Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz - Oksana Havryliv - E-Book

Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz E-Book

Oksana Havryliv

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Beschreibung

Die Funktionspalette von Schimpfwörtern ist breit, sie reicht von verbaler Gewalt über den Scherz bis zur Liebeserklärung. Ein zentrales Thema von Oksana Havrylivs Parcours durch die Welt des Schimpfens ist die verbale Aggression an Schulen, wobei sie Aggressionsursachen und -formen ebenso im Auge hat wie gewaltpräventive Maßnahmen und interkulturelle Besonderheiten, die unsere Wahrnehmung prägen. Andererseits legt sie dar, wie unterschiedlich das Schimpfen in den Kulturräumen ist: Im slawischen Sprachraum etwa herrschen sexuell geprägte Ausdrücke vor, während im deutschen Sprachraum vor allem Schimpfwörter aus dem skatologischen Bereich üblich sind. Die Auseinandersetzung mit verbaler Aggression in Corona-Zeiten offenbart zusätzliche Facetten wie etwa neue Schimpfwörter und Konfliktsituationen. Eine kundige Einführung in eine Theorie des Schimpfens – seiner Funktionen, seiner Formen und seiner Wirkungen.

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WIENER VORLESUNGEN

Band 203

Vortragam 6. Juli 2021

OKSANA HAVRYLIV

SCHIMPFEN ZWISCHENSCHERZ UND SCHMERZ

FUNKTIONENVIELFALTAM BEISPIEL DES WIENERISCHEN

PICUS VERLAG WIEN

Copyright © 2022 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

ISBN 978-3-7117-3023-7

eISBN 978-3-7117-5469-1

Informationen zu den Wiener Vorlesungen unterwww.wienervorlesungen.at

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

INHALT

DIE WIENER VORLESUNGEN

VORWORT UND DANKSAGUNG

1. EINFÜHRUNG ODER WARUM DIESES FORSCHUNGSTHEMA?

2. EMPIRISCHE GRUNDLAGEN UND FORSCHUNGSPROJEKTE

3. WAS IST EIN SCHIMPFWORT?

4. AGGRESSIVE SPRECHAKTE

5. DIE HÄUFIGSTEN BESCHIMPFUNGEN UND ANDERE AGGRESSIVE SPRECHAKTE IM WIENERISCHEN

6. VERBALE AGGRESSION – VERBALE GEWALT: TRENN- UND BERÜHRUNGSPUNKTE

7. DIE FUNKTIONENVIELFALT AGGRESSIVER SPRECHAKTE

8. INTERKULTURELLE BESONDERHEITEN DER ÄUSSERUNG UND WAHRNEHMUNG VERBALER AGGRESSION

9. FUNKTIONEN AGGRESSIVER SPRECHAKTE IN DEN JUGENDSPRACHEN

10. SCHIMPFEN IN CORONA-ZEITEN

BIBLIOGRAFISCHE ANGABEN

DIE AUTORIN

DIE WIENER VORLESUNGEN

Nur eine aufgeklärte Öffentlichkeit, die freien Zugang zu validen Informationen und aktuellen Wissenschaftskonzepten hat, ist in der Lage, sich differenziert mit den gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit auseinanderzusetzen. Mit dem unverwechselbaren Wissenschaftsformat Wiener Vorlesungen leistet die Stadtregierung nun bereits seit mehr als drei Jahrzehnten einen wertvollen demokratiepolitischen Beitrag. Offen für alle, niederschwellig und zugleich hochkarätig werden hier die neuesten Erkenntnisse, Ideen und Fragestellungen aus Wissenschaft und Forschung präsentiert und diskutiert.

Als Forschungsstandort und Universitätsstadt hat die Stadt Wien eine Spitzenposition im mitteleuropäischen Raum inne und sieht es auch in ihrer Verantwortung, Impulsgeberin für aktuelle und zukunftsrelevante Auseinandersetzungen zu sein. So beziehen die Wiener Vorlesungen die Öffentlichkeit in den wissenschafts- und technologiepolitischen Diskurs mit ein und verhandeln Themen, die für die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner besonders relevant sind.

Neu in der langen Geschichte ist das Format Wiener Vorlesungen online – geschuldet natürlich den mit der Covid-19-Pandemie einhergehenden Einschränkungen. Doch aus der Not wurde hier eine Tugend: Mittlerweile sind alle Veranstaltungen jederzeit nachträglich abrufbar und es kann somit auch zeitversetzt an der Diskussion aktuellster Fragestellungen partizipiert werden. Denn gerade in der Krise wurde sichtbar, welche Bedeutung vertrauenswürdige Konzepte der Wissensvermittlung während des Überangebots an Meldungen haben, das allzu oft von Halbwissen, Unwissen und Falschwissen geprägt ist. Das zeitgemäße Veranstaltungsformat trägt dazu bei, Dimensionen abzuschätzen, Fragen zu bewerten und schlussendlich Entscheidungen für das eigene Handeln zu treffen. Eine fundierte Informationsbereitstellung und der öffentliche Diskurs über die Voraussetzungen und Folgen von Forschung ist gerade heute von zentraler Bedeutung.

Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die breite Diskussion des Nicht- beziehungsweise Noch-nicht-Wissens geworden, das gute Wissenschaft auszeichnet und zu ihrem Selbstverständnis zählt. Mit dieser Ungewissheit des Nicht-Wissens bewusst umzugehen und diese mit der Gesellschaft zu teilen, ist ein weiteres wichtiges Anliegen der Wiener Vorlesungen.

An unterschiedlichen Schauplätzen – denn auch bei ausschließlichen Online-Vorlesungen sollen verschiedene Orte der Stadt zu Stätten der Bildung werden – lädt das Dialogforum prominente Denkerinnen und Denker, den Nachwuchs der Wissenschaft und insbesondere Wissenschaftlerinnen ein, ihre Erkenntnisse und Einsichten über Fachgrenzen und Generationen hinweg mit der Bevölkerung zu teilen.

Um von den Wiener Vorlesungen zu profitieren, ist kein Studium nötig! Das ideale Publikum zeichnet sich durch große Wachheit und unbändige Neugier auf das Unbekannte und brennende gesellschaftliche Fragen aus. Bei kontrovers zu diskutierenden Themen ist dies umso entscheidender. Wenn hier individuelle Echokammern aufgebrochen werden, die ansonsten zu einer Engführung der Wahrnehmung führen können, hat das niederschwellige Wissenschaftsformat sein Ziel erreicht und den demokratiepolitischen Auftrag aufs Beste erfüllt.

In diesem Sinne freue ich mich, dass die Wiener Vorlesungen mit dieser Publikation nun auch schriftlich vorliegen und einen noch weiteren Adressat*innenkreis erreichen.

Veronica Kaup-Hasler

Stadträtin für Kultur und Wissenschaft

SCHIMPFEN ZWISCHEN SCHERZ UND SCHMERZ

VORWORT UND DANKSAGUNG

Ich freue mich, Sie in mein langjähriges Forschungsthema »verbale Aggression«, in der Umgangssprache als »Schimpfen« bekannt, einweihen zu dürfen. Für jede Wissenschaftlerin und jeden Wissenschaftler ist das öffentliche Interesse an den von ihnen erforschten Themen sehr wichtig. Dieses Interesse ist wie ein Treibstoff, der zum Weiterforschen motiviert.

Das Buch stellt die erweiterte Version der Wiener Vorlesung dar, die ich am 6.7.2021 im »Waggon Salon« im Böhmischen Prater gehalten habe. Diese Vorlesung sowie das anregende Gespräch mit Günter Kaindlstorfer kann unter https://vimeo.com/channels/464934/572524364 angesehen werden. Das Video und das Gespräch sind jugendfrei, das heißt, es kommen dort Beispiele vor, die auch den Kinderohren zuzutrauen beziehungsweise verhüllt sind. Das Buch wurde dagegen mit neuen Beispielen angereichert, die sich durch ausgeprägte Stärke und Vulgarität auszeichnen. Alle diese Beispiele entstammen den schriftlichen und mündlichen Umfragen unter WienerInnen oder den Texten österreichischer SchriftstellerInnen. Mein besonderer Dank geht deshalb an alle, die sich an den Umfragen beteiligt oder mir ihre Beobachtungen, Geschichten und Erinnerungen per Post beziehungsweise E-Mail zugeschickt haben.

Zum Schluss möchte ich mich auch bei meiner Familie bedanken: bei meinen Eltern, Olha und Yevhen, die meine sprachliche Begabung von klein auf gefördert haben und mich auch im Erwachsenenalter bei verschiedenen Projekten unterstützen.

Bei meinem Mann, Tymofiy, der den Text dieses Buches als Erster gelesen, konstruktive Kritik geäußert und wertvolle Anregungen gemacht hat.

Bei meinen Söhnen – Severyn und Luca, die mir nicht nur Belege aus den Jugendsprachen liefern, sondern mich auch ab und zu zum Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz verleiten.

Wien und Lviv, im Sommer und Herbst 2021

1. EINFÜHRUNG ODER WARUM DIESES FORSCHUNGSTHEMA?

Mit den »Wiener Vorlesungen« sind bei mir persönliche Erinnerungen verbunden, die zu den Anfängen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit zurückreichen. Mit diesen Erinnerungen möchte ich beginnen, denn immer wieder wird mir die Frage gestellt, warum ich mich für ein angeblich »so unappetitliches« Forschungsthema entschieden habe.

Ich studierte Germanistik Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in der Ukraine, an der Ivan-Franko-Universität in Lviv – diese Stadt kennen Sie vielleicht als Lemberg. Das Studium fand vor dem Hintergrund bahnbrechender Ereignisse statt: Die Sowjetunion brach zusammen, die Ukraine wurde 1991 unabhängig und der »Eiserne Vorhang« fiel. Es kamen westliche ProfessorInnen mit Gastvorträgen, unter ihnen der renommierte österreichische Germanistikprofessor Peter Wiesinger, mit dem mich später eine erfolgreiche Zusammenarbeit verband. Professor Wiesinger hielt Vorträge über das österreichische Deutsch und über das Wienerische, die mich gleichermaßen verunsichert wie fasziniert haben. Verunsichert, weil ich mir dachte: »Wie kann es sein, dass ich von klein auf Deutsch gelernt habe und nun mit dem Germanistikstudium fast fertig bin und so vieles im österreichischen Deutsch nicht verstehe?« Und fasziniert hat mich die Poetik des Wienerischen. Ich kann mich noch an das erste Wort, das mich beeindruckt hat, erinnern – Erdäpfel. Professor Wiesinger hat kulinarische Austriazismen anhand von Rezepten österreichischer Nationalspeisen erklärt, eines davon habe ich nach Hause mitgenommen – Erdäpfelknödel – und am selben Abend nachgekocht. Es hat meinen Eltern sehr gut geschmeckt und mein Vater erinnerte sich, dass seine Oma genau solche Knödel gekocht hatte – das ist auch nachvollziehbar, denn meine Uroma hat in den Zeiten kochen gelernt, als dieser Teil der Westukraine zu Österreich-Ungarn gehörte.

Nach dem Fall des »Eisernen Vorhangs« konnten auch Studierende reisen und an verschiedenen Austauschprogrammen teilnehmen. So kam ich 1994 als Stipendiatin des Österreichischen Akademischen Austauschdienstes (ÖAD) zum ersten Mal nach Wien. Gerade mit dem Studium fertig, war ich auf der Suche nach einem Promotionsthema. Dabei habe ich mich von zwei Kriterien leiten lassen: Das Thema sollte wenig erforscht und lebendig sein. Fasziniert vom Wienerischen wollte ich diese sprachliche Varietät als empirische Grundlage verwenden, blätterte durch die zahlreichen Wörterbücher des Wienerischen und machte mich mit diesem Urbanolekt mehr und mehr vertraut. Dabei fiel mir die Vielfalt von emotiver Lexik1 auf – nicht nur pejorativer (negativer), obwohl diese dominierte, sondern auch meliorativer (kosender). Später werde ich diese Gesetzmäßigkeit oft beobachten: Alle Dialektwörterbücher enthalten zahlreiche Schimpfwörter und andererseits beruhen Schimpfwörterbücher auf einzelnen Dialekten. Das ist damit verbunden, und hier möchte ich den bekannten österreichischen Kabarettisten und Autor populärwissenschaftlicher Bücher über das Wienerische, Peter Wehle, zitieren, dass der »bunte Dialekt« den SprachträgerInnen näher als die »schwarz-weiße Sprache« ist, ihr »sprachliches Zuhause« (1980: 286) und daher »das beste Transportmittel für unsere Emotionen« darstellt.

Damals, während des ersten Forschungsaufenthalts, saß ich mit anderen ÖAD-StipendiatInnen beim Heurigen und erzählte von dieser Beobachtung. Darauf meinten meine KollegInnen, ich solle Schimpfwörter als Forschungsthema wählen, das entspreche doch meinen Kriterien – das Thema sei wenig erforscht und lebendig obendrein. Diesen Scherz habe ich ernst genommen und das Thema Schimpfwörter tatsächlich für meine Doktorarbeit gewählt. Dies erwies sich allerdings als echte Herausforderung. Als Erstes brauchte ich empirische Grundlagen von mindestens 2000 Belegen, und ich habe mich entschieden, nach diesen in den Texten moderner österreichischer AutorInnen zu suchen. Bei H. C. Artmann, Wolfgang Bauer, Thomas Bernhard, Werner Schwab, Elfriede Jelinek, Peter Turrini und Peter Handke habe ich tatsächlich viel Belegmaterial gefunden. In dieser Zeit, in den Neunzigern, war ich öfters zu kurzen Forschungsaufenthalten in Wien und immer, wenn ich mich mit einer komplizierten Aufgabe beschäftigte und manchmal auch zweifelte, ob es wert sei, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, ob es überhaupt die richtige Entscheidung war, sich der Wissenschaft zu widmen, sah ich in der U-Bahn Plakate der »Wiener Vorlesungen«, und da war dieser Gedanke, der mir damals unrealistisch erschien: »Vielleicht hat es doch einen Sinn und eines Tages werde auch ich so einen Vortrag halten …« Und siehe da – nach 25 Jahren wurde ich tatsächlich eingeladen, einen Vortrag bei den »Wiener Vorlesungen« zu halten und auf dessen Grundlage diese Publikation vorzubereiten.

Das Auseinandersetzen mit der verbalen Aggression (sowohl auf wissenschaftlich-theoretischer Ebene als auch als Selbstreflexion) schafft Distanz zum Thema und trägt zum besseren Verständnis des betreffenden Phänomens bei. Allein die Enttabuisierung führt zu einer Verringerung des Gebrauchs von Schimpfwörtern. Denn die Häufigkeit ihres Gebrauchs steht im direkten Zusammenhang mit deren Tabuisierung: So verfügt das Russische trotz, oder besser gesagt gerade wegen der traditionell starken Tabuisierung von Schimpfwörtern in Russland nicht nur über ein unglaublich reiches und ausdrucksstarkes Schimpfvokabular, sondern auch über eine sprachliche Varietät (Mat), die ausschließlich auf Schimpfwörtern und Vulgarismen sowie ihren Ableitungen beruht und als Parallelsprache bezeichnet wird.