Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen - Oksana Havryliv - E-Book

Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen E-Book

Oksana Havryliv

0,0

Beschreibung

Die Menschen schimpfen und fluchen, seit sie über Sprachen verfügen. Die Deutschen tun es am liebsten anal-fäkal, die Amerikaner sexuell und im arabischen Raum verflucht man gerne mal die ganze Familie. Oksana Havryliv beschäftigt sich seit 30 Jahren mit dem Schimpfen und erklärt in »Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen« sehr unterhaltsam, was man über das Schimpfen wissen muss: Warum ist Schimpfen gesund? Wann entlastet es uns am meisten? Was sagen die Schimpfwörter über die jeweilige Gesellschaft aus? Wie reagiere ich am besten, wenn ich beschimpft werde? Und für Fortgeschrittene: kreativ Schimpfen ohne Schimpfwörter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 254

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Originalausgabe

1. Auflage 2023

Verlag Komplett-Media GmbH

2023, München

www.komplett-media.de

E-Book ISBN: 978-3-8312-7147-4

Korrektorat: Novokolorit, Berlin

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Satz: Daniel Förster, Belgern

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Bookwire, Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH, Frankfurt am Main

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

INHALT

VORWORT ODER: DER LANGE WEG ZU DIESEM BUCH

SCHMUTZIGE WÖRTER? NEIN – SCHMUTZIGE VORSTELLUNGEN!

SCHIMPFEN IST NICHT GLEICH SCHIMPFEN

WAS IST EIN SCHIMPFWORT?

WER IST EIN ARSCHLOCH?

IN DER SCHIMPFWÖRTER-WERKSTATT

SCHIMPFEN OHNE SCHIMPFWÖRTER

DIE ÜBERZEUGENDE KRAFT DER VULGARISMEN

BESTIE, ICH HAB DICH GERN! SCHIMPFWORT ALS KOSEWORT?

VERDAMMTE SCHEISSE! ODER: WIE FLUCHEN WIR

ARSCHLOCH! TROTTEL! IDIOT! ODER: WIE BESCHIMPFEN WIR

GEH IN ARSCH – DA HAST DU’S NICHT WEIT! ÜBER AGGRESSIVES AUFFORDERN

ICH MACH DICH PLATT WIE KEBAB! ODER: WIE DROHEN WIR

DIE ENTE SOLL DIR EINEN TRITT GEBEN! DIE KREATIVITÄT DES VERWÜNSCHENS

HINTER JEMANDES RÜCKEN SCHIMPFEN? EINE GAR NICHT SO ÜBLE IDEE

WARUM SCHIMPFEN WIR?

SCHIMPFWÖRTER GEHÖREN ZUR KINDHEIT

FUCK YOU, DIGGER! SCHIMPFEN UND TEENAGER

WARUM SCHIMPFEN WIR, WIE WIR SCHIMPFEN? ÜBER DIE SCHIMPFKULTUREN

WENN EIN SCHWANZ ZUM ARSCHLOCH WIRD: METAMORPHOSEN BEIM ÜBERSETZEN VON SCHIMPFWÖRTERN

WIE SCHIMPFEN FRAUEN? WIE SCHIMPFEN MÄNNER?

SELBER ARSCHLOCH! WAHRNEHMUNG VON UND REAKTIONEN AUF BESCHIMPFUNGEN

BIN ICH NOCH AGGRESSIV ODER SCHON GEWALTTÄTIG?

DANKSAGUNG

PRIMÄRLITERATUR

SEKUNDÄRLITERATUR

VORWORT ODER: DER LANGE WEG ZU DIESEM BUCH

Liebe Leserin, lieber Leser,

raten Sie mal, welche Frage mir als Sprachwissenschaftlerin, die sich mit den Schimpfwörtern und dem Schimpfen beschäftigt, am häufigsten gestellt wird. Nicht nach den häufigsten Schimpfwörtern, nicht nach den Ursachen des Schimpfens sowie Besonderheiten verbaler Aggression bei Frauen und Männern (obwohl diese Fragen meist im Anschluss folgen). Nein, am häufigsten wird mir die Frage gestellt, die wahrscheinlich auch bei Ihnen aufgekommen ist: Warum habe ich ausgerechnet dieses Forschungsthema gewählt? Mit einer Antwort auf diese Frage möchte ich auch mein Buch beginnen.

1994 kam ich, als frisch gebackene Germanistik-Absolventin, aus der Ukraine im Rahmen eines Austauschprogramms nach Wien. Damals war ich auf der Suche nach einem interessanten Thema für die Doktorarbeit, für das ich zwei Kriterien hatte: Es sollte unerforscht und lebensnah sein. Eines lauen Sommerabends saßen wir, junge NachwuchswissenschaftlerInnen aus aller Welt, beim Heurigen1. Als ich in die Runde meine Frage nach dem möglichen Forschungsthema stellte, war die Stimmung schon ziemlich ausgelassen, und so kam der nicht ganz ernstgemeinte Tipp, doch über Schimpfwörter zu forschen. Alle haben gelacht, aber ich dachte mir: »Warum eigentlich nicht? Es entspricht doch genau meinem Anforderungsprofil.« In der heiteren Heuriger-Atmosphäre klang das Thema wahnsinnig interessant, im wissenschaftlichen Alltag erwies es sich aber als eine echte Herausforderung. Ich habe mich dieser tapfer und erfolgreich gestellt, promovierte über die Schimpfwörter am Beispiel moderner deutschsprachiger Literatur, leitete größere und kleinere Forschungsprojekte, publizierte fast hundert wissenschaftliche Beiträge zum Thema, schrieb drei Bücher und gab sogar das Deutsch-Ukrainische Schimpfwörterbuch heraus.

Irgendwann spürte ich, dass der akademische Rahmen für mich zu eng ist und ich meine Forschungsergebnisse und Erkenntnisse nicht nur mit KollegInnen, sondern auch mit der breiten Öffentlichkeit teilen wollte. Die zahlreichen Interview-Anfragen von Massenmedien und die Einladungen zu öffentlichen Vorträgen haben mich in diesem Vorhaben bestärkt.

Da verbale Aggressionen im sozialen Umfeld von Schulen leider allgegenwärtig sind, folgten wissenschaftskommunikative Aktivitäten mit SchülerInnen und Lehrenden sowie ein Lehrgang für Lehramtsstudierende an der Universität Wien, der sie auf die bevorstehenden Herausforderungen im schulischen Alltag vorbereiten sollte.

In diesem Kontext kam die Anfrage des Komplett-Media Verlags, ein populärwissenschaftliches unterhaltsames Buch über das Schimpfen zu schreiben, sehr gelegen. Denn auf diesem Weg bekam ich die Möglichkeit, mein im Laufe von drei Jahrzehnten erworbenes Wissen an einen so hoffentlich doch sehr breiten LeserInnenkreis weiterzugeben.

So habe ich am 23. Februar 2022 den Vertrag unterschrieben und wollte ihn zur Post bringen. Aber es war bereits dunkel, kalt, und es setzte Nieselregen ein. Deshalb habe ich es auf den nächsten Tag verschoben, an dem aber nichts mehr wie vorher war… Denn im Morgengrauen des 24. Februar 2022 begann russland2 mit den Bombardierungen mehrerer friedlicher ukrainischer Städte einen breitangelegten Angriff auf mein Heimatland. In Sorge um Eltern, FreundInnen und Verwandte, um das Schicksal des Landes, fassungslos angesichts der Grausamkeit der vorrückenden Truppen, wurde mir klar, dass ich nicht im Stande sein werde, ein Buch in diesem Format zu schreiben. So habe ich die gerade begonnene Arbeit unterbrochen und konnte mich nur noch mit dem Thema Sprache und Krieg beschäftigen, dessen Aspekte auch in dieses Buch hier und da eingeflossen sind.

Erst nach einem halben Jahr habe ich mir gesagt: »Wenn deine KollegInnen in der Ukraine in Bunkern unterrichten und ihre wissenschaftlichen Beiträge schreiben sowie zwischen den Luftalarmen Tagungen organisieren, dann kannst du in sicherer Umgebung umso mehr an deinem Buch arbeiten. Reiß dich also zusammen, beginne mit dem Schreiben und setze damit das Zeichen, dass der beschissene Terrorstaat mit seinem wahnsinnigen Zwerg an der Spitze dich daran nicht hindern kann.« So habe ich im Herbst 2022 die Arbeit am Buch aufgenommen, und der Schreibprozess wurde für mich zu einer Form des Widerstands gegen den Aggressor.

Die gerade gefallenen Beschimpfungen kommen aus den sozialen Medien und sind von mir aus dem Ukrainischen übersetzt worden. Sonst entstammen die meisten Schimpfwörter, Flüche und Beispiele anderer Formen verbaler Aggression schriftlichen und mündlichen Umfragen, die ich im Laufe meiner wissenschaftlichen Arbeit mit WienerInnen durchgeführt habe. Insgesamt habe ich 700 Personen befragt, davon 72 in mündlichen Intensivinterviews.3 Die befragten Personen gehörten verschiedenen Bildungs- und Altersgruppen an, Männer und Frauen sind gleichermaßen vertreten. Viele Wörter und Ausdrücke habe ich dabei eingedeutscht, weil sie für das ganze deutschsprachige Gebiet gelten: Oasch (Arsch), Leck mi am Oasch (Leck mich am Arsch), Oaschloch (Arschloch) und so weiter. Dasselbe betrifft auch andere Wörter wie die Personalpronomen: da – dir, di – dich, i – ich, mi – mich. Die für das Österreichische Deutsch beziehungsweise Wienerische typischen Wörter und Wendungen, die gegebenenfalls nicht sofort verständlich sind, habe ich zusätzlich erläutert.

Ich höre oft den Einwand: »Aber die Belege stammen nicht aus realen Konfliktsituationen, sondern aus den Umfragen, wenn die Personen in einer ruhigen Atmosphäre über ihr aggressives Verhalten reflektieren«. Diese Tatsache war mir natürlich bewusst, und ich stellte die Hypothese auf, dass es im Affektzustand kaum Zeit zum Kreieren ausgefallener Schimpfwörter gibt und deshalb spontan auf die häufigsten Wörter und vorgefertigten Muster zurückgegriffen wird, die auch bei Umfragen als Erste angeführt werden. Und tatsächlich konnte ich beobachten, wie die Befragten auf die Frage nach Schimpfwörtern, die sie gebrauchen, ohne Zögern Scheiße – Arschloch – Trottel – Idiot nannten, um dann nach einer Pause fortzusetzen. In den Fragebögen wurden dieselben Wörter dann zuvorderst notiert. Die Beobachtung realer Konfliktsituationen im öffentlichen Raum hat meine Hypothese ebenfalls bestätigt. Auch am Beispiel erschütternder Ereignisse wie Terroranschläge und Amokläufe sehen wir an Reaktionen von ZeugInnen, dass ihnen im Zuge von Fassungslosigkeit und Ohnmacht die einfachen und gebräuchlichsten Schimpfwörter rausrutschen. So lautet der Spruch des Jahres 2020 in Österreich Schleich di, du Oaschloch!, aufgenommen beim Filmen des Terroranschlags in Wien am 2. November 2020, der laut meinen Studien das häufigste Schimpfwort Arschloch und die häufigste aggressive Aufforderung Schleich di enthält. Dasselbe können wir in einem von einem Zeugen des Amoklaufs in München am 22. Juli 2016 gefilmten Video konstatieren: Während der Täter auf dem Parkdeck des Münchner Olympia-Einkaufszentrums herumläuft, wird er von der angrenzenden Wohnanlage mehrmals als Arschloch sowie mit anderen häufigen Schimpfwörtern wie Wichser und Vollidiot beschimpft.4

Daher mein Tipp: Legen Sie sich ein Vorrat an harmlosen Schimpfwörtern und Schimpfkonstruktionen an, die Sie vorher ausprobieren, einüben und dann in einer ärgerlichen Situation spontan anwenden können.

Die geführten Interviews hatten übrigens auch positive Aspekte für Befragte selbst. So schreiben viele dem personenbezogenen Schimpfen spontan beleidigende Absicht zu. Erst durch Selbstreflexion wird den Leuten bewusst, dass sie die beschimpften Personen eigentlich nicht beleidigen, sondern sie in expressiver Form auf einen Missstand aufmerksam machen, eine Verhaltensänderung erzielen oder nur ihre negativen Emotionen abreagieren wollen. Die nächste Erkenntnis ist dann, zukünftig auf starke persönliche beleidigende Ausdrücke und Phrasen zu verzichten und stattdessen beispielsweise situations- oder sachbezogen zu schimpfen. Im konkreten Beispiel könnte es dann statt Du, faules Aas, solltest mir noch letzte Woche den Bericht abgegeben haben! heißen Verdammt noch mal, du solltest mir noch letzte Woche den Bericht abgegeben haben! Natürlich ist das immer noch nicht die feine englische Art, und es wäre besser, ein konstruktives Gespräch zu führen, aber wenn es schon das Schimpfen sein muss, so wird auf diese Weise wenigstens nicht die andere Person unmittelbar angegriffen, es wird ihr aber klar, dass die Situation ernst ist und sie etwas tun muss.

Neben den Umfragen enthält das Buch auch Belege aus literarischen Texten und den Medien. Der Hauptakzent liegt hierbei auf den Schimpfwörtern und Schimpfausdrücken im Deutschen, doch es werden auch Beispiele aus den anderen Sprachen angeführt, so auch aus meiner Muttersprache, dem Ukrainischen. Außerdem lasse ich Sie an meinen privaten Erfahrungen und witzigen Situationen teilhaben, die mit den Schimpfwörtern verbunden sind.

Das Buch bietet ein komplexes Bild von verbaler Aggression, ihren Realisierungsformen und dem Vokabular, den Funktionen und Besonderheiten je nach Gruppe oder kultureller Herkunft. Manche Aspekte, wie Cybergewalt oder die juristische Dimension, konnten aus Platzgründen nur angerissen werden.

Die Beschäftigung mit den Themen, die als »unappetitlich« gelten, verlangt nach einem Ausgleich mit den schönen Dingen im Leben. Für mich ist es die Natur: So fand ich beim Nordic Walking, Beobachten von Vögeln und Fotografieren Ruhe und Inspiration. Doch selbst das half nicht immer. Dann flüchtete ich mich in die Hausarbeit und erkannte, dass verstopfte Rohre zu reinigen nicht nur die Abflüsse frei, sondern auch neuen Gedanken Platz machte. Irgendwann war das Buch fertig und meine Fenster und Abflüsse so sauber wie noch nie.

Im Verlauf der Arbeit kamen ab und zu auch die Ängste, die alle Eltern unter Ihnen wahrscheinlich kennen: »Was wird aus meinem Kind, wenn mir etwas zustößt?« Als ich dann am Tag nach der Textabgabe über ein Hindernis stolperte, war mein erster Gedanke: »Wenn mir jetzt etwas passiert, wird das Buch trotzdem erscheinen!« Mir ist nichts passiert, und nun schicke ich mein »Kind« in die weite Welt hinaus. Ich hoffe, Sie werden beim Lesen nicht nur Spaß haben und Neues über dieses allgegenwärtige Phänomen – das Schimpfen – erfahren, sondern sich vielleicht auch einmal kritisch hinterfragen, wie Sie es so mit dem Schimpfen halten, und gegebenenfalls Ihre Wortwahl überdenken. Damit wäre ein weiterer Schritt in Richtung gewaltfreier Kommunikation getan.

1 Heuriger (von »heuer« – österreichisch »dieses Jahr«) hat zwei Bedeutungen: 1. Junger Wein; 2. Lokal, in dem Wein ausgeschenkt und es auch traditionelle Speisen gibt.

2 Hier und weiter wird bei russland und weißrussland sowie bei den Namen putin und lukaschenko Kleinschreibung verwendet. Die Kleinschreibung ist ein Solidaritätszeichen mit UkrainerInnen, die diese Wörter seit dem russischen Angriff klein schreiben, und entspricht der ukrainischen orthografischen Regel, laut der Namen von Personen, die missachtet werden, kleingeschrieben werden. Was die Ländernamen anbetrifft, gibt es in der ukrainischen Rechtschreibung keine solche Regel; die Sprachwissenschaft hält es aber in der aktuellen Situation für möglich, die vorherige Regel auch hinsichtlich der Ländernamen anzuwenden. https://1plus1.ua/snidanok-z-1–1/novyny/ci-isnue-pravilo-ake-dozvolae-pisati-rosia-z-malenkoi-bukvi-poasniv-movoznavec-oleksandr-avramenko [Zugriff am: 27.07.2023].

3 Die Umfragen erfolgten im Rahmen der vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekte.

4https://www.youtube.com/watch?v=ASZFfICWId4 [Zugriff am: 17.07.2023].

SCHMUTZIGE WÖRTER? NEIN – SCHMUTZIGE VORSTELLUNGEN!

An sich sind alle Wörter rein und unschuldig, sie gewannen erst dadurch Zweideutigkeit, daß sie der Sprachgebrauch halb von der Seite ansieht und verdreht.

(Gebrüder Grimm. Deutsches Wörterbuch)

Schimpfwörter werden in vielen Sprachen auch als schlechte, schmutzige, hässliche Wörter bezeichnet: »bad words« und »κακές λέξεις«/»kakes leksis« im Englischen und Griechischen, hässliche Wörter – im Kroatischen, Polnischen und Tschechischen (»ružne riječi«, »brzydkie slowa« »ošklivá slova«), grobe Wörter (»les gros mots«) im Französischen, »schamlose Wörter« (»сороміцькі слова«/»soromiz’ki slowa«) im Ukrainischen, »unanständige Wörter« im Slowakischen (»neslušné slová«) und Russischen (»непристойные слова«/»nepristojnyje slowa«) und so weiter. Doch können Wörter überhaupt schlimm und schmutzig sein? Die Antwort lautet: Nein, das Negative steckt nicht im Wort selbst; Wörter sind – wie es auch im Epigraf zu diesem Kapitel steht – »rein und unschuldig«. Und auch nicht in Sachverhalten oder Personen, die sie bezeichnen, sondern in unseren Köpfen, in den gesellschaftlichen und persönlichen Ansichten diesen Sachverhalten oder Personen gegenüber. Dies ist insbesondere bei den Euphemismen (Ersatzwörtern) sichtbar: Wenn sich keine Veränderungen in gesellschaftlichen Ansichten bezüglich bestimmter Personengruppen vollziehen, wird sich jedes neue beschönigende Wort automatisch von dieser negativen Ansicht negativ aufladen und Ersatz brauchen – ein Prozess, der in der Sprachwissenschaft als »Euphemismus-Tretmühle« bekannt ist:

Krüppel – Invalide – der/die Behinderte – gehandicapt – disabled.

Der verhüllende Effekt wird auch dadurch verstärkt, dass auf fremdsprachige Wörter zurückgegriffen wird.

Einige ältere WienerInnen, die ich im Rahmen meiner Forschungsprojekte interviewt habe, erinnerten sich an das Wien der Nachkriegszeit, als an den Häuserwänden oft das Wort FUT (in Österreich vulgäre Bezeichnung der Vulva sowie universale, sehr abwertende Bezeichnung für eine Frau, gleich stark wie in Deutschland Fotze) geschmiert wurde. Die HausbesorgerInnen fanden einen Weg, dieses unanständige Wort hinter dem neutralen zu verstecken: sie Veränderten den ersten Buchstaben und fügten am Ende das »O« hinzu – das Ergebnis wurde das neutrale Wort AUTO. Doch alle, die dieses Wort sahen, wussten, welches vulgäre Wort es verhüllte, und schon allein Gedanke daran trieb vielen Schamesröte ins Gesicht. Nach einiger Zeit wurde deshalb auch das neutrale »Auto« auf den Häuserfassaden als unanständig wahrgenommen.

In Deutschland ist das Schimpfwort Fut dagegen Vielen unbekannt. Eine österreichische Freundin erzählte mir, von einer deutschen Firma eine Mail mit dem Betreff »FUT« erhalten zu haben – eine Abkürzung der ersten Buchstaben der Firmeneigentümer. Als sie den deutschen Kollegen kontaktierte und es ihm diplomatisch erklärte, brach er in ein hysterisches Gelächter aus. In Bairisch-Österreichischen Dialekten hat Fotzn wiederum eine eher neutrale Bedeutung: »Mund«, »Schnauze« (bei Tieren) oder »Ohrfeige«, die sich auch als Teil neutraler zusammengesetzter Wörter wie hinterfotzig (»hinterlistig«) und Fotzenhobel (»Mundharmonika«) wiederfinden. Viele ÖsterreicherInnen der älteren Generation kennen das Wort Fotze als Bezeichnung für die Vulva gar nicht, mit diesem Stamm verbinden sie nur Wörter und Wendungen wie Fotz (»Mund«), an Fotz ziagn (»das Gesicht abfällig verziehen«, »einen Flunsch ziehen«), die Fotzen (»Ohrfeige«) oder Fotzerl (»Gesichtchen«). Sogar eine dreißigjährige Frau hat mir erzählt, erst mit dreiundzwanzig erfahren zu haben, worum es sich bei dem Begriff »Fotze« handelt, der in der Schule überall an die Wände geschmiert wurde.

Auch das Wort pissen wird von ÖsterreicherInnen als nicht so vulgär im Vergleich zum einheimischen brunzen wahrgenommen. Robert Sedlaczek, der Autor einer Reihe von Wörterbüchern zum österreichischen Deutsch sowie unanständigen Wörtern, erinnert sich (2014: 6) an die Verwunderung seiner deutschen Bekannten, als sie die von der Stadt Wien auf Hundespielplätzen eingerichteten Hundeklos in Form von Autoreifen mit der Aufschrift Pissringe sah.

Dass das Obszöne nicht am Schimpfwortkörper haftet, lässt sich sehr gut am Beispiel der sprachlichen Erscheinung erklären, die als zwischensprachliche Homonymie bekannt ist. Als Homonyme (griechisch »mit gleichem Namen«) werden Wörter bezeichnet, die gleich klingen und aussehen beziehungsweise nur gleich klingen (Untergruppe »Homophone«) oder nur gleich aussehen (Untergruppe »Homographe«), aber Verschiedenes bedeuten. Homonyme können wir sowohl auf der Ebene einer Sprache (zum Beispiel »die Bank« zur Bezeichnung der Sitzgelegenheit und des Geldinstituts) als auch verschiedener Sprachen beobachten. Im zweiten Fall haben wir es mit der zwischensprachlichen Homonymie zu tun. Sie können sich sicherlich an einige Situationen in Ihrem Leben erinnern, als Sie bei einem fremdsprachigen Wort peinlich berührt waren, weil dieses Wort mit einem Schimpfwort in Ihrer Muttersprache identisch war. So erinnert der Ausruf Hui!, besonders wenn er stärker eingehaucht ausgesprochen wird, viele Leute mit slawischen Muttersprachen an das sehr vulgäre Wort zur Bezeichnung des männlichen Gliedes (chuj im Polnischen, Slowakischen und Tschechischen, хуй/chuj im Ukrainischen und Russischen). Ich muss bei diesem Ausruf immer daran denken, wie ich mit meinem Papa, als er mich in Wien zum ersten Mal besuchte, an einem Kinderspielplatz vorbeiging, wo eine Mutter ihr Baby schaukelte und immer wieder HUI! HUI! HUI! ausrief. Sie können sich sicher vorstellen, was für große Augen mein Vater machte. Auch Hui, Hui, Hui auf dem Werbeplakat eines österreichischen Mobilnetzanbieters, die Aufschriften auf Wiener Mülleimern Drinnen hui, daneben pfui, die Mitteilungen des Tierparks Schönbrunn über den (leider schon verstorbenen) Pandabär Long Hui oder der Name des Schlossgespenstes Hui Buh – der Hauptfigur einer deutschen Hörspielreihe und eines Films – lassen mich immer schmunzeln. Noch ein Beispiel: Der deutsche lautmalerische Ausdruck Blabla für sinnloses Gerede ist mit dem Ersatzwort бля/blja des derben Wortes блядь/bljad’ (russisch »Hure«) gleichklingend, das bereits ebenfalls als unanständig gilt. Dieses Wort kommt in den Liedtexten von Deutschrappern wie Capital Bra häufig vor – ob in seiner wörtlichen Bedeutung »Hure«, bedeutungsentleert als Ausruf (sinngemäß dem deutschen Scheiße!) oder gar als Pausenfüller im Gespräch.

Da viele österreichische Nachnamen von slawischen Sprachen beeinflusst sind, sind auch hier witzige Zusammenfälle vorprogrammiert. Von vielen Beispielen, die mir im Wiener Alltag begegnen, erwähne ich nur diejenigen, bei denen die Nachnamen, zum Buchthema passend, negative Assoziationen wecken, etwa wenn ich an Immobilienfirma Chalupa vorbeigehe (das Wort bedeutet im Ukrainischen (халупа) und Polnischen (chałupa) »arme Hütte«) oder Lastwagen mit dem Firmenlogo Pisdulka begegne (das auf Kroatisch, Serbisch, Slowakisch, Slowenisch, Polnisch, Ukrainisch und Russisch wie ein derb vulgärer Diminutiv des weiblichen Geschlechtsorgans klingt (von pizda/pisda, пізда, пизда – »Fotze«) – vergleichbar mit dem deutschen »Fötzchen«). Zwischensprachliche Homonyme werden umgangssprachlich zu Recht auch als »falsche Freunde« bezeichnet, denn sie können oft irreführen und lustige Situationen verursachen. Insbesondere im Geschäftsbereich sollte die Möglichkeit anderer, nicht gerade vorteilhafter Bedeutungen eines Wortes in anderen Sprachen in Betracht gezogen werden. Die nächsten Beispiele zeigen, wie ein Markenname im Kontext einer anderen Sprache zum Gespött werden kann: Ich erinnere mich, wie wir uns zu meiner Studienzeit bei Partys mit »Bitte gib mir ein Glas Erbrochenes« amüsierten. Und nein, wir waren nicht sturzbetrunken, sondern das Mineralwasser der Marke Blue Water hat einfach lautliche Ähnlichkeit mit блювота/bljuwota (ukrainisch »das Erbrochene«). Übrigens können sich auch beim Zuprosten in der interkulturellen Bier- oder Weinrunde Gefahren verstecken: italienisch cincin! klingt im Japanischen wie ein Schimpfwort (ちんちん – »Pimmel«), genauso wie das deutsche Prost! im Rumänischen »dumm« bedeutet.

Zu den Markennamen: Was könnte der Hersteller in solchen Fällen tun? Ganz einfach – einen anderen Namen kreieren, wie es Mitsubishi gemacht hat: So heißt der Mitsubishi Pajero in Spanien Mitsubishi Montero, da pajero im Spanischen die Bedeutung »Wichser« hat. Einen anderen Namen müsste sich für den bulgarischen und ukrainischen Markt auch der französische Kosmetikhersteller Laino ausdenken, weil das gleichklingende Wort (лайно/lajno) in diesen Sprachen »Scheiße« bedeutet… Sollte auch der slowenische Wickelkommodenhersteller Sraka in die Ukraine expandieren, müsste er unbedingt im Firmennamen einen Vokal hinzufügen und einen verändern, denn so ähnlich die slawischen Sprachen auch sein mögen, so viele Missverständnisse diese Ähnlichkeit auch verursachen kann: im Slowenischen bedeutet sraka »die Elster«, im Ukrainischen dagegen »der Arsch« (срака). Damit das Wort dieselbe Bedeutung wie im Slowenischen erhält, müsste es zu Soroka (сорока – ukrainisch »Elster«) umgewandelt werden.

Auch im Rahmen einer Sprache kann es passieren, dass ein Produktname oder Werbeslogan einer Veränderung bedarf. So beobachte ich am Beispiel des Ukrainischen, dass im Kriegsalltag die übertragene Bedeutung von Kriegsmetaphern wie jemanden mit Fragen bombardieren oder Das ist Bombe!/bombastisch in den Hintergrund tritt, da diese Wörter momentan in der direkten Bedeutung gebraucht und negativ wahrgenommen werden. Ausgehend von diesen bedeutungsverändernden Prozessen wäre es sinnvoll, Werbeslogans wie jener von Colgate вибухова свіжість (»explosive Frische«)5 oder den Namen des Elektronik-Supermarktes Бомба/Bomba (»Bombe«) umzuformulieren beziehungsweise umzubenennen. Neulich erzählte mir meine Freundin von einem Vorfall: Sie fuhr in Lwiw (Lemberg) in einem Bus, an dessen Endstation sich der besagte Supermarkt befindet. Als der Fahrer an der Endstation Bombe. Alle aussteigen! in die Sprechanlage brüllte, hat das nicht-einheimische Fahrgäste zu Tode erschreckt.

Zurückkehrend zu den Missverständnissen aufgrund der Ähnlichkeit slawischer Sprachen fällt mir eine vermasselte romantische Geschichte ein, die einer Bekannten von mir passierte und die sprichwörtlich in die Hose ging: Bei einem der ersten Dates wollte ihr künftiger Mann, ein Pole, seine Gefühle in poetisch-musikalischer Form äußern, indem er ein polnisches Liebeslied sang, wo immer wieder die Worte Do Twojego serca pukam: puk puk (»Ich klopfe an Dein Herz: klopf klopf«) vorkommen. Ihm war es ein Rätsel, warum die von ihm Angebetete offensichtlich ständig ein Lachen unterdrückte. Die Erklärung: Das polnische pukać wie auch das lautmalende puk puk fürs Klopfen ähneln den ukrainischen пукати/pukatyfür »Darmwind ablassen« und dem entsprechenden lautmalerischen пук-пук/puk-puk, weshalb die im Polnischen romantische Liedzeile für ukrainische Ohren so viel bedeutet wie: Ich furze in dein Herz: furz furz.

Missverständnisse können auch auf Grund der Ähnlichkeit vom polnischen szukać und ukrainischem шукати/šukaty (»suchen«) und dem tschechischen šukat sowie slowakischem šukat’ (»ficken«) entstehen. Das bosnische/kroatische/serbische majka (»Mutter«) bedeutet im Ukrainischen »Unterhemd« (майка/majka), deshalb klingt der in diesen Sprachen häufige Fluch Jebem ti majku (»Ich ficke deine Mutter«) für UkrainerInnen wie »Ich ficke dein Unterhemd«. Auch die im Bosnischen, Kroatischen und Serbischen derbe Bezeichnung píčka (»Fotze«) ist im Ukrainischen ein neutrales Wort – »Ofen« (пічка).

Auf Reisen kann es passieren, dass uns ein Ortsschild begegnet, das an ein obszönes Wort erinnert. Das oberösterreichische Fucking hatte lästige TouristInnen (ganze Busladungen englischsprachiger reisten nur wegen des Fotos an), Scherze in sozialen Medien und Diebe von Ortschildern so satt, dass es sich 2021 in Fugging (nach alter Schreibweise des Dorfes) umbenannte. Mich hat einmal die Ortstafel des spanischen Los Yébenes aus dem Auto aussteigen und ein Foto machen lassen, da es dem ukrainischen Wort für »ficken« ähnelt.

Noch einen Aspekt zwischensprachlicher Homonymie stellen Namen bzw. Namensvarianten dar, die in einer anderen Sprache ein negatives Wort ergeben: Mit diesem Phänomen bin ich bereits im Sandkasten konfrontiert worden; damals wunderte ich mich sehr, warum eine Oma ihr Enkelkind »Sau« nannte. Die Erklärung: das russische Лёха/Ljoсha als Abkürzung von Алексей/Aleksej ist gleichklingelnd mit dem ukrainischen льоха/ljocha (»Sau«). Jahre später musste ich einem deutschen Geschäftsmann erklären, warum die Reaktionen der UkrainerInnen oft etwas merkwürdig ausfallen, wenn er sich vorstellt: Der Name Alfons wird mit einem Mann in Verbindung gebracht, der sich von einer Frau aushalten lässt. Danach hat dieser Mann sich mit einer an die ukrainische Realität angepassten Namensvariante vorgestellt – Alfi. Die Abkürzung Орко/Orko vom ukrainischen aus dem Griechischen stammenden Namen Орест/Orest hat zuletzt auch negative Konnotationen bekommen, und zwar aufgrund der Ähnlichkeit mit Ork, Orks – den zombieähnlichen Wesen aus Der Herr der Ringe –, die auch zur Bezeichnung für das russische Militär verwendet werden.

Aus dem Bereich der Frauennamen fällt mir die negative Bedeutung der Namensvariante Sisi im Englischen (sissy – »Feigling«, »Weichei«) und im Russischen (сиси/sisi, auch сиськи/sis’ki – »Brüste«) ein. Deshalb macht es für alle Elisabeths Sinn, sich in diesen Ländern nicht in Anlehnung an den Kosenamen der berühmten Kaiserin Sisi zu nennen, sondern Betti. Für Frauen, die den wohlklingenden Namen Ludmilla haben und sich im deutschsprachigen Raum mit seiner Abkürzung vorstellen möchten, ist es ebenfalls ratsam, ihren Namen auf den zweiten Teil (Milla) und nicht auf den ersten (Luda) abzukürzen, weil die Ähnlichkeit mit dem Schimpfwort Luder frappant ist.

In meiner Studienzeit habe ich oft eine Kurzform meines Namens verwendet – bis mir jemand sagte, dass es sich bei Oxi um die Bezeichnung einer Droge handelt…

Kurze Zusammenfassung: Das Schmutzige liegt nicht im Wort selbst verborgen, sondern in unseren Vorstellungen, was die vielen Beispiele mit zwischensprachlichen Homonymen sehr bildgewaltig bestätigen können – Wörter aus verschiedenen Sprachen, die gleich aussehen und/oder klingen und in einer Sprache neutral, in der anderen dagegen ein Schimpfwort sind. Auch Ersatzwörter zeigen, wie wichtig unsere Einstellungen sind, denn jedes beschönigende Ersatzwort wird irgendwann, wenn sich die gesellschaftliche Ansicht nicht ändert, negative Konnotationen annehmen.

5https://www.colgate.com.ua/products/toothpaste/colgate-zero-spearmint [Zugriff am: 28.08.2023].

SCHIMPFEN IST NICHT GLEICH SCHIMPFEN

Was zum Teufel willst du hier, möchte ich am liebsten sagen. Oder im Grunde nur: Grrrrrrrr.

(Sophie Kinsella. Mini Shopaholic)

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, zu den Leuten gehören, die behaupten, nie zu schimpfen, dann würde ich entgegnen, dass Sie einfach nicht wissen, dass Sie es tun. Denn Schimpfen ist mehr als jemanden mit wüsten Schimpfwörtern einzudecken oder in einer ärgerlichen Situation zu fluchen. Schimpfen im breiten Sinne umfasst alles, was wir ausrufen, wenn etwa der PC oder die Waschmaschine spinnen (So was Blödes!) oder wenn wir uns an der Tischkante gestoßen haben (Aaaaah! Hrrrrrrrrrrrr! Haaaargggghhh!). Auch Emotions- und Situationsthematisierungen wie Ich platze vor Wut! oder Das ist eine unverschämte Rücksichtslosigkeit! sowie Ausdrücke wie Herrgott! oder O mein Gott! (an sich schon Gotteslästerungen, da sie gegen das zweite Gebot verstoßen: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen«) gehören in das Feld der verbalen Aggression.

Und im weitesten Sinne zählen ebenfalls alle Äußerungen des Unmuts, der Empörung sowie Kritik und Nörgelei dazu, auch wenn dabei keine Schimpfwörter gebraucht werden. Der produktive Aspekt von Emotions- beziehungsweise Situationsthematisierungen besteht darin, dass sie nicht auf die Adressatin oder den Adressaten referieren und ihr Image angreifen, sondern auf die schimpfende Person beziehungsweise Situation. Emotionsthematisierungen benennen (oft in bildhafter Form und als feste Redewendungen) den emotionalen Zustand Schimpfender:

Ich hasse das! Ich flipp aus! Ich koch über! Das bringt mich auf die Palme! Du bringst mich zur Weißglut! Mir reißt gleich der Geduldsfaden!

Diese Äußerungen dienen als Warnung vor negativen Emotionen schimpfender Personen und den damit verbundenen möglichen weiteren verbalen oder sogar körperlichen Aggressionen. Durch Gebrauch von Emotionsthematisierungen kann somit Konflikteskalation vermieden werden.

Situationsthematisierungen beziehen sich ebenfalls nicht auf die Person, sondern auf die Situation, die durch ihr (rücksichtsloses, verantwortungsloses u. a.) Benehmen entstanden ist:

Das gibt’s doch nicht! Das ist wirklich das Letzte! Das ist eine unerhörte Unverschämtheit!

Auch wenn dabei das normverletzende Benehmen genannt wird, sind Äußerungen wie So eine Frechheit! oder So eine Rücksichtslosigkeit! trotzdem schonender als Du freches Luder! oder Du rücksichtsloses Arschloch!

Emotions- und Situationsthematisierungen zielen darauf ab, der Adressatin oder dem Adressaten Grenzen aufzuzeigen, ohne ihr Image – im Gegensatz zu anderen Formen des Schimpfens, die ich Ihnen in diesem Buch vorstellen werde – direkt anzugreifen.

Schimpfen als umgangssprachliche Bezeichnung verbaler Aggression ist somit ein Überbegriff für alle aggressiven Sprechakte, die sowohl mit typischen Konstruktionen und Vokabular wie Schimpf- oder Fluchwörtern realisiert werden (Beschimpfen, Drohen, Verwünschen, Fluchen, aggressiv Auffordern) als auch für aggressive Äußerungen, die mittels neutraler Sprache erfolgen. Umgangssprachlich steht Schimpfen auch oft für »Fluchen«. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Als Überbegriff aggressiver Sprechakte bedeutet Schimpfen natürlich auch Fluchen, doch Fluchen ist nur eine Spielart.

Mit der breiten Auffassung des Schimpfens ist auch die breite Auffassung des Begriffs »Schimpfwort« verbunden. Konkret bedeutet es, dass jedes aggressiv verwendete Wort als Schimpfwort auftreten kann, Schimpfen also auch ohne Schimpfwörter möglich ist. Im Falle des Schimpfens mit neutralen Wörtern zählt noch stärker als sonst nicht das Was, sondern das Wie. Bei dieser Art spielt die Lautstärke eine äußerst wichtige Rolle. Viele der von mir Befragten betonen, dass nicht der Grad an Vulgarität des Wortes zum Dampfablassen beiträgt, sehr wohl aber die Lautstärke, und stufen die befreiende Wirkung vom laut ausgeschrienen NEIN!!! oder Es reicht!!!! (auf die Lautstärke weisen in schriftlicher Form die Ausrufezeichen beziehungsweise Großschreibung hin) als genauso stark wie von Verdammt! oder Arschloch! Neben dem lauten Schreien wird beim Schimpfen auch das leise, aber dadurch umso bedrohlichere Zischen verwendet.

Paralinguistische Mittel wie Mimik und Gestik sind ebenfalls nicht zu unterschätzen. Beleidigende Gesten können das Schimpfen begleiten oder auch alleine auftreten: Mittelfinger oder einen Vogel zeigen, mit der Faust drohen und so weiter. Diese Gesten sind sozusagen zeitlos, andere kommen in Mode und werden dann seltener oder verschwinden ganz. Ich erinnere mich, dass nach dem Erscheinen des Videospiels »Fortnite« im August 2017 ein mit Daumen und Zeigefinger gebildetes »L« vor der Stirn für das englische Schimpfwort Loser sehr verbreitet war (nach dem »Loser-Dance« namens »Take the L«-Tanz).

SCHIMPFEN KANN ALLES SEIN: GESUND, PRODUKTIV, WITZIG, GEWALTTÄTIG ODER KRANKHAFT

Beim Schimpfen kann man zwischen produktivem und gewalttätigem Schimpfen differenzieren. Im letzten Fall handelt es sich um eine bewusste Strategie, ansonsten wird oft reflexartig geschimpft. Während das gewalttätige Schimpfen bewusst auf die Beleidigung einer anderen Person ausgerichtet ist, verschafft das produktive Entlastung, befreit von Angst, schweißt die Gruppe zusammen oder bringt andere zum Lachen. All diese und noch mehr Funktionen des Schimpfens werden Sie in diesem Buch kennenlernen.

Die wichtigste Funktion des Schimpfens – Wut abzulassen – ist hinsichtlich physischer und mentaler Gesundheit sowie sozialer Beziehungen förderlich. Auf den Nutzen des entlastenden Schimpfens wurde noch im »Deutschen Schimpfwörterbuch« von 1839 hingewiesen: »Schimpfen befördert die Gesundheit.«6 Die moderne Medizin geht auch davon aus, dass es zu Bluthochdruck oder Entzündungen und Magengeschwüren kommen kann, wenn negative Gefühle unterdrückt werden. Im Bereich mentaler Gesundheit wird auf den Zusammenhang zwischen verdrängtem Ärger und der Depression verwiesen. Außer in Depression können unterdrückte negative Gefühle auch in Gewalt münden. Galt zu Freuds Zeiten die unterdrückte Sexualität als Hauptursache emotionaler Probleme, sieht die aktuelle Hypothese die Ursache in verdrängter Aggression.

Unter diesen Umständen kommt der emotiven Sprachfunktion eine wichtige Rolle zu. Denn zur Kommunikation gehört auch, unsere Unzufriedenheit, unsere negativen Emotionen auszudrücken, auf Missstände aufmerksam zu machen, Grenzen aufzuzeigen, um dadurch eine Veränderung zu erzielen sowie mittels Sprache eine weitere Konflikteskalation zu vermeiden. Marshall Rosenbergs Konzept der gewaltfreien Kommunikation sieht ebenfalls vor, dass Ärger und Wut nicht heruntergeschluckt, sondern vollständig und gewaltfrei zum Ausdruck gebracht werden.

Doch der reinigende Effekt des Schimpfens ist begrenzt und entfaltet sich in Situationen mit schwacher beziehungsweise mittelstarker emotionaler Spannung. Das Schimpfen kann im Alltag, wenn wir uns über die Kleinigkeiten aufregen, gut entlasten. In Situationen mit starker Stressbelastung (Unfall, Verlust eines nahestehenden Menschen, schwere Erkrankung u. a.) tritt es dagegen seltener auf. Bei der Arbeit an diesem Buch wollte mein Laptop nicht immer so, wie ich mir das vorgestellt habe. Als er einmal »hängen« blieb und eine große Textmenge, die nicht gespeichert war, verloren ging, habe ich – obwohl ich mangelhaft funktionierende Geräte sonst bei jeder Kleinigkeit gerne beschimpfe – hinsichtlich des Ausmaßes dieses Desasters nur vor Wut gezittert.

Neben dem Wutablassen wird oft scherzhaft geschimpft – um andere zum Lachen zu bringen oder als originelle Form der Freundschaftsbekundung, zum Beispiel in Anreden oder als freundschaftliches Lob. Diese Fälle bezeichne ich als fiktives Schimpfen: Der Form nach sieht es nach einer Beschimpfung aus, in der Tat handelt es sich um etwas anderes, zum Beispiel um ein Lob. Bei fiktiver Aggression können brutalste Schimpfwörter in die Rolle von Kosewörtern schlüpfen, während bei der echten Aggression neutrale Wörter zu Schimpfwörtern werden.