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Emilie Turgeon

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Beschreibung

»And I will try to fix you…« Coldplay Mit 8 Jahren verliert Roxanne bei einem tragischen Ereignis ihr Gehör: Psychogene Taubheit nennen es ihre Ärzte. Sie lebt daraufhin ein Leben in absoluter Stille. Das ist gar nicht so leicht. Vor allem als Teenagerin in einer kanadischen Kleinstadt mit den üblichen Mädchenproblemen. Dann geschieht das absolut Unfassbare: Sie trifft Liam und meint in seiner Gegenwart plötzlich wieder hören zu können. Doch sobald er nicht mehr bei ihr ist, kehrt die Stille zurück. Kann das überhaupt sein oder ist es nur Zufall? Vielleicht ist Liam ja Roxannes ganz persönliche Rettung?

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Seitenzahl: 322

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Über das Buch

Als Kind verliert Roxanne ihr Gehör: Psychogene Taubheit nennen es ihre Ärzte. Sie lebt daraufhin ein Leben in absoluter Stille. Das ist gar nicht so leicht. Aber sie hat sich in diesem Leben eingerichtet mithilfe ihrer Eltern und ihrer Brüder.

Dann geschieht das absolut Unfassbare: Sie trifft Liam und meint, in seiner Gegenwart plötzlich wieder hören zu können. Kann das sein oder ist es nur Einbildung?

Ein bewegender Liebesroman und eine Geschichte über die Hoffnung, dass ein einzelner Mensch ein ganzes Leben verändern kann.

 

 

 

 

Für Fabienne

Vorbemerkungzur deutschen Ausgabe

Im folgenden Text sind bestimmte Dialoge kursiv gesetzt. Das bedeutet, die Figuren drücken sich hier in Gebärdensprache aus. Um die Lektüre angenehmer zu machen, hat die Autorin in diesen Dialogen auf die Besonderheiten der Gebärdensprache verzichtet und die sonst übliche Syntax und das geläufige Vokabular verwendet. Die an einigen Stellen im Roman beschriebenen Gebärden und Gesten stammen aus der in Quebec gebräuchlichen Gebärdensprache und werden im Deutschen genau so wiedergegeben wie im französischen Original. Wäre das Buch ursprünglich auf Deutsch geschrieben worden, sähen manche davon anders aus.

KAPITEL 1

Wir wollen dem Herrn danken(oder auch nicht)

In meiner Familie feiert man Thanksgiving. Ich weiß, das ist in Québec eher selten, aber meine Tante Laura besteht darauf. Sie ist praktizierende Katholikin, aber auf die moderne Art. Behauptet sie. Das heißt, sie geht nicht zur Messe, aber sie betet jeden Abend. Sie glaubt an die Evolutionstheorie und an Außerirdische, aber sie hält trotzdem alles für Gottes Werk. Sie glaubt ans Paradies und ans Fegefeuer, aber sie schwört, dass Gott in seiner Barmherzigkeit an die Hölle nicht mal gedacht hat.

Meine Tante Laura liebt es, wenn sich die ganze Familie am zweiten Montag im Oktober versammelt, um Bilanz zu ziehen über das vergangene Jahr und Gott für all das Gute zu danken, das uns widerfahren ist. Ich hingegen versuche oft, mir diese Sorte Familienfeste zu ersparen.

Meine Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen haben dann immer so einen mitleidigen Ausdruck, wenn sie versuchen,mit mir zu reden. Das ärgert mich. Weil ich taub bin. Unerklärlicherweise vollständig taub. Selbst wenn mir während des Jahres etwas Gutes widerfährt, habe ich keine Lust, mich bei wem auch immer dafür zu bedanken.

Meine Eltern und meine Brüder wollen jedoch nicht, dass ich das Gespenst der Familie werde. Die komische Cousine, die man nur einmal im Jahr ausführt. Es ist ihnen egal, dass ich in meiner Ecke sitze und lese, solange ich nur überhaupt dabei bin.

In diesem Jahr lassen meine Tante und mein Onkel ihre Küche renovieren, und die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen. Ausnahmsweise wird Thanksgiving bei uns stattfinden. Ich hätte Lust, mich in meinem Zimmer einzuschließen, aber dazu bin ich zu gut erzogen. Vielleicht kann ich mich nach dem Abendessen verdrücken.

Bis dahin muss ich meiner Mutter helfen. Laura, die uns immer extrem leckere Mahlzeiten vorsetzt, hat vorgeschlagen, dass sie kommt und hier bei uns kocht, aber meine Mutter hat behauptet, sie könne sich um alles kümmern. Ach, der Stolz …

Obwohl es noch nicht mal zehn Uhr ist, bin ich also dabei, einen Kürbis in Würfel zu schneiden. Mama bereitet die Füllung für den Truthahn vor, mit einer Menge Zutaten, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Sie füllt gerade die Mischung in den Steiß des Tiers und stupst mich mit dem Ellbogen an, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Die Tür«, sagt sie mit deutlichen Mundbewegungen und einem Kopfnicken zum Eingang und zeigt mir ihre eklig verschmierten Hände.

Ich gehorche und mache dem Besuch auf. Es ist Charlie, die Freundin meines Bruders Jim. Sie trägt einen baumwollenen Jogginganzug unter ihrem blauen Regenmantel und hat die Haare oben auf dem Kopf zu einem lockeren Knoten zusammengebunden. Dabei ist sie superhübsch. Das kommt daher, dass sie die ganze Zeit lächelt.

»Guten Tag!«, gebärdet sie. »Wie geht’s?«

Seit fast vier Jahren geht Jim jetzt mit ihr. Die ganze Familie mag sie sehr. Ich finde sie prima, vor allem, weil sie versucht, in Gebärdensprache mit mir zu reden. Ich habe sie und Jim sogar dabei erwischt, wie sie sich in Gebärdensprache unterhielten, nur um zu üben.

»Hallo! Jim ist in seinem Zimmer.«

Charlie macht sich nicht mal die Mühe, den Mantel auszuziehen, und rennt die Treppe hinauf. Ich sehe, dass sie ihre Tasche mit dem Blumenmuster dabeihat, also wird sie hier übernachten. Da Jims Zimmer neben meinem liegt, denke ich, sie sind manchmal froh, dass ich taub bin …

Ich gehe in die Küche zurück und erzähle meiner Mutter, dass es Charlie war und dass sie zu Jim hinaufgegangen ist. Heute Abend hat mein Bruder den Auftrag, den Tisch festlich zu decken. Mama sagt oft, Laura sei eine gute Gastgeberin, weil sie uns immer großartig bewirtet, und es kommt nicht infrage, dass wir das nicht genauso machen. So etwas nennt man Stolz!

Die schwerste Aufgabe hat mein Vater bekommen: den Hausputz. Das Haus muss makellos und einladend wirken. Offensichtlich gehört es dazu, im Erdgeschoss die Fenster zu putzen. Alles muss glänzen und duften.

Mein großer Bruder Fred kommt am besten davon. Mama hat Mitleid mit ihm, weil er nachts arbeitet und erst gegen vier Uhr heimkommt. Er ist Barkeeper. Man muss ihn deshalb schlafen lassen. Aber ich beschwere mich nicht über meinen Platz in der Küche. Ich bereite gern mit Mama das Essen vor.

Vor dem Eintreffen der Verwandtschaft gönne ich mir noch eine kleine Ruhepause. Ich habe geduscht, saubere Sachen angezogen und mich ein bisschen geschminkt.

Meine Freundin Lucie sagt immer, nur weil man schlecht hört, muss man nicht hässlich sein. Auch wenn ich ihr im Prinzip zustimme, scheint mir, dass sie es ein bisschen übertreibt. Sie meint auch, mit meinen blonden Haaren und meinen großen blauen Augen hätte ich eine gute Ausgangsbasis. Deshalb begnüge ich mich mit unauffälliger Kleidung, einfachen Frisuren und etwas Mascara.

Ich bin gerade beim Lesen, als das rote Licht über meiner Tür zu blinken beginnt. Es ersetzt das »Klopf! Klopf! Klopf!«. Oder das »Ding! Dong!«. Eine Klingel für Hörbehinderte.

Ich stehe auf und öffne. Ich kriege einen Krampf im Bauch, als ich meine Tante sehe. Ich wusste nicht, dass sie schon da ist.

»Guten Tag, R-O-X-A-N-N-E!«

Laura hat Grundkenntnisse der Gebärdensprache im Internet gelernt, aber da sie keine Gelegenheit hat, sie zu üben, ist es immer mühsam. Am Ende nimmt sie in der Regel Papier und Bleistift und schreibt alles auf.

»Geht’s dir gut?«, fragt sie.

Ich nicke und lasse sie herein in mein Zimmer. Sie geht einmal rasch herum, betrachtet neugierig jeden Gegenstand, dabei dreht sie sich mindestens sechsmal um und lächelt mich an. Vor meinem Bücherregal bleibt sie stehen und lässt ihre Finger über die Buchrücken gleiten, bis sie an dem einzigen Band hängen bleiben, den ich nicht vollständig gelesen habe. Die Hauptphasen der Trauer. Den hat sie mir vor fünf Jahren geschenkt.

Ich mag Laura gern, aber ihr deprimierendes Buch kann sie sich sonst wohin stecken. Im dritten Kapitel habe ich aufgehört zu lesen, dem Kapitel über die Wut. Ich hatte bisher noch keine Lust, weiterzulesen. Das merkt meine Tante, als sie das Buch auf der Seite öffnet, wo noch das Lesezeichen steckt.

Ich seufze möglichst unauffällig und setze mich auf mein Bett. Laura tut so, als schreibe sie etwas auf ihre Handfläche. Übersetzung: Sie will Bleistift und Papier. Natürlich!

»Ich kann von den Lippen ablesen«, erinnere ich sie und hoffe, dass meine Stimme nicht zu sehr zittert.

Sie nickt und setzt sich ans Fußende meines Betts, das Buch auf den Knien.

»Nimmst du heute Abend am Dankgebet teil?«

Ich zucke die Achseln. Laura weiß doch genau, wie ich mich fühle. Sie könnte begreifen, warum ich nicht darauf erpicht bin, dem Herrn zu danken.

»Ich bin sicher, es hat auch in deinem letzten Jahr schöne Momente gegeben, nicht?«

Ich zucke wieder die Achseln, während ich gleichzeitig nicke. Konversation ist definitiv nicht meine Stärke.

»Ich würde mich sehr freuen«, setzt sie nach.

Laura steht mit einem breiten Lächeln auf. Sie legt das Buch über die Trauer vor mich hin und klopft dreimal auf die Bettdecke. Ich weiß, sie möchte, dass ich bei diesem absurden Spiel mitmache, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, meine Taubheit zu akzeptieren. Das wäre für mich, als würde ich anerkennen, dass es für mich keine Chance mehr gibt, jemals wieder zu hören.

»Kommst du mit hinunter?«

»Gleich.«

Laura lächelt mich an und geht. Ich lese schnell das Kapitel von Moby Dick zu Ende, in dem ich mittendrin war, als ich unterbrochen wurde. Der Roman kann auf meinem Bett liegen bleiben, aber das Buch über die Trauer muss wieder zurück an seinen Platz im Regal, bevor ich hinuntergehe.

Ich zucke zusammen, als ich ein paar Finger auf meiner Schulter spüre. Ich drehe mich um und sehe Fred, der als Friedenszeichen die Hände hebt. Wie man es vor einem erschrockenen Tier tut. Das hasse ich am meisten am Taubsein: nie zu wissen, was sich außerhalb von meinem Gesichtsfeld tut. Verärgert weise ich auf das rote Licht, um ihm zu zeigen, dass er sich hätte anmelden können.

»Was wollte sie?«, will Fred wissen.

Ich brauche zehn Sekunden, um zu begreifen, dass er von Laura spricht. Und fünf weitere, um mich zu fragen, warum ihn das interessiert.

»Sie will, dass ich …«

»Sag’s laut!«, unterbricht er mich.

Ich seufze, diesmal überhaupt nicht unauffällig. Sosehr Jim es liebt, mit den Händen zu sprechen, so selten tut es Fred. Oh, er kann es, das ist nicht das Problem. Aber eines Tages hat Fred im Internet einen Artikel gelesen, dass viele Hörbehinderte die Gewandtheit zu sprechen verlieren und dass das ihre Beziehung zur übrigen Gesellschaft erschwert.

Mein Bruder will nicht, dass ich noch stärker isoliert werde, als ich es schon bin. Er verwendet immer die Stimme, wenn er mit mir spricht, damit ich meine Geschicklichkeit im Lippenlesen trainiere, und er verlangt, dass ich das ebenfalls tue, damit meine Stimmbänder aktiv bleiben. Das ist nett von ihm, aber auch sehr nervig.

Dennoch gebe ich jedes Mal nach.

»Sie will, dass ich am Dankgebet teilnehme.«

»Ich hab’s geahnt.«

Fred schüttelt den Kopf. Auch er liebt Laura, aber er teilt meine Abneigung gegen das Dankgebet. Er sagt, es sei wie ein Wettbewerb. Wer hat die coolsten Dinge erlebt, die größten Heldentaten vollbracht?

»Zur Not brauchst du Gott einfach nur zu danken, dass du einen so tollen Bruder hast«, meint er und zieht eine Schulter hoch.

»Du redest von Jim, oder?«

Fred tut so, als sei er beleidigt, aber ich weiß, er verkneift sich ein Grinsen.

»Gut. Ich halte dir trotzdem einen Platz neben mir frei«, sagt er. »Weil ich ein großes Herz habe.«

»Eher, weil du Angst hast, dass ich sonst auf deinen Teller spucke, bevor ich dir was drauftue!«

Er lacht. In diesem Augenblick wünschte ich, meine Ohren würden funktionieren. Und sei es auch nur für ein paar Sekunden.

Wir gehen ins Wohnzimmer hinunter, und ich sehe, die Verwandtschaft ist eingetroffen, ohne dass ich es gemerkt habe. Es fühlt sich seltsam an, wenn man bedenkt, dass mehr als ein Dutzend Leute im Haus ist, die alle zur gleichen Zeit reden, aber in meinem Kopf ist es so still, als ob ich allein auf der Welt wäre.

Fred gesellt sich zu meinen Cousins. Alle scheinen sich wohlzufühlen und unterhalten sich, mit dem Glas in der Hand. Ich spüre eine leichte Angst aufsteigen. Ich habe hier nichts zu suchen. Gleich werde ich so tun müssen, als würde ich ihre mitleidigen Blicke nicht bemerken, und versuchen, ungeschickte Gespräche zu führen.

Ich flüchte mich in die Küche. Als ich durchs Esszimmer gehe, sehe ich, dass Jim und Charlie sich beim Dekorieren des Tischs selbst übertroffen haben. Jim hat ein langes braunes Papier auf dem gelben Tischtuch platziert und darauf mit warmen Farben eine Herbstlandschaft gemalt. Das sieht toll aus. Außerdem steht auf jedem Platz ein Origami-Figürchen. Lauras Silber ist nichts gegen das künstlerische Geschick meines Bruders!

Ich finde Mama vor dem Backofen, beim Begießen des Truthahns. Ich hole die notwendigen Zutaten für meine raffinierten Häppchen zum Aperitif heraus. Im Grunde ist es nur ein wenig Kaninchenterrine auf einem Salzcracker, mit einer Geleeperle aus Eis-Cidre. Einfach und lecker. Meine Mutter garniert Tortilla-Schälchen mit einer Räucherlachsmousse, die wir vorher zubereitet haben. Perfekt angerichtet.

Als alles fertig ist, tragen wir die Platten ins Wohnzimmer. Meine Cousins stürzen sich auf die Rohkost. Hoffentlich haben sie inzwischen gelernt, dass man das Gemüse nicht in die Sauce tunkt, abschleckt und wieder reintunkt. Es wird Zeit, dass sie mit ihren fünf und sechs Jahren begreifen, wie eklig das ist.

Ich nehme mir einen Teller und packe von allem etwas darauf: Gemüsestäbchen, Terrine, Lachsmousse, Tomaten und Mozzarellahäppchen, Salami, Oliven etc.

Ich werfe einen Blick in die Runde. Meine Cousins und Cousinen schwatzen mit meinen Brüdern und Charlie. Mein Vater scheint in ein intensives Gespräch mit meinen Onkeln vertieft, und Mama serviert ihren Schwestern Getränke. Ich weiß nicht, wohin ich mich verdrücken soll. Jedenfalls habe ich echt keine Lust, mich an einer dieser Runden zu beteiligen.

Ich gehe also wieder in die Küche und rede mir ein, dass ich meine Suppe beaufsichtigen muss. Sogar den Truthahn begieße ich. Dann schneide ich das Baguette, verteile die Scheiben auf zwei Brotkörbe und trage sie zum Esszimmertisch.

Als ich an den Herd zurückkehre, schließt Fred sich an. Er sieht mir beim Umrühren zu und kneift die Augen zusammen.

»Versteckst du dich?«, fragt er.

Na, so was, er gebärdet! Er tut das sicher aus Rücksicht auf mich, damit niemand uns hören kann.

»Ein bisschen«, gebe ich zu. »Ich hasse dieses Fest!«

»Ich auch.«

»Was wirst du heute Abend sagen?«

»Ich weiß nicht. Ich hatte ein beschissenes Jahr …«

Ja, das kann man wohl sagen. In den letzten Monaten hat ihn seine Freundin verlassen, er hat sein Studium geschmissen, weil er sich nicht mehr sicher ist, was er werden will, und sein Job als Barkeeper gefällt ihm auch nicht mehr (außer, dass er Geld damit verdient). Wofür soll man sich in so einer Zeit bedanken?

»Wir könnten abhauen. Weglaufen. Wiederkommen, wenn alle fort sind.«

Er lächelt über meinen Vorschlag. Ich wünschte, wir hätten den Mut dazu.

»Und all die schönen Reden würden uns entgehen? Gilles Promotion, die Leistungen von Sophie, der Virtuosin …«

Meine Cousine Sophie spielt Klavier. Sie ist begabt. Sehr begabt. Sie ist eine Vorzeigeschülerin an der Musikhochschule von Québec, und an jedem Thanksgiving spielt sie uns ein Stück vor; danach wird sie von allen beklatscht und beglückwünscht. Da sie ständig irgendwelche Auszeichnungen bekommt, dankt sie Gott jedes Jahr dafür und bekommt wieder Beifall.

Als Kind habe ich sie gern spielen hören. Ich fand sie faszinierend. Heute sehe ich nur noch Hände, die mehr oder weniger wild auf dem Klavier herumfuhrwerken. Das ist viel weniger interessant.

Trotzdem ziehe ich den Hut vor ihr. Wenn all diese Blicke auf mich gerichtet wären … Bei dem bloßen Gedanken kriege ich Magenkrämpfe. Wenn ich dabei auch noch eine schwierige Melodie ohne einen falschen Ton spielen müsste, ich glaube, ich bekäme einen Herzschlag!

»Und was das Schlimmste wäre«, fährt Fred fort, »wir würden auch das Essen verpassen!«

Damit hat er recht. Da ich an den Vorbereitungen beteiligt war, bin ich sicher, dass alles köstlich sein wird!

»Weißt du«, fügt Fred hinzu, »ich bin überzeugt, es liegt noch viel Schönes vor uns.«

Ich hebe die Augen zur Decke und schüttle den Kopf, sein floskelhaftes Gerede beeindruckt mich überhaupt nicht.

»Im Ernst, Roxanne«, sagt er und hört auf zu gebärden. »Man kann nicht so lange unglücklich sein, es muss dafür einen Ausgleich geben.«

»Ich bin nicht unglücklich, ich bin wütend!«

Das stimmt! Traurige Leute weinen die ganze Zeit und denken, dass das Leben nicht mehr lebenswert ist. So bin ich nicht. Ich liebe das Leben, ich liebe die Menschen, ich möchte nur, dass es zu den Bildern auch einen Ton gibt!

Freds Blick wandert rasch nach links. Als hätte er hinter mir eine Erscheinung gesehen. Ich hasse es festzustellen, dass etwas hinter meinem Rücken geschieht. Wenn ich mich umdrehe, weiß ich nicht, was mich erwartet, weil ich keinerlei Hinweis habe. Ein Psychopath könnte mit einer Kettensäge ein Massaker anrichten, und ich wüsste es nicht. Das ist schaurig!

Aber es sind nur Laura und meine Mutter. Aus ihren Blicken zu schließen, müssen sie meine Worte gehört haben. Das ist der Nachteil, wenn man mit der Stimme spricht. Keinerlei Diskretion.

Laura tritt zu uns und setzt ein mitleidiges Gesicht auf, was mich das Schlimmste befürchten lässt.

»Weißt du, dass ich regelmäßig für dich bete?«

»Ja, das hast du mir bereits gesagt«, antworte ich laut. »Danke.«

Es rührt mich, dass sie für mich betet, aber was soll’s, ich glaube, meine Spiritualität hat sich gleichzeitig mit meinem Gehör aus dem Staub gemacht.

»Wenn sie mit ihrer Situation Frieden schließt«, fügt sie hinzu und sieht Fred an, »wird sie aufblühen. Willst du ihr das sagen?«

Ich kann von den Lippen ablesen! Ich habe es ihr gerade erst wieder gesagt, in meinem Zimmer! Und wir haben miteinander gesprochen! Es regt mich auf, wenn Leute Mitglieder meiner Familie als Dolmetscher benutzen, dabei mache ich den Job sehr gut selbst!

»Ist es das, worum du Ihn bittest, Gott, in deinen Gebeten? Dass ich aufblühe?«

Ich hoffe, ich schreie nicht. Ich bin wütend, okay, aber ich will keinen Skandal machen.

»Unter anderem«, antwortet meine Tante, offensichtlich gekränkt.

»Und wenn du Ihn stattdessen bitten würdest, mir das Gehör wiederzugeben?«

Das war’s endgültig mit der Diskretion. Das Gesicht meiner Tante fällt zusammen, und meine Mutter muss meinen Vater beruhigen, der hereingestürmt kommt. Mein Herz schlägt wie verrückt. Mist! Gleich fange ich an zu weinen.

Die Küche ist zu klein, ich ersticke. All diese auf mich gerichteten Augen machen mich nervös. Ich würde so gern die Gabe besitzen, mich unsichtbar zu machen!

Fred berührt meine Schulter, und ich zucke zusammen, als wären seine Finger glühend heiß und richteten Verbrennungen dritten Grades an. Er spricht mit mir, aber ich schaffe es nicht, meine Augen unter Kontrolle zu kriegen und mich auf seine Lippen zu konzentrieren. Hände beginnen in alle Richtungen zu fliegen, aber meine Sicht ist durch Tränen getrübt, ich erkenne nichts.

Ich schubse meine Eltern ein bisschen beiseite, um mir einen Weg aus der Küche zu bahnen, und renne die Treppe hinauf. Ich werfe meine Zimmertür zu und hocke mich davor, als könnte ich sie so panzern.

Schließ die Augen, Roxanne, konzentrier dich auf deinen Atem, denk an etwas Angenehmes. Das ist der Trick von Rachel, meiner ehemaligen Psychologin, um eine Panikattacke zu vermeiden. Es funktioniert … im Allgemeinen … meistens. Aber nicht, wenn jemand wild den Schalter für das Licht über meiner Tür betätigt.

»Lasst mich in Ruhe!«

Das Licht flammt ein letztes Mal auf. Nachricht erhalten. Ich stehe nur auf, um mich besser auf mein Bett werfen zu können. Ich rolle mich zusammen und lasse den Tränen freien Lauf.

Es ist nach zweiundzwanzig Uhr, als ich meine Mutter hereinlasse. Sie bringt mir einen Teller mit aufgewärmtem Essen. Truthahn, Füllung, Sauce und Gratin. Mhmmmm! Ich bin zu hungrig, ich habe keine Kraft mehr zu schmollen.

»Wie geht’s?«, fragt Mama, während ich bereits den zweiten Bissen hinunterschlinge.

Die Gebärdensprache hat den Vorteil, dass es nicht unhöflich ist, mit vollem Mund zu reden!

»Entschuldigung«, sage ich nur. »Ich hätte nicht so ausflippen sollen.«

»Mach dir keine Gedanken darüber. Laura hat gemerkt, dass ihr Verhalten unangemessen war.«

»Sie ist mir nicht böse? Und du auch nicht?«

Meine Mutter antwortet nicht gleich, sie fasst unser Gespräch gerade für meinen Vater zusammen, der dazugekommen ist. Er beruhigt mich.

»Niemand hätte das Recht, dir böse zu sein.«

Mein Vater ist immer der Erste, die anderen daran zu erinnern, dass sie überhaupt nicht wissen können, wie ich mich fühle, und meine Stimmungsschwankungen zu entschuldigen. Zu seinem Glück bin ich kein besonders schwieriger Teenager.

»Es hat Laura sehr leidgetan, dass sie dich verletzt hat«, fährt meine Mutter fort. »Sie hätte sich gern persönlich entschuldigt, aber …«

»Du hast sie nicht hereingelassen …«, beendet mein Vater den Satz.

Träume ich, oder hat er dabei ein wenig gelächelt?

»Sie hat dir etwas geschrieben«, gebärdet meine Mutter, bevor sie ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche zieht.

Ich schlucke den letzten Bissen Gratin runter, bevor ich die Nachricht entgegennehme. Laura hat nur einen einzigen Satz geschrieben: »Meine liebe Roxanne, ich werde auch weiterhin für dich beten, aber jetzt um etwas anderes.«

Es fehlte nur noch ein zwinkernder Smiley am Schluss. Dafür liebe ich Laura. Es gibt keine Probleme, nur Lösungen.

Alles gut.

Jim, Charlie und Fred stecken auch die Nasen zur Tür herein. Charlie reicht mir einen tiefen Teller mit Apfelkuchen, der in der selbst gemachten Karamellsauce meiner Mutter schwimmt. Wer hat behauptet, dass man kurz vor dem Schlafengehen nichts mehr essen soll?

»Wir wollten uns davon überzeugen, dass es dir gut geht«, gebärdet Jim.

»Mama hat nämlich vorhin verlangt, dass wir dich in Ruhe lassen sollen«, fügt Fred hinzu.

Das hat ihn sicher geärgert. Fred ist die erste Anlaufstelle für weinende Herzen. Ich wette, er ist trotzdem heraufgekommen, hat das Ohr an meine Tür gelegt, um herauszufinden, ob ich weine, hat einen Moment gezögert, aber als braver, gehorsamer Sohn ist er wieder runtergegangen.

Ich lächle nur und hebe die rechte Hand, Daumen, Zeigefinger und kleinen Finger ausgestreckt. In der Gebärdensprache drückt man das Verb »lieben« aus, indem man die Hand auf die Brust legt. In meiner Familie hat man die »Rock-Hand« gewählt, um diese zarte Botschaft zu überbringen. Wie die Musikfans während eines Konzerts.

Der kleine Finger stellt das I dar, Daumen und Zeigefinger bilden das L, und aus Daumen und kleinem Finger wird das Y. I-L-Y. Abkürzung für »I love you«. Das ist zwar englisch, aber die Liebe ist doch universell, oder?

Mein Vater antwortet prompt, kein Wunder, er hat diese Art, sich auszudrücken, als Erster angewendet. Dann meine Mutter, dann meine Brüder und, ein wenig zaghafter, Charlie.

Wenn ich uns so ansehe, alle mit erhobenen Händen um mein Bett versammelt, komme ich mir vor wie in Die Tribute von Panem. Unser »Ich liebe dich« ist eine Variante des Drei-Finger-Zeichens, mit dem die anderen Figuren Katniss ihre Unterstützung zeigen.

Ich finde uns cool.

Dafür will ich dem Herrn gern danken.

KAPITEL 2

Als mein ödes Leben ein bisschen weniger öde wird

Ich wache auf vom Vibrieren in meinem Kopfkissen. Mein tägliches kleines Erdbeben. Für Hörbehinderte der neueste technologische Fortschritt in Sachen Wecker, wenn man dem Verkäufer glaubt. Ich finde das abscheulich, aber es ist auch nicht so, dass ich zwei Dutzend Wahlmöglichkeiten hätte.

Meine Brüder behaupten, das Geräusch normaler Wecker sei schlimmer, aber ich weiß, es gibt welche, die uns mit Vogelgezwitscher oder Wellenrauschen aus dem Schlaf holen. Jedenfalls bin ich morgens nie richtig guter Laune. Was jedoch vor allem ein Charakterzug von mir ist, so war ich auch schon, bevor ich taub wurde.

Glücklicherweise sind die Ansprüche meiner Familie an morgendlichen Gedankenaustausch nicht sehr ausgeprägt. Mein Vater und Fred kommunizieren, bevor der erste Schluck Kaffee im Magen gelandet ist, nur durch Kopfnicken und Kopfschütteln, und meine Mutter ist zu aktiv, als dass sie sich um unsere mangelnde Aktivität am Morgen kümmern könnte. Nur Jim verfügt glücklicherweise über eine immerwährende und unzerstörbare Lebensfreude.

Er ist es übrigens, der mir eine große Tasse reicht, wenn ich in die Küche komme. Eilig fülle ich sie, halb mit Kaffee, halb mit Milch. Ich weiß, dass viele Kaffeetrinker jetzt ein Gesicht ziehen, aber ich kann ihn nicht ohne Milch trinken. Und ich will Kaffee trinken.

Es ist wahr, wenn man einen der Sinne verliert, werden andere schärfer. Ich bin viel aufmerksamer für Geruch und Geschmack, seit mein Gehirn meine Ohren auf off geschaltet hat. Der Kaffee, finde ich, riecht nach Glück. Nur der Geschmack gefällt mir nicht richtig. Wie den meisten geht es mir vor allem um die Wirkung.

Allerdings entwickelt sich das Geschmacksempfinden auch, und ich trinke erst seit ein paar Monaten Kaffee. Meine Mutter war eigentlich nicht dafür: Sie findet, sechzehn sei zu früh, um vom Koffein abhängig zu werden. Ich habe sie überzeugt, indem ich ihr erklärt habe, dass ich mir auch in der Schulcafeteria oder bei Tim Hortons um die Ecke für wenig Geld einen besorgen könnte. Es kommt einfach der Moment im Leben, an dem es für Eltern beinahe unmöglich ist, ihren Kindern das, was sie machen wollen, zu verbieten.

Ich nehme mir zwei Toasts. Einen mit Erdnussbutter, wegen der Proteine, den anderen mit Nutella, zum Vergnügen. Sobald ich aufgegessen habe, stelle ich meinen Teller und meine Tasse in die Spülmaschine und gehe hinauf, um mich fertig zu machen.

Heute fühle ich mich schlapp. Ich ziehe also meine alte, abgetragene Lieblingsjeans an, ein Oberteil und meinen schwarzen gestrickten Schal. Ich schminke mich nicht einmal. Es ist ja nicht so, dass ich unter hundert anderen Mädchen hervorstechen müsste, um den Märchenprinzen der Schule zu verführen. Diesen Traum habe ich schon lange begraben.

Ich gehe ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen. Der Geruch nach Kaffee ist herrlich, der Mundgeruch danach weniger. Da steht meine Mutter und zieht sich einen Eyeliner. Ich lächle ihr zu, und sie rückt ein wenig zur Seite, um mir vor dem Waschbecken Platz zu machen.

Als sie ihr Werk vollendet hat, dreht sie sich zu mir um und hält mir, den Eyeliner immer noch in der Hand, ihre kleine Morgenrede.

»Ich hab dir ein paar Reste von gestern in die Lunchbox gepackt. Zum Abendessen mache ich Pizza. Hab einen schönen Tag. Ich liebe dich!«

Wenn ich an einem Aufmerksamkeitsdefizit leiden würde, könnte ich mich nicht oft mit ihr unterhalten. Ich muss jedes Mal den Gegenstand ausblenden, den sie durch die Luft schwenkt, um mich auf ihre Botschaft zu konzentrieren.

Außerdem hat sie all das in Rekordzeit gebärdet. In den Kursen zur Gebärdensprache war meine Mutter eine Musterschülerin. Sie lernte schneller als ich. Was soll’s, ich habe inzwischen große Fortschritte gemacht, es blieb mir ja nichts anderes übrig. Jetzt bin ich ihr überlegen, aber sie ist nach wie vor sehr gut.

Ich spucke zweimal ins Waschbecken und wische mir den Mund ab. Ich könnte meiner Mutter antworten, dass der Freitag immer ein guter Tag ist, dass ich ihre Pizza mag und sie ebenfalls liebe, aber ich begnüge mich damit, sie auf die Wange zu küssen. Bestimmte einfache Gesten brauchen weniger Energie und drücken genauso viel Gefühl aus, wenn nicht mehr.

Ich hole meine Tasche aus meinem Zimmer und eile aus dem Haus. Um in die Schule zu kommen, muss ich die öffentlichen Verkehrsmittel nehmen. Eine Stunde im Bus jeden Morgen und jeden Abend. Es stört mich nicht besonders, ich nutze die Zeit zum Lesen. Das ist die Welt, in die ich mich geflüchtet habe, als ich taub geworden bin. Eigentlich müsste ich »die Welten« sagen, denn es kommt vor, dass ich mehrere Bücher gleichzeitig lese.

Eine Stunde (und rund hundert Seiten) später steige ich aus dem Bus. Ich stopfe das Buch in meine Tasche und merke plötzlich, dass das grüne Heft fehlt. Mein grünes Heft, in dem das Einschreibungsformular zu den Kursen in Verhaltenstraining für Hörgeschädigte steckt. Mist! Hoffentlich habe ich es nicht zu Hause vergessen! Obwohl, vielleicht habe ich es gestern in meinem Spind gelassen. Das wäre logisch, es war bereits ausgefüllt und von meinem Vater unterschrieben.

Ich lege trotzdem einen Schritt zu. Wenn es nicht da ist, habe ich vielleicht noch genügend Zeit, einen meiner Brüder zu erreichen und ihn zu bitten, dass er einen Umweg macht und es mir mitbringt. Na toll, der Tag fängt schon ganz schön stressig an!

An der Kreuzung vor der Schule muss ich stehen bleiben, bis die Ampel umspringt. Die Fußgängerampel vor mir ist rot. Ich schaue schnell nach links und rechts, kein Auto in Sicht. Ich überhole also den anderen Fußgänger vor mir mit seinem großen Blindenhund und trete auf die Straße. Jede Minute zählt.

Beim zweiten Schritt taucht etwas am Rand meines Gesichtsfeldes auf. Alle meine Muskeln verkrampfen sich, und in Erwartung des Aufpralls krümme ich mich zusammen. Aber der Wagen, der aus dem Nichts aufgetaucht ist, bleibt abrupt stehen und streift mich nicht einmal.

Mein Herz klopft mit hundert Stundenkilometern! Mein Gott! Ich dachte, das war’s, gleich werde ich sterben, überfahren von … von einem BMW. Der Fahrer steigt aus. Ich will ihm ein Zeichen machen, dass es mir gut geht, da bemerke ich sein erbostes Aussehen. Ich hatte Entschuldigungen erwartet, seine Befürchtung, er habe mich verletzt. Aber nicht einen wütenden Affen, der mit jeder Geste seinen unangemessenen Zorn verrät.

Ich sehe, dass er schreit, sein Gesicht ist ganz rot, aber ich kann mich nicht auf seine Lippen konzentrieren. Zum einen, weil er mir etwas zu nahe kommt und ich Angst habe, dass er mich mit einer seiner fuchtelnden Hände trifft. Zum anderen, weil ich aus dem Augenwinkel bemerke, dass der Hund auf dem Bürgersteig nervös geworden ist und an der Leine zerrt. Sein Herrchen (ich kenne ihn flüchtig, es ist ein Blinder aus dem Behindertenzentrum) scheint genauso fassungslos wie ich. Mein Gott! So ein Schlamassel!

Dann kommt ein anderer Mann. Groß, stämmig. Ich kenne ihn, es ist der neue Psychologe aus dem Zentrum, William … soundso. Er wendet sich zuerst zu mir. Instinktiv hefte ich den Blick auf seine Lippen.

»Alles okay? Bist du verletzt?«, fragt er.

Zwei Fragen, zwei verschiedene Antworten. In dieser Situation muss ich mit der Stimme sprechen.

»Alles in Ordnung.«

William macht einen Schritt auf den BMW-Fahrer zu. Offenbar wirkt er bedrohlich, denn der Fahrer weicht zurück. Natürlich höre ich nichts, und im Eifer des Gefechts ist es mir nicht möglich, irgendetwas von den Lippen des einen oder des anderen abzulesen. Ich versuche, wenigstens ihre Gesten zu verstehen. Ich entwickle ein Szenario.

Der Psychologe hebt die Hand in die Richtung der Verkehrsampel, vielleicht ein wenig weiter nach rechts, wo ein Schild steht, das besagt, dass das Rechtsabbiegen bei Rot zwischen sieben und zweiundzwanzig Uhr verboten ist. Dann zeigt er auf die Schule genau vor uns, auf der anderen Straßenseite. Und schließlich auf die beiden, Herr und Hund, auf dem Bürgersteig.

Übersetzung: Hast du nicht kapiert, du Vollpfosten, dass es an dieser Kreuzung verboten ist, bei Rot rechts abzubiegen, weil wir uns vor einer besonderen pädagogischen Einrichtung von Québec befinden, einer Schule, die ausschließlich von Behinderten besucht wird?

Gut, ich weiß nicht, ob William den anderen wirklich einen Vollpfosten genannt hat, aber es wäre mir sehr recht. Statt einer Antwort hebt der Fahrer die Arme in meine Richtung, als wolle er sagen: »Siehst du? Ihr fehlt nichts, alles in Ordnung.«

Ich würde ihm gern den Stinkefinger zeigen, aber ich halte mich zurück. Wenn man taub ist, kann man sich niemals sicher sein, was die anderen in dem Moment sagen. Und wenn er gerade zugeben wollte, dass er im Unrecht war?

Der Psychologe kommt wieder zu mir und hebt meine Tasche auf. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich sie fallen gelassen habe. Er reicht sie mir, und ich sehe, wie seine Hand vor dem großen leuchtrosa Button mit der Aufschrift »Ich bin taub« zögert. Ich habe ihn im Zentrum gekauft. Sie werden von Schülern angefertigt, und es gibt sie für jede Art von Behinderung. Ich trage ihn manchmal im Autobus oder im Shoppingcenter, weil ich da mit Leuten zu tun habe, mit denen ich mich nur schwer verständigen kann (oder die denken, ich bin hochnäsig, weil ich ihnen nicht antworte).

»Bist du verletzt?«, fragt William noch einmal, diesmal in Gebärdensprache.

Ich schüttle den Kopf von links nach rechts. In der Gebärdensprache muss man, um Nein zu sagen, zweimal mit dem Zeige- und Mittelfinger gegen den Daumen schlagen. Ein bisschen, als wollte man einen Entenschnabel imitieren. Aber warum so kompliziert, wenn doch ein einfaches Kopfschütteln von der großen Mehrheit der Weltbevölkerung verstanden wird?

Der BMW-Fahrer hat die Ablenkung genutzt, um wieder in sein Auto zu steigen, und ist im Begriff, sich davonmachen. William will dazwischengehen, aber diesmal ist er es, der beinahe überfahren wird. Endlich erlaube ich mir, den Stinkefinger zu zeigen. Und ich hoffe, dass der Fahrer in den Rückspiegel schaut!

William legt mir die Hand auf die Schulter und fordert mich auf, die Straße zu überqueren. Wie ein echter Ritter. Er ermuntert den Blindenhund und sein Herrchen, das Gleiche zu tun.

Bei seinem Wagen bleibt er stehen, die Autotür steht offen. Das zeigt, dass er mir zu Hilfe geeilt ist, ohne zu zögern. Er hält sich wohl für eine Art Filmhelden, oder was? Aus dem Handschuhfach nimmt er Bleistift und Papier und schreibt die Nummer des BMW auf. Wow! Er hat ein schnelles Reaktionsvermögen und ein gutes Gedächtnis.

»Falls du ihn verklagen willst«, sagt er und gibt mir das Papier.

Ich habe nicht die Absicht. Tatsächlich ist keine Straftat begangen worden. Nicht gegen mich, meine ich. Ich glaube nicht, dass man berechtigt ist, Anklage gegen jemanden zu erheben, nur weil er einem Angst eingejagt hat. Und wenn der Fahrer im Unrecht war, weil er bei Rot rechts abgebogen ist, war ich es ebenfalls, weil ich die Straße überquert habe, ohne auf das Fußgängerzeichen zu warten. Wir sind alle beide im Unrecht. Also vergessen wir die Sache lieber.

Dennoch danke ich meinem guten Samariter; ohne ihn, da bin ich mir sicher, wäre ich mitten auf der Straße in Tränen ausgebrochen. Man hätte eine Lehrperson rufen müssen, damit sie mich ins Behindertenzentrum bringt, meine Eltern wären verständigt worden, und alle Schüler hätten von meinem Missgeschick erfahren. Einem Mädchen, das es hasst, Aufmerksamkeit zu erregen, ist das Schlimmste erspart geblieben!

Ich sehe dem Psychologen zu, wie er wieder in seinen Wagen steigt und auf den Personalparkplatz fährt, dann schlage ich den Weg ein, der direkt zum Haupteingang führt. Im Zentrum wimmelt es wie gewöhnlich von Leuten, niemand beachtet mich. Perfekt. Außerdem ist der einzige Zeuge meines Beinahe-Unfalls sehbehindert, ich brauche mir also keine Sorgen zu machen!

Ich gehe zu meinem Spind, um mein Mathebuch zu holen, und stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich auf der Ablage mein grünes Heft leuchten sehe. Es kommt mir ganz schön lächerlich vor, dass ich um ein Haar in eine Katastrophe geraten wäre, nur um mich in einen Kurs für Verhaltenstraining einzuschreiben …

Etwa eine halbe Stunde nach meiner Ankunft in der Klasse ist der Adrenalinstoß wieder abgeklungen. So lange war ich unfähig, mich zu konzentrieren. Ein echter Zombie. Allerdings ohne Appetit auf Menschenhirn.

Ich bin immer noch etwas neben der Spur, als ich Jacob in der Cafeteria treffe.

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja, nur ein bisschen müde.«

Offensichtlich glaubt er mir nicht so ganz, aber er hakt nicht nach. Ich habe keine Lust, von dem Vorfall heute Morgen zu erzählen. Ich habe den Eindruck, unser Leben hier ist so öde, dass aus dem kleinsten Vorfall eine Sensation wird. Ja, okay, ich denke mehr an Lucie als an Jacob, wenn ich das sage. Wäre sie an meiner Stelle, würde sie jedem erzählen, dass sie dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen ist, würde wahrscheinlich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln und sich bestimmt in ihren Retter verlieben!

Jacob ist hörbehindert seit seiner Geburt, aber nur sehr leicht. Er hat eine Krankheit, die das Gehör in Mitleidenschaft zieht. Im Laufe der Jahre hat er immer mehr von seiner Hörfähigkeit eingebüßt und muss jetzt ein Hörgerät tragen. Er ist erst in diesem Jahr ins Behindertenzentrum gekommen. Davor ging er auf eine normale Highschool. Er hatte Anspruch auf alle möglichen Hilfsmittel; seine Lehrer trugen ein Mikrofon und er Kopfhörer. Kurz vor dem Ende des Schuljahrs hatte er sich irgendein schlimmes Virus eingefangen, wurde krank und dadurch fast vollständig taub. Da er ein guter Schüler ist, konnte er die Prüfungen am Ende des Schuljahrs trotzdem an seiner Schule ablegen, aber er durfte nicht mehr dorthin zurückkehren. Die Hilfsmittel reichten nicht mehr aus.

So kam er ins Zentrum, und Lucie und ich haben ihn sofort adoptiert. Allerdings wird er nicht bis zum Ende des Jahres bleiben. Jacob wird bald operiert werden und bekommt ein Hörimplantat. Ich bin sicher, danach wird er wieder an seine alte Schule zurückgehen. Das würde ich jedenfalls tun. Ich wäre zu allem bereit, um wieder ein normales Leben führen zu können.

»Ich mache eine Halloween-Party, du kommst doch? Zusammen mit Lucie?«, fragt Jacob.

»Wahrscheinlich.«

Ehrlich gesagt reizt mich das überhaupt nicht. Wirklich nicht. Ich fände es zwar cool, aber es macht mir zu viel Angst. Ich weiß, dass Jacob seine alten Schulkameraden von der Highschool noch oft trifft und dass sie ebenfalls da sein werden. Lucie und ich passen nicht zu seinem Freundeskreis. Jacob ist viel besser im Lippenlesen als ich, und seine Taubheit scheint ihn kaum zu beeinträchtigen. Vielleicht, weil er sich viele Jahre lang darauf vorbereiten konnte.

»Sag Ja! Ich möchte wirklich, dass du dabei bist!«

In diesem Augenblick kommt Lucie und setzt sich neben mich.

»Wo dabei?«, will sie wissen.

Der Nachteil von Gesprächen zwischen Hörbehinderten ist, dass sie auch aus der Entfernung von jedem x-Beliebigen verfolgt werden können, der die Gebärdensprache versteht. Finger können nicht flüstern …

»Bei meiner Halloween-Party! Du bist selbstverständlich auch eingeladen!«

»Natürlich sind wir dabei!«, versichert Lucie, mit übertriebener Begeisterung an mich gewandt.

Ich begnüge mich mit einem Lächeln. Ich kann ja meine Freundin nicht allein dort hingehen lassen.

Lucie ist von Geburt an hörbehindert, erblich bedingt. Sie ist seit der Eröffnung des Behindertenzentrums hier, das heißt seit zehn Jahren. Ihre schulischen Leistungen sind nicht besonders gut. Ich sage das echt nicht gern, aber sie ist nicht besonders fleißig. Lernen ist für sie offensichtlich nicht das Wichtigste. Aber sie ist gut gelaunt, lustig und wahnsinnig nett. Vor allem ist sie meine einzige echte Freundin. Deshalb verzeihe ich ihr auch viele ihrer seltsamen Reaktionen und Gedanken.

»Wisst ihr schon, dass ein Mädchen heute früh beinahe getötet worden wäre?«, legt Lucie los. »Direkt vor dem Zentrum! Bei einem Autounfall! Der Typ mit dem großen Hund Mira war dabei, er hat alles gesehen!«

Das würde mich wundern. Was habe ich über Vorfälle gesagt, die zu Sensationen werden? Das Auto hat mich nicht einmal berührt! Und Lucie behauptet, ich wäre beinahe getötet worden! Das ist lächerlich. Aber sie nutzt jede Gelegenheit, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn der Beinaheunfall heute Morgen ihr passiert wäre, würde sie uns noch wochenlang jeden Tag davon erzählen.

»Ich weiß«, stimmt Jacob zu, »zwei Typen in meiner naturwissenschaftlichen Arbeitsgruppe haben darüber gesprochen. Sie versuchen herauszufinden, wer dieses Mädchen ist.«