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Nur ein Röcheln ist der Schicksalsbericht eines Außenseiters. Es ist das dritte Buch einer Trilogie des Autors Satgyan Alexander. In den Büchern Zeit für Kundalini, veröffentlicht 2013, und Liebe, Literatur und andere Leidenschaften, 2016, konnte der Leser den Protagonisten auf der Suche nach Nähe und Anerkennung in einer Wohngemeinschaft mit sechs Individualisten kennen lernen. Die sieben Kommunarden beschritten esoterische Wege mit einer Kundalini Meditation und ließen sich von einem Bühnenstück über den Existenzialismus von den unbegrenzten Freiheiten der Philosophie verzaubern. Von Selbstsucht verführt und von Schicksal getrieben müssen sie im vorliegenden Band ihre latent unsichere Gemeinschaft aufgeben. Der Roman beginnt mit dem Mord an Hans, dem Initiator der Wohngemeinschaft, der hinterhältig von seinem androgynen Freund Andro erschlagen wird. In kurzer Folge wird der Leser dann Zeuge eine weiteren Gewalttat in der Berliner U-Bahn. Auf der Flucht vor sich selbst begeht Andro, von seiner traumatischen Vergangenheit verfolgt, in Ligurien noch zwei grausame Morde, die schließlich zu seiner Festnahme führen. Die umsichtige Ermittlungsarbeit überführt nicht nur den Täter, sondern bringt auch Licht in die Hintergründe dieses ungewöhnlichen Schicksals.
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Seitenzahl: 221
Veröffentlichungsjahr: 2017
Der Fall eines Schicksalshörigen
von
Satgyan Alexander
© 2017 Satgyan Alexander
Umschlaggestaltung Satgyan Alexander
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7439-3401-6
Hardcover:
978-3-7439-3402-3
e-Book:
978-3-7439-3403-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Nur ein Röcheln, ist der Schicksalsbericht eines Außenseiters. Es ist das dritte Buch einer Trilogie des Autors Satgyan Alexander.
In den Büchern Zeit für Kundalini, veröffentlicht 2013, und Liebe, Literatur und andere Leidenschaften, 2016, konnte der Leser den Protagonisten kennen lernen, wie er gemeinsam mit sechs Individualisten in einer Wohngemeinschaft auf der Suche nach Nähe und Anerkennung die Zeit verbrachte.
Die sieben Kommunarden versuchten in der Gruppe und auch in Zweierbeziehungen der Isolierung und Langeweile in einer globalisierten Welt zu entkommen. Sie beschritten esoterische Wege mit einer Kundalini Meditation und ließen sich von einem Bühnenstück über den Existenzialismus von den unbegrenzten Freiheiten der Philosophie verzaubern.
Von Selbstsucht verführt, werden sie im vorliegenden Band vom Schicksal gezwungen ihre latent unsichere Gemeinschaft aufzugeben.
Der Roman beginnt mit dem Mord an Hans, dem Initiator der Wohngemeinschaft, der hinterhältig von dem Protagonisten, seinem androgynen Freund Andro, erschlagen wird. In kurzer Folge wird der Leser dann Zeuge eines weiteren Verbrechens in der Berliner U-Bahn.
Auf der Flucht vor sich selbst begeht Andro, von seiner traumatischen Vergangenheit verfolgt, in Ligurien noch zwei grausame Morde, die schließlich zu seiner Festnahme führen.
Die umsichtige Ermittlungsarbeit des Kommissars Petersen in Berlin überführt am Ende nicht nur den Täter, sondern bringt auch Licht in die Hintergründe dieses ungewöhnlichen Schicksals.
Es war nur ein Röcheln, kein Schrei, ein dumpfer Aufprall auf dem Boden. Der Raum war noch erfüllt von dem ersticktem Laut und dem Dröhnen des Aufpralls, als Andro sich aufrichtete und mit forschendem Blick über die Einrichtung der Eingangshalle in die transparente Wirklichkeit seiner Gegenwart zurückkehrte. Da standen die bequemen Sessel mit den dunkelroten Bezügen und der mit Brokatstoff bezogeneOhrensessel, in dem das Opfer, das nun auf dem Boden lag, so gerne seine Zeitung gelesen hatte. Sein Blick wanderte durch die Diele, blieb an dem mundgeblasenen Kronleuchter aus Murano und an der Anrichte haften, auf der er zur Einweihung der Wohngemeinschaft - wie viele Jahre waren eigentlich seitdem vergangen? - köstliche Salate und Desserts aufgetürmt hatte. Er hatte alle Rezepte vorher ausprobiert und die allseitige Bewunderung tat ihm damals sehr gut.
Ein Kälteschauer ließ ihn frösteln. Unmerklich schüttelte er den Kopf und zuckte mit den Schultern, während er vor sich hin brummte, verdammter Mist, warum musste der nun wieder Probleme machen, selbst am Endenoch.
Er stand jetzt neben dem Körper, der mit dem Bauch auf dem Holzboden lag, die Schultern unnatürlich verdreht. Das seidene, graue Oberhemd war aus der Jeanshose gerutscht, die von einem schwarzen Ledergürtel gehalten wurde. Andro sah einen Streifen entblößter Haut des Unterleibes, angeekelt wandte er sich ab. Der Kopf des Toten war seitlich nach links verdreht. Ein feiner, dünner Blutfaden rann von der kahlen Stelle des Hinterkopfesüber den grauen Haarkranz, vorbei am rechten Ohr und tropfte auf das helle Eichenholzparkett, wo das Blut einen dunklen Fleck bildete. Das Werkzeug, eine Bronzefigur hatte er noch in seiner rechten Hand, ohne das Gewicht zu spüren.
Er richtete sich auf, ging einen Schritt zurück, stellte die Skulptur,DieKleine Stehendevon Giacometti auf den Sockel zurück, schüttelte erneut den Kopf, griff sich an die Stirn, während er vor sich hinmurmelte, eigentlich war er ja ein lieber Kerl gewesen, aber leider, leider zu aufdringlich, besonders in der letzten Zeit, und in dem Alter...... es war einfach unappetitlich. Egal. Soll ich ihn nun bedauern? Ich weiß nicht. Warum auch? Vielleicht hätten wir eine Trennung versuchen sollen…. ach Quatsch, vorbei ist vorbei. Es war ja auch nicht nur der Sex! Wir waren einfach zu sehr miteinander verwoben, leider auch geschäftlich….und schon zu lange zusammen, mindesten zwei Jahre zu lange.
Er drehte sich um, ging zu dem Ohrensessel, auf dem die karierte Wolldecke lag, die der Erschlagene zu Lebzeiten um seine Schultern zu legen pflegte, faltet sie auseinander um den Toten aus seinem Gesichtsfeld zu verbannen.
Er stand über den Körper gebeugt, vor dem er sich erneut ekelte. Regungslos lag der da, ruhig, unfassbar ruhig. Er rollte ihn auf den Rücken und sah in das Gesicht mit den feinen Zügen, der hohen Stirn, den geschwungenen, vollen Lippen und den offenen, graugrünen Augen, schon entseelt, schreckhaft aufgerissene, erstaunt blickende Augen.
Ach Hans, brachte er leise anklagend den Namen des Toten heraus, der ihm Vaterersatz und ein guter Freund gewesen war. Ich kann nichts dafür, stieß er hervor, du, du hast mir die Freiheit genommen. Scheiße, Scheiße, Scheiße, aber nun es ist geschehen und er warf die ausgebreitete Decke mit Schwung über den Toten. Unter der Decke verblasste das Geschehene schon zu einem ganz natürlichen Tod, fand er.
Vergiss es und hör endlich auf zu lamentieren, redete er auf sich ein.
Mit so etwas wie Gewissen hatte er schon längst Schluss gemacht, er musste jetzt nur seine innere Ruhe wieder finden.
Jetzt muss ich überlegen, wie ich dich loswerde. Ich könnte dich von dem Balkon werfen, der auf den Innenhof geht, das sieht dann nach Selbstmord aus, aber nein, er schüttelte heftig seinen Kopf, das geht nicht, einer der Mieter könnte mich bei der Entsorgung aus einem Küchenfenster beobachten. Oder ich lass es wie ein Unfall aussehen, als wärest du von der Leiter gestürzt und auf den Hinterkopf geknallt, nur, wo ist eine Leiter? Soweit ich mich erinnere, gab es in der Wohnung nur einen kleinen Tritt mit 3 Stufen. Ach, das ist doch alles zu aufwendig, zu viel Theater.
Ich lass dich einfach liegen und verschwinde. Hoffentlich hat mich niemand gesehen oder gehört. So ein Aufprall des Körpers könnte in den anderen Wohnungen schon gehört worden sein, vielleicht auch nicht. Noch ist alles ruhig. Vielleicht sollte ich in der Wohnung oben läuten?
Blöde Idee, er schüttelte den Kopf über diese Dummheit. Bleib einfach ganz ruhig und verschwinde. Hab´ ich irgendwo hier was angefasst? Fingerabdrücke hinterlassen? Wann war ich eigentlich das letzte Mal bei Hans?
Ach ja, das sind schon ein paar Tage her. Also jedenfalls nicht gestern oder vorgestern. Dann wär‘s das Beste, ich verschwinde, stecke die Bronze in den Rucksack, dann gibt’s keine Fingerabdrücke und kein Tatwerkzeug.
Er verstaute die Statue, warf die Last über die rechte Schulter und näherte sich der zweiflügeligen, massiven Wohnungstür, als er aus alter Gewohnheit noch einen Blick in den großen, über zwei Meter hohen Theaterspiegel warf, der gerahmt von den braunschwarzen, etlichen Zentimeter breiten Profilen neben der Garderobe an der Wand lehnte. Er erstarrte. Wie oft hatte er sich in dem Spiegel beiläufig gesehen, als er hier noch in der WG wohnte, beim Verabschieden von Gästen und Mitbewohnern.
Aber jetzt? Wie angenagelt stand er davor und betrachtete seine dünne Gestalt in der antiken Spiegelscheibe, mit dem Rucksack über der rechten Schulter. Sein Gesicht war bleich, wie Wachs. So hatte er dieses Gesicht noch nie gesehen, dabei hatte er oft vor Spiegeln gestanden, minutenlang, um liebevoll sein Aussehen zu prüfen. Aber jetzt sah er einen Anderen. Seine Augen blickten ihn eiskalt an. Die Lippen waren wie ein Strich, sogar die Nase wirkte fremd und übergroß durch das grelle Licht der Nachmittagssonne, die durch ein farbiges Jugendstilfenster das Gesicht in ein fahles Grün tauchte. Die Nasenflügel bebten. Die Wangen waren eingefallen.
Er versuchte ein Lächeln. Es gelang nicht. Warum sollte er auch lächeln, verwarf er den Reflex. Er blickte an sich herunter. Der lange, graue Regenmantel bedeckte seine zierliche, feminine Gestalt und er bemerkte noch, wie gut die neuen Lederstiefel zu dem Mantel passten.
Bevor er sich vom Spiegelbild abwandte, strich er mit der Rechten über seine blonden Locken, die er seit einigen Wochen wachsen ließ. Sein Äußeres war in der letzten Zeit männlicher geworden, stellte er zufrieden fest, vor allem seit der Entfernung der Brustimplantate.
Als er Schritte aus dem Treppenhaus hörte, die von unten näher kamen, fuhr er erschreckt zusammen. Er lauschte. Die Schritte waren jetzt direkt vor der Wohnungseingangstür und entfernten sich in das nächste Geschoss. Er hörte, wie eine Tür geöffnet wurde und das Schließen der Tür, dann Schritte in dem Geschoss über ihn, das Knarren von Holzdielen. Unbewusst hatte er den Atem angehalten, er spürte seinen Herzschlag deutlicher. Dann atmete er wieder tief ein, um sich zu beruhigen. Es war nun höchste Zeit, er musste unbedingt verschwinden.
Vorsichtig, so leise es ging, öffnete er die Eingangstür, blickte hinaus und lauschte in das geräumige Altbautreppenhaus mit dem Aufzug in der Mitte der dreiläufigen Treppe. Jetzt war es ruhig im Haus.
Langsam trat er auf das Podest, es knarrte, behutsam zog er die schwere Tür hinter sich so zu, dass der Schnäpper nicht zu hören war. Er überlegte, ob er den Aufzug, mit dem er die zwei Geschosse hochgefahren war, nehmen sollte, aber es würde Lärm machen und ihn womöglich verraten. Er entschied sich für die Treppe. Die Treppe führte in drei Läufen um den Aufzug herum. Er wandte sich nach links zu dem ersten Lauf mit acht Stufen, dann folgten ein Podest, weitere vier Stufen, wieder ein Podest und die restlichen acht Stufen bis zur ersten Etage. Vorsichtig ging er an der Wand entlang um das Knarren der alten Eichenstufen zu vermeiden.
Am Fuße der Treppe, nachdem er die vierzig Stufen überwunden hatte, fiel ihm in der kühl gestalteten Vorhalle mit den drei Marmorstufen noch rechtzeitig ein, dass er die Schließautomatik der alten, schmiedeeisernen Jugendstiltür daran hindern musste, zu zufallen. Er presste sich von außen vor dem Zuschlagen gegen die schwere Tür.
Als er dann endlich auf den alten Quadratmeter großen Granitsteinplatten des Bürgersteiges stand, sog er mit scharfem Ton die frische Herbstluft ein und überlegte mit halblauter Stimme, ob er nach rechts oder links gehe sollte, nach links wäre er in zehn Minuten an der nächsten U-Bahn-Station.
Noch in seinen Überlegungen versunken, fixierte er aus alter Gewohnheit den Eingang des gegenüberliegenden Supermarktes und bemerkte mit leisem Schrecken einen alten Kumpel der ehemaligen Wohngemeinschaft, der mit vollen Tüten aus dem Bollemarkt herauskam.
Es war Markus, der wie angewurzelt stehenblieb, ihm mit dem Kopf zunickte und mit den Tüten in der Hand Gesten der Umarmung machte. In einer silberfarbenen Steppjacke sah er aus, als hätte er 20 Kilo zugenommen, auch sein Gesicht wirkte aus der Ferne gut genährt. Das konnte auch an dem Hut mit der kleinen Krempe und der eigenartig braunen Farbe liegen. Andro suchte unbewusst nach überflüssigen Erklärungen, um seinen Schreck vor sich selbst zu verbergen. Es blieb ihm trotzdem keine Wahl.
Er ging über die Straße und begrüßte ihn mit, Hallo, Markus, du bist in Berlin? Das ist schon eine Überraschung! Ich dachte, du lebst jetzt immer in Portugal, dabei berührte er leicht die linke Schulter von Markus mit seiner Rechten und blickte ihn ganz unbefangen in die Augen.
Ja, ich bin mal wieder in Berlin, du sagst es, Andro, platzte Markus in seiner fröhlichen Art heraus. Das ist wirklich eine tolle Überraschung! Was machst du eigentlich hier? Markus sah ihn fragend an, redete aber sofort weiter, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, seitdem du im letzten Sommer mit dem Rest der alten WG bei mir in Portugal warst?
Andros Augen ruhten während des Redeschwalls bedeutsam nichtssagend auf ihn.
Markus war nicht zu bremsen. Ja, weißt du, fuhr er fort, in dieser Jahreszeit ist es da unten an der Algarve auch ziemlich kühl und ich habe noch eine kleine Wohnung hier in der Nähe, in der ich überwintere. Du musst mich unbedingt mal besuchen.
Dann konnte er seine Neugier nicht zurück halten, warst du drüben bei Hans in seiner tollen Altbauwohnung? und er blickte ihn fragend an.
Jaja, ich wollte Hans eigentlich besuchen, reagierte Andro etwas zögernd, aber er ist leider nicht da. Ich habe geklingelt, aber es hat sich nichts gerührt. Weißt du etwas von ihm, Markus? Was er so treibt? Ich hätte ihn gerne mal wieder gesprochen. Du weißt ja, uns verbindet eine schwer zu beschreibende Beziehung.
Er zögerte und überlegte, ob er noch etwas Bedeutsames sagen sollte, aber sein Bauchgefühl drängte ihn zu einem unverbindlichen Abschied.
Tja, Markus, war schön dich zu sehen. Ich wollte gerade zur U-Bahn, muss noch was erledigen. Schade, dass ich den alten Hans nicht angetroffen habe, rang er sich noch ab und dann, mach´s gut. Er sah Markus lange und intensiv an, lächelte noch kurz und wandte sich ab.
Bereits einige Meter entfernt, drehte er sich nochmal um, wo wohnst du eigentlich? Hab ich deine Adresse? Ach was, lass mal, ich habe ja deine Telefonnummer, ich rufe dich an, wenn ich dich besuchen möchte.
Das war toll dich wieder zu sehen, Andro! rief Markus dem davon Eilenden hinterher und, wir treffen uns, das machen wir! Du rufst mich mal an, ja?
Während Andro mit schnellen Schritten in Richtung U-Bahn lief, brummte er in sich hinein, so ein Mist, muss der nun auch gerade auftauchen. Naja, vielleicht kann ich ihn mal als Alibi benutzen, wenn es nötig sein sollte. Der Markus ist ja naiv, der kann dann bestätigen, dass ich dort geklingelt habe und keiner aufgemacht hat.
Das Gewicht im Rucksack drückte an seine Schulter und er wechselte die Bronze von der rechten auf die linke Seite.
Hoffentlich hat Markus den Rucksack nicht bemerkt, ging ihm noch mal das Zusammentreffen vor dem Supermarkt durch den Kopf und im gleichen Moment empfand er auch das Gewicht noch drückender. Mit ausgreifenden Schritten, ohne auf die Entgegenkommende zu achten, eilte er unter dem Schatten der Bäume dahin.
Vor seinem inneren Auge tauchte die Szene mit Hans auf, der Zusammenstoß. Wieso kam es nur zu dem Zwischenfall? Warum war ich eigentlich ausgerastet? Wir hatten uns doch anfangs ganz vernünftig unterhalten…. Aber, wie er sich jetzt erinnerte, war er bereits seit Tagen ziemlich sauer auf Hans gewesen und mit ’nem aggressiven Gefühl, einer unterdrückten Wut hingegangen.
Ach ja, da war doch noch dieses Telefonat mit Hans ein paar Stunden vorher gewesen, das ihn echt genervt hatte. Wollte doch der bekloppte Hans von einem zum anderen Tag die Euros wieder haben, Hunderttausend, die er ihm gegeben hatte, um sie für ihn zu investieren. Blöderweise waren sie da schon nicht mehr vollständig. Und seine Ausrede, ich habe gestern ein Festgeldkonto mit 6 % Zinseneröffnet,hatte der nicht wirklich geglaubt. Hans war in diesen Dingen eigenwillig. Er hatte überhaupt in letzter Zeit darauf bestanden, dass ich ihn bei allen Transaktionen vorher informieren sollte.
Was hat er mir in letzter Zeit alles vorgeworfen? Du hast es mir versprochen, Andro, hoch und heilig, hast du es mir versprochen, nichts ohne mein Wissen zu unternehmen; du erinnerst dich doch hoffentlich, so hatte Hans sich vor einer Stunde in Wut geredet, dass wir vor Monaten schon einmal aneinander geraten waren, weil du selbstherrlich diesen Laden am Richardplatz angemietet und den Vertrag mit einer Kaution unterschrieben hattest. Das hat mich damals Dreißigtausend gekostet. Richtig wütend war der alte Hans geworden.
Das stimmte ja auch alles, aber glücklicherweise konnte ich ihn dann durch meinen Charme wieder friedlich stimmen.
Ach Hans, hatte ich ihn etwas beruhigt, du mit deinen alten Geschichten; ich weiß doch genau, dass dich der Verlust damals geschmerzt hat, aber ich war anschließend auch äußerst lieb zu dir und wir haben danach eine schöne Reise nach Venedig gemacht, nicht wahr? Weißt du das nicht mehr? erinnerte ich ihn.
Daraufhin war Hans, wie erwartet ins Träumen verfallen und hatte mich wieder so zärtlich angesehen, und mir wurde in dem Augenblick total bewusst, wie oft ich mich verstellt hatte und mich überwinden musste, um mit dem alten Kerl ins Bett zu gehen. In was für ein Scheißleben bin ich durch ihn reingerutscht!
Hoppla, na so was Blödes, Andro rutschte aus und stolperte, bin ich doch in Hundescheiße getreten. Ach, die Berliner mit ihren Hunden!
Er ging zur Bordsteinkante und streifte den Dreck an dem Granit ab. Am nächsten Baum reinigte er den Schuh an einem Bodendecker, es war Efeu, der sich an dem Stamm der Robinie hochrankte. Sein Blick wanderte nach oben in die Krone des Baumes und verlor sich in den sich verzweigenden Ästen eines großen Laubdaches, das den Himmel verdeckte, der so blau und ruhig und wolkenlos war.
Ach ja, die U-Bahn, kam er wieder zu sich und ging weiter. Er wechselte den Rucksack auf die rechte Schulter und mit dem Geräusch der gleichmäßigen Auftritte auf den Granitplatten tauchten erneut Erinnerungen des Nachmittags auf. Wie war es bloß dazu gekommen? Hatte ich mich wirklich total vergessen? Nein, ich glaube, die Zeit war einfach reif. Ich konnte ihn nicht mehr ertragen. Das war wohl der Grund, warum ich so ausgerastet bin. Eigentlich wollte ich mich nur wehren, als er in seiner fiesen Art wieder auf mich zukam, mich umarmen und an sein Herz drücken wollte, wie er immer so sagte. Aber es war eklig, der Körpergeruch, die faltige Haut. Ich konnte nicht mehr, hab ihn zurückgestoßen, er taumelte, suchte Halt, drehte sich dabei um sich selbst, fiel zu Boden, kniete wie ein Hund auf allen vieren und rief mit einer erregten Stimme, ja, Andro, ja, weiter, ich liebe dich, mach weiter, wie lange sehne ich mich schon danach, reiß mir die Hose runter…
Da habe ich wohl unbewusst nach der Skulptur gegriffen und zugeschlagen. Die Bronze hatte ich ja schon früher einige Male in die Hand genommen, um sie zu betrachten und dabei ihr Gewicht geprüft, das muss ich zugeben.
Plötzlich blieb Andro stehen und blickte um sich, ob etwa ein Zeuge die halblaut gemurmelten Worte gehört hätte. Aber die ältere Dame mit Blumenhut undreinrassigemDackel, die gerade an ihm vorbeirauschte, blickte weder auf noch zurück.
So ein Quatsch, schüttelte er den Kopf und schritt wieder mit großen Schritten voran, weiter vor sich hin redend.
Tja, als ich Hans vor fünf Jahren kennen lernte, wirkte er noch jugendlich, auch anziehend mit seinem väterlichen Habitus. Er hatte ja viel Erfahrung, war weit gereist, viel in der Welt herumgekommen, hatte krachend ´ne Menge Geld gemacht mit seinen Pornogeschäften und auch noch viel geerbt. Na, das war eben ein verführerisches Leben an seiner Seite. In den ersten Jahren haben wir uns wirklich gut verstanden, es war schon geil, wie er mich nahm….
Er blieb einige Sekunden träumend stehen, verlor sich in dem Anblick von Art Deco Vasen in einem Schaufenster. Dann nahm er seinen Monolog im Gehen wieder auf, wir waren eigentlich schon auf demselben Weg, geistreich und philosophisch, glaube ich.
Naja, zeitweise hatte er einen echten Spleen mit seinem Existenzialismus, las ständig Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Und im letzten halben Jahr war er dann völlig ausgetickt und lernte ganze Passagen ausWarten auf Godotvon Beckett auswendig. Und ich sollte ihm zuhören, ihn abfragen und diesen Schwachsinn mitmachen. Keine Ahnung, was er davon hatte. Jedenfalls wurde es immer anstrengender und seine Leidenschaft ging auch verloren. Nur noch vom Geld war die Rede, was er anlegen wollte.….
Ach was, vergiss ihn, da vorn ist ja endlich die Treppe zur U-Bahn. Jetzt werde ich mich mal um sein Geld kümmern. Und Andro brach in ein vergnügtes Lachen aus, als er auf der Treppe mit großen Schritten abwärts stürmte. Dann plötzlich, auf halber Höhe, blieb er abrupt stehen und fasste sich an den Kopf, weil ihm siedeheiß einfiel, was er vergessen hatte. Hans hatte die Vollmacht zum Abheben des Geldes nicht mehr unterschrieben. Scheiße, sagte er laut zu sich, jetzt muss ich seine Unterschrift wieder fälschen.
Der Zug in Richtung Köpenick donnerte mit einem Luftstoß in die unterirdische Station.
Um diese Zeit waren die Wagen nicht voll besetzt. Die automatischen Türen öffneten sich und Fahrgäste stiegen aus und ein. Er setzte sich, ohne zu überlegen, auf eine Längsbank, von der er den ganzen Wagen überblicken konnte. Den Rucksack stellte er zwischen seine Beine. Dann setzte er seine Sonnenbrille auf, um die Mitreisenden besser beobachten zu können, ein ziemlich auffallendes Modell, das eine große Fläche des Gesichtes bedeckte. Er liebte die Beschäftigung, aus einer sicheren Position andere so lange anzuschauen, bis sie unruhig wurden. Er fand das unterhaltsamer als lesen. Die Zeit verging schneller und er konnte seine hungrige Fantasie mit interessanten Gesichtern füttern.
Aber heute saßen leider nur Allerweltsgesichter in dem Abteil. Menschen, die von der Arbeit kamen. Einige hatten sogar ihre Augen geschlossen. Naja, es war spät, gegen halb sieben, stellte er mit Blick auf sein Handy fest. Und der da drüben, sein Blick fiel auf ein nordafrikanisches Gesicht, ein Typ mit dunklen Locken, wahrscheinlich wieder so ein Flüchtling, einer von denen, die ständig an ihrem Smartphone rumfummeln müssen.
Der Zug fuhr mit hoher Geschwindigkeit in eine Kurve, die Räder quietschten, sodass er fast von der Bank geflogen wäre und sich an der vertikalen Haltstange festklammern musste.
Dabei sah er hinten in der Ecke einen Typ, der seine Neugier erregte. Auf der linken Seite, da saß doch eine interessante Figur, die ihn ein bisschen an seinen alten Hans erinnerte, der ja nun nicht mehr sein Hans war. Der hatte eine ähnliche Physiognomie, jünger, kräftiger gebaut, mit prachtvoller Mähne, schon seltsam, wie sich so einer in die U-Bahn verläuft, dachte er noch, als der Mann aufstand und auf ihn zukam, ihn anlächelte und sich neben ihn setzte mit den Worten, wir kennen uns, nicht wahr?
Andro verschluckte sich, hustete, nahm verwirrt die Sonnenbrille ab und stotterte, ich, ich weiß…, ich weiß nicht. Wo, wo sollen wir uns denn getroffen haben?
Er war beunruhigt, als sich der Mann dicht an ihn ran drängte und mit leicht französischem Akzent sagte, du kennst mich genau, von früher, ´s liegt schon eín wenig zurück, eín paar Jährchen. Damals warst de noch nícht blond, und Locken hattest de auch nícht. Was machst de jetzt eigentlích? Wo kommst de hér? Wo willst de hín? Bist schon längér in Berlín?
Andro rückte vorsichtig ein paar Zentimeter von dem Mann ab, der unangenehm nach Knoblauch roch und brummte, lassen Sie mich zufrieden, ich kenne Sie nicht. Was wollen Sie von mir? Seine Stimme vibrierte von innerer Anspannung.
Er kramte in seinen Erinnerungsbildern, von woher sollte ich den Typen bloß kennen? müssen verdammt viele Jahre her sein, hoffentlich habe ich mit dem keinen Stoffwechsel betrieben. Oder Drogen? Wäre schon möglich, war ja alles drin in den frühen Jahren als androgynes Opfer. Bin ja mit jedem mitgegangen um an Stoff zu kommen. Vielleicht is´ er aus der Zeit, als ich aus dem Heim abgehauen bin, da war ich doch mit so `nen Typen, den ehemaligen Leiter des Heimes ein paar Wochen zusammen, mit dem aus Marseille, der ein bisschen deutsch konnte und mich in <ner Laube versteckt hatte. Mit dem hatte ich leider was, war doch voll abhängig von ihm, vom Stoff und vom Poppen, der nahm mich knallhart von hinten, bis ich alle war und abhaute. Was hab ich den am Ende gehasst! Aber der war nicht mit so <n Outfit unterwegs, so angeberisch. Scheiße, was mach ich nur jetzt? verdammte Erinnerungen. Irgendwie muss ich mir den Typ vom Halse schaffen, vermutlich denkt der, ich sei noch immer auf <ner Suche nach <nem Unterschlupf, noch immer derselbe aus der verlorenen Zeit.
Plötzlich fühlte Andro etwas auf seinem Knie. Nimm die Hand von meinem Knie, schrie er den Typ erregt an. Einzelne Fahrgäste sahen mit apathisch blickenden Augen hinüber. Dann senkten sich wieder die Lider.
Nun háb dích nícht so, Andro, das íst doch noch dein Name stímmts, drängte der sich weiter an ihn heran. Jedenfalls hást du dích frühér so genannt, schob er nach.
Andro blickte angewidert in die Luft, griff nach dem Rucksack und stellte ihn neben sich auf die freie rechte Seite.
Das Fahrgeräusch des Zuges wurde leiser, die Geschwindigkeit verlangsamte sich.
Na, was machen wír héute, wír beíde zusammen? drängte der Knoblauchtyp weiter in ihn.
Andro blickte stur geradeaus, sagte kein Wort. Am liebsten würde ich dir meinen Rucksack mit der Bronze in die Fresse hauen, aber das sagte er nicht laut. Er stellte sich nur vor, wie der Typ dann zusammensacken, zur Seite kippen, liegen bleiben oder von der Bank rollen würde. Aber das ging jetzt nicht. Es waren zu viele Fahrgäste in dem Abteil. Der Asylant, also der Typ mit dem Smartphone, blickte schon wieder rüber, der würde sicher ein Foto von dem Geschehen machen.
Die U-Bahn wurde noch langsamer, fuhr in einen Bahnhof ein und hielt. Andro sprang auf und rief, na los, wir wollen doch was unternehmen!
Er hatte nicht darauf geachtet, wo sie waren. Hauptsache raus, den Mann irgendwohin bringen, wo er mit ihm fertig werden könnte. Dafür sind WC-Anlagen geeignet, dachte er und suchte nach dem Hinweisschild.
Der Typ stapfte neben ihm her und brummte, was íst denn in dích gefahren? Plötzlích so zugänglích? Also gut, was wollen wír machén? du hást eine Idée?
Wie wär‘s mit <ner Runde durch die Kneipen, schlug Andro vor um Zeit zu schinden, trinken wir irgendwo ein paar Kurze auf das Wiedersehen und entscheiden dann, was wir unternehmen.
Inzwischen hatte er einen WC Hinweis ausgemacht, der nach oben in die Vorhalle zeigte. Die Treppe mussten sie sowieso benutzen. Auf der letzten Stufe drehte er sich nach rechts, dem Hinweis zum Männer WC folgend, und rief, ich muss mal pinkeln, komme gleich wieder.
Seine Vermutung, dass der andere ihn nicht aufgeben würde, war richtig. Andro beschleunigte seinen Gang um den Abstand zu vergrößern und rief, es drängt! Oui, oui, rief der Typ hinterher, ích komme gleich nach, muss auch píssén! und er folgte ihm mit einigen Schritten Abstand.
Andro ließ die Tür hinter sich zufallen und stellte mit schnellem Blick fest, dass niemand in der weißgeflieste Welt der Wasserlassenden war, außer dem strengen Geruch nach Urin. Die Türen der beiden Abortkabinen standen weit offen. Er blieb unmittelbar neben dem silberblitzenden Eingang stehen, sodass er von der aufgehende Tür verdeckt war und hatte bereits die Bronze in der Hand.
Die schwere Metalltür wurde aufgestoßen, der Typ ging stracks in Richtung der Urinale, die Skulptur sauste auf ihn herab und er röchelte kurz. Andro hatte ihn gut getroffen, aber der am Boden Liegende wimmerte noch.
Rasend schnell überlegte er, ob er Ihn ganz erledigen sollte, um weitere Verfolgungen auszuschließen und schlug ein weiteres Mal auf ihn ein. Ein guter Schlag und dann war es still. Er zog ihn in eine Abortkabine, setzte den Körper auf das WC, verschloss die Tür von innen und tastete die Halsschlagader ab, ob der Mann wirklich erledigt war.