Nur für Mitglieder - Thorsten Nagelschmidt - E-Book

Nur für Mitglieder E-Book

Thorsten Nagelschmidt

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Beschreibung

86 Stunden ›Sopranos‹ in 11 Tagen – da, wo andere Urlaub machen. Thorsten Nagelschmidt erzählt mit Witz, Tiefgang und schonungsloser Offenheit vom Versuch, seinem alljährlichen Unglück zu entkommen. Seit Langem überfallen den Autor und Musiker Thorsten Nagelschmidt in der Vorweihnachtszeit Depressionen. Seine Familie besucht er zu dieser Zeit schon seit über 20 Jahren nicht mehr. Stattdessen bilden Partys und Exzesse ein probates Mittel zur Ablenkung. Die Depression aber ließ sich dadurch nie aufhalten, allenfalls verzögern. Um den Bann zu brechen, beschließt er, die Feiertage in einem All-Inclusive-Hotel auf Gran Canaria zu verbringen. Mehr noch: Er wird den Eskapismus auf die Spitze treiben und endlich die berühmteste Serie der Fernsehgeschichte gucken. Die ›Sopranos‹, alle 7 Staffeln am Stück, 8 Stunden täglich, 11 Tage lang. In der Tradition von Foster Wallaces Kreuzfahrt-Reportage ›Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich‹ begibt sich Nagelschmidt freiwillig in eine Extremsituation, um persönlich, kulturgeschichtlich und nicht ohne Humor zu ergründen, was es mit diesen Nicht-Orten der Urlaubsindustrie und dieser vielleicht seltsamsten Zeit des Jahres auf sich hat. ›Nur für Mitglieder‹ ist Thorsten Nagelschmidts Analyse der Einsamkeit in Zeiten der Abschottung. Eine Fluchtbewegung nach innen – und nicht zuletzt eine große autobiografische Erkundung der eigenen Abgründe. »Oh, the pressure we put on ourselves this time of the year … – I call it Stressmas.« (Dr. Melfi, The Sopranos)

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Seitenzahl: 263

Veröffentlichungsjahr: 2025

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NUR FÜR MITGLIEDER

Thorsten Nagelschmidt

NUR FÜR MITGLIEDER

MÄRZ

Inhalt

Tag 0 Donnerstag, 14.12.

Tag 1 Freitag, 15.12.

Tag 2 Samstag, 16.12.

Tag 3 Sonntag, 17.12.

Tag 4 Montag, 18.12.

Tag 5 Dienstag, 19.12.

Tag 6 Mittwoch, 20.12.

Tag 7 Donnerstag, 21.12.

Tag 8 Freitag, 22.12.

Tag 9 Samstag, 23.12.

Tag 10 Sonntag, 24.12.

Tag 11 Montag, 25.12.

Epilog

ICH BRAUCH DEFINITIV KEINE THERAPIE ICH MUSS EINFACH NUR NACH GRAN CANARIA

Fashionalarm Herren T-Shirt – Ich brauch keine Therapie – Gran Canaria / Fun Shirt mit Spruch Strand Urlaub Las Palmas Kanaren Maspalomas Spanien, 17,90 Euro

Tag 0Donnerstag, 14.12.

Als Erstes bitte ich um ein anderes Zimmer. Eins in einer höheren Etage. Zimmer 4010 des Barceló Margaritas Royal Level, in das ich gerade eingecheckt habe, ist zwar in Ordnung – Kingsize-Bett ohne Besucherritze, geräumiger Wandschrank, sauberes Bad, ein großer Balkon mit Tisch, zwei Stühlen und zwei Sonnenliegen, außerdem ein Sofa mit flachem Couchtisch sowie ein Tisch mit zwei Stühlen zum Arbeiten und Schreiben, ein Minibar-Kühlschrank und, vielleicht das Wichtigste, ein 65-Zoll-Flatscreenfernseher – aber vierte Etage, das reicht nicht. Ich brauche mehr Puffer. So viel Puffer wie möglich zwischen mir und den anderen, den richtigen Urlaubern.

Mit einem aufmerksamen Lächeln schaut der junge Hotelangestellte mich an: »Let me see what I can do.«

Alvaro, steht auf seinem Namensschild, Guest Experience Manager. Ich schätze ihn auf Anfang dreißig. Schlank, schnittiger Anzug, die Zähne so weiß wie das gestärkte Oberhemd. Ostentativ nickend klemmt er sich an seinen Computer. Zwei Schreibtische weiter checkt eine seiner Kolleginnen gerade ein zerknittert aussehendes junges Paar aus den Niederlanden ein.

Es ist Donnerstag, der 14. Dezember, zwölf Uhr mittags, und ich bin auf der Flucht. Auf der Flucht vor Weihnachten. Auf der Flucht vor der Depression.

Vor anderthalb Stunden bin ich auf Gran Canaria gelandet, nach einer schlaflosen Nacht und einem Abflug um sechs Uhr morgens am Flughafen Berlin Brandenburg, wo ich mich mit einem Reisepodcast vom Chaos der Abfertigungshalle an Terminal 2 abzuschirmen versuchte. »Unsere Reise beginnen wir jetzt hier in Las Palmas«, sagte der Host. »Sehr bekannt, man hat das Gefühl: 'ne Mischung aus alt und neu. Wir sind vom Flughafen gekommen, da war nicht alles schön, da haben wir große Industrieanlagen gesehen …«

Und genau so stellte es sich bei der Landung dann auch dar. Quadratkilometer an Feldern und Gewächshäusern, dazwischen flache Gewerbe- und Industriebauten. Eine Urlaubsinsel, beliebt für ihre langen Sandstrände und das ganzjährig angenehme Klima. Das Publikum im Flieger aber: unauffällig. Keine Hawaiihemden, keine Betrunkenen, kein Skandieren von Saufschlagern. Immerhin, in den hinteren Reihen wurde bei der Landung vereinzelt geklatscht.

Ich holte meinen Koffer ab und nahm ein Taxi nach Maspalomas, dem touristischen Zentrum im Süden der Insel, das in den kommenden 13 Tagen mein Zuhause sein wird. Der Ort empfing mich mit einem Mix aus Sonne und Wolken bei 21 Grad, und ich ahnte schon, dass ich die in dem Reisepodcast mit Lob überhäufte und von Agatha Christie als »der ideale Platz, den Winter zu verbringen«, geadelte Inselhauptstadt Las Palmas während meines Aufenthalts nicht zu Gesicht bekommen würde und auch sonst nicht viel von dieser an Reizen angeblich nicht armen Insel vor der Nordwestküste Afrikas. Zu streng mein Konzept, zu eng getaktet der Zeitplan.

Er hätte da noch etwas in der siebten Etage für mich, sagt Guest Experience Manager Alvaro, nachdem er eine Weile auf seiner Maus herumgeklickt und die Belegungsmaske auf dem Monitor abgesucht hat, die 7010, genau drei Stockwerke über meinem jetzigen Zimmer und davon abgesehen mit diesem identisch. Das Zimmer sei in spätestens einer Stunde bezugsfertig, vielleicht wolle ich mich erst mal ein wenig auf dem Gelände umschauen oder drüben im Hotelrestaurant La Palapa das Mittagessen einnehmen?

»Perfect«, sage ich, »muchas gracias«, und dass ich außerdem einen Dreierstecker bräuchte oder ein Verlängerungskabel – »to connect my DVD player to the TV«.

»Your DVD player?« Verständnislos blickt GEM Alvaro mich an.

»Yes.«

»I'm sorry, Sir, but I'm afraid we don't provide that here, DVD players …«

»I brought my own«, sage ich, »and my own HDMI-Kabel, too!« Auf einmal habe ich das Bedürfnis, mich zu erklären. »You know, I came here to watch all episodes of The Sopranos and write about it.«

»Ah«, macht GEM Alvaro mit aufs Gesicht getackertem Lächeln und nun auch wieder eifrig nickend. »That's great! That's wonderful! Well, see you in a bit then, enjoy your lunch!«

Die Idee kam mir an einem Sommerabend Mitte August. Helena und ich saßen am Klobichsee, einem Waldsee in der Märkischen Schweiz, und ich sprach von meinen Überlegungen, die Weihnachtsfeiertage in diesem Jahr nicht in Deutschland zu verbringen. Im Jahr zuvor war ich schon in der Vorweihnachtszeit in ein tiefes Loch gefallen, aus dem ich mich erst Monate später mühsam und, wie mir schien, nachhaltig beschädigt hatte befreien können. Depressive Episoden sind nichts Neues in meinem Leben und die Weihnachtsfeiertage waren nicht der Auslöser dafür, aber mindestens doch ein Verstärker.

Nie wieder Weihnachten in Deutschland, hatte ich mir geschworen, als ich wieder halbwegs beieinander war, nie wieder Weihnachten ohne eine Aufgabe. Noch einmal würde ich einen solchen Zusammenbruch nicht wegstecken, und es gab schlicht keinen Grund, mich dieser für mich so schwierigen Zeit weiterhin Jahr für Jahr ungeschützt auszusetzen. Du hast keine Kinder, hatte ich mir gesagt, keine Festanstellung oder andere Verpflichtungen, die dich an diesem Ort halten, dafür aber ausreichend Zeit und gerade auch genug Geld auf dem Konto, also keine Ausrede, klar? Nächstes Jahr Weihnachten bist du weg. Nimm dir etwas vor, such dir ein Ziel, sei vorbereitet. Und nun war es Spätsommer, die Tage wurden bereits kürzer. Nicht mehr lange, und der Lebkuchen- und Marzipanterror in den Supermärkten würde wieder losgehen.

Auf dem halbstündigen Fußmarsch zum See hatten Helena und ich über das Thema Bildungslücken gesprochen, und ich hatte The Sopranos erwähnt, eine Fernsehserie, die Helena Jahre zuvor ohne mich geschaut hatte und vor der ich allein ihres Umfangs wegen immer zurückgeschreckt war. Und die mich nun auf eine Idee brachte.

»Vielleicht sollte ich über Weihnachten nach Ibiza fliegen und mich einmal durch sämtliche Staffeln Sopranos schauen.«

Helena sah mich an. »Wieso Ibiza?«

»Oder Gran Canaria, was weiß ich. Hauptsache weg.«

»Du bist bei meinen Eltern immer willkommen, das weißt du.«

Ich nickte und schnippte den Kronkorken von meiner Flasche Malzbier, wie immer gerührt von der Tatsache, dass diese Einladung Jahr für Jahr aufs Neue ausgesprochen wird, wo doch alle Beteiligten wissen, dass ich sie niemals annehmen würde. Weihnachten, das ist für die Kramers das Highlight des Jahres. Oft treffen Helena, ihre Schwester und die Eltern sich schon in der Adventszeit in dieser oder jener Stadt, um gemeinsam einen Weihnachtsmarkt zu besuchen. Die Feiertage verbringen sie stets im elterlichen Haus in Norddeutschland. Am 23. wird der Baum geschmückt, am 24. macht man sich schick, geht in die Kirche und isst vor der Bescherung festlich zu Abend, es werden Spiele gespielt, Lieder gesungen und Filme geguckt. Das volle Programm und ganz eindeutig nichts für mich.

»Okay, dann also Gran Canaria«, sagte Helena nach einem Moment des Schweigens. »Aber warum unbedingt die ganze Serie auf einmal?«

»Der sportive Aspekt«, antwortete ich. »Außerdem hätte ich eine Aufgabe. Etwas, das mich bei der Stange hält. Vielleicht kann ich sogar darüber schreiben.«

Ich nahm einen Schluck Malzbier und dachte an das Buch von Jochen Schmidt über seine Proust-Lektüre, Schmidt liest Proust, von dem ich schon oft gehört, das ich aber nie gelesen habe. Genau wie ich Proust selbst nie gelesen habe. Eine weitere dieser Bildungslücken, und eine wohl kaum weniger umfangreiche. Wobei sogenannte Qualitätsserien wie The Sopranos im Unterschied zu den meisten Klassikern der Weltliteratur heute Bestandteil eines popkulturellen Kanons sind, über den man auch in nicht-bildungsbürgerlichen Kreisen wunderbar miteinander ins Gespräch kommen kann. Ungeachtet der Serienflut der letzten Jahre und Jahrzehnte, trotz Breaking Bad, Game of Thrones, Mad Men, Succession und wie sie alle heißen, früher oder später geht es doch immer um The Sopranos, diese Ende des 20. Jahrhunderts beim amerikanischen Bezahlsender HBO gestartete, bis 2007 in den USA laufende und damals wie heute kultisch verehrte TV-Saga, deren Einfluss auf Film und Fernsehen und auf die Erzählkunst im Allgemeinen in unzähligen Artikeln, Essays, Interviewbänden, Podcasts und YouTube-Formaten hervorgehoben wurde und noch immer wird. Im Gegensatz zu eifrigen Proust-Experten steht man als Serienjunkie auch nicht wie ein verschrobener Special-Interest-Nerd da, sondern einfach wie jemand, der sich auskennt und mitreden kann.

Als Streamer oder Binge Watcher gelte man keineswegs als »dummer, fauler, süchtiger, sondern als junger, smarter, hipper Mensch«, so die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Maren Lickhardt. »Mit gezieltem Streamen und Bingewatchen bestimmter Serien und dem Darüber-Reden ist es möglich, sich kulturelles Kapital im Sinne Pierre Bourdieus anzueignen, das wiederum symbolisches Kapital, also Ansehen oder Anerkennung, nach sich zieht.«1

Ich holte mein Handy raus. Laut Google betrug die Gesamtlänge der Serie The Sopranos 86 Stunden und zwölf Minuten, verteilt auf sieben Staffeln mit insgesamt 86 Episoden. Helena und ich begannen zu rechnen. Ging man von acht Stunden Fernsehkonsum pro Tag aus, musste man für das ganze Unterfangen elf Tage einplanen.

»Angenommen, ich fliege am 14. Dezember und beginne am 15. mit der Serie«, sagte ich und nahm meine Finger zur Hilfe.

»Dann brauchst du genau bis zum 25. abends«, kam Helena mir zuvor. Sie sah mich an: »Heftig.«

»Aber was für eine wunderbare Klammer«, sagte ich. »Den 26. bleibe ich noch da, zum Runterkommen. Und am 27., wenn Weihnachten vorbei ist, fliege ich zurück.«

»Pünktlich zu dieser wunderbaren Zeit zwischen den Jahren«, sagte Helena.

Wir lachten.

»Aber …«, sagte Helena nach einer Pause.

»Aber was?«

Sie sah mich an. »Kein Offday?«

»Kein Offday«, sagte ich, mit fester Stimme und diesem ganz speziellen Britzeln in den Zehen, das einen erfasst, wenn eine vermeintliche Schnapsidee zu etwas wird, das es sich ernsthaft zu verfolgen lohnt. »Wenn schon, denn schon.«

Zum Restaurant La Palapa gelangt man über einen schmalen, von mehreren Palmen und schattenspendenden Laubbäumen gesäumten Pfad. Der großzügig angelegte Pool- und Restaurantbereich ist von einem hüfthohen Holzzaun eingefasst, dessen Pforte sich mit dem orangefarbenen Armband öffnen lässt, das ich von GEM Alvaro bekommen und in weiser Voraussicht nicht ums Handgelenk habe binden lassen, sondern mir in die Hosentasche gesteckt habe. Das nierenförmige Becken ist umgeben von Sonnenschirmen und Liegen, auf denen sich Menschen unterschiedlichen Alters in Badeanzügen und Shorts räkeln, rechts auf der Wiese zeigt ein Yoga-Coach zwei missmutig wirkenden Damen den herabschauenden Hund. Ein Stück oberhalb, nur durch eine schmale Rasenfläche vom Poolbereich getrennt, liegt das Restaurant. Ein tipiartiges Gebäude mit palmblattgedecktem Pyramidendach und von innen sichtbarer Dachkonstruktion, eine typisch mexikanische Palapa eben, nur ein paar Nummern größer. Drei der vier Seiten sind mit Windschutzplanen verhängt, im hinteren Bereich befindet sich eine halboffene Küche. Kunststoffstühle im Wiener-Geflecht-Look, Tischsets aus Fake-Bast, auf den Tischen Sukkulenten in schmalen Keramiktöpfen.

Die Kellnerin am Eingang empfängt mich mit einem fragenden Blick: »Your name and room number, please?«

Sie ist etwas älter als ich, Ende vierzig, Anfang fünfzig vielleicht. Dunkles, zum Zopf gebundenes Haar, weiße Bluse, Knopf im Ohr.

Ich sage meinen Namen und dass ich gerade erst angekommen sei, mein Zimmer aber wahrscheinlich die 7010 werde. Die Frau nickt, dann erklärt sie mir, dass man fürs Mittagessen im La Palapa einen Slot reservieren müsse, genau wie fürs Abendessen. Die Reservierungen nähme ich entweder an der Rezeption vor oder über die Barceló-Margaritas-App.

»Oh«, mache ich. Von einer App hat GEM Alvaro nichts gesagt.

Lächelnd beugt die Kellnerin sich vor und legt mir ihre Hand auf den Arm. »Don't worry, my friend. We don't let anyone starve here.« Sie zwinkert, dann führt sie mich zu einem der freien Zweiertische in der Mitte des Raums. Sogleich fühle ich mich von den anderen Gästen beäugt: Seht her, ein Neuer! Wie tapsig er sich bewegt, niedlich!

Das Restaurant ist zu einem guten Drittel gefüllt, aus den Boxen rieselt ein Song von Coldplay. Ich setze mich und frage die Kellnerin nach ihrem Namen. Und maßregle mich sofort: Was soll das, die Frau so anzukumpeln? Was geht mich ihr Name an?

Sie heiße Doina, antwortet die Kellnerin ganz ohne Argwohn, das sei ein rumänischer Name, denn da komme sie her: Rumänien, genauer gesagt aus Constanța, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer. Sie tritt einen Schritt zurück und mustert mich: »And you? Here for work?«

Ich schaue an mir hinab. Das Hemd, das Sakko, die Schnürschuhe aus Leder. So läuft hier niemand rum, und wenn, dann eher die Hotelangestellten als die Urlauber.

»Actually, yes«, sage ich. »And for vacation. Both.«

Die Kellnerin, Doina, nickt wissend, als sei ein Arbeitsurlaub im Barceló Margaritas Royal Level nichts Ungewöhnliches. Sie fragt nach meinem Getränkewunsch. Ich bitte um ein Wasser con gas und ein Glas Weißwein.

Anders als die anderen beiden Mahlzeiten des Tages, die in Form eines umfangreichen Buffets angeboten werden, gibt es das Mittagessen im La Palapa à la carte. Als die Getränke kommen, bestelle ich den Veggie-Burger mit Pommes und Salat, dann entsperre ich mein Handy und installiere die Barceló-App, in der das tägliche Unterhaltungsprogramm aufgelistet ist und über die neben den Tischreservierungen offenbar auch alles andere gebucht, geregelt und organisiert wird, von frischen Handtüchern auf dem Zimmer über Massagetermine im Wellnessbereich bis hin zu geführten Inselerkundungstrips oder Zwei Mojito zur Liege am Sonnenschirm mit der Nummer 38, por favor. Mittlerweile läuft ein Song von Lana Del Rey, der sich mit dem sanften Rauschen in den Bäumen über mir vermischt. Ich nehme einen Schluck Wein und lehne mich zurück.

Die Anlage besteht aus zwei zusammengehörigen, aber unabhängig voneinander operierenden Hotels. Unten an der Straße liegt das eigentliche Barceló Margaritas, 1974 erbaut, vier Sterne, acht Stockwerke und 322 Zimmer. Leicht erhöht auf einem Hügel befindet sich das Royal Level, die hochpreisigere Adults-Only-Variante, in die ich mich einquartiert habe.

Das Publikum hier oben: eher saturiert. Überwiegend Paare aus verschiedenen Teilen West- und Nordeuropas, ein paar Familien. Zwei Tische weiter sitzt ein mittelaltes Ehepaar aus dem Hessischen. Sie beginnt jeden zweiten Satz mit »Ich sag mal so …«, er ist eher maulfaul. In meinem Rücken tauschen sich mehrere Personen auf Englisch über die Zumutungen bei Flügen mit Ryan Air aus. Die Hotelanlage dagegen kommt bei ihnen ausgesprochen gut weg. Sie seien in den letzten Jahren in unterschiedlichen Häusern der Hotelkette Barceló untergekommen, sagt eine Frau mit derbem schottischem Akzent, und nie, »not even once«, habe es etwas zu beanstanden gegeben. Die Qualität im Barceló sei schon recht hoch, stimmt eine tiefe Männerstimme ihr zu, und ich ertappe mich bei dem Wunsch, das Gespräch mitzuschneiden oder aufzuschreiben. Schließlich ist das alles potenzielles Material. Für mein … Ja, für was denn eigentlich? Und bin ich wirklich schon im Recherchemodus? Will ich nicht erst mal ankommen, runterkommen, mich akklimatisieren?

Dass der Anlass seiner Reise ein journalistischer sei, habe einen großen Vorteil, schreibt David Foster Wallace in Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich, seinem buchgewordenen Bericht über eine Luxuskreuzfahrt in der Karibik. In den »eher unschönen Momenten« könne man sich auf die interessanten und verwertbaren Aspekte konzentrieren und müsse »nicht so leiden«.

Die Verwertbarkeit als Schmerzstiller. Ich kann dem etwas abgewinnen. Für einen Autor sei kaum ein Ereignis so schlimm wie für andere Menschen, so der britische Schriftsteller Alan Bennett, denn fast immer lasse sich daraus etwas machen. Da mag was dran sein. Das Ding ist nur, dass man dafür 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche Autor sein muss, also immer im Modus, immer in the zone. Bestand darin in den letzten Jahren mein Fehler? Dass ich meine Arbeit über die Weihnachtsfeiertage meist liegenlassen habe, statt mich extra tief darin zu vergraben? Mir fällt ein Interview mit Feridun Zaimoglu ein, das ich vor ein paar Jahren an Heiligabend zufällig im Radio gehört habe und in dem der in Kiel lebende Schriftsteller erklärte, er feiere kein Weihnachten und werde auch an diesem Tag, direkt nach dem Gespräch, an den Schreibtisch zurückkehren und ganz normal weiter an seinem nächsten Roman arbeiten, »und morgen auch und übermorgen auch«.

Das klang plausibel: Weihnachten einfach ignorieren. Und doch ist mir selbst das nie gelungen. Allein die Antizipation dieser bedrohlichen und sich zäh wie sonst was ziehenden Tage, ja, die gesamte, bereits Wochen und Monate zuvor einsetzende und unter dem so harmlos klingenden wie grässlichen Kompositum Vorweihnachtszeit subsummierte Besinnlichkeitshysterie hindert mich Jahr um Jahr aufs Neue daran, ganz normal weiterzumachen und so zu tun, als wäre nichts. Es reicht nicht, sich in die Arbeit zu stürzen, wenn man dabei in der gewohnten Umgebung bleibt. Die Veränderungen auf den Straßen, in den Geschäften und unter den Menschen bekommt man ja trotzdem mit, sofern man nicht gerade als Eremit im Wald lebt oder wie Marcel Proust kaum noch das Haus verlässt.

Die Reaktionen auf mein Vorhaben fielen gemischt aus.

»Ich beneide dich so«, schwärmten die Sopranos-Fans, zu denen ausnahmslos alle zu gehören schienen, die diese Kultserie jemals gesehen hatten, und das waren die meisten. »Ich wünschte, ich könnte das auch noch ein erstes Mal gucken!«

Ich hätte genau den richtigen Beruf gewählt, versicherte mir der eine, während eine andere das Vorhaben als eine Art Weltenflucht bezeichnete und ein Dritter mir riet, einen Notfallkontakt einzurichten und die als Notfallkontakt auserwählte Person eindringlich zu briefen, meinen Anruf auch wirklich entgegenzunehmen, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit dieser auch erfolge. Denn dass er früher oder später erfolgen würde, daran bestehe ja wohl kein Zweifel, da könne ich Gift drauf nehmen. »Du darfst die psychische Belastung durch exzessiven Fernsehkonsum nicht unterschätzen. Die Wahrnehmung verschiebt sich, nach spätestens drei Tagen wirst du komisch.«

Der Satz, der mir am meisten im Gedächtnis blieb, kam jedoch von meiner Mutter. »Nach Gran Canaria?«, brummte sie am Telefon, bevor sie in spitzem, beinahe schnippischem Tonfall hinzufügte: »Wie wär's, wenn du einfach mal wieder eine Reise nach Rheine buchst …«

»Pflegt alte Weihnachtsbräuche! Sie gehören zu euch wie die Luft, die ihr atmet, das Wasser, das ihr trinkt, das Lied, das ihr singt. Mit ihnen ehrt ihr euer Volk!«2

Der Burger war in Ordnung, im All-Inclusive-Kontext vielleicht sogar exzeptionell gut, ich kenn mich da nicht so aus. Bei einer Tasse Kaffee und einem Brownie zum Nachtisch schreibe ich Helena, dass ich gut angekommen bin, dann mache ich mich auf, das Hotelgelände zu erkunden.

Mit meinem orangefarbenen Bändchen kann ich problemlos ins normale Barceló Margaritas wechseln, die dortigen Pools und Bars benutzen oder im Buffetrestaurant Tamaran speisen, Letzteres auch ohne vorherige Anmeldung über die Hotel-App. Umgekehrt ist es den drüben untergebrachten Gästen mit ihren grauen Bändchen jedoch nicht möglich, die Royal-Level-Ebene zu betreten, die durch ein paar einfache, aber wirkungsvolle architektonische Maßnahmen vom restlichen Hotelbereich abgetrennt ist – weiße Mauern und kurvige Wege, die an akkurat geharkten und offenbar mit dem Millimetermaß bepflanzten Kaktusgärten und einem Parkplatz vorbeiführen und die nicht gerade dazu einladen, ihnen zu folgen. Tut man es doch, landet man früher oder später an einem der nur mit dem richtigen Bändchen zu öffnenden Gates, über die man als ausgewachsener Mensch zwar ohne viel Aufwand hinwegsteigen könnte, was ihren abweisenden Sie-Lump-sindhier-nicht-erwünscht-Charakter aber nur unterstreicht. Es ist eine Architektur der Einschüchterung und Ausgrenzung, überhaupt eine Architektur der Grenzen, innerhalb deren, hat man es einmal hineingeschafft, dann kleine Grenzüberschreitungen ermöglicht werden – Daydrinking, Gambling, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Ein Gefühl von Freiheit, ermöglicht durch relativen Wohlstand, räumlich wie zeitlich eingegrenzt.

Die Gäste der unterschiedlichen Hotelkategorien erkennen einander an den Armbändern, und tatsächlich erwische ich mich dabei, die Hotelgäste umgehend anhand ihrer Bändchen zu kategorisieren. Die graubändige Kundschaft wirkt deutlich erholungsbedürftiger, abgekämpfter, sonnenverbrannter auch und beschwipster schon zu dieser Tageszeit. Umgekehrt fühle ich mich mit meinem orangen Bändchen sofort als Besucher aus der exklusiven Zone gelabelt, der sich nur aus Versehen hierher verirrt haben kann oder halt mal gucken will, wie der Pöbel so haust.

Sogar die Fitnessbereiche unterscheiden sich. Kommt man im Royal Level in den Genuss eines großzügig angelegten Outdoor-Crossfit-Bereichs mit Gerätestangen, Seilen, Kettlebells und einem lächelnden Trainer, so hat der ertüchtigungswillige Hotelgast hier unten mit einem stickigen und mit Laufbändern, Kraftmaschinen und plärrenden Fernsehern vollgestopften Kabuff vorliebzunehmen.

Dabei ist das Normalo-Barceló, wie ich es in einem Anflug von Spontanverrohung schon jetzt nenne, immer noch ein 4-Sterne-Hotel. Was den dortigen Gästen erlaubt, auf die in den umliegenden 2- oder 3-Sterne-Hotels untergebrachten Urlauber herabzublicken, die sich wiederum über jene erheben können, die es nur an den Balaton, auf den Campingplatz oder in irgendein Balkonien geschafft haben.3 Denn genau das scheinen Orte wie dieser zu bedingen und zu provozieren: die ständige Einordnung und Bewertung, den permanenten Vergleich, die Klassifizierung. Oder bin das wieder nur ich? Haben hier alle eine ausnehmend gute Zeit, nur ich muss da gleich wieder mit meiner Zynikerbrille reinplatzen?

»Seit ihrer Gründung als Familienunternehmen im Jahr 1931 durch Simón Barceló Obrador hat sich die Barceló Hotel Group weltweit einen Namen in der Hotellerie gemacht und kann heute mit über 290 Häusern in 30 Ländern aufwarten. Die Hotelgruppe ist damit die zweitgrößte in Spanien und gehört zu den 30 größten weltweit, gemessen an der Zimmeranzahl. Sie beschäftigt 34.000 Mitarbeiter:innen und verwaltet 64.000 Zimmer.«4

Kurzer Spaziergang zu den Sanddünen im Süden, der mich an zahllosen Verkehrskreiseln und einer Betonwüste aus Shopping-Malls und Bettenburgen vorbeiführt. Viele der flacheren Bauten zitieren Baustile aus unterschiedlichen Epochen und Regionen. Retroarchitektur, Pastiche, Disneyfication. Keine Grünflächen, kaum Bäume und erstaunlich viel Verkehr. Unter dem Punkt Luftqualität erscheint in meiner Wetter-App das Wort UNGENÜGEND. Eine Vokabel, die mir in diesem Kontext noch nie untergekommen ist, nicht einmal freitagnachmittags auf der verstopften Sonnenallee oder unter dichten Smogdecken in Downtown Los Angeles.

Maspalomas ist keine eigentliche Stadt, sondern ein in den sechziger Jahren als touristisches Zentrum angelegter Nicht-Ort, der also nicht einmal mit der von Tourismusbüros und Reiseführern so gern bemühten Vergangenheit als verschlafenes Fischernest punkten kann. Aus den stehenden Zeitungsauslagen vor den kleinen Läden und Supermärkten brüllt mir das Horrorkabinett deutscher Druckerzeugnisse seine geballte Niedertracht entgegen – BUNTESPIEGELBILDSTERNFREIZEITREVUE, im Zweifel: DER FRAU –, während sich der Souvenirshop am Kreisel Nummer vier oder fünf vorwiegend dem männlichen Geschlechtsteil verschrieben hat. Als keckes Mitbringsel für die Liebsten oder als nette Urlaubserinnerung für den eigenen Bedarf stehen zahlreiche Pimmel-Aschenbecher, Pimmel-Salzstreuer, Pimmel-Bierkrüge und weitere Pimmel-Artikel zur Auswahl, außerdem ein halber Regalmeter Busen-Tassen. Das beeindruckendste STÜCK ist der geschnitzte Pimmel-Flaschenöffner in Dildogröße mit grifffestem Hodensack und faustgroßer Eichel und der Aufschrift: Gran Canaria.

Schön ist das alles nicht, denke ich, und: Welcher Idiot macht auch Urlaub an einem Ort, der abgesehen vom Meer nicht viel zu bieten hat, bucht dann aber ein Hotel, das ganze anderthalb Kilometer von ebendiesem Meer entfernt liegt? Nur um mir die Frage gleich selbst zu beantworten: Ja, ich halt.

Dann tauchen vor mir die Dünen auf. Naturschutzgebiet und Touristenmagnet, laut Reisepodcast eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten auf Gran Canaria. In den Google-Rezensionen geht es neben der »einmaligen Kulisse« und dem »weichen Sand« vor allem um die »vielen nackten, alten Menschen«, die »exhibitionistischen Nudisten« und »fickenden Schwulen« in den »Fickdünen«, die von einem der Rezensenten als »der größte Tageslicht-Darkroom der Welt« bezeichnet werden. Für ein paar Minuten lehne ich mich an die Brüstung der Promenade und lasse den Blick schweifen. Das Meer ist von hier aus zu hören, aber nicht zu sehen. Keine nackten Alten oder fickenden Schwulen weit und breit. Sand weht mir ins Gesicht und unter die Sonnenbrille.

Für den Rückweg wähle ich eine andere Route, die mich an weiteren gesichtslosen Hotels, Malls und Kreiseln entlangführt. Das Interessanteste, was ich während meines gut einstündigen Ausflugs zu sehen bekomme, ist der mit lauter Superheldenstatuen bevölkerte Garten des Cita-Shopping-Centers, dessen Gewerbetreibende sich vornehmlich an ein deutschsprachiges und dezidiert saufaffines Publikum zu richten scheinen: Westfalia Show Bar, Aachener Kaschemme, Holstein Pub, Jever Stube, Klein Nippes, Durststrecke, Fundgrube, Schlucknapf, Paperlapapp und ein Schuppen namens Swiss Lady Hexenkessel – hier hat der durstige deutsche Zecher die Qual der Wahl. Auch das Restaurante Carlos V befindet sich unter diesen Dächern, laut Werbeschild seit 1975 Stammlokal vieler Gäste. Wahnsinns-Claim, denke ich, und als ich an meinem Ausgangskreisel ankomme, den Weg zum Barceló Margaritas hochstapfe und die vielarmige Silhouette des vorm Hoteleingang angebrachten Distanzanzeigers sehe, der die Richtungen und Entfernungen weiterer Barceló-Niederlassungen auf der ganzen Welt ausweist, empfinde ich ein Gefühl tiefer Leere. Aber auch so etwas wie Erleichterung. An einem Ort wie diesem, so viel steht fest, wird es mir relativ FOMO-frei gelingen, 86 Stunden und zwölf Minuten vor dem Fernseher zu verbringen.

»Gran – Gran – Gran – Gran Canaria / liegt zwischen Ham – Ham – Hamburg und Amerika / Gleich neben Afrika / und zwar das ganze Jahr / ist es für Urlaub da / Gran Canaria.«5

In der Hotellobby empfängt mich Guest Experience Manager Alvaro mit strahlendem Lächeln.

»Good news, Sir! Your room is ready!«

Er schnappt sich das neben seinem Computer bereitliegende Verlängerungskabel, ruft den Lift und begleitet mich hoch zur 7010. Er hat nicht zu viel versprochen: Es handelt es sich um das exakt gleiche Zimmer, nur eben drei Etagen höher, und der Abstand zu den gemeinschaftlich genutzten Bereichen des Hotels erscheint mir tatsächlich spürbar größer. Mein Koffer ist bereits da. Sichtlich amüsiert, aber dezent von Nachfragen absehend, hilft GEM Alvaro mir, den DVD-Player anzuschließen, ein ausgesprochen kompaktes Fabrikat der Marke Sony, das ich mir von Helena geliehen habe und das kaum größer ist als ein Diercke-Weltatlas. Der auf eine Holzplatte montierte Fernseher ist mitsamt der Rückwand um 180 Grad drehbar, sodass die Möglichkeit besteht, sowohl vom Sofa als auch vom Bett aus fernzusehen. Ich muss nur aufpassen, dass sich beim Wechsel das HDMI-Kabel zwischen DVD-Player und Fernseher nicht verknotet.

»Thank you«, sage ich, als ich das auch mir jetzt reichlich anachronistisch vorkommende Abspielgerät zum Laufen gekriegt habe. »I really appreciate your help.«

»You're welcome.« GEM Alvaro lächelt in einer Tour. Er kann gar nicht anders. Wahrscheinlich wurde er mit diesem Lächeln geboren. Guest Experience Manager by birth. »Make sure to let me know if you need anything else.«

»I will«, sage ich, dann schließe ich die Tür hinter ihm, werfe meinen Koffer aufs Sofa und verteile meine Sachen auf die Schränke und Regale, die Tische und Nachttischchen, die Kleiderhaken, das Bad. Den Raum aktiv bewohnen, wichtig. Ihn mittels vertrauter Gegenstände zu einem temporären Zuhause machen. Anschließend setze ich mich aufs Sofa und nehme den Deckel von der The-Sopranos-DVD-Box. Die Schachtel enthält sieben DVD-Hüllen mit jeweils vier DVDs, dazu ein Hochglanz-Booklet mit der Episodenliste. Jede Folge ist mit einer kurzen Inhaltsangabe versehen, beim Durchblättern bleibt mein Blick direkt an Staffel 4, Episode 7 hängen: Watching Too Much Television.

Ich rechne noch einmal durch. Wenn ich am 26.12. abends durch sein und den 27. freimachen will, bevor tags drauf mein Flug zurück nach Berlin geht, muss ich 7,81 Folgen pro Tag schaffen.

Ich schlage mein Notizheft auf und lege eine Liste an.

10 Stunden Sopranos (8 Stunden reine Spielzeit plus Pausen für Notizen, ggfs. Zurückspulen & Bildschirm abfotografieren /- filmen, DVD wechseln, dies und das googeln)

8 Stunden Schlaf

3 Stunden Nahrungsaufnahme (Frühstück, Mittagessen, Abendessen)

1,5 Stunden für eine Freizeitaktivität pro Tag

(Spaziergang, Beach, Pool, Sport …)

1 Stunde Tagebuch & Notizen

1 Stunde Nachrichten / Podcasts / Lektüre / Musik

0,5 Stunden Korrespondenz / Mails / Telefonieren

0,5 Stunden Toilette (Duschen, Stuhlgang,

Händewaschen, Rasieren …)

0,5 Stunden An- / Aus- / Umziehen

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Ratlos schiebe ich das Notizheft zur Seite, stehe auf und gehe ins Bad. Ich ziehe mich aus und stelle mich unter die Dusche, dann steige ich in einen der beiden bereitliegenden Bademäntel und gehe in Schlappen auf den Balkon. Vor mir, im warmen Licht der tiefstehenden Sonne, breiten sich die braunen Berge und die Straßen aus, zwischen denen weitere Hotelanlagen in den Himmel ragen, während sich ganz links, in südöstlicher Richtung und bis zum Horizont, das tiefblaue Meer erstreckt.

26 Stunden. Verdammt. An der Tagebuchführung kann, am Schlaf möchte ich nicht sparen. Auch nicht an den ohnehin schon reichlich knapp bemessenen Freizeitaktivitäten. Mein Ziel ist also nur zu erreichen, wenn es mir an jedem einzelnen der elf Tage gelingt, verschiedene Punkte miteinander zu kombinieren. Nahrungsaufnahme mit Tagebuch & Notizen etwa und Dinge wie Sport, Spaziergang, Beach oder Toilette mit Nachrichten / Podcasts / Lektüre / Musik.

Theoretisch machbar. Und dennoch, das Scheitern scheint unvermeidlich.

Um Punkt 18:11 Uhr, genau wie von der Wetter-App angekündigt, versinkt der blutrote Ball im Meer. Ich hole mein Handy raus und schieße dasselbe Foto wie meine Zimmernachbarn links und rechts und vermutlich alle anderen Hotelgäste auf den Südwestbalkons dieser Insel. Dann gehe ich wieder rein und mache mich fertig fürs Abendessen.

Diesmal habe ich einen Slot reserviert, was von Kellnerin Doina mit einem anerkennenden Nicken goutiert wird: Braver Novize! So lernfähig! Sie führt mich zu einem Zweiertisch in der Mitte. Ich erkenne mehrere Personen vom Lunch wieder, und wie am Mittag läuft leise Popmusik. Die Beleuchtung ist indirekt, das Buffet riesig. Unmengen von Fisch und Fleisch, so ziemlich alles an Beilagen, was man sich vorstellen kann – Gemüse in sämtlichen Formen, Farben und Konsistenzen, Gegrilltes und Frittiertes, Salate, Dips und Dressings, Brot und Käse –, und eine gewaltige Dessertstation in der Raummitte mit Obst, Joghurts, Puddings, kleinen Küchlein und Törtchen sowie gelierten Sahnespeisen im Glas, Waffeln mit Vanillesauce und unterschiedlichen Weingummi- und Schaumzuckerwaren. Ganz hinten, wie auf einem Thron und sein zuckriges Reich überblickend: der Schokobrunnen.

Der einzige andere Alleinreisende sitzt zwei Tische rechts von mir. Ein hagerer Hüne mit riesigen DJ-Kopfhörern auf dem nassrasierten Schädel und einem aufgestellten iPad vor sich, dessen grotesk hell eingestelltes Display wie ein Scheinwerfer sein knochiges Gesicht anstrahlt und zu einer seltsam körperlosen Fratze werden lässt. Was guckt der da? Eine Sportübertragung? Ich stelle mir vor, dass der Mann gar nicht alleine hier ist, sondern mit Frau und Kindern drüben im Normalo-Barceló wohnt und sich heimlich ein weiteres Zimmer im Adults-Only-Bereich genommen hat, um sich hin und wieder unter einem Vorwand davonzustehlen und seine Ruhe zu haben. Dann fängt der Glatzkopf an zu husten. Speisereste schießen durch den Lichtstrahl des Tablets und pladdern aufs Display, wovon er sich jedoch nicht ablenken lässt und einfach weiterkaut, den Blick starr auf sein iPad gerichtet. Nein, denke ich, der Typ hat keine Familie. Der ist einfach so.

Das ältere britische Paar ihm gegenüber habe ich beim Mittagessen am selben Tisch gesehen, offenbar ihr Stammplatz. Es handelt sich um einen der erhöhten Tische mit Barhockern, von dem die Frau einen guten Überblick über die vordere Hälfte des Restaurants einschließlich Eingangsbereich und Pool-Area hat, während ihrem Gatten nichts entgeht, was sich im Bereich Buffett / Küche / Bar abspielt. Sie sind älter als die meisten anderen hier, Mitte sechzig, vielleicht schon Anfang siebzig. Die beiden könnten meine Eltern sein, denke ich, und dann: absurde Vorstellung. Ich kann mich an meine Eltern als Paar nicht erinnern. Den Wein haben sie sich gleich flaschenweise an den Tisch bringen lassen; er trinkt rot, sie weiß. Immer wieder tippeln die Finger der Frau über den Hals der in einem hüfthoch zu ihrer Rechten platzierten Sektkühler steckenden Weißweinflasche; es sieht aus, als liebkose sie ein treu an ihrer Seite wachendes Hündchen. Zum Dessert lassen sie sich zwei Gläser Whiskey bringen, die sie in wenigen Schlucken hinunterkippen, bevor sie umständlich von ihren Barhockern klettern und wankend, jeder eine halbvolle Flasche Wein in der Hand das Restaurant verlassen. Doina und die anderen Kellnerinnen winken ihnen fröhlich hinterher, woraus ich schließe, dass die Mitnahme alkoholischer Getränke im La Palapa geduldet wird. Nach dem Essen ziehe ich mich also einen doppelten Jameson to go auf die 7010 zurück, wo ich leicht angesäuselt und nun auch wirklich erschöpft aufs Sofa sinke.

Dann richte ich mich auf und nehme noch einmal die Sopranos-Box zur Hand, und ehe mir so recht klar ist, was ich da mache, habe ich auch schon den Fernseher eingeschaltet und DVD Nummer 1 von Staffel 1 in den DVD-Player gelegt. Nur mal gucken, ob es läuft.

Es läuft.