Oase Neukölln - Fabian Friedmann - E-Book

Oase Neukölln E-Book

Fabian Friedmann

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Beschreibung

In 15 zusammenhängenden Geschichten entwickelt sich ein Kriminalfall, dessen Zentrum ein Drogen dealender Neuköllner Spätkauf ist. Aus der Perspektive des Obdachlosen, des Sozialarbeiters, der Prostituierten, des Polizisten und zahlreichen weiteren Akteuren beschreibt Fabian Friedmann den Kampf um die Vormachtstellung im Kiez.

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Fabian Friedmann

 

OASE NEUKÖLLN

ein Roman in 15 Geschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

"Kein Mensch besitzt so viel Festigkeit, dass man ihm die absolute Macht zubilligen könnte."

(Albert Camus)

Oase Neukölln

15 Geschichten

 

Trozi-Markt
Rudower Jungs
Basement
Café Svoboda
Burgerpromenade
Elsensteg
Lessinghöhe
Weichselplatz
Ophelia
Seelenbinder
Khalid
Kartbahnmädchen
Oase zur Sonne
Rahat
Hermann-Eck

 

Danksagung

 

 

Hinweis

Diese Geschichte beruht teilweise auf wahren Begebenheiten, Erlebnissen und Geschehnissen und spielt vereinzelt an realen, öffentlichen Orten. Nichtsdestotrotz sind alle Figuren und Protagonisten des vorliegenden Romans fiktiv und entstammen vollkommen der Fantasie und den Überlegungen des Autors. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und deren Handlungen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

TROZI-MARKT

 

Der Zettel vom Paketdienst lag schon fünf Tage im Briefkasten. Es war die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr, in der eigentlich niemand wirklich ernsthaft arbeitete, außer die unterbezahlten Zusteller der Paketdienste und freie Journalisten wie ich.

Vielleicht wäre ich an besagtem Tag vor Heiligabend sogar zu Hause gewesen, aber der Paketmann hatte wohl Besseres zu tun, als das üppige Paket meiner Mutter in den vierten Stock zu wuchten.

So wurde ein gelber Zettel als Wurfsendung verfasst, der besagte, dass Mutters Geschenk in einer der unzähligen Paketauffangläden Neuköllns zu finden sei. „Trozi-Markt Flughafen Str“ stand da. Keine Hausnummer, kein Name, keine Öffnungszeiten. „Trozi-Markt Flughafen Str.“ Das war’s. Das hieß in etwa: Helfen Sie sich selbst!

Hätte man den Paketmann ob der etwas spärlichen Informationsangabe zur Rede gestellt, hätte der wohl lapidar geantwortet: „Wieso? Gibt doch Internet.“

Nach kurzer Suchmaschinen-Recherche ließ sich ein Trozi-Markt in der Neuköllner Flughafenstraße lokalisieren. Ich wohnte zwar selbst in der Flughafenstraße und das schon seit zwei Jahren, aber einen Trozi-Markt hatte ich bislang nicht bemerkt.

Da es Freitag war und die anstehende Arbeit im heimischen Büro durchaus aufgeschoben werden konnte, begab ich mich, mit Vorfreude auf Mutters Butterplätzchen ausgestattet, auf den Weg zu besagtem Markt, was immer für Produkte dort angeboten wurden.

Von meiner Wohnung an der Ecke Reuterstraße lief ich zunächst an einer Spielhalle vorbei, einem Spätkauf, einem Holzkohle-Grill-Imbiss, einem Secondhandladen, zahlreichen Trödelläden und einem Atelier, vor dem eine ältere Dame auf einem Stuhl saß, die ihre faltige und bunt geschminkte Haut in die Wintersonne hielt.

Schließlich erreichte ich die Dar-Assalam-Moschee und einige Häuser weiter auf der gegenüberliegenden Seite fand ich endlich das, wonach ich gesucht hatte: Trozi-Markt. Zumindest stand es auf dem Schild über der kleinen Ladenzeile. Der Rollladen des Schaufensters war unten, die Tür verschlossen und kein Licht drang aus dem Ladeninneren nach draußen. Freitagnachmittag war offenbar nicht die Haupteinkaufszeit für die Stammkundschaft des Trozi-Marktes.

Vorsichtig klopfte ich an der Scheibe des Ladens.

Nach kurzem Warten kam ein kleiner, untersetzter Mann Richtung Tür gewackelt, schloss sie auf und streckte mir seine rote Blumenkohlnase entgegen.

„Ja, bitte?“

„Hallo. Bei Ihnen wurde wohl ein Paket für mich abgegeben.“

Dabei hielt ich ihm meinen Paketschein unter seine Nase.

„Ah ja. Kommen Sie, kommen Sie“, sagte der Mann mit einem Akzent, den ich nicht zuordnen konnte.

Er lief schnellen Schrittes in den Laden, knipste das Licht an und stellte sich hinter den Tresen.

Im Laden gab es Wurstwaren, Konserven, Poster, T-Shirts und Platten von Schlagerstars, deren Namen ich zuvor noch nie gehört hatte: Nena Breda, Seka Aleksimovic und Svetlana Selarovic alias Sela. Letztere trug ein goldenes Kleid und hatte bei ihrer Oberweite sichtbar nachgeholfen, was sie zu einer Art Balkan-Dolly-Buster machte, wobei die Lippen nicht ganz so aufgespritzt wirkten. Jedenfalls sah sie so aus, als wäre sie eine sehr gute Kundin eines plastischen Chirurgen gewesen.

Während ich die Auslagen studierte, wühlte der kleine Besitzer mit der roten Blumenkohlnase unter seinem Tresen und schrie dann Richtung Nachbarraum irgendetwas in einer osteuropäischen Sprache, ehe er sich mir zuwandte.

„Womit kann ich helfen?“, fragte er überfreundlich.

Etwas genervt erwiderte ich: „Wie bereits erwähnt, Sie haben ein Paket von mir angenommen.“ Dabei zeigte ich auf meinen Paketschein.

„Einen Moment, bitte“, sagte der Mann und verschwand mit meinem Zettel nach nebenan.

Es dauerte lange, bis er wieder zurückkam, wobei er ein zusammengekniffenes Lächeln auf seinem Gesicht sitzen hatte.

Freundlich sagte er: „Bitte, kommen Sie. Ich kann Paket gerade nicht finden. Vielleicht können Sie helfen?“

Wortlos ging ich mit dem Mann in einen kleinen Flur hinter dem Verkaufsraum, der zu einer gelb gefliesten Küche mit angrenzender Speisekammer führte. Statt Lebensmittel lagerten dort zahlreiche Pakete. Schätzungsweise um die hundert.

„Bitte, wenn Sie schauen könnten?“

„Ja … okay“, entgegnete ich zögernd und fing irgendwann an, mich durch die Zustellungen zu wühlen.

Offenbar hatte sich der Trozi-Markt auf die Annahme von Paketen spezialisiert, was den DHL-Mann wohl dazu veranlasste, seine Lieferungen direkt hier abzuladen. Zumindest vermutete ich das.

Die Suche gestaltete sich schwierig. Der Raum war staubig und schlecht beleuchtet. Ich konzentrierte mich vor allem auf die größeren Pakete, da Mutter gerne üppig verschickte.

Während ich herumwühlte und die Adressaten studierte, verschwand der Trozi-Markt-Besitzer nach nebenan, wo er ein Gespräch mit einem anderen Mann führte, der dort, dem Geruch nach zu urteilen, etwas kochte. Es roch nach fettiger Wurst, fettigem Gemüse und irgendwas fettigem Anderen.

Durch meine Suchaktion war die Luft in der Kammer mittlerweile komplett staubig.

Ich musste niesen.

„Alles in Ordnung?“, fragte eine Stimme aus der Küche.

„Ja ja“, antwortete ich.

Ich fand mein Paket nicht, und fragte mich, ob es denn überhaupt hier sei. Aber auf dem Zettel stand ja „Trozi-Markt“, also musste es sich wohl hier befinden.

Meine Hände hatten sich inzwischen grau verfärbt von dem Dreck und dem Staub, der sich auf den Paketen festgesetzt hatte.

Langsam wurde ich ungeduldig.

Ich überprüfte Namen, legte Pakete zur Seite, begann Stapel zu machen, um mich in den hinteren Teil der Abstellkammer durchzuarbeiten, weil ich dort meine Sendung vermutete. Immerhin musste sie schon ein paar Tage hier gelegen haben.

„Alles in Ordnung?“, schallte es abermals aus der Küche.

Vielleicht war dies ein Hilfsangebot.

Ich ging nach nebenan.

Dort traf ich wieder auf den kleinen Mann mit der Blumenkohlnase, der am Tisch saß und aus einer Kaffeetasse trank. Am Herd stand ein groß gewachsener tätowierter Mann mit Stiernacken. Er briet gerade etwas in einer Pfanne und beachtete mich nicht weiter.

„Na, haben Sie Ihr Paket gefunden?“, fragte er.

„Noch nicht. Das Paket kam vor fünf Tagen hier an. Ich war nicht zu Hause.“

„Aha“, warf der Mann ein.

Ich guckte ihn fragend an.

„Dann liegt das wohl ganz hinten“, meinte er.

„Habe ich mir gedacht“, antwortete ich.

„Das kann etwas dauern. Setzen Sie sich doch.“ Dann erkundigte er sich: „Wollen Sie einen Kaffee?“

Ich zögerte.

Planmäßig wollte ich so schnell wie möglich das Paket finden und wieder zurück in meine Wohnung gehen. Dort warteten eine Buchrezension und ein Bericht über das Neuköllner Nachtleben für eine auflagenschwache Berliner Tageszeitung auf mich. Beides wollte ich auf jeden Fall bis heute Abend fertig geschrieben haben, damit mich am Silvesterwochenende keine weitere Arbeit plagte.

„Setzen Sie sich. Zeljko hier macht Ihnen Kaffee.“

„Klar. Kein Problem“, sagte Zeljko und drehte dabei leicht den Kopf in meine Richtung.

„Setzen Sie sich“, forderte der kleine Mann mich erneut auf und als ich tat wie befohlen, sagte er: „Ich heiße Trozi.“

„Hagedorn. Freut mich“, entgegnete ich.

Zeljko goss tiefschwarzen Kaffee in eine riesige Kaffeetasse und reichte sie mir.

„Milch, Zucker?“, fragte er.

„Ich trinke ihn schwarz. Danke.“

„Schon gut“, sagte er und widmete sich wieder der Zubereitung seines fettigen Essens.

„Zeljko und ich machen gerade Mittagessen. Es gibt Cevapcici mit Ajvar und Raznjici. Er kann das gut.“

„Das glaube ich gern“, sagte ich höflich und blickte dabei den kahlköpfigen Zeljko an, der den Anschein machte, als sollte man sich besser nicht mit ihm anlegen.

Er trug eine Armeehose und hatte seine Unterarme mit bedrohlich anstößigen Tattoos bemalen lassen. Er brachte geschätzte 100 Kilo auf die Waage. Sein Kopf war kahl rasiert und von seiner linken Backe reichte bis zur Schläfe eine lange Narbe. Kurzum: Zeljko sah zum Fürchten aus.

„Wollen Sie auch?“

„Äh. Ich glaube, ich muss mich wieder um mein Paket kümmern. Aber danke fürs Angebot und für den Kaffee.“

Ich verschwand wieder im Paketraum und suchte weiter.

Es dauerte etwa weitere zehn Minuten, bis ich mich ans Ende des Raumes vorgearbeitet hatte. Von meinem Paket weiterhin keine Spur. Hansen, Hebisch, Henkel, Hirsch … alle waren sie da. Nur weit und breit kein Hagedorn. Ich stand kurz davor aufzugeben.

Was ich mich außerdem fragte: Wieso kam bei so vielen Paketen kein anderer mutmaßlicher Besitzer hier vorbei und wollte sein Paket abholen? Bei der Anzahl der Päckchen müsste es hier vor DHL-Kunden nur so wimmeln, doch war ich der Einzige an diesem Freitagnachmittag nach Weihnachten.

Ich ging wieder in die Küche.

Zeljko richtete das fettige Essen gerade an – auf drei Tellern.

Ich sah Trozi an.

Ganz beiläufig und ohne aufzublicken, sagte er: „Sie brauchen noch ein bisschen? Kein Problem. Essen Sie mit uns!“

Das Essen sah ganz okay aus und ich dachte, dass ich jetzt einen kleinen Imbiss vertragen könnte, weshalb ich sein Angebot annahm.

Es schmeckte ausgezeichnet.

Zeljko war offenbar ein Meister seines Fachs. Und als ich die Cevapcici in mich hineinschaufelte, bemerkte ich erst, wie viel Hunger ich hatte.

Herr Trozi lächelte. Er sah, wie es mir schmeckte.

„Er macht gutes Essen, nicht?“

„Ja. Sehr gut“, bemerkte ich, wobei der 100-Kilo-Serbe keine Miene verzog.

Trozi sagte zu Zeljko: „Setz dich zu uns“, und der Hüne tat, wie ihm befohlen.

„Kommen Sie aus Neukölln?“, fragte mich Trozi.

„Ja. Also nicht direkt, ich bin zugezogen, vor zwei Jahren.“

„Ah“, rief Trozi. „Und wie gefällt es Ihnen hier?“

„Gut. Ich mag die Ecke“, wobei mir nicht ganz klar war, in welche Richtung das Gespräch an dieser Stelle gehen würde. Ich sollte es schnell herausfinden.

„Ich mag es auch hier. Aber mein Freund Zeljko nicht so. Er mag die Moslems hier nicht. Stimmt’s, Zeljko?“

Dieser nickte beiläufig, während er weiter sein Essen in sich hineinschlang.

„Warum magst du die Moslems nicht, Zeljko?“

Nachdenklich sagte er: „Ich habe gegen sie gekämpft. In Serbien und Bosnien.“

„Und dort haben Sie auch so gut kochen gelernt?“, fragte ich, um schnell das Thema zu wechseln, weil ich hoffte, dass mir damit Schilderungen vom Krieg erspart blieben. Doch da täuschte ich mich.

„Ich war Tschetnik. Scharfschütze in Bosnien. Einige Moslems ausgeschaltet.“ Dabei lächelte Zeljko, in einer Art, als würde er an etwas Romantisches aus seiner Vergangenheit denken. Trozi tat es ihm gleich.

Ich erschauderte.

„Schwierige Zeiten damals …“, sagte Trozi. „Aber einer musste es ja tun. Ihr Deutschen wisst das ja.“

„Äh. Nicht ganz. Aber ich hörte von den schwierigen Zeiten auf dem Balkan. Nach Tito wurde es etwas … unübersichtlich“, schwatzte ich wie ein Geschichtslehrer, mich fast verschluckend, während sich Unbehagen in mir breitmachte.

Dann stellte ich den Teller zur Seite.

Ich sagte: „Danke fürs Essen. Ich suche jetzt weiter nach meinem Paket“, und wollte aufstehen.

Doch Zeljko griff mir im Aufstehen auf die Schulter und drückte mich mit einem kräftigen Stoß zurück auf den Stuhl.

„Warte. Wir müssen trinken. Nach so einem Essen müssen wir trinken. Ist besser für die Verdauung“, sagte er.

Trozi nickte beipflichtend.

Der kleine Mann stand auf, holte gemütlich eine grüne Flasche aus dem Wandschrank und hielt mir die Flasche vor das Gesicht, als wäre er ein Sommelier in einem französischen Feinschmecker-Restaurant: „Slibowitz. Der Beste.“

Dann schenkte er uns großzügig in drei Gläser ein.

„Auf Groß-Serbien“, brüllten Zeljko und Trozi gemeinsam und erhoben ihr Glas.

„Auf … Serbien“, sagte ich vorsichtig.

Die beiden Serben stürzten ihre Schnäpse hinunter, als wäre es der letzte ihres Lebens. Ich nippte kurz, setzte ab und musste einen Hustenreiz unterdrücken, denn das Zeug brannte wie Feuer in meiner Kehle.

„Runter damit“, rief Trozi lachend und haute mir dabei auf den Rücken.

Ich gehorchte.

Dann schenkte er uns dreien nach.

Wir tranken. Schweigend, während ich Trozis Freund beim Essen zusah. Er vertilgte bereits den dritten Teller Cevapcici mit Ajvar und Raznjici und schien immer noch weit davon entfernt, satt zu sein.

Trozi rückte seinen Stuhl näher an mich heran und legte seinen Arm auf meine Schulter.

„Ich sage dir, Zeljko ist ein …, wie sagt man bei euch, harter Hund, findest du nicht?“

Ich antwortete: „Da bin ich mir sicher“, und versuchte mich langsam von dem Griff meines Gastgebers zu befreien.

„Du siehst aber auch gut aus“, meinte Trozi, während er mir direkt in die Augen blickte.

Ich wusste nicht, was ich auf dieses Kompliment antworten sollte, also sagte ich zögerlich: „Okay“, während weiteres Unbehagen von meiner Bauchdecke aufstieg, bereit dazu, meine Brust mit Angst auszufüllen.

„Sieht man“, sprach Trozi und kniff mir dabei in den Oberarm.

Langsam fühlte ich den Alkohol.

Und mein Gastgeber sagte: „Lass uns noch einen trinken.“ Zeljko schenkte uns beiden wortlos nach und kaute danach stoisch an seinem Essen weiter.

„Auf uns“, prostete mir der Verwalter meines Pakets zu und ich stürzte ohne Widerworte den Schnaps herunter.

„So, jetzt muss ich aber …“

Doch weiter kam ich nicht.

Als ich mein Glas abgesetzt hatte und gerade aufstehen wollte, beugte sich Trozi zu mir herüber und gab mir einen heftigen Kuss.

Es kam so unverhofft, dass ich einen komischen Protestlaut von mir gab, der wie das Quietschen eines kleinen Schweinchens geklungen haben musste, weil ich mich so sehr erschreckt hatte.

Doch Trozi setzte nach, hielt seine Hand an meine Backe und versuchte mein Gesicht weiter abzuschmatzen. Dabei spürte ich schmerzhaft die Kraft der kleinen Männerhand auf meiner Wange.

„Hören Sie auf“, schrie ich und entwand mich dabei seines Griffs.

„Ich würde dir gerne in den Arsch ficken.“

Hatte Trozi das gerade wirklich gesagt?

„Ich muss … ich geh jetzt mal lieber“, stotterte ich.

Zeljko grinste, allerdings ohne mit dem Essen aufzuhören.

„Ach, komm. Sei nicht so. Zier dich nicht“, ließ Trozi nicht locker. „Du bist ein schöner Mann.“

Dabei hatte er einen nachdenklichen Blick aufgesetzt.

Jetzt bekam ich richtig Angst.

„Ich bin nicht …“

„Homo, meinen Sie?“

„Wir auch nicht. Stimmt doch, Zeljko?“

Der nickte grinsend und aß weiter.

„Ob Männer oder Frauen, wen interessiert das? Hauptsache gut“, rief Trozi.

Er stand auf und fasste mir mit einem blitzschnellen Griff an den Po: „Und du bist toller Mann.“

Erstaunt blickte ich ihn an, unfähig zu reagieren.

Zeljko schien sich für das ganze Schauspiel nicht weiter zu interessieren. Zumindest tat er so. Vielleicht war das hier eine Nummer, die Trozi schon öfter abgezogen hatte.

Eingeschüchtert wie ich war, konnte ich nur ein „Das reicht jetzt“ herauspressen, wandte mich ab und ging schnellen Schrittes in den Laden und zur Tür.

Der Raum war dunkel.

Als ich weiterlief, stolperte ich über etwas und fiel dabei mit dem Kopf voran auf den Fußabtreter. In der Küche hörte ich Gelächter. Umständlich stand ich auf, tastete mich in der Dunkelheit vorwärts und gelangte zum Eingang. Dort rüttelte ich an der Klinke.

Nichts passierte.

Sie war zu.

Das Rollo des Ladens war halb unten.

Kein Wunder, dass hier keinerlei Paketkunden reinkamen!

Mit einem Seufzen drehte ich mich um.

„Könnten Sie bitte die Tür aufsperren? Ich möchte gehen“, sagte ich mit Nachdruck.

Trozi kam auf mich zu.

„Natürlich. Wenn Sie das möchten. Aber was ist mit Paket?“

Ich zögerte.

„Wir finden es ja nicht.“

„Lassen Sie mich noch mal nachschauen“, erwiderte Trozi und trottete zurück in die Küche zu einem Stromkasten.

Zeljko aß immer noch.

Ich konnte ihn schmatzen hören.

Kurze Zeit später ging das Licht im Verkaufsraum an. Trozi kam zurück und schritt gemächlich hinter seinen Tresen, bückte sich und kramte auf den Knien irgendwo herum.

„Wie war der Name noch mal?“

„Hagedorn.“

Trozi wühlte weiter.

Offenbar hatte er einige Pakete unter seinem Tresen gebunkert.

Warum hatte er nicht gleich dort gestöbert?

Ich verstand es nicht, hatte aber einen Verdacht. Doch letztlich war es mir egal. In Anbetracht der Umstände hätte ich auch auf Mutters Butterplätzchen verzichten können. Ich wollte nur noch weg aus dieser serbischen Vorhölle.

Erneut bekam ich es mit der Angst zu tun.

Was, wenn Zeljko gerade Klebeband suchte, anschließend in den Verkaufsraum trat und mich überwältigte, mich an einen Stuhl fesselte, sodass Trozi genüsslich über mich herfallen konnte?

Ich hatte mittlerweile Schweiß auf der Stirn. Der Alkohol schoss mir ins Blut und mir wurde schwummrig.

„Einen Moment“, rief Trozi mir zu.

Ich wurde sehr ungeduldig, aber was blieb mir anderes übrig, als hier zu bleiben? Der Ausgang war verschlossen.

„Hagedorn, sagten Sie? Ich kann es nicht finden.“

Langsam verflog meine Hoffnung. Ich fühlte mich freiheitsberaubt, belästigt – und alles wegen Mutters Weihnachtsplätzchen. Warum brauchte ich sie und warum hatte ich nie angefangen, selbst welche zu backen? Dann wäre ich auch nicht in diesen Schlamassel mit einem homosexuellen Ladenbesitzer und einem serbischen Nationalisten geraten.

Gedankenverloren schaute ich mich im Laden um.

Neben einem Regal mit Süßigkeiten, deren Markennamen ich noch nie gehört hatte, lagen verstreut drei bis vier weitere Pakete. Über eines war ich bei meinem Fluchtversuch gestolpert.

Ich hob es auf.

Es war ein bunter Karton aus einer speziellen Weihnachtskollektion der Post. Zwei kleine Rentiere lächelten mich an. Es war ein Weihnachtspaket für Kinder.

Sollte Mutter etwa …?

Ich drehte den Karton um und da stand der Absender: Gerda Hagedorn. Es war das Paket, über das ich gefallen war, als ich dieser Cevapcici-Hölle entfliehen wollte.

Mein Paket.

„Ich kann Paket nicht finden“, warf Trozi unterdessen wieder ein und rieb sich dabei die Stirn.

„Ist okay“, sagte ich.

„Ja?“, fragte Trozi.

„Das hier ist es“, erklärte ich erleichtert, stemmte das Paket wie einen Siegerpokal in die Höhe und genoss für einen kurzen Moment diesen großen Triumph.

Heureka!

„Tatsächlich?“, fragte Trozi.

„Ja.“

„Haben Sie Paketzettel dabei?“

Ich kramte in meinen Hosentaschen und fand … nichts.

„Irgendwo muss er sein“, murmelte ich, während die vor Kurzem gewonnene Selbstsicherheit sich langsam wieder aufzulösen begann und einem stechenden Schmerz in der Magengrube Platz machte.

„Ich muss Sendungsnummer einscannen“, blieb Trozi beharrlich.

Ich ging in die Küche. Dort musste irgendwo meine Jacke sein.

Trozi trottete abermals hinterher.

In der Küche saß Zeljko und hantierte mit einem Zahnstocher in seinem Mund herum, dabei blickte er mich fragend an.

„Meine Jacke … sie muss hier irgendwo sein … sie hing doch über diesem Stuhl hier“, stammelte ich.

Doch von meiner Jacke war nichts zu sehen. Ich ging in den Raum mit den Paketen und blickte hinein, aber auch hier war meine Jacke nirgends zu sehen.

Zurück in der Küche setzte ich mich an den Tisch. Trozi war gerade dabei, einen Slibowitz einzuschenken.

Voller Enttäuschung sagte ich: „Ich nehme auch einen!“

„Sicher?“, fragte Trozi.

„Sicher.“

Trozi stellte mir den Schnaps hin. Zeljko bekam auch einen.

„Prost“, rief ich und erhob mein Glas.

„Zivelli“, riefen Trozi und Zeljko unisono.

Wir tranken.

Dann ging ich erneut in den Verkaufsraum, nahm das Paket meiner Mutter, ging zurück in die Küche und stellte es auf den Tisch. Anschließend nahm ich ein Messer vom Tisch und schnitt das Klebeband auf, holte die Butterplätzchen und den mit Alufolie eingepackten Zitronenkuchen aus dem Pappkarton und stellte alles auf den Küchentisch des Trozi-Marktes.

„Wirklich?“, fragte Trozi.

„Wirklich“, sagte ich.

„Schöner Kuchen von schönem Mann“, schrie Zeljko, haute mir mit seiner kräftigen Hand wieder auf die Schulter und stieß dabei ein prustendes Lachen aus.

 

Meine Jacke fand ich am nächsten Morgen. Sie lag auf dem Küchentisch. Ich hatte auf ihr geschlafen.

Weder von Zeljko noch von Trozi war etwas zu sehen.

Der Schlüssel steckte im Schloss der Ladentür. Ich öffnete die Tür und ging nach Hause in meine Wohnung an der Ecke zur Reuterstraße. Meinen Kater hatte ich schließlich zwei Tage später, am Silvestertag, überwunden.

RUDOWER JUNGS

 

Wir trafen uns beim Fußball. Kalle, Kurt, der kleine Schmidt und ich. Rudower FC gegen Borussia Charlottenburg. Hassderby in der Berlin-Liga.

Dieser linke Zeckenclub spielte an diesem Sonnabend in unserem schönen Rudow, weil Borussia war mal wieder bankrott und musste jetzt in der 6. Liga ran. Und die hatten tatsächlich mal Bundesliga gespielt!

Jetzt kickte diese lila-weiße Hustentruppe also auf unserem neuen Kunstrasenplatz in unserem beschaulichen Rudow und brachte dazu 300 linke Vollpfosten mit. Sollten wir das einfach so hinnehmen?

Niemals!

Unmittelbar nach dem Anpfiff entrollten wir unser Banner. So als kleine Provokation hatte Kalle „Zecken gehören zerquetscht“ draufgepinselt, unterschrieben mit „Nationaler Widerstand Berlin“.

Da rasteten die Borussen-Fotzen richtig aus. Die wollten zu uns auf die Gegengerade stürmen, diese Hänflinge.

Studentenpack!

Hätten nur kommen sollen. Wenn Kurt und Kalle auf die losgegangen wären, da wäre es für einige sofort in die Vivantes-Notaufnahme gegangen. Oder gleich direkt aufn Friedhof!

Der Kalle war schon Ende der Neunziger mit ein paar blau-weißen Alt-Hools unterwegs gewesen. Der wusste, wie so Matches abliefen: Quarzhandschuhe immer griffbereit und Totschläger im Anschlag.

Und Kurt? Der hatte schon für Zuhälter in der Kurfürstenstraße die Muskeln spielen lassen, später in Neukölln. War immer noch dabei: Freier und Nutten klatschen. Die paar Studentenköpfe hätte der als Vesper verspeist.

Aber das Beste war, die Bullen standen auf unserer Seite. Die knöpften sich ein paar von diesen Zecken vor. Schön Knüppel in den Rücken und ab in den Sixpack!

Was hatten wir uns weggeschmissen.

So geil!

Später fiel diesen sogenannten Gäste-Fans auch nichts Besseres ein, als 90 Minuten lang „Nazis raus“ zu singen. Ging uns hart am Arsch vorbei.

Endstand 2:0 für Rudow!

Aufm Heimweg flogen dann noch ein paar Bierflaschen in die Menge. Hatte sich Schmidtchen ausgedacht. Dieser kleine Halunke versteckte sich in der Neuköllner Straße im Gebüsch und wartete, bis der Tross der Borussia-Fans auftauchte, um zur U-Bahn zu laufen.

Hörte sich wunderbar an, das Geschrei und die Panik, als die Linksfraktion merkte, was da angeflogen kam.

Scherben bringen Glück!

Der kleine Schmidt war aber auch einer. Nicht nur auf Krawalle aus, sondern immer schön politisch. Aktiv beim Nationalen Widerstand Berlin. Der wollte uns da auch mal mitnehmen zu deren Grillfest.

War mir schnuppe - solange es dort Bier gab und keine Kanaken oder linke Yuppies.

Also hin da.

 

Die Schose fand irgendwo aufm Land bei so einer alten Glatze statt: Henker Horst. Damals wusste ich noch nicht, wie der zu seinem Spitznamen gekommen war. Sollte ich aber noch herausfinden. Der kleine Schmidt meinte nur, dass wir dem nicht mit irgendeinem Scheiß kommen sollten. Ließ sich wohl leicht provozieren, der Horst.

Also kamen wir da an in Königs Wusterhausen in so einer Mittelklasse-Siedlung. Und ich sag noch zu Kalle: „Alter, das sieht hier aber spießig aus. Dagegen ist unser Rudow das reinste Ghetto.“ Von der Gropiusstadt mal ganz abgesehen.

Horst hatte da in Königs Wusterhausen sein Häuschen in die Idylle gebaut, mit Grundstück am See – am Krüpelsee.

Kein Scheiß!

Wir also rein in die gute Stube und in den Garten, der ungefähr so groß war wie das gesamte Trainingsgelände unseres FC.

Der Horst hatte uns begrüßt mit dem breitesten Grinsen, das ich je bei einem Menschen gesehen hatte.

„Da sind ja meine Rudower Jungs“, meinte er nur, als würde er uns schon ewig kennen.

„Kommt mal mit.“

Und dann gingen wir da um die Ecke und da war schon alles aufgebaut: fetter Grill, Kisten voller Bier, Schnaps, Cognac – alles da, alles für uns.

Da hatten wir uns nicht zweimal bitten lassen.

Erst später hatte ich gemerkt, dass da sonst keiner war – außer uns. Von wegen Grillfest, von wegen Nationaler Widerstand!

Nach dem kurzen Fress- und Saufgelage kam der Horst auch sofort zur Sache: „Hört mal, Jungs. Der kleine Schmidt hier, der hat mir erzählt, dass ihr Jungs schon lange was gegen diese linken Zecken habt, die da in Berlin und in unserem Neukölln überall rumstreunen und Stimmung gegen die nationale Sache machen.“ Dabei spuckte Horst verächtlich auf den Boden.

Wir nickten. Aber ich war vorgewarnt.

Wenn der Horst wollte, dass ich mich auf irgendeine bescheuerte NPD-Demo stellte, mit Fahne in der Hand und irgendwelchen Opas zuhörte, wie die vom Krieg erzählten, dann konnte der das gleich vergessen, dachte ich. Zu so was wollte mich der kleine Schmidt schon mal hinschleppen und ich hatte bereits damals dankend abgelehnt.

Auf solchen Demos wurdest du von den Bullen und der Antifa fotografiert. Danach landete deine Fresse auf sämtlichen linken Internet-Blogs von hier bis Bautzen. Konnte ewig gegen dich verwendet werden, also keine Chance!

Aber Horst meinte nur: „Ihr seid doch Männer der Tat, oder?“

„Klar“, sagten Kalle und Kurt, wobei ich irgendwie das Gefühl hatte, dass sich unser Zuhälter und der Horst bereits kannten. Ständig grinsten die sich so verstohlen an. Keine Ahnung, was da lief. War mir aber auch schnuppe!

„Aktion ist das Stichwort“, sagte Horst. „Schmidt, erzähl den Jungs mal, was wir neulich besprochen haben.“

„Also, das soll folgendermaßen ablaufen …“, fing der kleine Schmidt an und weihte uns in Horsts Plan ein.

Wer wusste schon, wer da noch seine Finger im Spiel hatte. Keine Ahnung!

Wichtig war nur, dass sie Leute brauchten, die nicht zimperlich waren und sich in Berlin auskannten. Und wir vier passten da perfekt ins Anforderungsprofil.

Tatsächlich wollte der kleine Schmidt schon lange was in diese Richtung machen, hatte er immer wieder beim Fußball rumgetönt und ich hatte auch genug von diesem linken Gesinnungs- und Toleranzscheiß. Unser Neukölln war befallen worden von dieser Multikulti-Seuche. Jetzt war es also an der Zeit, etwas dagegen zu tun.

Später ging Horst mit uns in den Keller, in einem Raum standen große Kartons.

„Das ist alles für euch. Nehmt erst mal so viel mit, wie ins Auto passt“, sagte Horst.

„Kommt alles aus Polen“, ergänzte der kleine Schmidt.

Falls wir Nachschub bräuchten, würde Horst das alles besorgen.

Kurz bevor wir losmachen wollten, wedelte unser Gastgeber mit einem Zettel in der Luft herum: „Hier ist das Wichtigste“, sagte Horst. Und der kleine Schmidt nickte. Der wusste schon, was dieses Papier war. Was für eine Bedeutung es hatte.

Die Liste.

Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht klar, dass meine unmittelbare Zukunft von dieser Liste abhängen würde.

„Und dass mir keiner von euch mit irgendwem über das hier, außer mit den anwesenden Personen, spricht. Ist das klar?“, warnte uns Horst in so barschem Befehlston, dass ich so langsam merkte, warum der Typ Henker Horst genannt wurde.

Der war mit Sicherheit beim Bund gewesen, hatte hundertprozentig länger gedient. Das sah man sofort: Rücken immer durchgestreckt, Kinn nach oben, Hände nah am Körper. Der war schon Spalier gestanden, da hatte ich vermutlich noch im Vivantes in die Windeln geschissen.

„Keine Anrufe, keine SMS, keine E-Mails und keine Nachrichten über irgendwelche verfickten Messengerdienste zu dieser Sache. Habe ich mich da klar genug ausgedrückt?“

Wir nickten.

„Und falls ihr doch mal Stress mit den Bullen haben solltet, aber nur falls, dann sagt ihr das dem da.“

Horst deutete auf den kleinen Schmidt.

„Und der sagt es mir und ich kümmere mich darum. Verstanden?“

Wir nickten wieder.

Dann kriegte jeder von uns einen Umschlag mit noch weiteren Instruktionen. Und da war auch Geld. Einiges an Geld. Ich würde nicht sagen viel Geld, aber ein paar Hunderter werden es auf den ersten Blick gewesen sein, welche da in dem Umschlag für mich steckten.

Alter!

Als wir da wegfuhren, dachte ich, ich hätte den Jackpot geknackt.

Eine bezahlte Abrechnung.

 

Unser erstes Opfer war ein Betreiber eines linken Buchladens in der Krokusstraße. Die Alt-Zecke hatte schon die ganze Zeit die Fresse zu weit offen, hatte mobilgemacht gegen rechte Demos, dazu einige von unseren Kameraden bei der Polizei denunziert. Der kleine Schmidt hatte dem schon mal die Fenster mit einem Pflasterstein eingeschmissen. Aber jetzt war seine Karre dran. Kennzeichen und Adresse entnahmen wir der Liste. Dann fuhren wir mit unseren Fahrrädern zu seiner Wohnung – nie mit dem Auto! Autokennzeichen konnte man sich notieren, Unfälle konnten gebaut werden, Motoren konnten streiken. Fahrräder waren das sicherste Fortbewegungsmittel, zumindest für das, was wir vorhatten. Da konnte man schnell weg, ab durch den Park, ab in die Dunkelheit, Entsorgung im Kanal. So hinterließen wir keine Spuren.

Wir trafen uns immer bei Kurt.

Der Zuhälter hatte eine unauffällige Bude in einer Westplatte in der Gropiusstadt. Wohnte da mit so einer bulgarischen Nutte zusammen, die da so Sexchats machte und schön bei Kurt abdrücken musste.

Dort in der Bude packten wir unsere Sachen und besprachen den Fluchtweg und wo wir vor und nach der Aktion zu sein hatten.

 

Ich saß im Restaurant Dubro auf der Waltersdorfer, ließ mir dort ein paar Bierchen hinstellen und quatschte schön mit der alten Bedienung über irgendwelchen Scheiß. Kurz nach zwölf ging’s dann aufs Klo und über den Hinterausgang raus Richtung Alt-Rudow. An der Ecke Krokusstraße traf ich auf Kalle und Kurt. Wir vermummten uns mit unseren Sturmhauben und radelten weiter zum Haus von der Alt-Zecke.

Die Karre stand vor der Tür.

Das hatte der kleine Schmidt für uns eine halbe Stunde zuvor ausbaldowert. Wäre sie nicht da gewesen, hätte er sich zu mir ins Dubro gesetzt und einen Schnaps bestellt. Aber Schmidtchen kam nicht. Also hieß das, die Sache konnte steigen.

Die ganze Aktion dauerte nicht länger als 30 Sekunden. Wir fuhren Kolonne Richtung Auto. Kurt scherte aus, blieb stehen und überblickte die Straße, ob es nicht ungebetene Zeugen gab. Als er uns schließlich zunickte, fielen Kalle und ich über das Auto her: Mit einem Notfallhammer zertrümmerten wir die Heckscheibe, entflammten jeweils eine Pyrofackel und warfen sie ins Auto. Der Kombi fing sofort Feuer.

Danach trennten wir uns wieder.

Ich fuhr über die Prierosser Straße in Richtung Restaurant Dubro. Zehn Minuten nachdem ich aufs Klo gegangen war, saß ich wieder am Tisch, quatschte mit der Bedienung, als wäre nichts gewesen, und hörte in der Ferne die Feuerwehrsirenen.

So einfach, so sicher.

Niemand würde uns jemals erwischen.

Und wir machten weiter. Arbeiteten uns an der Liste von Henker Horst ab: Bei einem linken Szenecafé deponierten wir einen Brandsatz am Fenster, die Karre eines Abgeordneten der Linken-Partei musste dran glauben und natürlich bekamen zahlreiche Antifa-Mitglieder Besuch von uns.

Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Wir verrichteten unsere Sache, kassierten die Kohle und es machte Spaß, dem ganzen Zecken-Gesocks eins auszuwischen.

Kalle sagte mir eines Abends, als wir mal wieder bei Kurt in der Gropiusstadt auf seinem Balkon im 13. Stock saßen, dass ihn unsere Aktionen mehr aufgeilten als seine Wald-und-Wiesen-Matches gegen andere Hooligans. Währenddessen fummelte sich im Nebenzimmer Ava, die bulgarische Nutte, vor einer Laptop-Kamera in ihrer Muschi rum.

Es waren goldene Zeiten und es hätte ewig so weitergehen können.

 

Bis eines grauen Tages im November zwei Bullen vor meiner Tür standen. Als ich aufmachte, hatte ich einzig eine Boxershorts an, weil ich dachte, es sei der Paketbote.

Ein paar Tage zuvor hatte ich ein kleines Soundsystem für mein Wohnzimmer im Internet bestellt, worauf ich nun sehnlichst wartete.

Doch vor meiner Türe lauerte nicht der DHL-Mann, sondern zwei Typen, die beide so aussahen, als wären sie gerade einer Zeitkapsel mit Startpunkt Neunzigerjahre entstiegen: Vokuhila-Frisuren, Bomberjacken, hellblaue Jeans, weiße Sneaker. Der eine war so spindeldürr, als hätte er seit Monaten nur Flüssignahrung zu sich genommen. Ich dachte noch: Wie soll der jemanden festnehmen? Aber da waren die beiden schon in meiner Bude drin.

„Du hast ja nichts dagegen. Wir bleiben auch nicht lange. Wir sind deine Freunde von der Polizei“, sagte der zweite Bulle, der von der Statur her das komplette Gegenteil seines Kollegen war: breitschultrig, Typ solariumgebräunter Bodybuilder.

Und ich sagte: „Da nehme ich euch beim Wort. Ihr könnt euch gleich wieder verziehen, oder habt ihr einen Durchsuchungsbefehl?“

„Nicht frech werden, mein Junge“, meinte der Dürre.

Zeitgleich und ohne Vorwarnung rammte mir der Bodybuilder eine Faust in die Leber. Ich sackte auf meinem Sofa zusammen und bekam für die nächsten zwei Minuten keine Luft mehr.

„Ganz ruhig, mein Junge. Erhol dich erst mal“, sagte der Dürre. Und: „Jetzt pass gut auf. Wir reden hier gleich mal Tacheles. Also, wir wissen, was du und deine Nazi-Freunde so treiben. Sagen wir mal, ein kleines Vögelchen hat uns alles gezwitschert. Aber mach dir nicht ins Hemd. Wir haben kein Interesse daran, eure kleine Fascho-Brandstifter-Crew hopszunehmen. Okay? Was wir wollen, ist, dass ihr es nicht übertreibt. Macht kleine Feuerchen, werft ein paar Fenster ein, aber haltet euch von den Arabern und Türken fern. Legt euch da nicht mit den falschen Leuten an! Sonnenallee und Karl-Marx-Straße sind tabu. Verstanden? Dann kann hier jeder sein Ding durchziehen und alle sind glücklich.“

Während er das sagte, lief der dürre Bulle in meiner Wohnung auf und ab und tat so, als spräche er mit sich selbst. Dann kam er plötzlich dorthin, wo ich lag, beugte sich herunter, presste meine Backen zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand und sagte: „Und passt gefälligst auf, dass es keine Kollateralschäden gibt. Ich will nicht irgendwann in ein paar verkohlten Antifa-Leichen rumstochern. Kapiert? Die Autos von linken Idioten, die ihr da abfackelt, gehen uns hart am Arsch vorbei. Aber wenn ihr übermütig werdet, dann schwöre ich, dass ich in deine Arschritze eine Pyrofackel stecke, sie anzünde und dich vor eine S-Bahn schmeiße. Hast du das verstanden?“

Dann ließ er von mir ab.

So langsam bekam ich wieder Luft.

Mein Hirn wusste zwar noch nicht, woher die beiden Bullen das alles wussten. Aber hier war Abstreiten offensichtlich fehl am Platze.

Dann kramte der dürre Bulle in seiner Hosentasche rum und meinte zu mir: „Das hier sind eure nächsten Anschläge. Zwischendurch könnt ihr mit euren Zielen weitermachen, ist uns egal, aber diese vier Namen und Kennzeichen hier oben.“ Dabei tippte der dürre Zivilbulle auf das Papier in seiner Hand, während er es mir direkt vor die Augen hielt: „Die sind als Nächstes dran - und das ist keine Bitte, sondern ein verfickter Befehl, du kleine Nazi-Fotze!“

Also noch eine Liste.