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Die Sonne wurde gestohlen, schon vor langer Zeit. Niemandem ist es bisher gelungen diese wieder zurückzubringen, bis eines Tages das Mädchen Margret von einem Smaragdkäferlinger auserkoren wird eine unerwartete Reise anzutreten. Nur SIE vermag die Gabe und den Mut zu haben die Gefahren zu bestehen, um den Schlüssel zu bekommen, der ihr das Tor in die Unterwelt öffnen wird. Eine TODESERINNERUNGSLIBELLE, die auf den Liebeskelchfeldern von Squirillion leben. Nur in der Unterwelt vermag sie die Lösung des Rästels zu finden...
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Obscuritas
Ulrike Minge
Copyright: © 2015 Ulrike Minge
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-3301-0
Wie dieses Buch mit seinen Geistern entstand, ist eigentlich nebensächlich.
Nur so viel ist zu berichten, dass es nichts mit Mardern, dunklen Metropolen, kleinen Kratzen und wertvollen Schätzen zu tun hat. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, sind Bücher, die man in den Händen halten kann, um mit ihnen eine fantastische Reise zu unternehmen, auch Schätze.
Es gab eine Zeit.
Eine Zeit, in der das Sonnenlicht ganz von der Erde verschwunden war und diese ohne Erbarmen von Finsternis und undurchdringlicher Dunkelheit heimgesucht wurde.
Die Kerze, die auf dem kleinen hölzernen Tisch stand, begann wild mit ihrer Flamme zu flackern, als Margret den Fensterladen öffnete. Ein eisiger Luftzug pfiff in das Zimmer und die Eiseskälte schlüpfte bis in die hinterste Ecke des Raumes. Ein flüchtiger, aber dennoch ungebetener Gast.
Hinter der Dachluke und allen anderen Fenstern herrschte schon seit scheinbar endloser Ewigkeit die Dunkelheit. Sie hatte sich dort draußen ein dichtes Nest gebaut, um sich auf alles zu setzen, wie eine Glucke auf ihre Eier. Margret hatte es nie anders kennen gelernt, noch nie hatte sie Tageslicht gesehen.
Jetzt stand sie hinter dem Fenster und wollte eine oder zwei der weißen Flocken, die vom Himmel fielen in ihr Zimmer locken, das ganz oben unter dem alten knarrenden Dach lag.
Sie mochte die flüchtigen Kristalle, denn wenn sie genau hinhörte und eine Flocke an ihrem Ohr vorbeischwebte, glaubte sie ein leises Wispern zu hören. So, als erzählten sie ihr von unbekannten Geheimnissen aus fernen Welten. Die weißen Sterne schwärmten von Himmelsgeistern, mit denen sie gespielt hatten, von hohen Bergen und bezaubernden Landschaften, über die sie geflogen waren, bevor sie in diese Welt hineinfielen und hinab zur Erde trudelten. Manchmal flüsterten sie von der Königin des Schnees, von der sie über die ganze Welt verteilt worden waren.
Wenn die leichten Daunen dann gen Erdboden schwebten oder von den Launen des pustenden Windes hin und her geschaukelt wurden, saß Margret, wie so oft, vor einem großen Fenster und schaute hinaus in das Treiben.
Seicht und ganz leise setzte sich der Schnee auf das Fensterbrett. Jene Flocken, die nicht so viel Glück hatten, landeten auf dem Fensterglas und verloren von einem Moment auf den anderen ihre bezaubernde Schönheit, geschmolzen zu einer kleinen glitzernden Perle, die bald zu Eis wurde.
Diesmal trudelten so viele von ihnen durch die Luft, dass sich eine dünne, flaumige Schicht auf allem bildete, was nicht rechtzeitig den Weg in das Innere des wohlig warmen Hauses fand. Drinnen brannte immer ein knisterndes Kaminfeuer, das mit seinen orange-gelben Flammen in den Schacht hinein züngelte.
Margret schickte in ihren Gedanken einen Gruß an die Königin des Schnees, die ihr diesen bezaubernden Anblick beschert hatte.
Die flaumige Schicht ließ die ewig herrschende Nacht ein wenig heller erscheinen, als würde ein fremdartiges Glühen von ihr ausgehen, aber Margret wusste, dass es eigentlich nur die Reflektionen der alten Laternen war, die an der Fassade des ehrwürdigen Hauses leuchteten.
Ihr bronzenes Gehäuse hatte eine grüne Patina durch die Witterung angesetzt. Die gläsernen Scheiben der Laternen zeigten sich von ihrer schönsten Seite, besetzt mit kristallenen Eisblumen.
Sie begannen immer zur selben Zeit zu leuchten, um die neue Nachtgleiche zu begrüßen und erloschen wieder, wenn ihre Zeit gekommen war. Zuerst ähnelten sie nur kleinen Glühwürmchen, die in einem Glaskasten vor sich hin flirrten und glimmten, bis ein kräftiger Leuchtkegel von ihnen ausging. Die Laternen bestimmten nun den Verlauf des Lebens. Seitdem die ewige Dunkelheit herrschte, gab es keinen Tag mehr, sondern nur noch die Nachtgleiche.
Margret liebte ihr kleines Refugium, das sie seit ihrem dreizehnten Geburtstag bewohnte, als sie aus der ersten Etage bis unters Dach ziehen durfte.
Ihr großes Bett aus altem, dunklem Holz mit ornamentalen Schnitzereien und verzierten Kugeln an den Bettecken liebte sie am meisten, weswegen es auch den schönsten Platz in diesem Zimmer am Fenster bekommen hatte.
In schlaflosen Zeiten legte sie sich die Kissen so unter den Kopf, dass sie hinauf in die Dunkelheit schauen und ihre Gedanken zu den kleinen funkelnden Lichtern am stets verdunkelten Himmel schweifen lassen konnte.
Neben dem Bett stand ein kleiner Nachtschrank, in dem sie immer ein Buch und andere persönliche Dinge, die ihr lieb und teuer waren, verwahrte. Daneben füllten ein Schreibtisch, ein massiver Kleiderschrank und ein mannshohes Bücherregal mit ihren Lieblingsromanen das Zimmer.
Margret verkroch sich schon als kleines Mädchen gern hinter vollgeschriebenen Bücherseiten und liebte es, immer eines von den Exemplaren, die sie schon gelesen hatte, in ihrem Regal stehen zu haben. Manchmal stand sie gedankenverloren vor ihrer ansehnlichen Sammlung, strich über die samtenen Buchrücken und dachte an all die entlockten Geschichten.
Mit jedem von ihnen teilte sie sich ein Geheimnis.
In ihrem Lieblingsbuch, von einem zu Weilen melancholischen Poeten verfasst, stand ein Vers, den sie immer im Kopf hatte, egal wie sehr sie sich auch manchmal wünschte, in die Welt aus schwarzer Tinte und weißen Papier hineinzuschlüpfen:
„Bücher sind die Welt, in der wir niemals die Chance haben, leben zu können! Was gut ist, denn sie zeigen einem nicht immer die Wahrheit. Denn hinter jeder phantastischen Geschichte lauert immer die Realität mit gebleckten Zähnen, bereit zum Sprung.“
Wenn sie vor ihrer Bücherwand stand, beschlich sie der Gedanke ebenfalls ein Geheimnis zu sein. Sie war eine Hybride, ein Bruch des Gesetzes, das nicht hätte existieren dürfen.
Ihre Mutter Elisa stammte aus einer Stadt in der Nähe dieses Hauses, doch ihre Vater Arthur war ein Choclair.
Er entstammte der purpurnen Blutlinie der Caesarier, Königswesen, die vor Jahrhunderten auserwählt wurden, das Gleichgewicht der Erde zu wahren. Er war gezeichnet mit einem zarten blassblauen Ornament hinter seinem rechten Ohr, das jedoch nur dann zu sehen war, wenn eine seiner lockigen Haarsträhnen nach hinten geschoben wurde.
Seit jeher war eine derartige Beziehung verboten. Jahrhundertelang brannte schon ein abgrundtiefer Hass zwischen Menschen und Caesariern. Doch nichts tarnte diese Liebe besser, als die unerbittliche Dunkelheit.
Margret bedauerte es, nicht wie ihr Vater zu sein: caesarisch. Früher, als sie noch klein war, stand sie oft vor einem der großen Spiegel in den langen Gängen des Anwesens und versuchte den Hauch feiner blauer Linien hinter ihrem Ohr zu erkennen.
Aber es war nichts zu sehen, nur die runde Vollkommenheit einer Ohrmuschel und dahinter rosafarbene zarte Haut.
Noch nie hatte sie ihre Großeltern kennen gelernt. Elisa, eigentlich Elisabeth hieß, und Arthur sprachen nie über sie.
Das Einzige, worüber ihre Mutter von früher sprach, war die goldgelbe Kugel, die jeden Morgen über den Himmel wanderte und Wärme spendend die Erde erhellte.
Sie erzählte auch von einer weißen Kugel, die zu jener Zeit mit den Sternen zog und zeichnete mit ihren Worten ein Gesicht von einem Mann, der auf der weißen Kugel, die sie Mond nannte, wohnte.
Der Mond soll seine Form von einer Sichel, in eine runde Kugel und wieder zurück gewandelt haben, bis einige Nächte nichts mehr von ihm zu sehen war. Elisa erzählte ihr, dass er in dieser Zeit fortreiste in andere bezaubernde Welten, doch etwas schien ihn immer wieder hierher zurückgezogen zu haben.
Elisa konnte immer so gut Geschichten erzählen, dass Margret direkt in sie hineintauchte.
Das erhabene Anwesen, das inmitten eines verwunschenen Gartens mit Ranken und Sträuchern lag, war ein paar Minuten von einer verschlafenen Stadt entfernt. In dieser Stadt floss ein anderes Leben auf den Straßen dahin, seit die Dunkelheit herrschte. Huschend und geduckt gingen die Bewohner durch die Straßen.
Margret vermutete, dass ihr Vater das Anwesen von seinen Eltern vor einiger Zeit geerbt hatte.
Von Zeit zu Zeit erzählte er, dass er damals unzählige prunkvolle Feste und Maskenbälle mit festlichsten ausladenden Kleidern und venezianischen Masken gegeben hatte.
Kostüme mit schwarzen langen Schnäbeln und traurigen Augen versammelten sich in dem großen Saal.
Zu den Empfängen war nur Caesarier geladen, um bis in die Morgenstunden zu tanzen und edle Getränke aus kristallenen Gläsern zu trinken. Damals, vor zwanzig Jahren, als noch Sonnenlicht die Erde erhellte.
Eines Tages schlenderte Arthur in dem kleinen Städtchen umher, auf der Suche nach einem neuem Buch für geistige Zerstreuung. In einer antiken Buchhandlung stieß er beinahe mit einem jungem Mädchen zusammen, das schüchtern durch die Reihen schlich, einen ganzen Stapel Bücher mit sich herumtragend. Diese Begegnung sollte alles ändern. Er war es gewohnt von schönen Musen umringt zu sein, die nach seiner Aufmerksamkeit gierten. Alle himmelten den Erben der mächtigsten Choclair-Familie an, wie einen jungen, strahlenden Gott. Doch dieses Mädchen hob nicht einmal den Blick, sondern huschte wortlos an ihm vorbei, anstatt standesgemäß einen Gruß an ihn zu richten. In dieser Stadt genoss er das höchste Ansehen aufgrund seines Standes. Politische Schnippchen und Kabalen interessierten ihn nicht, sodass er gleich, nachdem er das Anwesen bezogen hatte, einen Vertreter eingesetzt hatte, um die städtischen Angelegenheiten zu klären, denen er verpflichtet war.
Den langen Zwist zwischen Menschen und Caesariern hatte er nie verstanden, seit ihn damals sein Privatlehrer in den geschichtlichen Gegebenheiten und angemessenem Verhalten unterrichtet hatte.
Er genoss sein Leben in vollen Zügen.
Aus seinem Spiegelbild schaute ihm ein gut aussehender, eleganter, junger Mann entgegen. Tiefblaue Augen schauten wachsam auf die Welt, weiche rosafarbene Lippen formten ein atemberaubendes Lächeln. So, wie dieses Mädchen ihm gegenüber getreten war, hatte es sich bis jetzt keine zuvor getraut. Dies war es, was sein Interesse weckte. Aber sie war so schnell aus dem Laden geflohen, dass er kein ihr ein Wort hinterherrufen oder sie gar nach ihrem Namen fragen konnte. Irritiert von seinen Gefühlen lief er zurück durch den Park zu seinem Anwesen, vor dem schon sein vertrauter Butler Albert stand und auf ihn mit dem Tee wartete. Abwesend griff er nach dem Teeglas, in dem die Pfefferminzblätter schwammen und ging in das Innere des Hauses, um das nächste Fest ins Leben zu rufen und seine Gedanken zu zerstreuen.
Einige Wochen vergingen und alles schien vergessen, was ihn in dem antiken Buchladen gepackt hatte, als er in dem Laden wieder dem Mädchen gegenüberstand, das ihn diesmal mit großen Augen musterte.
Elisabeth wusste um die Geschichten Arthurs, die von den Mädchen herumerzählt wurden. Es ging um geheimnisvolle Feste, die ein junges Mädchen erröten ließen.
Doch auch Elisa war die letzte Begegnung nicht aus dem Kopf gegangen, bei der sie ihn aus einem Versteck in einer Seitenstraße beobachtet hatte, als er aus dem Laden gestürmt kam. Nach rechts und links hatte er hektisch seine Blicke geschwenkt, um sie vielleicht noch zu entdecken. Selbst wenn sie es gewollt hätte, aber auf eine solche Beziehung zu einem Caesarier stand die Todesstrafe.
Wie durch eine unbekannte Kraft gedrängt, gab Elisa ihren Gefühlen nach. Sie versuchte sich einzureden, dass es nur eine kleine Liaison sei, die nur des Nachts zum Leben erwachte und mit den ersten Sonnenstrahlen wieder endete. Heimlich schlich sie jeden Morgen durch den bewachsenen Garten, im Schutz der vielen Sträucher und Bäume nach Hause, um dort in einem anderen Leben den Alltag zu durchleben, immer darauf wartend, dass sich die Dämmerung wieder auf den Landstrich legte.
Nach einiger Zeit wagte Elisabeth sich unter die Ballgesellschaften zu mischen, in den schönsten Kleidern, die ihr Arthur von seinem Hauspersonal auf den Leib schneidern ließ. Die Zeit verging und zwischen beiden begannen Liebe und Leidenschaft zu wachsen, bis sie merkten, dass es nicht mehr nur eine Liaison war.
Auch wenn die plötzliche Dunkelheit des Himmels an einem sonnigen Vormittag im Mai das Schlimmste für alle Lebewesen war, so wussten Arthur und Elisa, dass ihre einzige Chance gekommen war, zusammenleben zu können. Denn nicht nur Elisa kam nie wieder nach Hause, als sich der Schatten auf die Welt gelegt hatte, sondern auch viele andere junge Mädchen fanden nie wieder ihren Weg nach Hause. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt und selbst kleine Gruppen, die in der ersten Verwirrung gebildet wurden und nach den Verschwundenen suchten, brachten keinen Erfolg. Es war schwer für Elisa, ihre Mutter und ihren Vater zu verlassen und sie in dem Glauben zurückzulassen, dass ihr die furchtbarsten Dinge geschehen waren. Sie sah, wenn sie sich im Schutz der Dunkelheit in die Stadt stahl, wie sich graue Ringe unter den Augen ihrer Mutter bildeten, bis sie es nicht mehr aushielt und ihr einen kleinen, gefalteten Zettel zukommen ließ und ihr versicherte glücklich und gesund zu sein.
Es vergingen die Monate und niemand konnte das Mysterium um die Dunkelheit lüften. Vielen selbsternannten und studierten Forschern, Alchimisten, Beschwörern oder Rittern gelang es nicht das Sonnenlicht oder die Mädchen in diese Welt zurückzubringen. Die Monate vergingen und Elisabeth und Arthur führten ein glückliches, aber ungewisses Leben in der Angst entdeckt zu werden.
Als sich das dritte Jahr dem Ende neigte, begann der flache Bauch der schönen Elisa zu wölben und zu wachsen.
Neun Monate später, in die Dunkelheit hinein, wurde die kleine Margret geboren, während weiße Schneeflocken gegen die Scheiben rieselten.
Es war ein Tag, an dem nichts Aufregendes geschah. Es fand kein Unterricht bei Master Crispin, dem Privatlehrer von Margret, statt.
Er hatte sich kurzfristig unpässlich gemeldet.
Er war ein sehr pedantischer Lehrmeister, immer korrekt und nie nachgiebig, wenn Margret eine Möglichkeit suchte, aus dem Unterricht früher, als es der tägliche Stundenplan zuließ, zu entkommen.
Sie wurde auf Wunsch ihrer Eltern, in caesarischen Fächern, der Sprache und Geschichte des großen Geschlechtes, unterrichtet. Master Crispin war ein Freund der Familie, sodass auch er, ebenso wie der Butler Albert, zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet war.
Margret liebte vielmehr die Rolle einer mutigen Entdeckerin, die im Schein einer Kerze durch die Hallen des Hauses streifte. Die Kerze warf dabei geheimnisvolle Schatten auf die Wände. Damals als sie noch klein war, genügte es ihr, die Parterre und die erste Etage zu erforschen. Sie mochte die großen schweren Türen, hinter denen sie sich gefährliche Abenteuer vorstellte, die es zu meistern galt. Besonders, wenn sie eines der dunklen Zimmer betrat und sie mit einem leisen Knarren des Pakets begrüßt wurde.
An vielen Wänden hingen Gemälde, goldgerahmt, von edel gekleideten Caesariern, mal mit einem tierischen Begleiter, mal auf einen Stock gestützt oder in einem Ohrensessel sitzend. Vorfahren aus mehreren Jahrhunderten waren auf den Portraits verewigt worden, alle aus dem Familienstamm der Choclairs.
Sie ließ sich vor einem der Bilder nieder und bewunderte ihr majestätisches Auftreten, wie sie Macht und Erhabenheit durch ihre Augen versprühen konnten, sodass sich in Margret ein eigenartiges Gefühl regte. Auf vielen anderen Bildern waren wunderbar verträumte Landschaften zu sehen, die Margret zu gern besucht hätte. Viele dieser Szenerien wisperten von geheimnisvollen Abenteuern und schienen sie regelrecht verführen zu wollen, mit hineinzuspringen und auf den Flügeln der Geschichte zu entgleiten.
Mittlerweile war sie während ihrer Streifzüge bis unter das Dach vorgedungen, jenseits ihres eigenen kleinen Refugiums.
Ihr gefielen die verstaubten Kartons, in denen ausrangierte Gegenstände und alte Bücher lagerten, die keinen Platz in der Bibliothek des Westflügels gefunden hatten. Wenn sie einen Deckel hochhob und den Staub wegpustete, stoben kleine Wirbel durch die Luft. Ihr stieg der Geruch von altem Leder und vergilbten Seiten in die Nase, die nur allzu willig waren, die Geschichten preiszugeben, die sie schon seit Jahren zwischen den Buchdeckeln sicher aufbewahrt hatten.
Manche von den Folianten fielen bereits auseinander, wenn sie nur versuchte sie aus einer Kiste herauszuheben. Andere wiederum zeugten von Besuchern, die nicht allzu sorgsam mit ihnen umgegangen waren. Sie fand Spuren von Bücherwürmern, die ihre gelblichen Vorderzähne in die Seiten und den Einband gestoßen hatten. Einige der Folianten schienen so begehrt, dass sie halb aufgefressen waren.
Doch heute wollte Margret sich weiter vorwagen, wollte mehr über das Herz des Gemäuers kennen lernen.
Sie schaute sich kurz um, doch wie üblich war ihr Vater zu dieser Zeit in seinem Arbeitszimmer zu finden und ihre Mutter in der Bibliothek des Westflügels oder in der Küche.
Für Margret gab es also keinen Grund, ihren Streifzug ins Unbekannte nicht sofort zu starten.
Eigentlich war es ihr verboten in die Katakomben des Gebäudes zu gehen. Schon früher hatte sie ihren Vater Arthur darum angefleht, sie einmal die Treppe hinunterschleichen zu lassen, doch jedes Mal, wenn sie es wagte zu fragen, wurde er ungehalten und versperrte die Tür.
Nach ein paar Minuten kam er dann in ihr Zimmer, während sie auf der Bettkante saß und mit den Beinen baumelte, um sich zu entschuldigen und ihr nur seine Sorgen zu gestehen. Als Margret klein war reichte ihr eine solche Begründung aus, denn in ihren Träumen malte sie sich die schlimmsten Kreaturen aus. Doch jetzt war sie älter und machte sich keine Gedanken mehr um diese Gestalten, die sie früher als kleines Mädchen in ihre Träume verfolgt hatten.
Zu Margrets Glück war heute die Tür in Katakomben nicht verschlossen. Alle Möglichkeiten standen ihr offen.
Die massive hölzerne Tür mit dem schweren geschmiedeten Schloss knarrte bedrohlich in ihren Angeln, als Margret sie mit Mühe einen Spalt breit öffnete. Gerade so viel, dass sie unbemerkt hineinschlüpfen konnte.
Verstohlen ließ sie noch einmal einen Blick durch den Raum schweifen, um zu prüfen dass sie auch keiner bei ihrem Vorhaben erwischte. Sie hatte zwei Stunden, sich hinunterzuschleichen, sich umzuschauen und wieder heraufzukommen, als wäre nichts gewesen. So, als hätte sie sich, wie sie es gesagt hatte, in ihr Zimmer zurückgezogen, um dort vertieft in ein spannendes Buch den ausgefallenen Unterricht zu nutzen.
Sie zündete sich eine Kerze an, die auf einem Tisch neben der Tür stand, konnte jedoch nicht das Ende des Tunnels sehen, sondern nur einen schwarzen Rachen, der sie angähnte.
Schon nach kurzer Zeit stand sie vor einer steinernen gewundenen Treppe, die sich hinunter gen Erdmittelpunkt wand.
Sie konzentrierte sich auf die ausgetretenen Stufen, um nicht hinabzustürzen und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.
Ewig erschien ihr der Abstieg, bis sich das Ende im Kerzenlicht abzeichnete. Je weiter sie ging, desto kälter wurde es. Sie ärgerte sich, keine Jacke mitgenommen zu haben, doch sie hatte nicht damit gerechnet, soweit ins Innere der Erde einzudringen.
Oben im Haus war es immer angenehm warm, nur wenn man einen Fuß ins Freie setzte, war es wichtig, sich einzumummeln.
„Wie konnte ich nur so unvorbereitet aufbrechen?“, sagte Margret im Flüsterton zu sich selbst. Wenn dies eine ihrer Helden und Heldinnen getan hätte, hätten sie dies bei den fürchterlichen Gefahren mit ihrem Leben bezahlt.
Margret zog die Arme um den Körper, soweit es die brennende Kerze zuließ und rief sich in Erinnerung, dass sie nicht mit einem Seil in eine Schlucht hinabgestiegen war, auf der Suche nach einer seltenen Fledermausart, die eine besondere Vorliebe für süßes Blut hatte und in solchen Höhlen lebte, sondern nur in den sicheren Katakomben des Hauses umherschlich. Auf einem Streifzug, der nur die Entdeckung unzähliger Wollmäuse zur Folge hatte. Wenn sie an ihnen vorbeiging, flüchteten sie in die Ecken. Die Wand, an der Margret mit ihrer Hand entlang streifte, bestand derweil aus massiven Steinquadern, die schon vor langer Zeit ihren Platz hier unten gefunden hatten. Auch der Fußboden bestand aus schweren Steinplatten, die bereits an einigen Stellen gerissen waren. Schließlich endete der Gang und Margret stand in einem kleinen Raum. In ihrer Vorstellung war dies hier immer ein riesiger Saal, der sich unter dem gesamten Anwesen erstreckte. Aber allein der Weg hier herunter war spannender gewesen, als der Ort an dem sie jetzt stand. Sie schlich durch die vergessenen Schätze die alle ihre letzte Ruhestätte in diesem Kellerreich gefunden hatten. Manche Dinge kannte sie, andere wiederum nicht. Doch sie erinnerte sich, dass es damals aufregender gewesen war, das Dachgeschoss zu erkunden.
Margret wünschte sich eine der riesigen Laternen von draußen hier herein. Mit ihrer Leuchtkraft würde sie mehr erkennen können, als nur mit dieser Kerze, die sie dabei hatte. Gerade als sie enttäuscht auf dem Absatz umdrehen wollte, ließ ein Windhauch die orangerote Zunge erzittern. Margret glaubte ihn auch verspürt zu haben, doch wahrscheinlich kam dieser von der offen stehenden Tür am Ausgang zum Flur. Da hörte sie ein leises Knistern, kaum von ihren Ohren wahrzunehmen. Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. Doch dann noch einmal, ein Knistern von Papier.
Ein Schaben auf dem Steinboden.
Margret runzelte die Stirn, vermochte jedoch keinen Laut von sich zu geben und drehte sich dem Raum wieder zu. Langsam hob sie die Kerze, sodass der Raum ein wenig mehr erhellt wurde und geheimnisvolle Schatten flackerten.
„Ist da jemand?“, rief Margret zu laut, sodass sie vor ihrem eigenen Echo zusammenfuhr.
„Hallo? Ist da irgendjemand?“, versuchte sie es erneut.
Doch nichts.
Einsame Stille, so wie sie gedämpft bis unter die Decke reichte. Sie wollte sich gerade dem Ausgang erneut zudrehen, da hörte sie ein leises zirpendes Geräusch. Es kam von einem Stapel Kartons, die sich rechts vor ihr auftürmten. Als sie die Kerzenflamme in die Ecke hielt, entdeckte sie die Quelle des Geräusches.
Es war ein Käfer, gerade so groß wie ein Teelicht, aber in einem so wunderschönen schimmernden Maigrün, wie sie es nur in den Gemälden im ersten Stock gesehen hatte. Ihr pochendes Herz beruhigte sich schnell wieder.
„Du bist ja ein hübsches Exemplar“, flüsterte Margret und ging einen weiteren Schritt auf ihn zu. Die glitzernden Farben faszinierten sie. Margret streckte vorsichtig ihre Hand aus, um ihn auf ihren Finger zu locken.
„Was heißt denn ‚hübsches Exemplar‘?“, kam es von dem Käfer. Margrets Augen wurden groß und sie zog voller Schreck ihre Hand zurück.
„Das kann nicht sein“, raunte sie, doch der Käfer ignorierte ihre Reaktion.
„Habt ihr noch nie von den Smaragdkäferlingern gehört? Wir sind ähnlich den Königswesen und nur sie können unsere Klänge, unsere Sprache verstehen.“
Margret wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, sie hatte sich immer erträumt, solch ein geheimes Wesen aus Geschichten kennen zu lernen, doch jetzt, wo sie sich einem dieser Geschöpfe gegenüber sah, wusste sie sich nicht, was sie sagen sollte.
„Ich bin Margret und wohne hier mit meinen Eltern in diesem Anwesen. Ich bin keine aus der Blutlinie der Caesarier, bei meinem Vater reißt diese ab. Ich habe kein reines Blut!“, versuchte Margret ihre Überraschung zu überspielen.
„Das ist wahrhaft rätselhaft“, antwortete der Käfer, „denn nur reines Blut ist dazu befähigt. Doch dies soll vorerst nicht unser Rätsel sein. Mein Name ist Hubertus, Hubertus von Marbius. Ich bin Begleiter des Prinzen von Hartolius. Haben Sie schon jemals von dem Königspaar Hartolius und ihrem Prinzen gehört?“
„Nein“, antwortete Margret, mehr konnte sie nicht hervorbringen. Die Situation war zu grotesk.
Während der geheimnisvolle grüne Käfer sprach und Zirplaute von sich gab, wippten seine zwei dünnen Fühler auf und ab.
An den Spitzen dieser, saß je eine leuchtende Perle. Sie änderten ihre Farben wie die des Regenbogens.
„Es ist sehr schön, Sie kennen zu lernen, Miss Margret, und ebenso ein Wunder, Sie hier anzutreffen. Ich überlege seit langem, wie ich mit Ihnen Kontakt aufnehmen könnte. Doch auch wenn diese Aufgabe gemeistert wurde, noch ist die Zeit nicht reif, Sie in unser Vorhaben einzuweihen“, antwortete Hubertus.
Margret fiel es schwer, dem Ganzen zu folgen.
„Versprechen Sie mir, Miss Margret, dass wir uns hier noch einmal wiedersehen, sodass ich Sie dann in unseren Plan einweisen kann. Kommen Sie in drei Tagen zur frühen Nachmittagsstunde wieder hier hinunter in die Katakomben! Ich bitte Sie im Namen aller, deren Schicksal auf dem Spiel steht“, sprach er und drehte sich hektisch zur Steinwand um, durch die er im Bruchteil einer Sekunde entschwand.
Margret stand verwirrt in dem kalten Raum und achtete auf das kleinste Geräusch. Doch es herrschte Totenstille.
Über dieses ungewöhnliche Gespräch hatte sie die Zeit vollkommen vergessen. Sie rannte mit der Kerze in der Hand, deren Flamme zu erlöschen drohte, die Treppe hinauf, sich einredend einer Sinnestäuschung erlegen zu sein.
Oben angekommen zeugte jedoch nichts von ihrer unerlaubten Abwesenheit. Sie zog sich unbemerkt in ihr wohlig warmes Dachzimmer zurück, das ihr wie eine paradiesische Insel vorkam, nachdem sie das feuchte Gewölbe verlassen hatte. Sie setzte sich auf das Bett, das ein leises Knarren von sich gab und zwang sich tief durchzuatmen.
Dies war eines ihrer Rituale, was sie immer dann anwandte, wenn eine Geschichte in ihren Büchern zu nervenaufreibend war. Danach schien ihr alles leichter zu fallen.
Als Margret jedoch den letzten Atemzug getan hatte, löste sich ihre Anspannung nicht. Ihre Muskeln zitterten vom Rennen und in ihrem Kopf war immer noch die Erinnerung an den grünen Käfer, der sich ihr in dem Gewölbe im Kerzenlicht vorgestellt hatte und sie bat, in drei Tagen ein weiteres Mal hinabzusteigen. „Das kann doch nicht sein, ich muss geträumt haben“, murmelte Margret vor sich hin und strich mit den Fingern über die Stirn. „Du wirst verrückt, liest zu viele Bücher und kannst die Realität nicht mehr von der Phantasie unterscheiden!“
Mit diesen Worten schüttelte Margret heftig ihren Kopf, sodass ihre Haare herumflogen, als versuchte sie die Erinnerung so aus ihrem Gedanken zu vertreiben.
Am darauffolgenden Tag hatte Margret kein Glück, dem Unterricht mit Master Crispin zu entkommen.
Es war furchtbar langweilig während der Stunden. Auf dem Plan stand Geschichte und Margret wusste von vornherein, dass die Zeit heute zäh vorbeifließen würde.
Sie fühlte sich, seit sie Platz genommen hatte, in dem Raum gefangen, in dem die Luft vor Hitze stand.
Die Langeweile, die Margret beschlich, lähmte förmlich ihre Gedanken. Sie hörte nur Bruchteile dessen, worüber Master Crispin philosophierte. Es waren die Königskriege, so viel wusste sie. Doch um welche Schlacht es sich diesmal handelte, war an ihr vorbeigezogen. Master Crispin entstammte einer ehrwürdigen Familie. Kampfesmut war nie in seinen Adern geflossen, um in die Fußstapfen seines Vaters Louis Crispin treten können, doch seine Passion fand er im Studium der Geschichte und Sprachen.
Einige Wortfetzen drangen Margret ans Ohr und drängten sich in ihre Gedanken: „Ich kann somit direkt von den Vorkommnissen am grauen Berg und den Kranichanhöhen berichten. Über Anfang, Verlauf und Ausgang, jeweils aus den Blickwinkeln der beteiligten Mächte. Dieses Tagebuch“, dabei hielt Master Crispin ein zerschlissenes in braunes Leder gebundenes Buch in der linken Hand nach oben, was seine These untermauern sollte, „ist das achte Buch aus den Memoiren meines Vaters über das Herrschertum des erbarmungslosen Grafen. Eine Zeit“, er holte tief Luft, „in der die Grundsteine für die Kriege gelegt wurden. Und auch sie Fräulein Choclair werden die Königskriege und die damit verbundenen Finten und Intrigen kennen lernen. Ein spannenderes Thema kann ich mir nicht vorstellen.“ Damit schloss er seinen Vortrag fürs Erste ab, drehte sich zu der zerkratzten Schiefertafel um und begann Unmengen von Jahreszahlen niederzuschreiben.
Doch Margret, obwohl sie auch einer caesarischen Familie entstammte, konnte sich nicht dafür begeistern. Sie wusste, dass die Königskriege ausgebrochen waren, weil die Menschen sich von den Caesariern unterdrückt fühlten. Sie glaubten, Müßigkeit war in die Herzen der Caesariern eingekehrt und lähmte deren Gedanken, sodass sie ihre Aufgabe nicht mehr erfüllten. Sie wollten aufbegehren, selbst den Schutz des Universums übernehmen, doch sie vergaßen dabei, dass ihnen die Kraft fehlte, die den Caesariern mit ihrer Geburt verliehen wurde. Margret wusste um die Blutbäder, die veranstaltet wurden, in denen Willensstärke gegen verliehene Kraft kämpfte. Während Master Crispin weiterhin die Tafel füllte, konnte sie wieder ihren eigenen Gedanken folgen.
Sie erdachte lieber ihre eigenen Geschichten, wollte nichts von Crispins Umschreibungen der Schlachtszenen wissen und ließ ihre Gedanken davonfliegen, auf der Suche nach Abenteuern. Sie landete bei Harriet im Botanikum. Harriet war eine Pflanzenkundige, eine Frau deren Wissen auf Heilkräften der Natur beruhte. Oft schon hatte Margret versucht, sie nach ihren Fähigkeiten auszufragen, woraufhin sie ihr nur mit einem Lächeln geantwortet hatte, dass ihr um den Mund spielte.
Sie hatte sich in ihrem Haus, das schräg gegenüber des Hauptgebäudes lag, ein beschauliches Gewächshaus angelegt, in dem alle nur erdenklichen Kräuter in den Beeten wuchsen und ihren betörenden Duft verbreiteten. In den Gängen und Räumen des Anwesens standen auch Pflanzen und sie sah Albert oft dabei zu, wie er sich liebevoll um sie kümmerte, die grünen stummen Lebewesen hegte und pflegte, sodass sie wundervolle Blüten hervorbrachten. Aber so herrlich wie in Harriets Botanik, war es nirgends.
Margret besuchte Harriet oft in dem Paradies. Auf den Blüten und zwischen den Blättern lebten Insekten und prächtige Schmettlerlinge, Könige der Lüfte, mit breiten Schwingen, viel größer als die Nachtfalter, die draußen gegen die Laternen flogen. Die Schmetterlinge mit den weiten Schwingen lebten schon mehr als zwanzig Jahre. In dieser Zeit entwickelt sich die anfangs blasse Farbzeichnung zu immer farbenprächtigeren Mustern.
Nur dort drinnen konnte Margret sehen, welch eine Farbenpracht vor ihrer Geburt draußen herrschte. Gegenwärtig waren alle Töne der Pflanzen draußen matt. Gewächse, die jetzt noch im Freien überlebten, waren teils imposant, teils unscheinbare Nachtschatten, die nicht auf Sonnenlicht angewiesen waren. Jene Pflanzen, die seit der Dunkelheit überlebt hatten, hatten eine schnelle Metamorphose durchlebt und sich an die lebensbedrohlichen Umstände angepasst.
Besonders faszinierten Margret aber die caesarischen Gewächse, die den einzelnen Dynastien der Königwesen zugedacht waren.
Sie waren atemberaubend schön und gefährlich zugleich.
Margret beneidete Harriet, an diesem wundervollen Ort leben zu können, und zog ihre Gedankenfühler wieder zurück durch die Dunkelheit in das helle, warme Studienzimmer im Ostflügel.
Sie beschloss Harriet nach dem Unterricht zu besuchen und zu schauen, ob eine neue Pflanzenart zu bestaunen war.
Die letzten beiden Stunden vergingen noch zäher und Margret stürmte aus dem Zimmer, ohne auf die rufende Stimme des Masters zu achten, der entweder zur Vorsicht ermahnte oder ihr eine Studienaufgabe hätte erteilen wollen. Sie wusste, dass sie nie um diese Aufgabe herumkommen würde, doch für heute war es überstanden.
Harriet begrüßte Margret schon, als sie über den Rasen eilte und lud sie zu Tee und Kuchen ein. Sie setzten sich in das Botanikum, das mit Kerzen beleuchtet war. Die Blüten verströmten einen betörenden Duft. Margret liebte es, wenn Harriet, wie ihre Mutter, Geschichten von früher erzählte.
Manchmal sah sich Margret in einem der schönsten Kleider und einem mit Blumen besetzten Hut auf einer Wiese sitzend, saftig grünes Gras bedeckte einen Hügel und fühlte sich wie ein weiches Polster an. Kleine bunte Tupfen waren zwischen den zarten Grashalmen zu erkennen und gaben sich beim näheren Hinsehen als verzückende Blümchen zu erkennen. Ihre Farben waren so vielfältig, wie die Form ihrer Blütenblätter. Harriet erzählte, dass manche von ihnen auf unterschiedliche Pfeiftöne reagierten, sodass sie ihre Köpfe zu den Lauten reckten.
Doch am meisten liebte Margret die Flora Florinnae. Ihre Lieblingsblume, eine elegante Blüte aus dem Geschlechte der Bella Florinnae, die schon damals von Caesariern wegen ihrer Schönheit verehrt wurde und einst die Blüte der Choclairs war. „Grazil und anmutig regte sie, wenn die Sonne schien, ihr Haupt zum blauen Himmel. Ihr entschwebte ein Duft, dem keine Biene widerstehen konnte“, erzählte Harriet.
„Jedoch das geheimnisvollste, was sie umgab, war ihr Gesang. Nur wenige können das betörende Singen dieser verlockenden Königin vernehmen. Und jene aus dem Geschlecht der Choclairs, die dazu auserkoren sind, seien von Glück und Liebe im Leben beseelt. Aus ihr ließen sich die stärksten Heiltränke herstellen“, erzählte Harriet mit verklärtem Blick.
Aber seitdem die Dunkelheit alles umschlossen und die Finsternis sich ausgebreitet hatte, wurde sie nie wieder gesehen. Nicht einmal Harriet konnte eine von ihnen ihr Eigen nennen, obwohl ihr Botanikum an Größe und Schönheit nicht zu übertreffen war.
„Ich war vor langer Zeit zusammen mit meinem Mentor, Master Wickleton, auf Expeditionsreise. Ein begnadeter Mann im Bereich der Blitzheilung. Nur zwei Menschen auf dieser Erde beherrschten diese.
Er und Damarinius, ein begnadeter Alchemist, waren Entwickler einer Essenz, die schlimmste Verletzungen heilte.
Auf einer Reise um die Welt, fanden sie den Hauptbestandteil dieser Essenz. Aber etwas lief schief. Master Wickleton hatte nie davon erzählt, aber man munkelt von einem gescheiterten Experiment, dessen Ergebnis so schrecklich und furchterregend war, dass sie schworen nie wieder diese Essenz herzustellen. Master Wickleton nahm dieses Geheimnis mit in sein Grab.“ Harriets Stimme wurde traurig, während sie davon erzählte.
„Doch genug davon, heute habe ich für dich eine Überraschung“, sagte Harriet geheimnisvoll und stand auf, um einen kleinen unscheinbaren Karton mit kleinen Löchern aus dem Nachbarzimmer zu holen und ihn vorsichtig auf Margrets Schoß zu platzieren.
Sie hob den Deckel des Kartons, griff hinein, lächelte kurz und hob ein grünes Geschöpf aus dem Behälter. Margret konnte ihren Augen kaum trauen. Es war eindeutig ein grünes Amphibium mit zwei großen Augen, die erhaben von der Seite abstanden. Zwei kleine Nasenlöcher und ein breiter Mund darunter. Vorne auf der Stirn befand sich eine rote rautenförmige Zeichnung, die genau zwischen den grünen Augen mit den spindelförmigen Linsen saß. Die vorderen Gliedmaßen waren kurz, die hinteren vor Kraft strotzend zusammengefaltet und an allen vier Füßen befanden sich jeweils vier Zehen.
Nach dieser Betrachtungsweise eindeutig ein kleiner grüner Frosch, dem es in der Hand von Harriet sehr zu gefallen schien und der seine Umgebung aufgeweckt musterte.
Doch wollte Margret ihn nicht so recht einordnen, denn hinter den Augen wuchsen zarte blonde Locken.
„Dein Gesicht verrät deine Gedanken“, sagte Harriet verschwörerisch und reichte ihn ihr. Um das Geheimnis um meinen kleinen Freund hier zu lüften: Es handelt sich bei diesem Exemplar um einen, aus dem tropischen Sümpfen von Boloir kommenden, Ranunculus cirrii. Ein guter Bekannter hat ihn mir von einer seiner Reisen mitgebracht. Es ist ein Lockenfrosch.“
Margret entgleisten scheinbar die Gesichtszüge, denn Harriet begann köstlich zu lachen. „Ein treuer Begleiter wird er dir sein, also lass uns einen Namen für ihn finden. Wie möchtest du ihn nennen? Doch bedenke gut, seinen Namen wird er nur anerkennen und auf ihn hören, wenn er ihm gefällt!“ Margret brauchte nicht lange zu überlegen, denn wenn sie einen Namen mit einem Frosch verband, dann nur einen.
Fredrik.
„Ich werde ihn Fredrik nennen, wenn er nichts dagegen hat. Fredrik der Lockenfrosch.“ Danach wandte sie sich unsicher an ihren neuen Gefährten: „Hallo, Fredrik, mein Lockenfrosch?“ fragte Margret und kraulte das kleine grüne Kinn.
Als hätte Margret auf eine richtige Antwort gewartet, gab Fredrik ein erfreutes Quaken von sich und schmiegte sich an ihre warme Hand.
Margret verbrachte noch ein paar Stunden in dem Paradies, lauschte den Geschichten von abenteuerlichen Reisen und machte sich dann auf den Weg in ihr eigenes Zuhause. Sie wollte unbedingt an diesem Abend in ihr Bett schlüpfen und das Erlöschen der Laternen beobachten, bis sie nur noch ein leichtes orangenes Glimmen von sich gaben.
Morgen würde der Tag sein, an dem sich der Smaragdkäferlinger Hubertus mit Margret verabredet hatte, doch sie hatte es vergessen. Der gestrige Tag bei Harriet war so aufregend gewesen, als sie dem Frosch einen Namen verleihen und in so viele Geschichten eintauchen durfte.
Master Crispin stand wild gestikulierend an der Tafel und war vollkommen in die Schlacht in den grauen Kranichbergen eingetaucht. Mit voller Inbrunst zeichnete er die taktischen Angriffe entlang des Berghanges an die Tafel und symbolisierte so, wie viele Opfer auf beiden Seiten gefallen und welche Rückschläge zu verzeichnen waren.
Als Margret endlich am Nachmittag vom Lernen befreit war, freute sie sich das Ende ihres Romans zu lesen. Auf den letzten Seiten war dieser so nervenaufreibend, das sich ihr Herzschlag erhöhte. Margret rutschte auf ihrem Bett hin und her, als wüsste sie nicht recht, wie sie sitzen sollte. Eine Geschichte, die ihr das Herz bis zum Hals schlagen ließ.
So verging die Zeit.
Margret wachte zur nächsten Nachtgleiche auf, die Laternen entsendeten bereits ihr Licht in die Dunkelheit und sie schlug die Decke zurück, um sodann die Beine aus dem Bett zu schwingen und zum Frühstück zu eilen. Beim Hinausgehen schlüpfte sie kurz in ihre Hauspuschen und griff nach ihrem Morgenmantel.
Als sie die Treppe herunterrannte, umwehte sie der Geruch von frisch gebackenen Croissants und mit Puderzucker bestreuten Waffeln. Elisa und Arthur saßen bereits am Frühstückstisch, ihr Vater mit der Zeitung in der Hand.
Sie raschelte beim Aufschlagen und sein Blick verriet, dass er vertieft in einen Artikel war. Wahrscheinlich über ein politisches Thema, das in der Ratssitzung besprochen wurde und nun als Bericht seinen Platz dort gefunden hatte.
Es war sein morgendliches Ritual, Margret kannte es sehr gut. Elisa, gehüllt in einen seidenen Morgenmantel, saß mit einem Marmeladenbrötchen so am Tisch, dass sie den verträumten Blick in dem Garten schweifen lassen konnte, und wippte mit einem ihrer Beine im Takt einer Musik, die nur sie hören konnte.
Für Margret bedeutete dieser Anblick, zu Hause zu sein. Sie schlich um den großen massiven Esstisch herum, an dem die Familie sich zu den Mahlzeiten traf. „Morgen kleines Mäuschen, hast du gut geschlafen?“, ihre Mutter hatte ihren verträumten Blick gelöst und schaute ihre Tochter interessiert an. Margret lächelte, machte kurz kehrt, steuerte auf ihre Mutter zu und drückte ihr während einer Umarmung einen Kuss auf die Wange. „Du weißt doch, dass ich nicht mehr dein kleines Mäuschen bin“, protestierte sie, genoss aber die Umarmung ihrer Mutter, die sie wiederum nicht mehr los ließ und ihr daraufhin nur ins Ohr flüsterte: „Dann eben nur Mäuschen“.
Danach ging Margret zu ihrem Platz, wo bereits ein luftiges Croissant auf ihrem Teller lag. Ein dampfender Tee stand daneben und Albert eilte sofort herbei, um sich nach ihren Wünschen zu erkundigen. Margret dankte ihm und biss in ihr luftiges Gebäck.
Es war bereits Mittag, als Margret an ihrem Schreibtisch sitzend ein leises Geräusch zu hören glaubte. Es glich einem singenden Weinglas, wenn mit dem Finger über den Rand gestrichen wird und sich dann ein hauchzarter Ton in die Luft erhebt.
Anfangs glaubte Margret, sich dies nur eingebildet zu haben, doch als er ein zweites Mal an ihr Ohr drang, schaute sie sich im Zimmer um. Dort war nichts auszumachen. Verwundert wandte sie sich wieder der Hausarbeit zu, die ihr Master Crispin aufgetragen hatte.
Doch wenige Sekunden später erklang ein leises Geräusch, das in ihrem Kopf widerhallte.
Sie ging die Treppe hinunter, schaute, was diesen Laut erzeugt haben könnte. Margret ging die Hand auf dem Geländer liegend, die alten, knarrenden Stufen hinunter. Früher hatte sie oft auf dieser Treppe gespielt.
Jetzt stand sie orientierungslos in der hohen Eingangshalle und glitt mit ihrem Blick über Wände und Möbel, auf der Suche nach einem Hinweis. Ein neues Klirren drang an ihr Ohr und führte sie vor die Tür zu den Katakomben.
Da kam Margret ihr Versprechen, das sie dem seltsamen Käfer gegeben hatte, wieder in den Sinn. Sie hatte es vollkommen vergessen.
An den letzten Ausflug erinnert, griff sie nach einer Jacke, die in einem angrenzenden Kleiderzimmer des Foyers hing, zog sie sich ebenso schnell über und nahm eine Kerze in die Hand, die sie erst, als sie hinter der Tür stand, anzündete. Auch diesmal war die Tür nicht verschlossen gewesen.
Rascher als beim letzten Mal ging sie die steinerne Wendeltreppe hinunter. Sie streckte den Arm mit der Kerze in die Höhe, um in diesem dunklen Raum besser sehen zu können. „Hubertus“, flüsterte sie in die Stille hinein, „Hubertus von Marbius, sind Sie hier irgendwo?“
„Herr von Marbius, ich bin es: Margret“, fügte Margret leise hinzu. Da kam ein leises Knistern aus der Ecke, aus der schon vorgestern das Geräusch zu vernehmen gewesen war.
Hinter den Kartons erspähte Margret ein zartes Leuchten, das hinter den Kartons umherhuschte.
Es war der maigrüne Smaragdkäferlinger Hubertus, der sich seinen Weg auf den obersten Karton suchte und wenige Augenblicke später auf dem braunen Deckel einer staubigen Pappschachtel saß. „Miss Margret, wo waren Sie? Wir hatten uns doch vorgestern zur gleichen Zeit hier unten verabredet“, setzte Hubertus Margret vorwurfsvoll entgegen.
„Entschuldigen Sie bitte, Herr von Marbius! Es war nicht meine Absicht unsere Verabredung zu verpassen. Ich sitze an einer Hausarbeit und habe darüber die Zeit völlig vergessen“, antwortete Margret peinlich berührt. „Sie haben wenigstens das Signal gehört, das ich Ihnen zusandte. Und Margret, nennen Sie mich bitte Hubertus.“ „Dann bitte nur Margret“, unterbrach sie den Smaragdkäferlinger.
„Es gibt vieles, das ich dir erklären muss. Die Reichweite der geschehenen und kommenden Dinge ist kaum zu erfassen.“, führte Hubertus seinen Gedanken fort.
Ohne eine weitere Andeutung oder Erklärung krabbelte er auf Margret zu und hinterließ deutliche Spuren im alten Staub.
Am Rand des Deckels angekommen, schaute er zu Margret auf, wobei seine Leuchtkugeln an den Antennen wippten und von einem Grün in ein Petrol wechselten. „Du musst mich auf deine Schulter nehmen. Es ist wichtig, dass ich möglichst nah an deinem Ohr sitze. Du musst meinen Anweisungen unbedingt Folge leisten. Wir haben es mit Mächten zu tun, bei denen wir es uns nicht leisten können, sie auf uns aufmerksam zu machen oder ihnen gar zu begegnen“, sagte Hubertus, der nicht unverhoffter in Margrets Leben hätte treten können und sich mit drei kräftigen Flügelschlägen auf Margrets Schulter niederließ. Kleine weiße Adern zogen sich über die Schwingen. Seine pergamentenen Flügel falteten sich ebenso geräuschlos und schnell wieder zusammen, wie sich entfaltet hatten, um den kleinen Körper in die Lüfte zu heben.
Hubertus sprach in Rätseln, seine Andeutungen brachten Margret jedoch dazu keine Fragen zu stellen. „Hör mir gut zu. Schiebe die Kartons zur Seite, jene die dort an der hinteren Wand gegenüber des Ausganges stehen.“
Margret war verwirrt, doch sie tat wie Hubertus ihr gesagt hatte und räumte die vielen vollen Kartons von dort zur anderen Seite, sodass nach einiger Zeit die pechschwarze Wand zum Vorschein kam. Margret stellte sich davor und strich gedankenverloren über das Gestein. Es fühlte sich glatt und kalt an, kalt wie schwarzes Eis.
„Das war es, was du mir zeigen wolltest, eine nackte kalte Wand?“, fragte Margret etwas spöttisch. Doch irgendetwas hielt ihren Blick an der Wand gefangen.
„So, jetzt ist es an Dir den Zauber zu brechen und zu beweisen, dass du der Choclair-Blutlinie entstammt.“
„Ich versteh‘ nicht recht“, antwortete Margret.
„Stell dich direkt vor die Wand, auf den Stein mit dem Zeichen der Choclair-Familie, heb die rechte Hand und berühr den großen Stein.“
Erst jetzt schaute Margret auf den Boden und sah dort in Stein gebannt jenes Zeichen, dass ihr Vater hinter seinem Ohr trug.
Margret stellte sich auf den Steinquader im Fußboden und hob ihre rechte Hand, sodass sie die Wand mit ihrer Handfläche berührte. In diesem Moment zuckte ein Strom durch sie hindurch, er durchzog sie wie ein Blitzschlag.
Ein beängstigendes, aber elektrisierendes Gefühl ging durch ihren Leib und ein starkes Brennen hinter ihrem rechten Ohr ließ sie für einen Wimpernschlag Dunkelheit vor ihren Augen aufziehen und sie zusammenzucken. Von weit her hörte sie die Stimme von Hubertus und so viele andere unbekannte Stimmen, die sie alle nicht kannte und die ihr etwas ins Ohr flüsterten. Es fiel ihr schwer Hubertus darunter auszumachen.
„Margret, sei tapfer! Du bist eine Erbin der Choclair-Familie. Nehm die Hand nicht von der Wand, nur mit all deiner Kraft, wird sie sich öffnen.“
Unter ihrer Hand verlor die Wand an Farbe. Bis ein heller wallender Vorhang vor ihr hing, den sie ohne Probleme durchschreiten konnte.
„Geh hindurch, dir wird dahinter nichts geschehen.“
An der Stelle, an der sie den Stoff berührte, begann ein Leuchten ihre Hand zu umfließen. Sie steckte ihre Hand in das Licht, jeder Zentimeter ihrer Haut erfror für den Bruchteil einer Sekunde, bis ihre Hand auf der anderen Seite herausreichte. Danach schob sie ihren elektrisierten Körper samt Käfer auf der Schulter hinterher. Durch die Kälte fühlte sich plötzlich wie betäubt, ihr Atem stockte und der Boden wurde unter ihren Füßen weggezogen. Kurze Zeit später trat sie auf der anderen Seite in einen Raum, wiederum nur erleuchtet von der Kerze, die Margret in ihrer linken Hand umklammerte. Sie ließ den Blick schweifen, nachdem sich ihre Augen geklärt hatten.
Dieser Raum glich einer Höhle. Die Wände waren gleichermaßen aus schwarzem Gestein, jedoch nur grob beschlagen.
An den glatten Stellen wurde das Licht reflektiert, wie in einem Spiegel und zauberte bizarre Formen auf die Wände. Alles glich einem kubischen Gemälde.
„Wohin hast du mich geführt, Hubertus?“
„Dorthin, wo unsere Reise ihren Anfang nehmen wird“, antwortete der grüne Käferlinger.
Wenn Margret es nicht besser gewusst hätte, es nicht am eigenen Leib gespürt hätte, durch eine steinerne leuchtende Wand geflossen zu sein, hätte sie geglaubt, in einem der realsten Träume ihres Lebens zu sein.
Doch sie stand, in der linken Hand die flackernde Kerze, den Käfer Hubertus auf ihrer Schulter sitzend und festen Boden unter den Füßen spürend, in der riesigen Höhle.
„Es wird nicht leicht.“
„Was meinst du?“, wandte sich Margret an Hubertus und drehte ihren Kopf leicht in seine Richtung, um ihn aus dem Augenwinkel zu erspähen.
„Wir sind noch nicht am Ziel unserer heutigen Reise.“
Margret wusste nur mit einem Kopfnicken zu antworten.
„Du musst ein Tor am anderen Ende eines Sees erreichen, der sich vor Jahrhunderten gebildet hat. Ein Weg aus eingesunkenen Steinen wird dir den Weg an das sichere Ufer weisen“, sprach Hubertus und erhob sich in die Luft. Seine Stimme hallte von den Wänden wider. „Margret, du musst diesen Teil der Strecke alleine zurücklegen. Ich erwarte dich am Tor.“
Er flog nahezu lautlos davon, bis Margret seine Leuchtkugeln nicht mehr sehen konnte.
Margret stand betäubt und verlassen mit der Kerze in der Hand, die zuckende Schatten auf den Boden warf. In ihrem Kopf gab es nur noch einen einzigen Gedanken.
Zurück!
Es gab nur noch einen Weg, den sie gehen wollte.
Tausende Stimmen schrien wieder in ihrem Kopf.
Am lautesten die Angst.
Sie drehte sich auf ihren Füßen schwungvoll um, wollte durch die leuchtende Wand zurück, prallte aber hart mit ihrem Körper gegen kalten Stein.
Es war kein Schmerz, der in ihrem Körper explodierte, sondern der Bruchteil einer Sekunde, die ihr klar machte, dass es keinen Rückweg für sie gab. Der Durchgang war verschlossen, Rabenschwärze gähnte sie mit ihrem aufgerissenen Maul an, als sie sich wieder umdrehte.
Kein Durchkommen!
So schnell veränderten sich ihre Optionen und kehrten sich in das Gegenteil um.
Margret versuchte sich krampfhaft an die Worte des Smaragdkäferlingers zu erinnern, doch nur Wortfetzen ließen sich in ihrer Erinnerung finden.
„Hubertus!“, schrie sie voller Panik in die Dunkelheit hinein. Verstummte aber abrupt. Sie vermochte sich nicht ausmalen, was sie in dieser Höhle aus dem Schlaf erwecken könnte.
Sie zwang sich zur Ruhe und die rasende Angst legte sich und Wut breitete sich heiß in ihrer Brust aus. Jegliche Entscheidungen wurden ihr von einer anderen Macht abgenommen.
Sie versuchte sich zu orientieren, schaute sich nach Anhaltspunkten um, an die sie sich wie an einen Strohhalm hätte klammern können. Aber sie sah nichts, nichts außer der dichten Dunkelheit. Sie war an Dunkelheit gewöhnt, aber diese fühlte sich anders an, wie ein Lebewesen, das atmete und jeden Quadratmillimeter ausfüllte. Ein seltsames Pulsieren ging von diesem Geschöpf aus und verschluckte nahezu jeden einsamen Lichtstrahl den die Kerze entsendete.
Margret machte einen Schritt vor den anderen, stolperte beinahe wegen einer Spalte im Grund. Bald stellte sie fest, dass sie nur in eine Richtung gehen konnte. Die Zeit war schon lange für sie stehen geblieben, also konnte sie auch nicht sagen, wie lange sie schon durch die Dunkelheit wanderte.
Dann geschah das, was sie am meisten fürchtete: der Gang teilte sich. Die Entscheidung lag bei ihr, sie war auf sich selbst gestellt. Rechts ein Durchgang, ebenso wie links. Beide vollkommen identisch.
Das einzige, was ihr in diesem Moment einfiel, war die Kerze zu heben und sie in jeden von den beiden Gängen zu halten. Ein Windzug würde die Kerzenflamme zum Flackern bringen.
Doch was hätte sie davon?
Sie wusste weder, wo sie war, noch wo sie hin sollte, ein Flackern würde ihr nicht helfen.
Sie konnte sich nur blind entscheiden.
Margret wusste nicht warum, aber ihr Gefühl ließ sie in den rechten Gang hineingehen, der erneut in einem größeren Raum endete, an dessen Ende der dunkle See lag, den Hubertus erwähnt hatte. Margret erkannte ihn an der Reflektion, die von seiner Oberfläche ausging.
Keine Wellen brachen sich am Ufer, das aus Geröll bestand.
Totenstill lag die Oberfläche vor ihr.
Sie sah im Dämmerlicht die eingesunkenen Steine, glatt an der Oberseite, sodass ein Überqueren des Gewässers für Margret kein Problem zu sein schien. Doch viel Zeit blieb ihr nicht mehr, die Kerze war beinahe nur noch ein Stummel. Margret betrat den Steinstrand, sodass ein Knirschen unter ihren Füßen geboren wurde.
Vorsichtig ging sie in Richtung des Wassers. Da stand sie nun direkt vor dem See, ein Gedanke huschte ihr durch den Kopf und sie bückte sich, hob einen der Steine auf, der glatt und leicht in ihrer Hand lag. Wog ihn nochmals kurz ab und schmiss ihn in Ufernähe hinein. Was Margret sah, wollte nicht zu ihren Erinnerungen passen. Der Stein platschte nicht hinein, sodass kleine Tropfen hochspritzten, sich hohe Wellenberge und Täler bildeten, um sich so weit wie möglich auszubreiten. Sondern sie vernahm nur ein schmatzendes Geräusch, als der Stein die Oberfläche berührte, eintauchte und eine Wölbung an der Stelle hinterließ.
Dick, wie schwarzes Blut.
Doch Margret hatte keine andere Wahl, sie musste über diesen See. Sie nahm allen Mut zusammen, ging noch ein Stück weiter an den See heran, sodass sie mit einem weiten Schritt den rechten Fuß auf den ersten Stein setzte. Als sie jedoch ihr Gewicht darauf verlagerte, begann der Fels zu schwanken und in die Flüssigkeit einzusinken.
Ihrer Kehle entrann ein dumpfer Laut, sie zog ihren Fuß zurück und der Stein stieg wieder auf. Flache, träge Wellen breiteten sich aus und Unruhe durchzog den See.
Es ging weder vor noch zurück. Sie ging am Ufer entlang in der Hoffnung den See zu umrunden, doch an den Rändern zog sich das Felsgestein empor.
Sie konnte nur geradeaus über die Steine.
Also versuchte sie es erneut, den Fuß auf den ersten Stein zu setzen, um zu sehen, wie viel er einsinken würde.
Zu ihrer Verblüffung tauchte er nur einige Zentimeter ein, sodass er kurz über der Oberfläche verharrte. Sie balancierte mit beiden Füßen auf dem Stein, um von dort den nächsten zu erreichen, der sich weiter links von ihr befand.