Nur ein wenig Angst - Alexander Kielland Krag - E-Book

Nur ein wenig Angst E-Book

Alexander Kielland Krag

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Beschreibung

Preisgekröntes Jugendbuch über mentale Gesundheit, vom Autor des ersten norwegischen Bookstagram-Hits Cornelius geht aufs Gymnasium, spielt Fußball und feiert mit Freunden. Er ist fast achtzehn, sein Leben läuft bisher wirklich gut. Aber eines Tages wird ihm übel. Und diese Übelkeit bleibt. Cornelius hat keine Ahnung, was sie verursacht, erkennt aber, dass er nicht krank ist. Nach einer Weile dämmert es ihm: Er hat Angst. Doch was soll er tun, wenn er »zu gesund« ist, um sich Hilfe zu holen, und »zu krank«, um alles alleine herauszufinden? "Nur ein wenig Angst" ist eine persönliche und intime Geschichte darüber, wie ein junger Mensch zum ersten Mal Angst erlebt. Es ist ein Buch über die Angst, sich selbst zu verlieren, und darüber, wie schwierig es ist, sich für die wichtigsten Dinge des Lebens zu öffnen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 120

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Alexander Kielland Krag

Nur ein wenig Angst

Roman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Liebe Leser:innen, dieses Buch enthält Elemente, die triggern können. Aus diesem Grund findet ihr am Ende des Buchs eine Triggerwarnung. Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Litt redd, bare im Verlag Gyldendal, Oslo.

 

Die Übersetzung wurde gefördert von NORLA, Norwegian Literature Abroad

 

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © Gyldendal Norsk Forlag AS2021

All rights reserved

Übersetzung: Gabriele Haefs

Coverillustration: Adams Carvalho

Covergestaltung: Katharina Fuchs

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-176-4

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

Es kommt plötzlich, wie ein Wetterumschwung. Zuerst ist alles wie normal. Es ist ein Samstagabend Mitte Februar. Ich sitze zwischen Aksel und Oliver auf einem Sofa, ich habe ein Bier zwischen den Beinen und versuche trotz der Musik aus der Anlage dem Gespräch zuzuhören. Aksel redet laut mit irgendwem auf der anderen Seite des Raums. Oliver beugt sich zu mir vor und erzählt von einem Lehrer in einem Kurs, in dem ich nicht bin. Jemand will etwas rauchen, das Aksel in seinem Zimmer liegen hat, und er knufft mir in die Seite, damit ich mitkomme.

Komm gleich nach, sage ich und trinke einen Schluck Bier.

Aksel und ein paar andere verschwinden, und wir übrigen sind ganz still. Eigentlich ist das nichts Besonderes, nur eine zufällige Pause zwischen den Gesprächsthemen auf unserer Seite des Zimmers. Und doch scheint es, als ob sich in dieser kurzen Pause der Wind in meinem Körper dreht. Mich überkommt eine akute, heftige Übelkeit.

Sie wächst von tief unten im Bauch wie eine Gewitterwolke, lässt Blitze durch meinen Körper jagen. Oliver sagt irgendetwas, aber ich kriege nicht mit, was. Sein Mund bewegt sich in Zeitlupe. Ich strecke den Arm aus, um die Bierdose auf den Tisch zu stellen, und sehe, dass meine Hand zittert. Ein Schweißtropfen läuft unter meinem Pullover über meinen Brustkasten. Oliver lacht über etwas, das er gesagt hat, und ich versuche mitzulachen, sozusagen um überhaupt irgendwas zu tun, nicht nur dazusitzen wie ein Idiot, aber ich krieg es nicht richtig hin.

Ich stehe auf und laufe aus dem Zimmer, um nicht auf den Teppich zu kotzen. Sage niemandem was, schaue nur nach unten und versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Ein purer Reflex. Hinter mir höre ich, dass irgendwer sich umdreht und fragt: Ist Cornelius etwa schon blau?

Aber das bin ich nicht. Ich habe eben mein zweites Bier aufgemacht, es ist gerade erst neun. Ich will mich umdrehen und etwas sagen, aber mir ist zu schlecht, ich schaff es nicht. Schaue zu Boden und gehe vornübergebeugt zur Toilette auf dem Flur, rüttele an der Tür. Die ist abgeschlossen. Ich denke, ich muss weg hier – es ist ein Gedanke, der mich überrascht. Ich stehe im Flur und merke, wie meine Beine sich anstrengen müssen, um mich aufrecht zu halten. Hier gibt es keinen Ort, wo ich mich verstecken könnte. In meiner Panik öffne ich die Haustür und stoße auf eine Wand aus Kälte. Ich trage mit mir die Übelkeit hinaus. Sie wiegt mehrere Kilo, da bin ich mir sicher.

Draußen bleibe ich auf Socken auf den eiskalten Steinplatten stehen. Mein Herz hämmert gewaltig drauflos. Es missversteht alles – glaubt, dass ich laufe, obwohl ich doch still stehe.

Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier stehe. Als es unter meinen Zehennägeln anfängt zu kribbeln, geht hinter mir die Tür auf. Oliver kommt heraus und stellt sich mit den Händen in der Jeanstasche neben mich. Er hat Schuhe an den Füßen, er schaut auf sie hinunter.

Hier stehst du also, sagt er.

Seine Stimme ist leise, sie klingt irgendwie ernst in der Stille hier. Ich müsste wohl einen Witz machen in dieser Situation, sie leicht und undramatisch wirken lassen, aber ich merke in meinem Hals, dass das nicht gehen würde.

Mir war nur ein wenig schlecht, sage ich.

Ich drehe mich zu Oliver um. Seine Wangen sind rot von der Kälte, er sieht mich an und kommt mir einen Moment lang ängstlich vor.

Okay, flüstert er.

Wir schweigen. Ich hole ganz tief Luft, atme Frostrauch in die Dunkelheit. Mein Mund macht eine Art Pfeifton. Es klingt fast, als ob ich gleich weinen müsste. Ich habe keine Ahnung, warum das passiert.

Der Garten ist februardunkel. Der Schnee liegt schwer auf den Büschen am Zaun zur Straße hin. Ich bin still. Oliver ist still. Wir stehen in einer Wolke aus Frostrauch und schaffen es nicht ganz, das Gewicht des Gesprächs zu tragen. Es wirkt ernster, als es nötig wäre. Die Tür öffnet sich und wir fahren im selben Augenblick herum. Es ist Aksel, er sieht uns verwirrt an.

Was zum Teufel ist denn hier los?, fragt er.

Etwas in seinem Gesicht bringt mich zum Lachen. Ich schaue auf meine Socken und sage: Nichts ist los, alles ist gut, und wie aufs Stichwort ist die Übelkeit weg. Sie verschwindet genauso plötzlich, wie sie gekommen ist, sie löst sich einfach in Luft auf. Eben hat sie noch den gesamten Raum in meinem Körper eingenommen, aber jetzt ist sie verschwunden und hinterlässt keine Leere – es fühlt sich so an, als ob sie überhaupt nie da gewesen wäre. Als hätte es die Übelkeit nur in meinen Gedanken gegeben, eine Illusion, die sich mein Kopf ausgedacht hat.

So fängt es an.

Ich wache erst auf, als es ganz hell geworden ist. Erhebe mich vom Bett und blicke durch die blattlosen Bäume auf der anderen Straßenseite zum Frognerpark. Für einen Moment stehe ich ganz still auf dem Schlafzimmerboden und versuche, die Gefühle von gestern zurückzurufen, die heftige Übelkeit, die gewaltige Spannung im Körper, aber ich finde sie einfach nicht. Gestern ist ein Sturm durch mich hindurchgetobt. Heute spüre ich nicht einmal einen Windhauch. Draußen scheint die Sonne.

Auf dem Küchentisch hat Papa einen Post-it hingeklebt, auf dem steht, dass er in seinem Arbeitszimmer sitzt und arbeitet. Im Haus ist kein Geräusch zu hören. Ich bin bald achtzehn, aber habe einen Appetit wie einer, der noch immer wächst – schmiere mir vier Brote und esse an der Küchenbank im Stehen, dann gehe ich hinüber zu Papa, ohne anzuklopfen. Papa schaut vom Bildschirm auf, als ich hereinkomme.

Wie geht’s?, fragt er.

Gut, sage ich.

Die Antwort findet sich wie eine Muskelerinnerung in meinem Mund, sie kommt, ohne dass ich danach suchen muss. Trotzdem denke ich, dass Papa mir etwas anmerkt, das ich selbst nicht merken kann. Er sagt meinen Namen wie eine Frage und wartet auf mehr, aber ich will nicht über mich reden. Ich schaue weg, lasse meinen Blick zum Regal hinter dem Schreibtisch wandern. Dort stehen eingerahmte Urkunden und Preise für die Filme, zu denen er das Drehbuch geschrieben hat, die ich aber schon so oft gesehen habe, dass sie langweilig geworden sind.

Gestern war mir schlecht, sage ich, aber heute geht es wieder.

Papa fragt, ob es bei Aksel zu viel Bier gab. Ich schüttele den Kopf, sage, dass es nicht am Bier gelegen haben kann, es muss ein plötzlicher Impuls gewesen sein.

Bist du krank?, fragt er.

Nein, antworte ich.

Papa wirkt nicht zufrieden, er mustert mich besorgt, dann wendet er sich wieder dem Bildschirm zu. Ich setze mich in den großen dunkelgrünen Sessel am Fenster und schaue hinaus in den Garten.

Hier kann nichts passieren, denke ich plötzlich. Das ist ein Gedanke, der mich überrascht – ich habe keine Ahnung, woher er kommt.

Wir haben so eine Art feste Plätze für die Pause. Als wir uns etwas zu essen geholt haben, gehen Oliver und Aksel und ich zum Tisch in der Ecke der Mensa. Lea sitzt da schon, aber sie hört nicht zu, schaut nur auf ihr Handy, während wir anderen reden. Es gibt da ein Foto von uns als drei dicke Babys nebeneinander auf einem Wohnzimmerboden, aber jetzt erzählt Aksel denen am Nebentisch, dass er Oliver und mich am Samstag draußen angetroffen hat.

Hör auf damit, sage ich.

Meine Kumpels wären ja verdammt noch mal fast erfroren, sagt Aksel.

Er zeigt auf Oliver und mich. Ich bin sicher, dass die ganze Mensa ihn hören kann, und ich würde am liebsten im Boden versinken. Oliver lacht nur und hebt die Augenbrauen.

Oh mein Gott, mach dich locker, sagt er.

Du findest es also scheißnormal, im Februar draußen rumzuhängen?, erwidert Aksel.

Er holt Luft und will noch mehr sagen, aber Lea schaut von ihrem Handy auf und legt ihm die Hand auf seinen Arm.

Jetzt fluch doch nicht immer so irre viel, sagt sie.

Irgendwer prustet los und ich bin froh darüber, jetzt brauche ich nichts zu sagen.

Mitten in der Stunde schreibt Lea mir von ihrem Platz am Nebentisch: Was war los am Samstag? Ich spüre meinen Puls bis in die Fingerspitzen und brauche lange, um zu antworten.

Nichts Besonderes, schreibe ich.

Aber so was passiert doch nicht ohne Grund, antwortet sie. Lea hat einen älteren Bruder, der sich umbringen wollte, als wir in der Achten waren, ich glaube, sie kümmert sich, wo sie kann. Ich schicke nur ein Herz als Antwort. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass sie sich zu mir hindreht, aber ich tue so, als verfolgte ich total genau, was an der Tafel passiert.

Am Abend gehe ich mit Aksel und Oliver zu dem Kunstrasenplatz auf dem Weg nach Bygdøy. Es ist Abend, es ist kalt, wir sind Jungs auf einem Spielfeld im Dunkeln. Ich lasse die Tasche fallen und schnüre meine Schuhe zu. Wir sehen alle gleich aus. Beim Aufwärmen, während wir um den Platz joggen, holen mich einige von denen auf Aksels Fest ein und fragen, was am Samstag passiert ist.

Verdammt noch mal, stöhne ich. Hört doch auf zu nerven. Nix ist passiert, bloß ein bisschen Übelkeit. Meine Güte.

Einer sieht mich an und sagt, sie hätten doch nur fragen wollen. Ich sage etwas über die Kohlensäure im Bier und beschleunige, um dermaßen außer Atem zu geraten, dass ich nichts mehr sagen kann. Das hilft.

Oliver und ich landen in derselben Mannschaft, als das Training losgeht. Wir tragen rote Leibchen über unseren Trainingsjacken und der Trainer pfeift. Oliver ist Torwart und lässt fast keinen Schuss rein. Ich laufe mit Frostrauch vor dem Mund über das Spielfeld und vergesse mich selbst. Aksel ist Kapitän der anderen Mannschaft und sie gewinnen ganz knapp. Danach bin ich am Rücken schweißnass und im Gesicht warm. Auf dem Heimweg geht Aksel rückwärts vor uns her und fragt aus Jux:

Was ist das eigentlich für ein Gefühl, zu verlieren?

Red keinen Scheiß, sagt Oliver.

Ich hätte auch etwas sagen können, aber stattdessen folge ich einem Impuls, ich mache bei einem Schneehaufen am Straßenrand einen halbfesten Schneeball, werfe ihn in einem leichten Bogen und treffe Aksel voll an der Wange. Der Schnee zerplatzt um seinen Kopf. Oliver heult vor Freude. Die anderen, die den Treffer sehen, brüllen los und Aksel flucht laut und wischt sich das Gesicht mit dem Schal ab. Ich laufe zu ihm, um mich zu entschuldigen. Ehe ich ihn erreicht habe, sagt er sauer: Verdammt, C, immer musst du Scheiß machen. Er ist ganz nass, als ich den Arm um seine Schultern lege.

Zwei Tage später passiert es wieder. Mir wird in der letzten Stunde schlecht. Wir haben Norwegisch, der Lehrer redet über eine Hausarbeit, auf die ich mich gefreut habe, aber plötzlich bin ich sicher, dass ich mich erbrechen muss. Die Übelkeit ist wie ein Unwetter, sie steigt aus dem Magen herauf in den Hals. Ich schlucke heftig, um sie unten zu halten, ich hebe die Hand und sage, dass ich aufs Klo muss. In der Toilette stehe ich über der Kloschüssel und zittere, aber ich erbreche mich nicht, obwohl mein Herz so sehr hämmert, dass mir am Rücken der Schweiß ausbricht. Ich setze mich auf den Klodeckel, nehme mein Telefon hervor, öffne die Notiz-App und schreibe:

 

Übelkeit:

12. Februar (abends)

16. Februar in der Schule

 

Etwas in mir will dokumentieren, was passiert, ich weiß nicht so ganz, warum. Ich sitze auf der Toilette und schreibe mit zitternden Händen. Und obwohl ich Angst bekomme, die Liste anzusehen, lösche ich sie nicht. Es fühlt sich an, als ob ich einen Klumpen aus meinem Magen in die Notiz-App verschoben hätte. Ich schalte das Handy aus und gehe.

In der Nacht schlafe ich schlecht. Die Temperatur draußen sinkt, ich muss dicke Socken anziehen. Als ich morgens aufwache, ist meine Brust benebelt, mir ist schlecht, obwohl mein Magen leer ist. Liege im Bett und habe ein Gefühl, das ich zuletzt als Kind hatte: Ich fühle mich nicht krank genug, um zu Hause zu bleiben, aber beim Gedanken, in die Schule gehen zu müssen, wird mir schlecht. Das ist doch nicht logisch, aber trotzdem kann ich es nicht ignorieren. Ich nehme das Handy und schreibe an Oliver, dass ich zu Hause bleibe, dass ich nicht fit bin. Die Nachricht zu schicken fühlt sich an, wie ein Fußballspiel zu verlieren. Oliver antwortet fast sofort: Hoffentlich geht’s bald besser.

Ich lese die Antwort und muss die Lippen aufeinanderpressen. Es fühlt sich an, als ob ich etwas in mir hätte und kämpfen müsste, um es nicht rauszulassen.

Ich ziehe die weitesten Sachen an, die ich im Schrank finde, nichts, was auf der Haut drückt. Warte in meinem Zimmer, bis die erste Stunde angefangen hat, und gehe dann runter zu Papas Arbeitszimmer. Er zuckt zusammen, als ich die Tür aufmache, fragt, warum ich nicht in der Schule bin, aber der Nebel liegt so schwer auf meiner Brust, dass ich ihm nicht sofort antworten kann. Ich setze mich in den Sessel am Fenster und ziehe die Beine unter mich.

Bin nicht fit, sage ich.

Es hört sich an wie Schule schwänzen, selbst wenn es stimmt. Papa steht auf und fährt sich mit der Hand durch die Haare, atmet heftig aus, wie Väter das eben machen. Er lehnt sich an den Schreibtisch und sagt, dass er jemanden anrufen wird, den er kennt und der helfen kann. Etwas dröhnt in meinem Körper. Ich schüttele den Kopf.

Keinen Arzt, sage ich.

Mir kommt das unnötig vor. Ich will so gern, dass es nicht nötig ist, aber Papa sieht mich an, als ob etwas ganz furchtbar falsch ist, und da bekomme ich Angst. Er kommt zu mir herüber und beugt sich über mich und presst mich fest an sich, als ob ich noch immer ein Kind wäre.

Warum nicht?