg durch einen hübsch angelegten Vorgarten entlang. Zumindest sieht er bereits in dem spärlichen Licht der Straßenlampen sehr ordentlich aus. Wir schaffen die drei Stufen und stehen an einer großen Holzeingangstüre.

»Schlüssel?«, frage ich und gucke zu dem Dunkelhaarigen an meiner linken Seite.

»Reschts. Vorne«, entgegnet er, ohne seine Hand von meiner Taille zunehmen. Mit der anderen stützt er sich am Haus ab. Ich atme genervt aus. Dann schiebe ich meine rechte Hand in seine Hosentasche. Die schwarze Jeans sitzt eng und da er sich noch nicht mal bemüht mich irgendwie zu unterstützen, brauche ich einen Moment, um das warme Metall zu finden. Plötzlich kommt mir der Augenblick viel zu intim vor und eine Gänsehaut legt sich über meinen Körper. Als ich dann noch beim Rausziehen des Schlüssels seinen Penis streife, schlägt mein Herz viel zu schnell und ich würde am liebsten sofort verschwinden.

»Hör auf mich zu begrabbbschen«, sagt er daraufhin und fängt laut an zu lachen. Ich rolle mit den Augen und verkneife mir jeden Kommentar. Bevor ich die Tür öffne, werfe ich einen kurzen Blick zu dem Klingelschild.

Hier wohnt Familie Zell mit Katrin, Jens, Elias und Mila.

Elias Zell, »Starstürmer« des 1.FC Bromburg. Sein Gesicht kommt mir so bekannt vor, weil ich mit Marla schon zu oft ein Spiel von ihnen gucken musste, auch wenn mich Fußball so gar nicht interessiert. Aber da sie seit langer Zeit auf Jonas Schmitt, Mittelfeldspieler und Elias‘ besten Freund steht, habe ich ihr natürlich den Gefallen getan und bin mitgekommen.

Wenig später stehen wir mitten im Flur. Er wankt immer noch, löst sich aber von mir, um dann fast über seine Füße zu fallen. Völlig überrumpelt bekomme ich ihn zu spät zu fangen und er stürzt auf die Stufe.

»Scheiße«, flucht er laut und versucht sich mühsam aufzurichten. Bevor er ein zweites Mal fallen kann, greife ich ihm unter die Arme und halte ihn fest.

»Ich lege mich auf die Couch«, sagt er undeutlich und will sich wieder Richtung Haustür bewegen.

»Ich helfe dir.« Ich entscheide, ihn doch nach oben zu bringen, weil ich keine Ahnung habe, ob er sonst Stress mit seinen Eltern bekommt. Die ersten Stufen schaffen wir gerade so, obwohl er nur noch mit einem Bein richtig auftritt. Dabei ächzt er immer wieder vor Schmerzen und bringt mich beinahe zum Fallen, weil er so stark an mir zerrt.

»Stopp«, sage ich, als ich fast ins Leere getreten wäre. Ich überlege nicht lange, greife unter seine Knie und hebe ihn hoch. Er ist verdammt schwer, weil seine Körperspannung dem Alkohol erlegen ist. Trotzdem schaffen wir es schneller nach oben. Er dirigiert mich zu dem Zimmer am Ende des Flurs und ich versuche das seltsame Gefühl in meinem Magen zu ignorieren, was immer wieder aufkommt, wenn ich zu ihm blicke.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Kerl so getragen zu haben. Mit dem Moment in seiner Hosentasche sind das zwei erste Male, auf die ich locker hätte verzichten können. Ich lege ihn auf seinem Bett ab und ignoriere das nervöse Ziehen in meiner Magengegend, als ich ihn auf der hellen Bettwäsche einen Augenblick zu lange betrachte. Dann treffen unsere Blicke aufeinander und ich muss hart schlucken, weil er mich genauso interessiert betrachtet, wenn auch mit einem benebelten Ausdruck. Ich erwarte einen dummen Spruch, als er das nächste Mal seinen Mund öffnet.

»Du bist ziemlich hübsch.« Und plötzlich ist da dieses verdammte Kribbeln in meinem ganzen Körper. Stunden zu spät. Ruckartig wende ich mich ab, fülle ihm das Glas auf seinem Nachttisch mit Wasser und stelle es zurück. Ich spüre seinen Blick auf mir und versuche das Gefühl zu ignorieren, das er in mir auslöst.

»Legst du dich zu mir?«, fragt Elias dann. Seine Stimme ist kratzig und mein Körper erliegt ihr augenblicklich. Jedes Härchen stellt sich auf und peinlicherweise ist es nicht das Einzige, was sich aufrichtet.

Ich hätte ihn einfach in dem Bad liegen lassen und mit Nayomi vögeln sollen. Doch bevor ich überhaupt antworten kann, klingelt mein Handy mit dem Ton, den ich speziell für Marla eingerichtet habe. Dankbar greife ich sofort danach.

Marla [2:04]:

Kannst du mich abholen?

»Ich muss los«, sage ich, tippe eine Antwort und blicke nochmal in seine Richtung. In dem warmen Licht der Nachttischlampe schimmern seine Augen glasig und plötzlich überzieht eine Traurigkeit das dunkle Blau.

»Lass mich nicht allein«, fleht er und seine dünne Stimme bricht mir beinahe das Herz.

»Ich kann nicht bleiben«, erwidere ich und will mich gerade abwenden.

»Bitte, komm wieder«, sagt er dann nachdrücklich.

»Du bist doch nicht alleine. Deine Eltern sind doch da.«

»Nein«, entgegnet er und der Ausdruck in seinem Gesicht ist so verzweifelt, dass ich tatsächlich überlege Marla heimzubringen, und wieder zu kommen. Allerdings muss ich morgen um sechs zuhause sein, weil ich Kurt rauslassen muss. Meine Stiefschwestern weigern sich nämlich strikt, so früh aufzustehen und Iris würde mir sowieso nicht antworten, wenn ich sie frage.

»Ich versuch’s«, entgegne ich und verlasse sein Zimmer so schnell, dass es einer Flucht gleichkommt. Dabei trommelt mein Herz heftig. Auch dann noch, als ich die Schlüssel wieder zurück in meine Tasche schiebe, anstatt da zu lassen.

Kapitel 3

Elias

Ein nervtötender Ton reißt mich nicht nur aus dem Schlaf, sondern spaltet zeitgleich auch mein Hirn. Der aufblitzende Schmerz wird nicht wie sonst von einer absoluten Dunkelheit verschluckt, sondern tritt in den Hintergrund, als sich neben mir jemand bewegt.

»Fuck«, höre ich seine tiefe, raue Stimme und bleibe einen Moment wie versteinert und mit geschlossenen Augen liegen. Ich bemühe mich, meine Atmung zu kontrollieren. Der Klingelton verstummt. Ich höre das Rascheln von Kleidung und Schritte in meinem Zimmer. Die ganze Zeit spüre ich seinen Blick auf mir, versuche mich aber schlafend zu stellen. Seit Jahren hat niemand mehr bei mir übernachtet. Selbst Jonas nicht. Und seine Stimme ist es nicht. Doch bevor ich meine Augen nur kurz öffnen kann, schließt sich meine Zimmertür. Mein Herz schlägt schnell und meine Atmung geht nur stoßweise. Vergessen sind der Kopfschmerz und die Dunkelheit, die sich ganz langsam in meinem Körper ausbreiten. Wer zur Hölle war das? Und warum legt er sich einfach in mein Bett? Schockiert reiße ich meine Augen auf und blicke an meinem Körper hinab. Ich trage immer noch das schwarze Hemd und die passende Röhrenjeans. Erst jetzt realisiere ich den widerlichen Geschmack in meinem Mund. Ich drehe mich zu dem schwarzen, kleinen Holztischchen neben meinem Bett und greife nach dem Glas Wasser. Normalerweise bin ich nicht so umsichtig, wenn ich betrunken bin. Vor allem kann ich mich nicht entsinnen, es da hingestellt zu haben. Allerdings ist das Letzte, woran ich mich erinnere, dass ich kotzend auf Jonas Klo gehangen habe. Danach sind nur noch Erinnerungsfetzen vorhanden, die wie kleine unzusammenhängende Partikel durch mein Hirn schweben. Je mehr ich versuche sie zu sortieren, desto schneidender ist der Druck in meinem Kopf. Da hilft auch die kühle Flüssigkeit nicht, die sich in meinem Magen ausbreitet. Ich stelle das Glas zur Seite und lasse mich erschöpft in die Kissen sinken. Die Kopfschmerzen sind so präsent, dass ich sie fast schon sehen kann. Dann siegt schließlich meine Müdigkeit und ich schlafe traumlos ein.

»Elias, Schatz. Du musst zur Schule«, höre ich Mums Stimme entfernt zu mir vordringen. Dann streicht sie mir über die Stirn. Ihre Fingerspitzen erinnern mich an einen kühlen Waschlappen und irgendetwas klingelt in meinem Kopf. Aber wie bei jedem meiner Träume verschwindet dieser Gedanke, als ich versuche ihm mehr nachzugehen.

»Papa hat dir Kaffee gemacht«, sagt sie liebevoll. Ich schlage meine Augen auf und blicke in ihre, die meinen dunkelblauen so ähnlich sind. Gleichzeitig erkenne ich aber auch, dass sie so müde aussehen, wie ich mich fühle.

Erschöpft schleppe ich mich nach unten in die Küche. Dabei ist es nicht nur der Kater und der damit verbundene Kopfschmerz, sondern vor allem mein linkes Knie, das mich beinahe bei jedem Schritt aufstöhnen lässt. Unweigerlich frage ich mich, was gestern Abend passiert ist. Wieso jemand bei mir übernachtet, den ich absolut nicht kenne, und warum zur Hölle ich keinen Schritt machen kann, ohne dass mir ein Schmerz durch die Knochen fährt?

In der Küche erwartet Papa mich mit einer Tasse in der Hand und einem müden Grinsen auf dem Gesicht.

»Hey Großer, ich bin richtig stolz auf dich. Beim nächsten Spiel bin ich dabei, ich verspreche es!«

Ich nicke, weil ich ihm glauben will. Gleichzeitig fühle ich mich unglaublich schlecht, weil ich enttäuscht bin, dass sie nie zu einem Spiel kommen, da meine Schwester sie im Moment einfach mehr braucht.

»Wie geht’s ihr?«, frage ich, nachdem ich den ersten Tropfen Kaffee wie ein kostbares Lebenselixier runtergeschluckt habe. Die wohltuende Wärme breitet sich in mir aus und vertreibt jede Dunkelheit, die seit dem Aufwachen in meinem Körper wabert und nur darauf wartet, mich in die Knie zu zwingen.

»Du kennst sie ja. Sie kämpft, sie versucht stark zu sein. Aber die Ärzte geben ihr nicht mehr lange«, antwortet er und seine Augen füllen sich mit Tränen. Ein dicker Kloß sitzt in meinem Hals und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Mein Mund fühlt sich plötzlich staubtrocken an, dabei kann ich den Kaffee auf meiner Zunge noch schmecken.

Mila ist meine zwölfjährige Schwester und das größte Wunder unserer Familie. Nach mir hatte Mama drei Fehlgeburten und wir haben alle nicht daran geglaubt, dass ich irgendwann noch ein Geschwisterchen bekomme. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als Mama und Papa mich von der Schule abgeholt haben, wir in das kleine Café in der Hauptstraße gefahren sind und ich meinen liebsten Apfelkuchen mit Sahne zum Mittagessen bekommen habe. Es war der Tag, als sie mit Mila in der zwölften Woche war. Ihre Augen haben geleuchtet, als sie mir verkündet haben, dass wir bald zu viert sind. Ich weiß noch, wie sehr ich mich gefreut habe. Wie ich meine Freunde immer um ihre Geschwister beneidet habe. In der zwanzigsten Schwangerschaftswoche haben sie dann nicht nur festgestellt, dass es ein Mädchen wird, sondern auch, dass sie einen schweren Herzfehler hat.

Für meine Eltern war sofort klar, ihr Wunder trotzdem zu behalten. Als Mila auf die Welt kam, lag sie wochenlang auf der Intensivstation und ich durfte sie nur selten besuchen. Aber ich erinnere mich noch genau an den kleinen blassen Körper, an dem so viele Kabel gehangen haben. Wie ich sie nur mit einem Finger berühren durfte und wie kalt ihre Hände und Füße waren. Sie kam mit einer DCM, einer primären dilatativen Kardiomyopathie auf die Welt. Und so richtig verstanden habe ich das bis heute nicht. Meine Eltern haben mir das so erklärt, dass Milas Herzmuskel, aufgrund eines Gendefekts, zu groß ist und die Pumpleistung ihres Herzens beeinträchtigt. Ihr Körper wurde nicht ausreichend mit Blut versorgt, woraufhin die Ärzte ihr ein neues Herz einpflanzen mussten. Mila ist jetzt zwölf und ihr Implantat wird immer schwächer, obwohl es eigentlich zwanzig Jahre halten sollte. Das heißt, wir hoffen jeden Tag darauf, dass irgendwo jemand bei einem Autounfall oder an Hirnversagen stirbt, damit Mila ein neues Herz bekommt. Die Grausamkeit, die die Hoffnung mit sich bringt, ist jedem von uns mehr als deutlich bewusst. Als Mila angefangen hat zu verstehen, dass für sie jemand anderes sterben muss, hat sie fast aufgegeben. Mama und Papa sind mit ihr zu einem Therapeuten. Danach hat sie begonnen zu kämpfen und nie aufgehört. Manchmal wünschte ich, sie würde mir etwas von ihrem Kampfgeist abgeben.

Ich gucke zurück zu Papa, der an der Küchenzeile lehnt. Seine Hände umklammern seine Kaffeetasse und Tränen laufen ihm die Wange hinunter. Ich spüre wie auch meine Augen brennen und der Kloß in meinem Hals übermächtig wird.

»Wir wollten mit dir sprechen«, beginnt er dann und seine Stimme ist dabei ziemlich rau.