Zeit für Kundalini - Satgyan Alexander - E-Book

Zeit für Kundalini E-Book

Satgyan Alexander

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Beschreibung

Es ist eine Geschichte der Suche nach Gemeinschaft und Kontakt, auch eine Geschichte der Flucht vor den Gefühlen der Leere und Einsamkeit und den unbewussten, traumatischen Erinnerungen. Die gewohnten Ablenkungen helfen nicht mehr. Daher wagen spontan drei Männer, zwei Frauen und ein Androgyn, ein Experiment. Sie wollen in einer Lebensgemeinschaft ihre Erfahrungen erweitern. In der Gruppe lernen sie Kundalini kennen, eine Meditation, die die innere Kraftquelle aktiviert. Intensive Übungen und Auseinandersetzungen stärken ihr Vertrauen und den Mut sich zu outen. Sie genießen die Gemeinschaft, die Diskussionen und die Liebe, auch zu sich selbst. Der Alltag der Gefühle, der Eifersucht, der Enttäuschungen und der Ekstase endet abrupt nach einem halben Jahr. Sechs Lebensgeschichten der Gegenwart entfalten sich aus unterschiedlichen Erzählperspektiven in Monologen und Dialogen, als Erinnerungen und in einer Biographie im PDF-Format. Im ersten Teil begegnen sich die Protagonisten auf der Suche nach Ablenkung und Kontakten zufällig in einem Szenelokal, tauschen Ansichten und Erinnerungen aus, erörtern politische Fragen und verlieren sich zuweilen im Smalltalk. Markus, Ende 40, Angestellter der Finanzbehörde, trifft Hans, einen Mittsiebziger, von zweifelhaften Vermögen und Erinnerungen an seine Spekulations- und Pornogeschäfte, der auf der Suche nach Abwechslung mit Andro, einem jungen Androgynen durch die Nacht zieht. Die geklebte Brille, Freddy, Mitte 40, ein insolventer Immobilienmakler, findet in Markus ein offenes Ohr für sein Los, muss sich dafür Philosophisches über die Griechen anhören. Irene, Ende 40, die frühe Liebe von Markus, taucht eines Abends überraschend auf. Für die Begegnung mit ihrer ersten Liebe hat sie weite Wege zurückgelegt und wird schmählich abgewiesen. Alles ändert sich, als Marga, alters- und faltenlos, genannt Ponyglatze, eine intuitive Tantra- und Kundalini-Künstlerin, die Szene betritt und die Fäden zu einem Netz zusammen knüpft.

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Es sind Geschichten vom Suchen und Finden, von der Suche nach Gemeinschaft, Bestätigung und Kontakt, auch Geschichten von der Flucht vor den Gefühlen der Leere und Einsamkeit und den unbewussten, traumatischen Erinnerungen. Die gewohnten Ablenkungen helfen nicht mehr. Daher wagen, spontan einem Zufall nachgebend, drei Männer, zwei Frauen und ein Androgyn, ein Experiment. Sie wollen in einer Lebensgemeinschaft ihre gewohnten Erfahrungen erweitern und Außerordentliches finden.

Sechs Lebensgeschichten entfalten sich aus unterschiedlichen Erzählperspektiven in Monologen und Dialogen, als Erinnerungen und in einer Biographie im PDF-Format.

Der Autor, über 20 Jahre als Architekt tätig, studierte ab 1980 verschiedene Methoden der humanistischen Psychologie und leitete danach 15 Jahre Gruppen in Meditation, Körpertherapie und Lebensplanung. Seit einigen Jahren vermittelt er die Kunst der Lebensgestaltung an der Algarve.

Literarisches: ein Gedichtband 1978 im Selbstverlag; eine Autobiographie, 2010; unveröffentlicht, Liebe, Literatur und andere Leidenschaften, 2016; Nur ein Röcheln, 2017, veröffentlicht bei tredition.

Satgyan Alexander

Zeit für Kundalini

Geschichten vom Suchen und Finden

©2013 Satgyan Alexander

2. Auflage

©2017 Satgyan Alexander

Umschlaggestaltung: Satgyan Alexander

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-6339-9

Hardcover:

978-3-7439-6340-5

e-Book:

978-3-7439-6341-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

1.Teil vom Suchen

1. Mutter mit Kind? Oder?

2. Nachterlebnisse

3. Placebo Geschichten

4. Tagträume

5. Macho-Plaudereien

6. Geklebte Brille und Nietzsche

7. Ein Leben im Stick

8. Iréne! Ach, Irene

9. Hin- und hergerissen durch die Nacht

2.Teil vom Finden

10. Die ersten Wochen in der WG

11. Andro fährt auf Kundalini ab

12. Fragen und Antworten

13. Schüttelmeditation

14. Irene erzählt von früher

15. Verena taucht auf

16. Kosmischer Klang

17. Freddy will mehr

18. Marga philosophiert bis zur Ekstase

19. Der Weg zurück

20. Das Ende ist nicht das Letzte

1.Teil

Kapitel 1

Der Himmel war hoch und weit. Gleißendes Licht lag über dem menschenleeren Platz und es war heiß. Platanen dämpften die Helligkeit. Blätter rauschten über seinem Kopf. Die Rinde changierte von dunklem Braun ins helle Grau. Endlose Zeit dehnte den Nachmittag aus.

Von einem Nachbartisch hörte er: „Ist nicht mehr gut“. Er achtete nicht darauf. Es ging ihm sowieso nichts an. Ein Kinderwagen verdeckte plötzlich den Blick auf die Platanen, dann folgten Arme und ein Körper, die ihm die Sicht versperrte, ihn nicht interessierte.

Endlich war der Blick wieder frei auf die Bäume mit den Lichtreflexen. Neben ihn bewegte sich ein Stuhl. Metall kratzte auf Granit. Ein Gewicht knarzte in den Schnüren einer Sitzfläche. Sein Blick wanderte von einem Baum zum nächsten, hinunter zur Erde, zu dem Pflasterring und über die Granitsteine des Platzes, blieb an der Kante der weißen Marmorplatte vor ihm hängen. Die Espressotasse kam in sein Blickfeld, Zuckerkrümel neben der Untertasse. Die zerknüllte Zuckertüte steckte in der leeren Tasse. Was mache ich nun? sinnierte er, es ist noch früh. Vielleicht 3 Uhr?

„Bitte Madame, was wünschen Sie?“ Das war die Stimme des Kellners. Die kannte er seit einigen Tagen. Aber war das nun Johann oder Peer? Es gab zwei Kellner und die Stimmen waren sich ziemlich ähnlich. Er dachte nach. Wahrscheinlich war es Johann. Er mochte nicht den Kopf bewegen, blickte noch immer in Richtung der Bäume.

„Bitte nur ein Glas Wasser, ohne Sprudel“, eine helle, etwas schrille Stimme berührte sein linkes Ohr, die Stimme eines Jungen vor dem Stimmbruch oder die einer sehr jungen Frau?

Er stierte vor sich hin, wollte sich nicht der Wirklichkeit aussetzen. Merkwürdig, dachte er, hatte Johann oder Peer nicht “Madame“ gesagt? Aber vielleicht hatte die helle Stimme gar nichts mit der Frage des Kellners zu tun.

Das war der Anfang einer Geschichte, die mir der Alte ziemlich ausführlich erzählte, so ausführlich, dass ich schon etwas ungeduldig wurde. Ich war ihm an diesem Abend zum ersten Mal begegnet in dem Lokal, drinnen an der Bar, in das ich regelmäßig ging, um die 20 Uhr Nachrichten nicht zu verpassen, die dort hinter dem Tresen vor sich hin flackerten. Ansonsten war noch nicht viel los.

Übrigens gab es dort eine schöne Thekenplatte aus altem Mahagoniholz mit einer Messingstange an der Vorderseite, altmodisch mit viel Patina. Aus den Flecken fantasierte ich zuweilen Landschaften, wenn ich so vor mich hin träumte und den Bewegungen auf dem Flachbildschirm nur meine halbe Aufmerksamkeit schenkte. Der Ton war sowieso immer sehr leise und ging in dem Geklapper der Bar und in dem Stimmengewirr unter. Nur die Stimme des Alten an meiner rechten Seite hörte ich gerade noch heraus, während er mir seine Geschichte erzählte, von seinem Nachmittag draußen.

Die Madamewäre, wie er nun behauptete, eine Schwuchtel mit einem Kinderwagen. Dabei blickte er mich herausfordernd an. Seine Augen waren etwas verhängt, die Lider hingen schräg hinunter, verdeckten ein Teil der Augäpfel, gerade mal die Hälfte der graugrünen Iris war sichtbar, obwohl das Licht über der Theke hell war. Irgendwie lag ein Schatten über seinem Gesicht. Seine Haut war von den Jahren gezeichnet, viele kleine, kaum wahrnehmbaren Kerben und zahlreiche bräunliche Flecken bedeckten die Wangen und die hohe Stirn. Sein Lächeln wirkte gefroren, etwas leidend. Es war ein leidendes Lächeln.

Ich beobachtete, wie sich plötzlich seine Lippen bewegten. Sie zogen sich nach innen, wie eine Linie war der Mund und stülpten sich wieder vor, ziemlich weit vor, zu einem Fisch- oder Kussmund. Der Alte machte diese Bewegungen einige Male, merkwürdig, wie eine Mundgymnastik sah das aus. Als der Mund zur Ruhe kam, war er voll, wie bei einem jungen Mann, gut durchblutet und die vielen kleinen Furchen für einen Augenblick verschwunden.

Der Alte muss in seinen besten Jahren verführerisch ausgesehen haben, mit diesem markanten Kinn und einer Nase, die ihm, durch den kleinen Höcker, ein armenisches Aussehen verlieh. Die abstehenden Ohren waren durch einige Strahler im Raum etwas unvorteilhaft beleuchtet, eher durchleuchtet. Im Verhältnis zum Schädel waren sie mir zu groß. Aber sonst sah er noch passabel aus, mit seinem sehr kurz geschnittenen Haar, das grauweiß zwei Drittel des Kopfes bedeckte. Er trug ein offenes Hemd unter einer abgetragenen Joppe.

Sein Blick fixierte mich: „Hören sie mir überhaupt zu?“ Seine Stimme klang fest, nicht sehr laut, aber energisch und hin und wieder knarzig in den oberen Lagen. Offensichtlich hatte er noch eine feine Wahrnehmung und daher bemerkt, dass meine Aufmerksamkeit nur halb bei seiner Geschichte war.

„Madame hatte das Kind aus dem Wagen genommen“, er betonte Madame, „es war übrigens ein sehr kleines Kind. Sie sprach mit dem Baby, so wie Mütter eben sprechen, in einer Art, wie es alle immer tun, weil sie annehmen, dass Babys so `n Geplapper hören wollen“, seine Stimme klang ärgerlich.

In diesem Moment hätte er, wie er sich ausdrückte, bemerkt, dass die Mutter irgendwie anders war. Er hätte ihr ins Gesicht geschaut und sich unbewusst geekelt, hätte in ein streng blickendes, scharf gezeichnetes Gesicht mit Dreitagebart geblickt, in ein sehr junges Gesicht mit ganz hellen Augen, weißblonden Wimpern und ebensolchen Augenbrauen. Die Haare hätte er unter einem Hut nicht erkennen können. „Aber was für einen Hut die Person auf ihren Kopf trug!“ Seine Stimme klang ein bisschen exaltiert: „Einen breitkrempigen Borsellino, garniert mit einer roten Stoffrose!“

Etwas Zwiespältiges wäre von der Person ausgegangen, erzählte er weiter, vor allem als sie sich ihm außergewöhnlich auffällig zugewandt und dabei mit einem verführerischen Lächeln, ein „Ja bitte!?“ in den Nachmittagshimmel gesäuselt hätte, mit dieser schrillen, hohen Stimme.

„Sie hatte ihre Beine übereinander geschlagen“, fuhr er fort, „und ich sah weiße, schlanke Schenkel. Ob sie rasiert waren, weiß ich nicht, konnte ich nicht erkennen. Weit über die Knie war der Rock gerutscht. Es war so ein Glockenrock mit Blumenmuster. Ich glaube, es waren Sommerblumen aufgedruckt: Mohn und Kornblumen, oder was ähnliches, habe es nur am Rande bemerkt, weil ich mit den Highheels beschäftigt waren, Stilettos, die die langen Beine noch betonten. Ich kenne mich mit hohen Absätzen gut aus. Hatte doch meine Frau, also meine zweite Frau genau gesagt, auch ein Faible für solche Attribute. -- - Jaja, ich höre noch deutlich den Klang der Pfennigabsätze auf den Treppenstufen, wenn sie nach ihren Ausflügen nachhause kam, während ich auf sie wartete, und wenn sie dann erzählte von den Männern, von deren Wünschen, Sehnsüchten und den Hilflosigkeiten der Befriedigungen.“

Er machte eine Pause, räusperte sich nachdrücklich bevor er fortfuhr: „Ja bitte!? hatte also Madame mir zugerufen. Hätte ichdarauf nicht eingehen sollen? Vielleicht. Ich hatte sie jedoch bereits zu lange fixiert. Deshalb lenkte ich meinen Blick auf das Kind in ihren Armen. Ein hübsches Kind, wollte ich harmlos sagen, als ich bemerkte, dass das Baby gar kein Kind war. War es nur ein Stoffbündel? Eine Puppe? Oder doch ein Kind, aber ganz vermummt? Madame reagierte auf mein Erstaunen mit einem: „Aber ich bitte Sie, das ist doch nicht schlimm.“ Sie sagte das mit dieser hohen Stimme und lachte herzbewegend schrill, während sie das Bündel weiter in ihrem Arm hielt und mit der anderen Hand den Kinderwagen hin und her wippte. Das machte mich ganz konfus. War vielleicht noch ein Kind im Wagen? Ich war so irritiert, dass ich meine Fassung verlor, woanders hinblicken musste, zu den Platanen, zum Farbspiel der Rinde, und dann Minuten lang auf meine Espressotasse starrte.“

Der Alte träumte mit offenen Augen vor sich. Plötzlich zuckte er zusammen und sah mich überrascht an, bevor er weitersprach:

„Dann, während ich noch ganz weg war, wurde ich von einem schrillen: „Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten“, aufgeschreckt, so dass ich in dem Moment unwillkürlich nach meinem Hörgerät tastete. Ich fühlte mich aufgefordert, in ihre Richtung zu blicken und begegnete diesen klaren, hellen Augen, die mich intensiv durchdrangen.“

Der Alte sah mich starr und abwartend an. Ich fühlte mich ihm irgendwie ausgeliefert, als er genüsslich weitererzählte.

„Vor allem der Mund der Person faszinierte mich. Er stand noch etwas offen vom letzten Lachen. Die Lippen waren blutvoll und dunkelrot geschminkt, perfekt nachgezeichnet. Sie gaben dem schmalen Gesicht mit den hervortretenden Backenknochen einen leicht amourösen Ausdruck. Es war schon an der Grenze zum Obszönen,“ sagte der Alte, der nach einem Räuspern nachdenklich fortfuhr, „aber die klaren Konturen der Stirn und der Nase, es war übrigens eine römische Nase, wirklich eine schöne Nase, deuteten auf gewisse faszinierende Intelligenz, so schien es mir.“

Er nahm einen Schluck aus seinem Whiskyglas, trank mir zu und sagte: „Nun ja, das war mein erster unbewusster Eindruck, der sich dann vermischte mit dem noch folgenden Erlebnis am Nachmittag. Anfangs war ihr Gesicht ja durch den Schatten der Hutkrempe nicht gut zu erkennen gewesen. Nur die Augen strahlten. Ich war von der ganzen Situation, wie ich schon sagte, ziemlich verwirrt. Ich erhob mich also langsam von meinem Stuhl, machte eine leichte Verbeugung in ihre Richtung. Daraufhin nickte sie mir zu und machte eine einladende Geste. „Setzen sich doch hier zu meiner Linken, da haben sie noch die Sonne im Rücken. Sie mögen doch sicher Sonne im Rücken?“ flötete sie mich an, stellen Sie sich das vor! Ich war ja immer noch unsicher, ob ich sie oder ihn ernst nehmen sollte oder lieber das Weite suchen.“

Er machte wieder ein nachdenkliches Gesicht. „Aber der Nachmittag lag ja noch stundenlang vor mir“, brummte er ein wenig ratlos und dann lauter gegen den Kneipenlärm anredend, „ich kann es einfach nicht glauben, was ich später mit der Person noch erlebt habe. Dabei habe ich schon einiges erlebt, vor allem mit meiner zweiten Frau, selig sei ihre Asche, als wir noch gut im Saft standen.“

Solche Redewendungen gehen mir total auf den Sack und ich blickte ihn konsterniert an. Er machte schon wieder diese Mundbewegungen: Einziehen der Lippen, Strich, Aufplustern. Aber was sollte ich machen, ich stand wie angenagelt an dem Tresen, meine linke Hand umfasste die Messingstange und er hatte seine rechte drauf gelegt. Er hielt mich geradezu fest!

„Ich hab ja keine Ahnung, wie Sie zu diesen Dingen stehen“, fing er wieder an und blickte mich auffordernd mit einem lasziven Zug um die jetzt entspannten Mundwinkel an. „Sie sind doch noch jung, nich´ wahr? Schätze Sie auf Mitte 40, sehen doch proper aus! Der Saft ist noch am Fließen, oder?“ Er grinste. Es war mir nicht wirklich unangenehm, dass er mich zehn Jahre jünger geschätzt hatte, aber das war im Moment das einzig Angenehme.

„Sie haben Ihren Körper gut im Griff, nich´ wahr!? Immer ran an die Muskelmaschinen, nich´?“ Ich nickte zaghaft. „Ich sehe schon, Sie sind ein bisschen verlegen, Nana, nun werden Sie man nich´ gleich rot.“

Was der Typ sich einbildete. Was sollte ich machen, mich umdrehen?

„Sagen Sie mal, haben Sie ihr Gesicht geliftet? Sehen ja noch echt glatt aus, faltenlos.“ Ich lächelte über das Kompliment und ließ ihn im Ungewissen.

„Und das Haar? Ist doch sicher schon gefärbt, Hm? Machen doch alle heute.“ Dabei näherte er sich und wollte mir ins Haar fahren. Ich drehte mich nach hinten weg und brummte: „Nein, es ist mein Naturton.“

„Aber“, und er deutete auf die Schläfen, „da sind schon graue Stellen“, und seine Stimme klang zufrieden. „Nur schade, dass Sie keinen Schnauzer tragen, würde Ihnen stehen. Ich liebe Männer mit Schnauzern.“ Was sollte das nun wieder; ich blickte ihn entgeistert an.

„Ist schon gut“, sagte er verbindlich, „wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich dachte nur, mit ihrem scharf geschnittenen Gesicht, den vollen Lippen, den grauen Augen unter prägnanten Augenbrauen würde ein Schnauzer gut passen. Sie haben Platz dafür im Gesicht, mit so `ner hohen Stirn und `nem starken Unterkiefer. Manche sehen mit einem Schnauzer schrecklich aus, wie Neandertaler oder Ötzi, Haha!“ lachte er laut auf und wackelte mit dem Oberkörper. Seine Augen verschwanden unter den hängenden Lidern und das Gesicht wandelte sich zu einer Furchenlandschaft. Dabei nahm er endlich seine rechte Hand von meiner linken.

Er suchte nach einem Taschentuch um sich die Lachtränen zu trocknen. Ich drehte mich zur Bar, blickte auf den Bildschirm: Fußballübertragung, es stand 3 zu 1 für Madrid. Es interessierte mich überhaupt nicht, aber ich tat so, um den Alten loszuwerden.

„Nehmen Sie's mir nicht übel“, machte er mich von der Seite an, „ich lache halt gern, manchmal auch über andere“, fügte er noch hinzu. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er mich fixierte, von oben bis unten und wieder zurück. Ich bin ziemlich groß, so an die Eins fünfundachtzig und von der Seite sehe ich ziemlich gut aus, glaube ich.

„Ach übrigens, diese Person draußen am Nachbartisch heute Nachmittag… Sie erinnern sich? Nich´ wahr?“ Eine betonte Pause folgte.

„Also diese schwule Schachtel mit dem Kinderwagen… interessiert Sie das denn nicht?“ Ich wollte schon nein rufen, aber irgendetwas hielt mich doch davon ab und ich drehte mich wieder halb zu ihm und sah ihn an.

Er überlegte, machte erneut mit den Lippen rum und fuhr fort: „Ich weiß nicht, ob er oder sie eine schwule Schachtel war, hab das nur so angenommen, aber ein Transvestit war es oder wie sagt man noch? Androgyn, nich´ wahr?“ Ich sah ihn groß an und schwieg.

„Woher ich das weiß, fragen Sie sich? Naja, wir haben miteinander gesprochen, nach dieser Aufforderung von ihr, zu ihm zu kommen.“

„Wie? Von ihr zu ihm zu kommen? An den Tisch?“ fragte ich nach.

„Ja, zuerst an den Tisch, aber dann ging es ja weiter. Sie hatte das Bündel in den Kinderwagen zurückgelegt und dann griff sie mit der linken nach meiner Hand, wobei sie mit der anderen weiter den Kinderwagen wippte. Das hat mich wieder ganz verrückt gemacht, diese Schaukelei vor meinen Augen und dann ihre kühle Hand auf meiner rechten. Eine unglaubliche Kälte ging von der Hand aus, kroch meinem Arm hoch. Die eine Seite meines Körpers wurde kalt und die andere glühte, schien es mir. Und dann, stellen Sie sich das vor, bohrte er sich mit seinen wasserhellen Augen in meine. Er ankerte sich, ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich fühlte mich durchbohrt, festgezurrt, als er dann mit der eiskalten Hand meine aufnahm. Sie klebte geradezu an seiner und er führte sie in Richtung seines Körpers, ganz langsam zum Oberkörper hin, legte sie auf den Brustkorb. Ich fühlte seine Knochen, die Rippen, das Brustbein und den Ansatz einer üppigen Brust.“

Er hielt inne, schaute nun abwesend ins Leere, als wäre er nicht mehr in der Kneipe. Er war woanders. Er stand vor mir mit seiner mittelgroßen Gestalt, in der etwas zu großen Joppe, wie verloren, und hatte schon wieder seine Rechte auf meine Linke gelegt, ohne dass es mir bewusst geworden war.

Einige Minuten passierte nichts zwischen uns. Nur das Gewimmel um uns herum. Aus den Augenwinkeln sah ich das Fußballspiel. Unangenehme Gerüche von Schweiß und Bier zogen an meiner Nase vorüber. Der Barkeeper schüttelte einen Mixer. Dass die Menschen noch immer Cocktails trinken müssen, dachteich noch, als der Alte vor mir zusammenzuckte, sich an die Stirn griff und ein: „Ach herrjeh!“ ausrief, und danach, „wie spät haben `s wir eigentlich?“

Er blickte auf die Zeitangabe am Fernseher: „Ach je“, rief er erneut, „habe mich total verquatscht, bin ja verabredet mit Madame“, und kicherte. Er wirkte wie ausgewechselt, aufgeräumt.

„Nehmen Sie`s mir nicht übel. Ich muss, ich muss“, lachte er glucksend vor sich hin, „wir sehen uns, wir sehen uns, morgen vielleicht? Ja? Sie sind doch jeden Abend hier, nich´ wahr?“, wieder dieses betont lange „nich´ wahr?“ und weg war er in Richtung Tür. Ich sah noch seinen Schädel mit der weißgrauen Pracht kurz auftauchen.

Was wollte er mir eigentlich erzählen? Was sollte ich mit dieser angefangen Geschichte, überlegte ich, bevor ich meine letzte Bestellung aufgab: „Noch einen Gespritzten, bitte!“ Ich freute mich sogar über das 4:1 für Madrid, obwohl mir das völlig egal sein konnte und es auch war. Ich musste halt noch eine halbe Stunde durchhalten, bevor ich müde genug war, um mich auf den Weg zu meiner Schlafstelle zu machen.

Kapitel 2

Es kam anders. Draußen an der frischen Luft, es war ein wundervoller Spätsommerabend mit den Düften nach Liebe und dem Geruch von nass gesprengtem Asphalt, überkam mich Bewegungslust. Noch eine kleine Runde um den Block, entschied ich gegen Müdigkeit und später Stunde. Der Himmel war bis auf einen Schimmer im Westen schon nachtblau, tintenfarbig. Die Dämmerung zwischen den Häusern war sporadisch unterbrochen von dem schwachen Licht der Straßenlampen, die in weiten Abständen die Fahrbahn aufhellten. Der Bürgersteig blieb fast ganz im Schatten. Deshalb bemerkte ich die beiden vor mir auch erst, als ich Gesprächsfetzen hörte und ein schrilles Kichern, unterbrochen von dem tiefen Glucksen, das ich am Abend bereits mehrmals gehört hatte.

Im Licht einer Haustürbeleuchtung sah ich sie dicht beieinander vor mir. Waren sie untergehakt? Oder hatten sie sogar eine Hand um die Taille des anderen gelegt? Sie schoben einen Kinderwagen vor sich her und unterhielten sich. Manchmal blieben sie für einen Augenblick stehen, so konnte ich Teile des Gesprächs aufschnappen.

„Ach weißt du“, hörte ich die Stimme des Alten, „das macht mir nichts aus. Ich liebe Abwechslungen.“ Das schrille Kichern unterbrach ihn und der Kopf der Person, in der ich Madame vermutete, drehte sich zu ihm und nickte. Sie hatte wirklich einen Hut auf, so einen Borsellino. Ich war unsicher, ganz genau konnte ich die Person nicht erkennen. Aber Größe und Silhouette passten zur Beschreibung, die der Alte mir gegeben hatte.

Ich sah die Umrisse eines Glockenrockes und die schlanken Beine auf hohen Absätzen. Die Person drehte sich ganz zu ihm, zu dem, mit dem ich vor einer Stunde meine Zeit verbracht hatte, umarmte ihn, die Köpfe trafen aufeinander. Es sah nach Küssen oder Liebkosungen aus. Ein merkwürdiges Gefühl von Sehnsucht überfiel mich, einsam und verlassen kam ich mir vor. Ich war stehen geblieben, folgte ihnen nicht weiter, blieb mit einem widersprüchlichen Gefühl von Neid und Eifersucht zurück. Die Stimmen und das Lachen schallten noch eine Weile aus der Ferne zu mir.

Ich blickte an mir hinunter. Ich war nun allein in der schwach beleuchteten Straße. Die Geräusche der beiden verloren sich ganz, als sie um eine Häuserecke bogen. Ein Schauer überfiel mich. Was sollte ich nun machen? Ich fühlte die Zeit auf mich zukommen. Sie war nicht zu verleugnen, wie ich es sonst immer tat, mit irgendwelchen Ablenkungen. Ich stand ihr ausgeliefert gegenüber, vielmehr umfing sie mich, bedrohte mich in der Unfassbarkeit des Zeitflusses. Ich war allein! Und die beiden? Was machten die? Das war doch pervers, der Alte und diese Schwuchtel oder meinetwegen Madame. Die haben ihren Spaß, sind zusammen, vergnügen sich, merken nichts von der Zentnerlast der Zeit. Das gehört sich nicht, mich so auszuschließen, warf ich ihnen vor und mir.

Ich kratzte mit dem Fuß auf dem Pflaster. Das Geräusch tat mir gut. Wenigstens eine Bewegung, die von mir kam. Die Luft kühlte meinen Kopf, ich bemerkte die Hitze, die meinen Körper durchströmte. Wieso eigentlich? Warum bin ich so erregt? Lass die beiden machen, redete ich mir tröstend zu. Aber es stimmte ja nicht. Ich war böse auf sie und auf mich, fühlte mich abgelehnt. Das war Quatsch. Ich hatte ja gar keine Ambitionen gezeigt, war abgestoßen von ihrem Spiel, trotzdem diese Sehnsucht nach Zugehörigkeit.

Der Wind wurde stärker. Ich stand immer noch an derselben Stelle, die Hände in den Hosentaschen, die Schultern hochgezogen, kam ich langsam wieder zu mir, blickte mich um, sah die Häuserfassaden mit den alten Stuckumrahmungen der Fenster. Alle Fenster waren dunkel. Graue Silhouetten gegen den dunkelblauen Himmel.

Aus einer Querstraße glitten Lichtflecke über das Kopfsteinpflaster, kamen näher, beleuchteten Bordsteinkanten, dann kam das Motorgeräusch des Autos, das das Licht mit sich nahm. Danach wirkte der Raum noch dunkler, bis sich meine Augen wieder an das einheitliche Häusergrau gewöhnt hatten.

Wie die endlose Zeit durch die Nacht brandete, unaufhaltsam wie ein Meer. Das Auto hatte mich kurz abgelenkt, nun war sie wieder mit ihrer ganzen Wucht präsent. Sie füllte den Raum zwischen den Häusern und mir, ich mitten darin, dem Zeitfluss ausgeliefert, allein! Dreh dich um deine eigene Achse, wenigstens um deine eigene Achse, versuchte ich meiner Lähmung zu entkommen. Mühsam nach rechts die Schulter drehend, gab ich mir einen Ruck, nahm die Hände aus den Hosentaschen, breitete die Arme aus, kreiste um mich selbst, immer schneller und schneller. Die Augen weit geöffnet, flogen die Fensterfronten als Streifenbrei zusammengeschnurrt an mir vorüber, unterbrochen von den Abgründen, den Straßenöffnungen, bis nur noch dunkelgrau mit hellgrau abwechselte.

Die Zeit drehte sich mit, der Druck der Zeit verschwand. Das Lastende verwirbelte sich im Kreisen, im Drehen, in einer Spirale, aus meiner Wirbelsäule aufsteigend, über den Kopf hinaus in den Nachthimmel. Außer Atem kam ich langsam zur Ruhe. Ich stand. Mein Herz klopfte. Ich war wieder bei mir.

Es istZeit, nach Hause zu gehen, fiel mir nun ein. Nach Hause? Was ist das? Habe ich ein Zuhause? Diese Bude, die ich mir mit viel Geld eingerichtet hatte? Mit diesem teuren Ledersofa in schwarz und dem Glastisch davor? Das war doch kein Zuhause. Das, was vor meinem inneren Auge aufflackerte, sah wie eine Ausstellungsecke in einem Möbelgeschäft aus, schlimmer als diese Werbefotos von einschlägigen Sofaproduzenten. Wenn es wenigstens so wohnlich gewesen wäre, wie in einem IKEA Katalog, hätte ich eine gewisse Sehnsucht verspürt dorthin zu gelangen. Nach Hause!

Es ekelte mich, als ich an den Schlafraum dachte. Das besitzanzeigende Fürwort kam mir nicht mal in den Sinn. Ein neutrales Bett mit einer Matratze von Einmeterundfünfzig mal Einmeterundneunzig und sonst noch was? Einen Hocker mit einer Arbeitslampe. Taschentücher für alle Zwecke. Einen Kleiderschrank, der die Bezeichnung Schrank nicht führen sollte, bestand der doch nur aus einer Stoffhülle über einem Gestänge. Was sollte daran anziehend sein?

Trotzdem ging ich weiter, unbewusst in Richtung auf diese Unterkunft. Unterkunft war vielleicht das richtigeWort. Bei Unterkunft sah ich nun einen Verschlag vor mir mit einem Wellblechdach und einer Brettertür als Eingang, auf dem Lehmboden eine zerschlissene Federkernmatratze, bedeckt mit einem schmutzigen Laken, eine Apfelsinenkiste als Abstellfläche neben dem Lager und einen wackligen Armlehnstuhl in der Ecke.

Naja, so schlimm ist mein Zuhause ja nun doch nicht, beruhigte ich mich. Immerhin hatte ich ein Bad mit einer Wanne und heißes Wasser darin, wenn ich wollte. Und ich wollte! Das zog mich an. Das musste ich jetzt haben. Dieses heiße Wasser um mich herum! Mindestens 40°, bis zum Rand gefüllt und dann beim Hineinsteigen die Haut brennend fühlen, Wellen des Hineingleitens über den Rand fließen lassen, den Kopf zurücklegen auf den Rand und durchatmen. Nichts denken, nur brennende Hitze auf der Haut, Wasser einlassen, mehr heißes Wasser, mehr Hitze, nur keine Gedanken, außer nach mehr Wasser, mehr Hitze und das Rauschen des überlaufenden Wassers, das Klatschen am Fußboden, das Gurgeln im Überlauf, der schon im Seifenschaum verschwunden war.

Ja, genau, das wollte ich in dem Moment auf der Straße und meine Schritte wurden immer schneller, wurden angezogen von der Lust nach dem brennenden Schmerz. Nur noch einen Häuserblock von meinem Ziel entfernt, hatte ich mein unwohnliches Zuhause vergessen, überdeckt von dem Wunsch nach Ekstase.

Da bogen die beiden keine zwanzig Meter von mir entfernt um die Ecke, den Kinderwagen vor sich her schiebend, in Richtung auf meine Wanne zu. Aber ich wollte nicht mit ihnen zusammen stoßen. Ich hielt mich zurück, überwand meine Gier, stand still, lauschte. Es waren wirklich ihre Stimmen. Wer sollte auch in der Nacht mit einem Kinderwagen unterwegs sein?

Ich ließ Ihnen einen Vorsprung, wollte mich keinesfalls zeigen. Die restlichen hundert Meter bis zu meiner Haustür ging ich gemessenen Schrittes hinter ihnen her, hörte, wie sie sich süße Worte zu säuselten. Genaueres konnte ich nicht verstehen, wollte ich auch nicht. Aber die Tonlage und das Hin und Her der Stimmen hatten das Unnachahmliche und Extraordinäre von Liebesgeschwätz. Ein Singsang von Tönen und Gekicher, der alle anderen ausschließt. So eine absurde, abgegrenzte Welt von Liebessehnsucht und Bedürftigkeit, die auf mich widerlich wirkte.

Endlich stand ich vor der Eingangstür des Hauses, in dem mein Zuhause war. Ich bezweifelte es erneut. Schon die Tür, aluminiumfarbig, glatt gebürstet, stellte große Anforderung an meine Überredungskunst. Dass ich diese Tür am Tage nicht so schrecklich fand, wunderte mich plötzlich. Wieso blendete ich die Hässlichkeit dieser Welt bei Tageslicht aus? Hatte ich mich so daran gewöhnt? War durch dieses ungewöhnliche Nachterlebnis meine Wahrnehmung für die Wirklichkeit geschärft? Diese Fähigkeit hielt an, sie ließ sich nicht abschütteln.

Ich machte das Licht an. Das Treppenhaus mit beschmutzten Steinstufen aus falschem Granit und platt getretene Kaugummis verfolgten mich über die vier Läufe und zwei Podeste, die ich überwinden musste. Nur mit großer Disziplin konnte ich meinen Blick nach unten halten, um nicht auch noch die verschmierten und zerkratzen Ölanstriche der Wände wahrzunehmen. Ich wusste, sie begleiteten mich. Die verdreckten Scheiben der Fenster auf den Podesten widerten mich an, wenn auch das gebrochenes Licht die Düsternis ein wenig aufhellte und Abwechslung in das graue Einerlei brachte.

Endlich war ich vor der Wohnungstür. Eine glatte Sperrholztür mit Spion, hellbraun, lackiert und abgenutzt, wie alles dort um mich herum. Seit Generationen benutzt, begriffen, befasst, und nun hatte ich sie geöffnet. Ein Schwall unangenehmer Gerüche aus vergangenen Zeiten traf wieder meine Nase, obwohl ich einiges versucht hatte dagegen anzugehen.

Ich hatte alles streichen lassen, aber irgendwie saß die Vergangenheit in den Ritzen, in den Fugen der Scheuerleisten, oder in den Ritzen zwischen Fenster und Wand, unter den Fenstergesimsen? In den Elektrodosen, den Verdrahtungen, in der Klingelanlage? Hinter den Verkleidungen der Türen? Hinter den Fliesen, in der Fußbodenentwässerung der Dusche? Oder hinter den Heizkörpern, dort wo niemals der Maler mit Farbe hinkommt. Es roch nach früher, jeden Tag stärker! Auf jeden Fall im Moment des Eintretens. Die Düfte, die ich mit meinem Einzug und den neuen Möbeln eingebracht hatte, waren nahezu verschwunden.

Anfangs hatte die neue Farbe noch eigenes Flair versprüht und die Sisalauslegware die Vision von Natur, Sonne, Wüstensand ausgelöst. Die Ledergarnitur roch leider schon bald nur noch nach dem Pflegemittel, das ich dummerweise aufgetragen hatte. Dieser Geruch vermischte sich nun mit dem nicht zu überdeckenden der Vergangenheit.

„Es ist töricht, darüber zu jammern“, sagte ich laut zu mir, als ich die Tür zum Bad öffnete, die Luft anhielt, um nicht schon wieder Unangenehmes zu riechen. Innenbäder haben ihren eigenen Reiz, einen Reiz auf die Atmungsorgane, den ich unterdrücken musste. Was blieb mir anderes? Ich wollte baden!

Das Wasser lief sprudelnd in die Wanne mit der angegrauten Emaille. Dampf breitete sich aus. Der Abzug begann zu arbeiten. Schon wieder ein Geräusch, auf das ich gerne verzichtet hätte, aber es war nötig, weil die Feuchtigkeit den kleinen Raum im Nu in ein Dampfbad verwandelt hätte und in Bächen an den Wänden hinunter gelaufen wäre.

Ich ließ die Tür offen, hörte das Rauschen des einlaufenden Wassers mit einer gewissen Vorfreude, stellte die Wohnungsklingel ab und griff nach dem Buch, in das ich mich in der nächsten Stunde versenken wollte: Die Kritik der reinen Vernunft von Emmanuel Kant, in der Sprache einer vergangener Zeit, messerscharf formuliert, die jedes Mal meine Müdigkeit verscheuchte, wenn ich ausgestreckt, von dem heißesten Nass, das die Anlage hergab, umgeben, der Wirklichkeit der Welt entfloh, eintauchte in die Gedankenwelt von Beweis und Gegenbeweis, dabei Gottesfülle betrachtend und diese, da sinnlich nicht wahrnehmbar, in eine Position des abstrakten Glaubens verwies: Mögliches Sein, aber nicht zwingende Existenz.

Der Morgen zog herauf.

Kapitel 3

Am Abend sah ich den Alten wieder. Ich war eilig in das Lokal getreten. Es war 2 Minuten vor zwanzig Uhr. Eine regelmäßige Einteilung des Tages gehörte schon lange zu meinem Überlebenstraining. Ich ging durch die locker Herumstehenden auf den Bartresen zu, als der Alte, hinter einer Säule halb verborgen, in meinen Blick kam und mich heranwinkte. Hatte er mich erwartet?

Es schien so. Er wollte mich an einen kleinen, runden Tisch lotsen, den er wohl für sich erobert hatte. Die Tischplatte war mit Tellern und Gläsern vollgestellt. Er musste schon eine geraume Zeit im Lokal verbracht haben. Es konnte natürlich auch sein, dass er kurz vor mir gekommen und der Tisch noch nicht abgeräumt worden war. Letztere Idee gefiel mir besser. So konnte ich erst mal die Einladung ablehnen, mich dem Tresen und den Fernsehnachrichten zuwenden.

Sein Gesicht rutschte, als ich die verneinende Geste machte, enttäuscht nach unten. Ich weiß, das sagt nichts aus, wer kann sich ein Gesicht vorstellen, das nach unten rutscht, aber die Züge entglitten ihm, die Mundwinkel hingen runter und sein Kopf schien zwischen den Schultern mühsam die Balance zu halten. Er tat mir leid. Ich munterte ihn mit einem, „Hallo, kommen sie mit an den Tresen“, auf und bot ihm das offene Lächeln an, das ich sonst den Frauen schenke.

Er schlurfte heran und begrüßte mich mit einer ausgestreckten Hand, die ich aus purer Freundlichkeit ergriff. Ich wollte ihm nicht schon wieder eine Abfuhr erteilen. Irgendwie war ich offenbar nicht im Reinen mit mir und ihm. Nahm ich ihm die Nacht, die ich noch in dunkler Erinnerung hatte, übel?

Eigentlich war das ja nicht sein Problem. Ich versuchte darüber hinweg zu kommen, mit der Frage: „Na, wie war `s gewesen?“ und blickte neugierig in sein Gesicht, das sich langsam in die Runzellandschaft zurück verwandelte. Um seine Augen begannen sich Lachfältchen auszudehnen und sein Mund machte bereits die ersten Hin und Her Bewegungen, noch ganz leicht, kaum wahrnehmbar.

Angewidert drehte ich mein Gesicht zum Bildschirm, zur Nachrichtensprecherin. Ihre Stimme war nur mühsam zu verstehen. Der Geräuschpegel wuchs mit den neuen Gästen, die jetzt herein strömten. Es war die Zeit der abendlichen Suche nach einem Gesprächspartner. Meine Aufmerksamkeit war jedoch immer noch auf die Informationen des Tages gerichtet, die als Fließtext am unteren Bildrand das Wichtigste zusammenfassten. Die Sprecherin lächelte mich an, jedenfalls bildete ich mir das ein. Der Ausschnitt des Kleides war modisch durch einen Top verschlossen, deshalb hing mein Blick mehr an ihren ausdrucksvollen Lippen, die sie gekonnt bei den Zischlauten vorwölbte.

„Wie?“, hörte ich nun von der rechten Seite die etwas knarzige Stimme des Alten, „was meinen Sie mit wie war 's gewesen?“

„Naja, ich meine den gestrigen Abend, ihre Verabredung“, und drehte mich halb zur Seite ohne den Blick von den Lippen der Sprecherin zu nehmen.

„Ach so“, seine Stimme wurde dumpfer, „hat nicht geklappt, hat mich versetzt“, sagte er noch. Nichts weiter. Pause. Überrascht drehte ich mich ihm zu. Aber, wollte ich sagen, ließ es dann jedoch sein, ich wollte mich nicht bloßstellen.

„Hm, soso“, gab ich schließlich von mir, „und ich dachte, Sie hätten einen schönen Abend erlebt und würden mir die Fortsetzung der Geschichte erzählen.“

Ich blieb in Deckung, wollte abwarten. Ich war der festen Überzeugung, dass ich die beiden zusammen gesehen hatte. Vielleicht traute er mir nicht, wollte seine Erlebnisse nicht ausbreiten, brauchte Zeit. Ich hatte genug davon.

„Das war doch enttäuschend, nicht wahr?“ versuchte ich ihn zu locken und beobachtete dabei sein Gesicht.

Leider kam in dem Moment die Stimme des Barkeepers von links, die Nachrichtensprecherin überdeckend, dazwischen: „Und was trinken die Herren?“

„Einen Whisky mit Eis“, entschied der Alte vor mir. „Sie auch? Ich lade Sie ein“, schob er nach. Ich nickte ohne meine Augen von seinen zu lassen, da ich auf meine mitfühlende Bemerkung ein kleines Leuchten in seinen gesehen hatte. Da war etwas, was er mir noch verheimlichte. Mal sehen, ob ich ihn nicht sein Geheimnis entlocken kann.

An diesem Abend erschien er mir wie ausgewechselt. Sehr verhalten, aber unter der Oberfläche erregt. Er nahm ein Glas, ich hörte das Eis scheppern, reichte es mir und nahm selbst das andere. Wir tranken uns zu, auf eine freundliche Art, wie Partygäste, die noch nicht viel voneinander wissen und unsicher sind, ob sie die Unkenntnis gegenseitig ausräumen wollen.

Ich schaute noch mal auf den Bildschirm, die Wetterkarte zeigte ein Hoch, also weiter diese Hitze am Tage.

„Jaja“, fing ich an, „das Wetter bleibt offenbar so schön. Gestern war es ja auch noch lange so mild, bis in die Nacht hinein, nicht wahr?“ Er reagierte nicht, sondern blickte konzentriert in das Glas, nahm hin und wieder einen Schluck, nickte einige Male mit seinem markanten Schädel. Eine kleine haarlose Stelle auf dem Kopf fiel mir dabei auf.

„Es war so mild“, nahm ich das Gespräch wieder auf, „so fantastisch mild! Ich musste noch ein paarmal um den Block gehen. Es war ja so ein wundervoller Nachthimmel. Tintenblau! Nicht wahr?“

Wir blickten uns an. Er wartete darauf, dass ich fortfuhr.

„Haben Sie nicht auch diesen außerordentlichen Himmel bemerkt? Ich meine, als sie allein nach Hause gingen!“

Seine Stirn zog sich etwas zusammen, seine Augenlider hoben sich, kaum merkbar. Ich ließ nicht locker: „Was haben Sie denn gemacht, als die Verabredung geplatzt war? Der Abend war doch noch jung.“

Ich tat ganz neutral, einfach Smalltalk.

Er schüttelte unmerklich den Kopf. „Ich erinnere mich nicht“, sagte er nur, nichts weiter.

„Aber“, machte ich noch einen Versuch, „Sie waren doch gestern so vergnügt losgegangen, als Sie an die Verabredung dachten.“ Ich beugte mich ein bisschen vor, sah in seine Augenschlitze. Ein ganz schwaches Lächeln huschte über seine untere Gesichtshälfte. Seine Augen blieben davon unberührt verhangen.

„So? Jaja, ich war wohl etwas vergnügt gestern, aber ich erinnere mich nicht. Haben wir gestern miteinander gesprochen?“

„Aber ich bitte Sie“, antwortete ich etwas verärgert. Wollte er mich auf den Arm nehmen? „Ja, gestern wollten Sie mir eine Geschichte erzählen, von einer Person, die Sie kennen gelernt hatten. Sie nannten sie Madame, eine schwule Schachtel oder Schwuchtel.“

Meine Stimme hatte sich zum Ende unbewusst etwas erhoben, sodass die näher Stehenden sich umdrehten, wohl in der Annahme, ich hätte den Alten als Schwuchtel bezeichnet.

Ich lächelte in die uns anstarrende Gesichter und nickte in verschiedene Richtungen. Das half. Sie wandten sich wieder ihren Gläsern zu. Aber er, der Alte, blickte versonnen vor sich hin, machte diese Mundbewegungen, Strich, Aufplustern, Strich, um sich aufzupumpen.

„Schwuchtel“, gab er träumerisch von sich, „ja, die Schwuchtel.“ Es klang, als erinnerte er sich an eine seltene Vogelart und danach noch „Madame?“ mit einer längeren Pause. Plötzlich schoss ihm Röte ins Gesicht und er gluckste vor sich hin. Die Situation wurde unhaltbar. Er gluckste glücksselig vor sich hin und wackelte mit dem Kopf: „Madame, ha! Madame“, rief er plötzlich laut, „Ja, Madame, tolle Kanaille!“ und verstummte.