Obsidian 5: Opposition. Schattenblitz - Jennifer L. Armentrout - E-Book
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Obsidian 5: Opposition. Schattenblitz E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Katy kann noch immer nicht glauben, dass Daemon sie verlassen und sich der Armee der Lux angeschlossen hat. Seit deren Invasion ist ein Krieg ausgebrochen, der schon viele Menschenleben gekostet hat. Niemand ist mehr sicher, doch um der schwangeren Beth zu helfen, wagt Katy sich aus dem Haus. Als ihr größter Wunsch in Erfüllung geht und sie Daemon begegnet, scheint dieser jegliche Gefühle für sie verloren zu haben. Katy muss herausfinden, ob noch etwas von dem Daemon, den sie liebt, in ihm steckt – bevor alles verloren ist. Dies ist der fünfte und letzte Band der Obsidian-Serie von Jennifer L. Armentrout. Alle Bände der unwiderstehlichen Bestsellerserie: Obsidian. Schattendunkel Onyx. Schattenschimmer Opal. Schattenglanz Origin. Schattenfunke Opposition. Schattenblitz Shadows. Finsterlicht (Prequel) Alle Bände der dazugehörigen Oblivion-Serie: Oblivion 1: Lichtflüstern (Obsidian aus Daemons Sicht erzählt) Oblivion 2: Lichtflimmern (Onyx aus Daemons Sicht erzählt) Oblivion 3: Lichtflackern (Opal aus Daemons Sicht erzählt) Alle bisher erschienenen Bände der Spin-off-Serie »Revenge«: Revenge. Sternensturm Rebellion. Schattensturm Redemption. Nachtsturm

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Jennifer L. Armentrout: Opposition. Schattenblitz

 

Aus dem Englischen von Anja Malich

Katy kann noch immer nicht glauben, dass Daemon sie verlassen und sich der Armee der Lux angeschlossen hat. Seit deren Invasion ist ein Krieg ausgebrochen, der schon viele Menschenleben gekostet hat. Niemand ist mehr sicher, doch um der schwangeren Beth zu helfen, wagt Katy sich aus dem Haus. Als ihr größter Wunsch in Erfüllung geht und sie Daemon begegnet, scheint dieser jegliche Gefühle für sie verloren zu haben. Katy muss herausfinden, ob noch etwas von dem Daemon, den sie liebt, in ihm steckt – bevor alles verloren ist.

Alle Bände der unwiderstehlichen SPIEGEL-Bestsellerserie:

Obsidian. Schattendunkel

Onyx. Schattenschimmer

Opal. Schattenglanz

Origin. Schattenfunke

Opposition. Schattenblitz

Wohin soll es gehen?

 

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Für alle Leser, die irgendwann einmal zufällig über Obsidiangestolpert sind und sich gedacht haben: Aliens auf der Highschool?Warum eigentlich nicht? Ich habe schon seltsamere Dinge gelesen.Und die Katy, Daemon und wer sonst noch so dazugehört danngenauso lieb gewonnen haben wie ich. Dieses Buch ist für euch. Danke.

Kapitel 1

Katy

Früher hatte ich mir für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich den Weltuntergang miterleben würde, immer vorgenommen aufs Dach unseres Hauses zu steigen und so laut wie nur irgend möglich »It’s the End of the World as We Know It (And I Feel Fine)« von R.E.M. zu grölen. Leider ist das echte Leben dann selten so cool.

Es geschah vor unseren Augen – die Welt, wie wir sie kannten, ging gerade unter und ich fühlte mich alles andere als »fine«. Und cool schon gar nicht.

Ich öffnete die Augen und schob langsam den dünnen weißen Vorhang zur Seite. Dann blickte ich hinaus, über die Veranda und die Lichtung hinweg in den dichten Wald, der Lucs Blockhaus umgab. Es lag außerhalb von Coeur d’Alene, einer Stadt in Idaho, die ich kaum aussprechen, geschweige denn buchstabieren konnte.

Die Lichtung war leer. Kein flackerndes weißes Licht schimmerte durch die Bäume. Dort war niemand. Falsch. Dort war nichts. Kein Vogel zwitscherte oder flatterte von Ast zu Ast. Kein Rascheln irgendeines Waldbewohners war zu hören. Nicht einmal das leise Summen von Insekten. Es war so ruhig und still, dass mir kalte Schauer über den Rücken liefen.

Ich starrte in den Wald hinein und heftete den Blick auf die Stelle, an der ich Daemon zum letzten Mal gesehen hatte. Der Schmerz saß tief und meldete sich pochend in meiner Brust. Der Abend, an dem wir auf dem Sofa eingeschlafen waren, kam mir ewig lang her vor, dabei waren gerade einmal achtundvierzig Stunden vergangen, seit ich überhitzt und von Daemons wahrer Erscheinungsform geblendet aufgewacht war. Er war nicht in der Lage gewesen, sie zu kontrollieren, doch wahrscheinlich hätte es auch nichts geändert, wenn wir gewusst hätten, was es zu bedeuten hatte.

Viele andere seiner Spezies, Hunderte – wenn nicht Tausende – Lux, waren auf die Erde gekommen und Daemon … er war fort, genau wie Dee und Dawson, seine Schwester und sein Bruder, während wir nach wie vor hier waren, in Lucs Blockhaus.

Ich spürte einen Druck auf der Brust, als würden mir mit einem Schraubstock Herz und Lungen zusammengepresst.

Immer wieder musste ich an Sergeant Dashers Warnung denken. Ich hatte wirklich geglaubt, er und Daedalus wären vollkommen übergeschnappt, doch sie hatten richtiggelegen.

O Mann, sie hatten so richtiggelegen.

Die Lux waren gekommen, wovor Daedalus gewarnt und worauf sie sich vorbereitet hatten, und Daemon … der Druck auf der Brust wurde so stark, dass er mir den Atem raubte. Ich kniff die Augen zusammen. Ich hatte keine Ahnung, warum er mit ihnen gegangen war und warum ich weder von ihm noch von seiner Familie etwas gehört hatte. Sein Verschwinden ließ mich verängstigt und ratlos zurück und lag wie ein Schatten über jedem Moment, den ich wach war, und selbst die kurze Zeit, die ich geschlafen hatte, war nicht frei davon gewesen.

Auf welcher Seite stand Daemon? Sergeant Dasher hatte mir diese Frage einst gestellt, als ich in der allzu realen Area 51 festgehalten worden war, und ich konnte mir noch immer nicht eingestehen, dass ich die Antwort jetzt wusste.

In den letzten beiden Tagen waren weitere Lux vom Himmel gefallen. Wie ein endloser Sternschnuppenregen waren immer mehr gekommen und dann –

»Nichts.«

Ich schlug die Augen auf und der Vorhang glitt aus meinen Fingern, bis er wieder gerade hinunterhing. »Verzieh dich aus meinem Kopf.«

»Ich kann nichts dafür«, erwiderte Archer, der auf dem Sofa saß. »Du denkst dermaßen laut, dass ich das Gefühl habe, ich müsste mich in die nächste Ecke setzen und mich vor- und zurückwiegend Daemons Namen vor mich hin flüstern.«

Meine Haut kribbelte vor Unbehagen, dabei konnte ich noch so sehr versuchen meine Gedanken, Sorgen und Ängste für mich zu behalten, es war zwecklos, da nicht nur einer, sondern sogar zwei Origins im Haus waren. Ihre nette kleine Gabe, Gedanken zu lesen, konnte einem ganz schön auf den Geist gehen.

Wieder zog ich den Vorhang ein Stück zurück und suchte den Wald ab. »Noch immer kein Lux?«

»Nein. In den letzten fünf Stunden ist kein einziges Licht mehr zu Boden gerauscht.« Archer klang so erschöpft, wie ich mich fühlte. Auch er hatte nicht viel geschlafen. Während ich unsere Umgebung nicht aus den Augen lassen konnte, hatte er die ganze Zeit die Fernsehnachrichten verfolgt. Auf Kanälen aus aller Welt war unaufhörlich über das »Phänomen« berichtet worden.

»Ein paar Sender behaupten, es handele sich um einen gewaltigen Meteoritenschauer.«

Ich schnaubte verächtlich.

»Jetzt noch irgendetwas vertuschen zu wollen ist zwecklos.« Archer seufzte ermattet und er hatte Recht.

Was in Las Vegas geschehen war – was wir angerichtet hatten –, war gefilmt und binnen Stunden übers Internet verbreitet worden. Zwar waren die Videos am Tag nach der Zerstörung wieder aus dem Netz verschwunden, doch der Schaden war bereits angerichtet. Angefangen bei den Aufnahmen, die vom Pressehubschrauber aus gemacht worden waren, bevor Daedalus ihn abgeschossen hatte, bis hin zu den Leuten, die alles mit ihren Handykameras gefilmt hatten – die Wahrheit ließ sich nicht leugnen. Doch im Internet geschahen manchmal seltsame Dinge. Während einige Leute in ihren Blogs den Weltuntergang beschworen, war das Ereignis für andere ein Anreiz, kreativ zu werden. Anscheinend war es bereits zu einem Meme geworden.

Ein unglaublich fotogener, leuchtender Alien als viraler Hit.

Genauer gesagt handelte es sich um Daemon in seiner wahren Erscheinungsform. Auch wenn die menschlichen Züge nicht mehr zu erkennen waren, wusste ich, dass er es war. Er wäre megastolz darauf, wenn er es sehen könnte, aber ich hatte –

»Hör auf«, sagte Archer beschwichtigend. »Wir haben keine Ahnung, was Daemon oder die anderen im Moment treiben und warum. Sie werden wiederkommen.«

Ich wandte mich vom Fenster ab und drehte mich zu Archer um. Das sandfarbene Haar trug er militärisch kurz geschoren. Er war groß, hatte breite Schultern und sah aus wie jemand, der zuschlagen konnte, wenn es darauf ankam, und ich wusste, dass er es auch tat.

Archer konnte geradezu tödlich sein.

Als ich ihm in Area 51 zum ersten Mal begegnet war, hatte ich ihn für einen normalen Soldaten gehalten. Erst später, gemeinsam mit Daemon, hatten wir herausgefunden, dass er Lucs Mann bei Daedalus und, genau wie Luc, ein Origin, das Kind eines männlichen Lux und eines weiblichen Hybriden, war.

Unwillkürlich ballten sich meine Hände zu Fäusten. »Kannst du es dir wirklich vorstellen? Dass sie zurückkommen?«

Amethystfarbene Augen bewegten sich vom Fernseher zu mir. »Etwas anderes kann ich mir im Moment nicht vorstellen. Etwas anderes können wir uns alle im Moment nicht vorstellen.«

Beruhigend klang es nicht gerade.

»Tut mir leid«, sagte er und verriet damit, dass er meine Gedanken abermals belauscht hatte. Er nickte in Richtung Fernseher, bevor ich eine Chance hatte auszuflippen. »Irgendetwas geht da vor sich. Warum sollten so viele Lux auf die Erde kommen und dann einfach wieder in der Versenkung verschwinden?«

Das war die Frage des Jahres.

»Ich glaube, das ist ziemlich offensichtlich«, sagte eine Stimme aus dem Flur. Ich drehte mich um und sah Luc das Wohnzimmer betreten – groß und feingliedrig, das braune Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Luc war jünger als wir, vierzehn oder fünfzehn, aber er war wie ein frühreifer Mafia-Boss und zeitweise angsteinflößender als Archer. »Und du weißt genau, was ich meine«, fügte er, den Blick auf Archer gerichtet, hinzu.

Während sich Archer und Luc einen erbitterten Kampf lieferten, wer dem Blick des anderen länger standhielt, was sie in den letzten zwei Tagen oft getan hatten, ließ ich mich auf der Lehne eines Sessels in der Nähe des Fensters nieder. »Würdest du das bitte für alle im Raum hörbar erklären?«

Luc hatte etwas Jungenhaftes an sich, sein Gesicht war noch immer ein wenig kindlich rund. Gleichzeitig blitzten seine violetten Augen so weise, dass sie ihn alles andere als kindlich wirken ließen.

Mit verschränkten Armen lehnte er sich gegen den Türrahmen. »Sie planen. Hecken eine Strategie aus. Warten ab.«

Das klang nicht gut, überraschte mich allerdings nicht. Ich spürte plötzlich ein Ziehen zwischen den Schläfen. Archer blickte ohne ein weiteres Wort wieder auf den Fernseher.

»Warum sollten sie sonst herkommen?«, fuhr Luc fort und blickte, den Kopf zur Seite geneigt, auf den zugezogenen Vorhang vor dem Fenster neben mir. »Ich bin mir sicher, dass es ihnen nicht darum geht, Hände zu schütteln und Babys zu knuddeln. Sie sind aus einem bestimmten Grund hier und es ist kein guter.«

»Daedalus hat eine Invasion von ihnen schon immer befürchtet.« Archer setzte sich zurück und legte die Hände auf den Knien zusammen. »Die ganze Sache mit den Origins ist nur deshalb entstanden. Immerhin haben sich die Lux in der Vergangenheit nicht gerade dadurch hervorgetan, freundlich mit anderen intelligenten Lebensformen umgegangen zu sein. Aber warum ausgerechnet jetzt?«

Ich rieb mir die schmerzenden Schläfen. Ich hatte Dr. Roth nicht geglaubt, als er behauptet hatte, die Lux selbst hätten den Krieg mit den Arum verschuldet – einen Krieg, der ihrer beider Planeten zerstört hatte. Und Sergeant Dasher und Nancy Husher, das Superbiest an Daedalus’ Spitze, hatte ich für abartige Freaks gehalten.

Ich hatte mich geirrt.

Und Daemon ebenfalls.

Luc hob eine Augenbraue und lachte heiser. »Na ja, ich weiß nicht. Vielleicht hat es mit dem öffentlichen Spektakel zu tun, das wir in Las Vegas hingelegt haben. Wir wussten, dass es hier Spitzel gab, Lux, die nicht besonders gut auf Menschen zu sprechen waren. Wie sie mit den anderen Lux, die bis dahin nicht auf diesem Planeten waren, in Kontakt getreten sind, weiß ich nicht, aber ist das wirklich wichtig? Es war jedenfalls der perfekte Moment für den Auftritt.«

Ich verengte die Augen. »Du hast gesagt, du fändest es super.«

»Ich finde viel super. Atomwaffen, kalorienfreie Limonaden, Jeanswesten …«, antwortete er. »Das bedeutet aber nicht, dass man deshalb die Menschheit auslöschen sollte oder dass Diätdrinks gut schmecken oder dass du sofort zum nächsten Walmart rennen musst, um dir eine Jeansweste zu kaufen. Ihr dürft mich nicht so genau nehmen.«

Ich verdrehte die Augen so sehr, dass sie mir fast aus dem Kopf fielen. »Was hätten wir denn sonst tun sollen? Wenn Daemon und die anderen nicht aus der Deckung gekommen wären, hätte Daedalus uns wieder festgesetzt.«

Keiner der Jungs antwortete, doch die Worte hingen unausgesprochen in der Luft. Wieder festzusitzen wäre superätzend gewesen, aber wenigstens wären Paris, Ash und Andrew dann noch am Leben. Genauso wie die unschuldigen Menschen, die gestorben waren, als die Sache den Bach runterging.

Doch daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Die Zeit konnte für kurze Zeit angehalten werden, doch niemand konnte sie zurückdrehen und Dinge rückwirkend ändern. Was passiert war, war passiert, und Daemon hatte diese Entscheidung getroffen, um uns alle zu beschützen. Ich würde es nicht zulassen, dass er jetzt zum Sünden-Alien gemacht wurde.

»Du siehst erschöpft aus«, stellte Archer fest und es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass er mich meinte.

Luc musterte mich ebenfalls mit seinen beunruhigenden Augen. »Nein, du siehst sogar beschissen aus.«

Vielen Dank auch.

Archer ging nicht darauf ein. »Ich glaube, du solltest versuchen zu schlafen. Wenigstens ein bisschen. Wenn etwas passiert, wecken wir dich.«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf, für den Fall, dass die verbale Ablehnung nicht ausreichte. »Ich fühle mich gut.« In Wahrheit war ich weit davon entfernt, mich gut zu fühlen. Ehrlich gesagt war ich kurz davor, mich in die nächste Ecke zurückzuziehen und mich vor- und zurückzuwiegen, doch ich konnte jetzt nicht schlappmachen und schlafen konnte ich auch nicht. Nicht, solange Daemon irgendwo dort draußen war, und nicht, wenn die ganze Welt kurz davor war … verdammt, ja, zur Dystopie zu werden, wie die Welt in den Büchern, die ich immer gelesen hatte.

Bücher. Seufz. Wie sehr ich sie vermisste.

Archer blickte finster drein, was ihn ein wenig unheimlich aussehen ließ, aber bevor er mich zusammenfalten konnte, drückte sich Luc vom Türrahmen ab und sagte: »Ich glaube, sie sollte unbedingt mal mit Beth reden.«

Überrascht blickte ich in Richtung der Treppe im Flur. Ich hatte vor einer Weile nach Beth gesehen und sie hatte geschlafen. Wie fast immer. Ich war beinahe neidisch darauf, wie sie das alles hier verschlafen konnte.

»Warum?«, fragte ich. »Ist sie wach?«

Luc schlenderte durchs Wohnzimmer. »Ich glaube, ihr beide müsst euch mal von Frau zu Frau unterhalten.«

Seufzend ließ ich die Schultern hängen. »Luc, ich glaube nicht, dass unser Verhältnis zueinander jetzt oberste Priorität hat.«

»Nein?« Er ließ sich neben Archer aufs Sofa fallen und legte die Füße auf dem davorstehenden Tischchen ab. »Was tust du denn die ganze Zeit, außer aus dem Fenster zu starren und auf die passende Gelegenheit zu warten, dich an uns vorbei in den Wald zu schleichen, um nach Daemon zu suchen, wo du dann aber wahrscheinlich von einem Puma gefressen wirst?«

Zornig warf ich meinen Pferdeschwanz über die Schulter zurück. »Erstens würde ich sicher nicht von einem Puma gefressen werden. Und zweitens tue ich dann wenigstens etwas, anstatt nur dumm rumzusitzen.«

Archer seufzte.

Worauf Luc mich breit anlächelte. »Fangt ihr jetzt wieder an zu streiten?« Er blickte in Archers versteinerte Miene. »Ich finde es immer lustig, wie ihr aufeinander herumhackt. Wie Mutter und Vater bei einer ehelichen Auseinandersetzung. Am besten verstecke ich mich in meinem Zimmer, damit es noch authentischer wird. Vielleicht sollte ich eine Tür zuschlagen oder –«

»Halt die Klappe, Luc«, brummte Archer und sah dann grimmig zu mir. »Das Thema hatten wir jetzt wirklich oft genug. Sich auf die Suche zu machen ist alles andere als schlau. Sie sind zu viele und wir wissen nicht, ob –«

»Daemon überhaupt einer von ihnen ist!«, rief ich und sprang wutschnaubend auf. »Er ist nicht einer von ihnen geworden. Und Dee und Dawson auch nicht. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist.« Meine Stimme versagte und ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Aber das würden sie nicht tun. Er würde es nicht tun.«

Archer beugte sich mit blitzenden Augen vor. »Das kannst du gar nicht wissen. Wir auch nicht.«

»Du hast gerade noch behauptet, sie kämen wieder!«, fauchte ich ihn an.

Anstatt zu antworten, richtete er den Blick auf den Fernseher und ich fühlte mich in dem bestätigt, was ich tief in mir drinnen bereits wusste. Archer rechnete nicht damit, dass Daemon oder einer von den anderen je wiederkäme.

Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf so schnell, dass mein Pferdeschwanz hin- und herpeitschte. Dann verschwand ich mit großen Schritten in Richtung Tür, bevor wir uns wieder knietief in dem Streit verfransten.

»Wohin gehst du?«, wollte Archer wissen.

Ich widerstand der Versuchung, ihm den Mittelfinger zu zeigen. »Ich habe anscheinend ein Gespräch von Frau zu Frau mit Beth zu führen.«

»Gute Idee«, kommentierte Luc.

Ohne darauf einzugehen, stapfte ich die Treppe hinauf. Ich hasste es, herumzusitzen und nichts zu tun. Ich hasste es, dass jedes Mal, wenn ich die Haustür öffnete, Luc oder Archer neben mir standen, um mich zurückzuhalten. Und was ich am allermeisten hasste, war die Tatsache, dass sie in der Lage waren, mich zurückzuhalten.

Ich mochte zum Hybriden mutiert und noch so viele besondere Lux-Fähigkeiten haben, aber sie waren Origins und konnten mich von hier nach Kalifornien kicken, wenn es drauf ankam.

In der oberen Etage war es dunkel und still. Ich konnte nicht sagen, warum, doch ich fühlte mich nicht wohl hier. Jedes Mal, wenn ich heraufkam und den langen schmalen Flur entlangging, stellten sich mir die Nackenhaare auf.

Am ersten Abend hatten Beth und Dawson das letzte Zimmer auf der rechten Seite in Beschlag genommen und dort hatte sich Beth nun verkrochen, seit … seit er gegangen war. Ich kannte sie nicht sehr gut, aber ich wusste, dass sie bei Daedalus viel durchgemacht hatte. Außerdem hielt ich sie nicht für die allerstabilste unter den Hybriden, was allerdings nicht ihre Schuld war. Dennoch machte sie mir, auch wenn ich es nicht gern zugab, manchmal Angst.

Vor der Tür blieb ich stehen und klopfte an, anstatt in den Raum hineinzuplatzen.

»Ja?«, hörte ich sie mit dünner, näselnder Stimme sagen.

Kurz hielt ich inne, während ich die Tür öffnete. Beth hörte sich fürchterlich an, und als ich sie erblickte, stellte ich fest, dass sie genauso schlecht aussah, wie sie klang. Inmitten von Decken saß sie mit dunklen Ringen unter den Augen am Kopfende des Bettes. Ihr ausgemergeltes Gesicht war blass und wirkte spitz, das Haar war ungewaschen und ungekämmt. Ich versuchte nicht allzu tief einzuatmen, denn in dem Raum roch es nach Schweiß und Erbrochenem.

Entsetzt blieb ich vor ihrem Bett stehen. »Bist du krank?«

Ihr glasiger Blick driftete von mir zu der Tür des angrenzenden Badezimmers. Es konnte gar nicht sein. Hybride – wir konnten nicht krank werden. Weder eine normale Erkältung noch der gefährlichste Krebs konnte uns etwas anhaben. Genau wie die Lux waren wir immun gegen alles, was es an Krankheiten gab. Aber Beth? Nein, sie sah nicht gut aus.

Mir wurde immer unbehaglicher zu Mute und jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an. »Beth?«

Sie wandte den Blick wieder in meine Richtung, ohne mich jedoch richtig anzusehen. »Ist Dawson zurück?«

Es versetzte mir einen fast physisch schmerzhaften Stich. Die beiden hatten so viel durchgemacht, mehr als Daemon und ich, und das … Mein Gott, es war nicht fair. »Nein, er ist noch nicht wieder da, aber was ist mit dir? Du siehst krank aus.«

Sie legte eine schmale, blasse Hand an ihren Hals und schluckte. »Ich fühle mich nicht besonders gut.«

Ich war mir nicht sicher, wie schlecht es ihr ging, und fürchtete mich fast davor, es herauszufinden. »Was ist los?«

Sie hob eine Schulter und es sah aus, als wäre bereits diese Bewegung anstrengend für sie. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie leise und griff nach dem Rand der Decke. »Es ist nichts Schlimmes. Wenn Dawson zurück ist, wird alles wieder gut sein.« Abermals driftete ihr Blick fort von mir. Sie ließ die Decke los und strich sich mit der Hand über ihren zugedeckten Bauch: »Uns wird es wieder gut gehen, wenn Dawson zurück ist.«

»Uns …?« Ich riss die Augen auf und konnte nicht weitersprechen, weil ich den Mund nicht mehr zubekam.

Ungläubig starrte ich auf ihre Hand und beobachtete schockiert, wie sie sie langsam und gleichmäßig über den Bauch kreisen ließ.

O nein, verdammt noch mal, nein, nein, nein.

Ich beugte mich vor und hielt dann inne. »Beth, bist du … bist du schwanger?«

Sie lehnte den Kopf gegen die Wand und kniff die Augen zu. »Wir hätten besser aufpassen sollen.«

Meine Knie wurden plötzlich weich. Ihr Schlafbedürfnis. Die Erschöpfung. Jetzt ergab alles einen Sinn. Beth war schwanger, auch wenn ich mich im ersten Moment – total idiotisch – fragte, wie es dazu hatte kommen können. Dann setzte mein Verstand jedoch wieder ein und ich hätte am liebsten geschrien: Wo hattet ihr die Kondome? Auch wenn die Frage jetzt irgendwie hinfällig war.

Sofort sah ich das Bild von Micah vor mir, dem kleinen Jungen, der uns geholfen hatte Daedalus zu entkommen. Micah, der allein mit den Gedanken anderen das Genick brechen und Gehirne zu Brei werden lassen konnte.

Heilige Alien-Babys, und so einen hatte sie im Bauch? So ein Zombie-Kid – unheimlich, gefährlich und hochgradig tödlich? Klar, auch Archer und Luc waren wahrscheinlich einst solche kleinen Monster gewesen, aber beruhigend war das nicht, denn die jüngsten Origins, die Daedalus hervorgebracht hatte, waren ein ganz anderes Kaliber als Lucs und Archers Generation.

Und auch Luc und Archer waren mir immer noch irgendwie unheimlich.

»Du guckst mich an, als wärst du sauer«, sagte sie mit leiser Stimme.

Ich zwang mich zu einem Lächeln, auch wenn ich mir sicher war, dass es ziemlich bescheuert aussah.

»Nein, ich bin nur überrascht.«

Langsam hoben sich ihre Mundwinkel. »Ja, das waren wir auch. Der Zeitpunkt ist echt ungünstig, nicht wahr?«

Ha. Das war die Untertreibung des Jahrhunderts.

Während ich sie weiter anstarrte, schwand das Lächeln wieder aus ihrem Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich zu ihr sagen sollte. Glückwunsch? Das kam mir irgendwie falsch vor, aber es nicht zu sagen erschien mir auch nicht richtig. Wussten sie überhaupt von den Origins, von den vielen Kids, die Daedalus züchtete?

Und würde dieses Baby wie Micah sein?

O Mann, hatten wir nicht schon genug Sorgen? Meine Brust zog sich zusammen und ich fürchtete eine Panikattacke zu bekommen. »Wie … wie weit bist du?«

»Im vierten Monat«, antwortete sie und schluckte sichtbar.

Ich musste mich setzen.

Verdammt, ich brauchte jemand Erwachsenen.

Plötzlich spukten Bilder von schmutzigen Windeln und kleinen, vor Wut geröteten Gesichtern in meinem Kopf herum. Würde es ein einziges Kind werden oder würden es drei? Die Frage hatten wir uns bei den Origins noch nie gestellt, aber die Lux kamen immer im Dreierpack.

Ach du heilige Scheiße, drei Babys?

Beth sah mich abermals an und irgendetwas in ihren Augen ließ mich erschaudern. Während sie sich vorbeugte, ließ sie die Hand ruhig auf ihrem Bauch liegen. »Sie werden nicht mehr dieselben sein, wenn sie wiederkommen, stimmt’s?«

»Was?«

»Sie«, wiederholte sie. »Dawson, Daemon und Dee. Sie werden nicht als dieselben zurückkommen, oder?«

Wie benommen ging ich ungefähr eine halbe Stunde später wieder hinunter. Luc und Archer waren nach wie vor im Wohnzimmer. Beide saßen auf dem Sofa und schauten Nachrichten. Als ich den Raum betrat, blickte Luc auf, während Archer aussah, als hätte ihm jemand an einer sehr unangenehmen Stelle einen Stock hineingerammt.

Mir war sofort alles klar.

»Ihr beide wusstet über Beth Bescheid?« Als sie mich ausdruckslos ansahen, hätte ich ihnen am liebsten die Faust ins Gesicht gerammt. »Und niemand ist auf die Idee gekommen, mir davon zu erzählen?«

Archer zuckte mit den Schultern. »Wir haben gehofft, dass es kein Thema wird.«

»O Mann.« Kein Thema werden? Als wäre es nichts, mit einem Alien-Hybrid-Baby schwanger zu sein? Als würde es – ich weiß nicht – von selbst wieder vergehen? Ich ließ mich in den Sessel fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Was käme als Nächstes? Jetzt mal im Ernst. »Sie kriegt ein Kind.«

»Das passiert, wenn man ungeschützten Geschlechtsverkehr hat«, witzelte Luc. »Aber ich bin froh, dass ihr beide miteinander geredet habt, denn wenn ich eins nicht wollte, dann, diese Nachricht zu überbringen.«

»In ihr wächst eins dieser Grusel-Babys heran«, fuhr ich fort und strich mir mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Sie wird ein Baby bekommen und Dawson ist nicht einmal da und um uns herum bricht unterdessen die Welt zusammen.«

»Sie ist erst im vierten Monat.« Archer räusperte sich. »Jetzt lass uns mal nicht in Panik verfallen.«

»Panik?«, flüsterte ich. Mein Kopf schmerzte immer mehr. »Sie braucht jetzt bestimmte Dinge wie, keine Ahnung, einen Arzt, um sicherzugehen, dass mit der Schwangerschaft alles in Ordnung ist. Sie braucht besondere Vitamine, Essen und wahrscheinlich viel Schokolade und saure Gurken und –«

»Das können wir ihr besorgen«, erwiderte Archer. Ich blickte erstaunt zu ihm auf. »Außer den Arzt, natürlich. Wenn ihr jemand Blut abnimmt, könnte es, gerade im Moment, schwierig werden.«

Ich sah ihn an. »Warte mal. Meine Mom –«

»Nein.« Ruckartig drehte sich Luc zu mir um. »Du darfst auf keinen Fall Kontakt zu deiner Mutter aufnehmen.«

In mir spannte sich alles an. »Sie würde uns helfen. Zumindest könnte sie uns grob einweisen, was wir für Beth tun müssen.« Die Idee hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. Aber ich machte mir nichts vor. Dabei spielte keine unerhebliche Rolle, dass ich sie sehen wollte. Ich musste sie sehen.

»Wir wissen doch schon, was Beth braucht. Es sei denn, deine Mutter hat Insiderinformationen, wie man mit schwangeren Hybriden umgeht, ansonsten wird sie uns nicht viel mehr sagen können als Google.« Luc nahm die Füße vom Tisch und ließ sie schwer zu Boden fallen. »Es ist gefährlich, mit deiner Mutter in Kontakt zu treten. Vielleicht wird ihr Telefon abgehört. Es ist zu gefährlich, für sie und für uns.«

»Glaubst du wirklich, dass sich Daedalus zurzeit überhaupt um uns schert?«

»Willst du es etwa riskieren?«, fragte Archer zurück und sah mich provozierend an. »Willst du uns alle in Gefahr bringen, Beth eingeschlossen, weil du darauf hoffst, dass sie mit anderen Dingen beschäftigt sind? Willst du das deiner Mutter antun?«

Ich hielt den Mund fest geschlossen und funkelte ihn böse an. Mein Wille zu kämpfen aber schrumpfte wie ein Ballon, aus dem die Luft entwich. Nein. Nein, ich würde es nicht riskieren. Ich würde es weder uns noch meiner Mom antun. Tränen stiegen mir in die Augen und ich zwang mich tief Luft zu holen.

»Ich arbeite an einer Idee, wie wir hoffentlich das Nancy-Problem lösen können«, verkündete Luc. Ich hatte ihn allerdings lediglich an der hohen Kunst des Rumsitzens arbeiten sehen.

»Okay«, sagte ich mit heiserer Stimme und verdrängte meinen Kopfschmerz und die in mir aufsteigende Panik. Ich musste mich zusammenreißen, auch wenn die dunkle Ecke immer mehr lockte. »Beth braucht ein paar Dinge.«

Archer nickte. »Das stimmt.«

Weniger als eine Stunde später übergab Luc uns eine Liste, die er mit Hilfe des Internets zusammengestellt hatte. Ich fühlte mich wie in einer trashigen Aufklärungssendung.

Am liebsten hätte ich angefangen zu lachen, als ich den gefalteten Zettel in die hintere Tasche meiner Jeans schob, doch dann hätte ich wahrscheinlich nicht mehr aufhören können.

Luc blieb mit Beth im Blockhaus zurück für den Fall … ja, für den Fall, dass etwas noch Schlimmeres geschah. Ich hingegen begleitete Archer. Vor allem, weil ich das dringende Bedürfnis hatte, mal rauszukommen. Auf jeden Fall aber hatte ich damit das Gefühl, etwas zu tun, und vielleicht – vielleicht bekämen wir in der Stadt irgendwelche Hinweise, wohin Daemon und seine Geschwister verschwunden waren.

Mein Haar hatte ich aufgedreht und unter einer Baseballkappe versteckt, die den Großteil meines Gesichts verbarg, so dass es fast unmöglich war, mich zu erkennen. Ich wusste nicht, ob es überhaupt ein Thema war, aber ich wollte kein Risiko eingehen.

Es war später Nachmittag und die Luft draußen war so frisch, dass ich dankbar war ein langärmeliges weites Hemd von Daemon übergezogen zu haben. Durch den starken Tannenduft in der Luft hindurch nahm ich seinen einzigartigen erdig herben Geruch wahr.

Meine Unterlippe zitterte, als ich auf der Beifahrerseite in den Wagen stieg, und ich hatte Mühe, mich anzuschnallen. Archer warf mir einen kurzen Blick zu und ich zwang mich, nicht mehr an Daemon zu denken, an überhaupt nichts mehr zu denken, was Archer nicht wissen sollte. Allerdings blieb dann kaum etwas übrig.

Deshalb dachte ich an bauchtanzende Füchse in Baströcken.

Archer schnaubte. »Du bist komisch.«

»Und du hast kein Benehmen.« Ich beugte mich vor und blickte angestrengt aus dem Fenster, während wir die Ausfahrt hinabfuhren. Ich suchte zwischen den Bäumen nach etwas Verdächtigem, doch da war nichts.

»Ich habe es dir doch schon gesagt. Manchmal ist es schwer, es nicht zu tun.« Am Ende des Schotterwegs bremste er ab und schaute prüfend in beide Richtungen, bevor er auf die Straße einbog. »Glaub mir. Es gibt Zeiten, in denen ich mir wünschte, die Gedanken von Menschen nicht lesen zu können.«

»Die letzten beiden Tage, in denen du mit mir da festgesessen hast, gehörten wahrscheinlich dazu.«

»Willst du es wirklich wissen? Du warst gar nicht schlecht.« Als ich die Augenbrauen hob, sah er mich an. »Du hast dich gut zusammengerissen.«

Im ersten Moment wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte, denn seit der Lux-Invasion hatte ich ständig das Gefühl, im nächsten Moment zusammenzubrechen. Und ich war mir nicht sicher, warum es nicht auch geschah. Noch vor einem Jahr wäre ich hundertprozentig durchgedreht und aus besagter dunkler Ecke nicht mehr rausgekommen, doch ich war nicht mehr dieselbe wie zu der Zeit, als ich an Daemons Tür geklopft hatte.

Wahrscheinlich würde ich nie mehr dieselbe sein.

Insbesondere während ich bei Daedalus festgehalten worden war, hatte ich viel mitgemacht. Ich mochte nicht einmal mehr daran denken, was ich dort erlebt hatte, aber die Zeit mit Daemon und selbst die Monate bei Daedalus hatten mich stärker gemacht. Zumindest redete ich mir das gern ein.

»Ich muss mich zusammenreißen«, sagte ich schließlich und umschlang mich selbst, während ich auf die vorbeirauschenden Tannen starrte, bis ich nur noch verschwommene Äste mit Nadeln wahrnahm. »Weil ich weiß, dass Daemon auch nicht durchgedreht ist, als ich … als ich nicht da war. Deshalb darf ich es jetzt auch nicht tun.«

»Aber –«

»Machst du dir Sorgen wegen Dee?«, schnitt ich ihm das Wort ab und war plötzlich wieder in der Lage, mich voll auf ihn zu konzentrieren.

Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte mehrfach, doch er antwortete nicht. Während wir uns Coeur d’Alene, der größten Stadt in Idaho, näherten, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass ich jetzt eigentlich etwas ganz anderes tun sollte. Dass ich tun sollte, was Daemon für mich getan hatte.

Er hatte versucht zu mir zu gelangen, als ich gefangen war.

»Das war etwas anderes«, mischte sich Archer in meine Gedanken ein, während er zum nächstbesten Supermarkt abbog. »Er wusste, worauf er sich einließ. Du nicht.«

»Ach ja?«, fragte ich, während er den Wagen auf einem Parkplatz in der Nähe des Eingangs abstellte. »Er hatte vielleicht eine Ahnung, aber ich glaube nicht, dass er es wirklich wusste. Trotzdem hat er es getan. Er war mutig.«

Archer sah mich lange an, bevor er den Schlüssel aus dem Zündschloss zog. »Und du bist auch mutig, aber du bist nicht dumm. Zumindest hoffe ich, dass du das weiterhin unter Beweis stellst.« Er öffnete die Fahrertür. »Bleib in meiner Nähe.«

Ich schnitt ihm eine Grimasse, folgte ihm aber hinaus. Der Parkplatz war ziemlich voll und ich fragte mich, ob sich die Leute wohl für die bevorstehende Apokalypse rüsteten. In den Nachrichten hatten sie von Ausschreitungen in vielen Großstädten in Folge der »Meteoriteneinschläge« gesprochen. Die Polizei und das Militär hatten dem ein Ende gesetzt, doch nicht ohne Grund gab es die Fernsehsendung Preppers – Bereit für den Weltuntergang. Coeur d’Alene schien von den Geschehnissen fast unberührt, obwohl so viele Lux in den nahe gelegenen Wäldern gelandet waren.

Abgesehen davon, dass alle Leute im Supermarkt ihre Wagen mit haltbaren Lebensmitteln und Wasserflaschen füllten. Obwohl ich den Blick gesenkt hielt, während ich die Liste herauszog und Archer nach einem Korb griff, fiel mir unwillkürlich auf, dass niemand Toilettenpapier einpackte.

Das wäre das Erste, was ich mir schnappen würde, wenn das Ende der Welt nahte.

Ich hielt mich dicht neben Archer, als wir uns auf den Weg in die Drogerieabteilung machten, wo wir begannen die endlosen Reihen brauner Flaschen mit gelben Deckeln abzusuchen.

Seufzend blickte ich auf die Liste. »Warum können die das nicht alphabetisch sortieren?«

»Das wäre zu einfach.« Sein Arm versperrte mir die Sicht und er nahm ein Fläschchen in die Hand. »Eisen brauchen wir, oder?«

»Stimmt.« Ich griff nach der Dose, auf der Folsäure stand, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was Folsäure war und welche Wirkung sie hatte.

Archer kniete sich nieder. »Und die Antwort auf deine Frage von eben lautet ja.«

»Hä?«

Er blickte zu mir auf. »Du hast gefragt, ob ich mir um Dee Sorgen mache, und das tue ich.«

Ich umfasste die Dose mit der Folsäure fester und holte tief Luft. »Du magst sie, habe ich Recht?«

»Ja.« Er wandte sich den größeren Dosen mit den Schwangerschaftsvitaminen zu. »Obwohl Daemon ihr Bruder ist.«

Ich blickte auf ihn hinab und lächelte ein wenig, zum ersten Mal seit die Lux –

Das Krachen, wie ein Donner in Überschalllautstärke, kam aus dem Nichts und erschütterte die Regale mit den Tabletten. Vor Schreck wich ich einen Schritt zurück.

Archer richtete sich schnell auf und ließ den Blick über den vollen Supermarkt schweifen. Die Leute waren mitten im Gang stehen geblieben, einige hielten die Einkaufswagen fest umklammert, andere hatten sie losgelassen und sie rollten langsam mit knirschenden Rädern davon.

»Was war das denn?«, fragte eine Frau einen Mann, der neben ihr stand. Sie drehte sich um und hob ein kleines Mädchen hoch, das höchstens drei Jahre alt war. Während sie die Kleine an sich drückte, drehte sie sich mit aschfahlem Gesicht um. »Was war das – ?«

Abermals schallte es krachend durch das Geschäft. Jemand schrie. Flaschen und Gläser fielen aus den Regalen. Schritte donnerten über den Linoleumboden. Das Herz pochte mir bis zum Hals, als ich mich in Richtung Eingang drehte. Auf dem Parkplatz leuchtete etwas auf, als würde ein Blitz in den Boden einschlagen.

»Verdammt«, fluchte Archer.

Die kleinen Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, als ich ans Ende des Gangs hastete und dabei nicht einmal vorgab den Kopf gesenkt zu halten.

Kurz war es still, dann donnerte es wieder und wieder, und die immer zahlreicheren gleißenden Lichtstrahlen, die einer nach dem anderen den Parkplatz erhellten, fuhren mir bis in die Knochen. Die Schaufenster bekamen Risse und die Schreie … die Schreie wurden lauter und panischer, während die Scheiben zerbarsten und die Scherben in Richtung der Kassen geschleudert wurden.

Die hellen Lichtstrahlen auf dem Parkplatz verformten sich zu Armen und Beinen. Die langen, geschmeidigen, rötlich leuchtenden Körper, die entstanden, ähnelten Daemons, waren aber dunkler, fast blutrot.

»O nein«, flüsterte ich und das Fläschchen mit den Tabletten glitt mir aus der Hand. Es fiel zu Boden.

Sie waren überall, Dutzende. Lux.

Kapitel 2

Katy

Einen Moment lang waren alle, auch ich selbst, wie erstarrt, als wäre die Zeit stehengeblieben. Dabei wusste ich, dass es nicht so war.

Die Gestalten auf dem Parkplatz drehten sich um, reckten und bogen die Hälse. Sie bewegten sich geschmeidig, fast wie Schlangen. Es sah unnatürlich aus, ganz anders als bei den Lux, die schon jahrelang auf der Erde lebten.

Ein roter Truck parkte mit quietschenden Reifen aus. Der Auspuff qualmte und es roch nach verbranntem Gummi. Er schleuderte herum, als wollte der Fahrer durch die Lux hindurchpflügen.

»O nein«, flüsterte ich und mein Herz begann wie wild zu pochen.

Archer griff nach meiner Hand. »Wir müssen raus hier.«

Doch ich war noch immer wie erstarrt und konnte auf einmal nachvollziehen, warum Leute bei Verkehrsunfällen gafften. Ich wusste, was geschehen würde, und auch, dass es etwas war, das ich nicht sehen wollte, dennoch konnte ich nicht wegschauen.

Eine der Gestalten trat vor und die Konturen des Körpers begannen leuchtend rot zu pulsieren, als sie den glühenden Arm hob. Der Truck machte einen Ruck nach vorne. Der Schatten des Mannes hinter dem Steuer und der einer wesentlich kleineren Person neben ihm würden mir für immer im Gedächtnis bleiben.

Helles, rötliches Licht kroch den Arm des Lux hinab und seine Hand sprühte Funken. Im nächsten Moment zuckte ein Blitz durch die Luft und es roch nach verbranntem Ozon. Der Blitz – abgefeuert direkt aus der Quelle in ihrer wohl reinsten Form – schlug in den Truck ein.

Die Explosion, als er zu einem Feuerball wurde und im hohen Bogen in die benachbarte Fahrzeugreihe geschleudert wurde, brachte den Supermarkt zum Beben. Er landete auf dem Dach, und während sich die Räder ziellos weiterdrehten, loderten die Flammen in einem wahren Inferno durch die zerborstene Windschutzscheibe.

Chaos brach aus. Schreie durchschnitten die Stille und Leute flohen aus dem Eingang des Supermarktes. Wie eine wild gewordene Herde rammten sie Einkaufswagen und andere Leute. Einige waren bereits auf allen vieren und die immer lauter werdenden Schreie mischten sich mit dem Weinen kleiner Kinder.

Man konnte kaum blinzeln, bis die Lux auch schon den Supermarkt geentert und sich überall verteilt hatten. Archer zerrte mich um ein Regal herum und drückte mich gegen die scharfen Kanten. Ein Teenager rannte an uns vorbei und mir fiel nur auf, wie rot sein Haar war – scharlachrot –, bis ich merkte, dass es nicht die Haarfarbe, sondern Blut war. Am Duschgelregal wurde er in den Rücken getroffen. Mit dem Gesicht zuerst ging er zu Boden und blieb reglos liegen. Aus einem Loch in seinem Rücken, dessen Ränder angesengt waren, stieg Rauch auf.

»O Gott«, keuchte ich und mein Magen drehte sich um.

Archer starrte mit weit aufgerissenen Augen und zuckenden Nasenflügeln auf den Jungen. »Das ist übel.«

Vorsichtig bewegte ich mich ein Stück vor und lugte am Ende des Ganges um die Ecke. Als ich die Frau sah, die noch vor wenigen Minuten das kleine Mädchen an sich gedrückt hatte, rutschte mir das Herz in die Hose.

Sie stand mit vor Angst weit geöffnetem Mund wie erstarrt vor einem Lux. Das Mädchen hockte zusammengekauert vor einem Regal mit Taschenbüchern und wiegte sich schluchzend vor und zurück. Es dauerte einen Moment, bis ich den Grund dafür sah. »Daddy! Daddy!«

Der Mann lag in einer Blutlache vor ihr.

Knisternd rauschte Energie über meinen Körper und übertrug sich auch auf Archer, als der Lux den Arm ausstreckte und eine Hand auf die Brust der Frau legte.

»Was zum …?«, flüsterte ich.

Die Frau drückte den Rücken durch, als hätte ihr jemand eine Stahlstange in die Wirbelsäule gerammt. Ihre Augen wurden immer größer, die Pupillen weiteten sich. Schimmerndes weißes Licht strömte wie ein Wasserfall von der Hand des Lux über die Frau. An den spitzen High Heels wurde es schwächer und verschwand im Boden. Plötzlich klappte der Kopf der Frau nach hinten und ihr Mund blieb in einem stummen Schrei offen stehen. Als leuchtend weißes Netzwerk wurden die Blutbahnen zuerst auf der Stirn sichtbar, bevor sie sich an den Augen verdichteten und anschließend Wangen und Hals hinabliefen.

Was ging hier vor sich? Ich spürte, wie sich Archer an mich drückte, als der Lux von der heftig zitternden Frau abließ. Das Leuchten aus ihren Blutbahnen schwand und die Haut wurde immer fahler, während das Licht, das den Lux umgab, wie ein Herzschlag pulsierte. Alles geschah gleichzeitig – die Haut der Frau schrumpfte zusammen, als würde sie innerhalb von Sekunden um Jahrzehnte gealtert sein, während der Lux seine Form veränderte. Die Frau sank zu Boden, als wäre das Leben aus ihr herausgesaugt worden. Während sie mit grauer Haut und nicht mehr wiederzuerkennenden Zügen einknickte wie ein Blatt Papier, hörte der Lux auf zu leuchten und erschien in neuer Form.

Als perfektes Abbild der Frau stand er vor uns, mitsamt der gebräunten Haut und der kleinen, wohlgeformten Nase. Das hellbraune Haar fiel locker über die nackten Schultern, nur die Augen … sie leuchteten so unnatürlich blau, als hätte man zwei geschliffene Saphire in das Gesicht gesetzt. Augen genau wie Ashs und Andrews.

Sie verleiben sich die DNA ein, um sich zu assimilieren. Ich nahm Archers Stimme in meinem Kopf wahr. Superschnell. Das habe ich noch nie erlebt und nicht einmal gewusst, dass es überhaupt möglich ist. Der erschrockene, aber auch ehrfürchtige Unterton war nicht zu überhören.

Wir befanden uns offenbar in einer Lux-Version von Die Körperfresser kommen – genauso tödlich und flächendeckend geschah es überall hier im Supermarkt. Wo ich auch hinsah, gingen Menschen zu Boden.

»Wir müssen hier raus.« Archer drückte meine Hand fester und zog mich zurück. »Jetzt.«

»Nein!«, widersprach ich. »Wir –«

»Wir müssen gar nichts außer so schnell wie möglich von hier wegkommen, verdammt noch mal.« Er zerrte mich um die Ecke zurück, bis ich wieder dicht an ihn gedrängt war.

Ich versuchte mich zu wehren, aber er schob mich entschlossen weiter den Gang hinab. »Wir können den Leuten helfen.«

»Können wir nicht«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Du bist ein Origin«, fauchte ich ihn an. »Jetzt könntest du endlich mal zeigen, was in dir steckt, du Superalien-Reagenzglas-Baby, aber du –«

»Haust ab? Ja, verdammt, Alien oder nicht, das sind Dutzende Lux und sie sind megastark.« Er zerrte mich um das Zahnpastaregal herum. In der linken Hand trug er noch immer den Korb mit all den Präparaten für Beth, die ich längst vergessen hatte. »Hast du nicht gerade gesehen, was sie gemacht haben?«

Mit einem Schlag in die Magengrube befreite ich mich aus seinem Griff. »Sie bringen Leute um! Und wir könnten denen helfen.«

Archer beugte sich vor. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt. »Kein Lux dieser Welt kann sich so leicht DNA einverleiben. Die hier sind stärker. Wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen, wieder zum Blockhaus kommen und dann –«

Ein Schrei ließ mich herumwirbeln und ich sah den Lux, der jetzt in der Haut der Mutter des Mädchens steckte, mit einem spöttischen Lächeln auf die Kleine herabschauen.

Nein. Niemals würde ich das Mädchen alleinlassen. Ich hatte keine Ahnung, was der Lux vorhatte, aber ich bezweifelte, dass er das Mutterdasein ausprobieren wollte. Ich blickte zu Archer, der leise vor sich hin fluchte.

»Katy«, warnte er und stellte den Korb ab. »Tu’s nicht.«

Zu spät. Ich war bereits unterwegs, meine Arme und Beine pulsierten vor Kraft, während ich den Gang entlang in den vorderen Bereich des Supermarktes raste. Abermals war ein Donnern zu hören und der Parkplatz leuchtete hell auf, als weitere Lux landeten, immer mehr. Dabei donnerte und krachte es, bis ich glaubte, mein Herz würde implodieren.

Ich sauste um das Ende des Ganges herum und kam rutschend vor dem Regal mit den Taschenbüchern zum Stehen.

Der Lux, der vor dem kleinen Mädchen stand, erstarrte und drehte den Kopf in meine Richtung. Blitzende Augen sahen mich an. Rosarote Lippen öffneten sich. Der Blick war arktisch kalt. Nichts Menschliches lag darin, nicht ein Funke Mitleid, nur kühle Berechnung.

In dem kurzen Moment, in dem sich unsere Blicke trafen, wusste ich, dass dies Anfang und Ende gleichzeitig waren. Die Lux-Invasion hatte wirklich begonnen.

Ich schluckte den eisigen Schrecken hinunter, hechtete vor und schnappte mir von hinten das Mädchen. Ihr Kreischen fuhr mir in die Knochen, wild schlug sie um sich und trat mir gegen das Bein. Ich schlang die Arme um sie und hielt sie so fest wie möglich, während ich mit ihr zurückwich.

Der Lux richtete sich auf und begann wie eine Fontäne zu sprühen. Funken knisterten auf seinen Armen. Er starrte mich an, als könnte er in mich hineinsehen. Gleichzeitig lernte er offenbar in schwindelerregendem Tempo unsere Sprache, denn die Worte, die seine Zunge bildeten, waren Englisch. »Was bist du?«

Mist. Mist. Mist.

Zwei Dinge wurden mir ziemlich schnell klar. Der Lux spürte, dass mich mehr als menschliche Nächstenliebe antrieb, und dass es nichts Gutes verhieß, bemerkte ich, als er beim Zurückweichen die Hand hob. Außerdem wurde mir bewusst, dass er keine Ahnung hatte, was ein Hybrid war.

Die Kleine wand sich in meinen Armen und es gelang ihr, einen Arm zu befreien. Sie holte aus und schlug mir die Baseballkappe vom Kopf. Mein Haar fiel über meine Schultern auf meinen Rücken. Der Lux trat vor und fletschte die Zähne.

Gar kein gutes Zeichen.

Mit dem um sich schlagenden und schreienden Kind hatte ich alle Hände voll zu tun und ich wusste, dass es Zeit für den Rückzug war. Schnell drehte ich mich um und flüchtete mit ihm in einen Gang. Hinter der nächsten Ecke lagen Brötchen auf dem Boden, die ich aus dem Weg schießen musste, und es roch stark nach verbranntem Fleisch und Plastik. Abrupt blieb ich stehen. Hoppla.

Überall sah ich nackte Aliens.

Selbst wenn ich kein Hybrid gewesen wäre und nicht gewusst hätte, dass man an den Augen erkennen konnte, ob jemand ein Undercover-Alien war, wäre es nicht schwer gewesen, diese Lux zu erkennen. Offenbar hatten sie keinerlei Schamgefühl, obwohl sie splitterfasernackt waren.

Verblüfft stellte ich fest, dass ich mehr menschliches Fleisch sah, als mir lieb war, doch als ich mich umdrehte und Archer auf mich zukam, wurde mir etwas noch viel Schlimmeres bewusst.

Wir waren umzingelt.

»Bist du nun zufrieden?«, stieß Archer zwischen zusammengepressten Lippen hervor und seine amethystfarbenen Augen blitzten.

Mindestens sechs Lux starrten uns an und versuchten herauszufinden, wer wir waren. Drei von ihnen hatten eine menschliche Erscheinungsform angenommen und standen neben den gekrümmten Überresten derjenigen, in deren Haut sie geschlüpft waren. Die anderen drei waren in ihrer wahren Erscheinungsform. Ihre Körper leuchteten in einem rötlich weißen Licht. Von hinten näherte sich der Lux in der Haut der Mutter des kleinen Mädchens, mit dem ich schon Bekanntschaft gemacht hatte.

Keiner von ihnen sah aus, als würde er mit uns Freundschaft schließen wollen.

Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb, als ich mich langsam niederkniete und in das tränennasse Gesicht des Mädchens blickte. »Wenn ich dich loslasse, dann rennst du«, flüsterte ich. »Du rennst, so schnell du kannst, und bleibst nicht stehen.«

Ich war mir nicht sicher, ob die Kleine mich verstand, und konnte nur beten, dass es so war. Seufzend atmete ich aus, stellte sie auf den Boden und schob sie noch in Richtung der Lücke zwischen zwei Gängen. Sie enttäuschte mich nicht. Schnell drehte sie sich um und rannte darauf zu. Während ich noch wünschte, mehr für sie tun zu können, erhob ich mich.

Einer der leuchtenden Lux bewegte sich auf mich zu, blieb dann aber stehen und neigte den Kopf zur Seite. Die anderen, sowohl in menschlicher als auch in wahrer Erscheinungsform, blickten alle auf den Lux, dem ich das Kind entrissen hatte.

Das wird übel enden. Archers Stimme drängte sich in meinen Kopf. Ist es zu viel verlangt, dass du rennst, wenn ich es dir sage?

Ich holte tief Luft. Ich werde dich nicht allein hier zurücklassen.

Einer seiner Mundwinkel hob sich. Das hab ich mir schon gedacht. Lass uns in die Offensive gehen. Bahne dir einen Weg nach vorn.

Während meiner Zeit bei Daedalus hatte ich gelernt nicht nur mit menschlichen Mitteln zu kämpfen, sondern auch mit der Quelle. In Las Vegas hatte ich dann angewendet, was ich gelernt hatte, weshalb ich einerseits recht zuversichtlich war es mit den Besten von ihnen aufnehmen zu können, andererseits jagte es mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Ohne Vorwarnung legte Archer los.

Er machte einen Schritt nach vorn und holte gleichzeitig mit dem Arm aus. Pure Energie lief daran hinab und schoss mit Wucht aus seiner Hand. Sie traf den Lux mitten in die Brust, was ihn aus seiner menschlichen Form und in die Glastüren vor der Abteilung mit den Milchprodukten katapultierte. Verpackungen zerbarsten und Milch floss in Strömen über den Boden.

Ein leuchtender Lux schoss auf Archer zu, der seinerseits herumwirbelte und eine nackte Frau anvisierte. Ich rief die Quelle auf.

Das Licht, das meinen Arm hinabrauschte, war lange nicht so intensiv wie Archers, aber es erfüllte seinen Zweck. Im hohen Bogen schoss es über den Gang und traf den Lux in die Schulter. Er wurde herumgewirbelt.

Gerade wollte ich ihm einen weiteren Energiestoß versetzen, als ich selbst einen flammenden Schmerz in der Schulter spürte. Ehe ich mich’s versah, war ich bereits auf den Knien und Rauch stieg aus meiner linken Schulter auf. Vorsichtig tastete ich sie ab, während ich mich zwang wieder aufzustehen. Als ich die Hand zurückzog, war sie rot.

Ich drehte mich um und hätte fast die gewaltige Faust eines jungen, männlichen Lux in menschlicher Erscheinungsform ins Gesicht bekommen. Ich strauchelte und stolperte mehrere Schritte, fing mich dann aber und hob das Knie. Die Luft um mich herum war elektrisch aufgeladen, als ich meinen Fuß an einer Stelle platzierte, die ich auf keinen Fall von nahem betrachten wollte.

Der Lux krümmte sich.

Grimmig grinsend packte ich ihn an seinem braunen Schopf, und da er gerade dabei war, die Erscheinungsform zu wechseln, konnte ich mir gleichzeitig die Hände wärmen, während ich ihm mein Knie in die Nase rammte. Knochen knackten, aber ich wusste, dass er damit noch nicht dauerhaft außer Gefecht gesetzt war.

Und ich wusste, was zu tun war.

Archer feuerte ein weiteres Geschoss ab, während ich erneut die Quelle aufrief. Sie floss meinen Arm herab und ergoss sich über den Kopf des Lux, als dieser ihn hob. Seine Augen glühten wie weiße Himmelskörper.

Im nächsten Moment wurde ich jedoch zurückgeschleudert, als wäre ein Auto in mich hineingerast. Die Luft knisterte elektrisch aufgeladen, als ich hart mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug und einen Moment lang nur verblüfft auf die rissige, schwankende Schicht fluoreszierenden Lichts über mir starren konnte.

Autsch! Das tat weh.

Ächzend rollte ich auf die Seite und kniff die Augen zusammen. Der Lux lag, mehrere Meter von mir entfernt, ebenfalls auf dem Rücken. Während ich mich mühsam hochrappelte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Archer einen Lux mit Schwung in die Tiefkühlabteilung schleuderte.

Dann drehte er sich zu mir um, und als er feststellte, dass ich auf den Beinen war, nickte er.

Durch die ausgelaufenen Eispackungen hindurch tat sich ein Fluchtweg auf. Wenn auch nicht sehr deutlich, denn überall lagen flackernde Lux auf dem Boden, angezählt, aber nicht k.o.

Eine Explosion, irgendwo in dem Geschäft, brachte die hohen Regale zum Schwanken. Die Türen der Tiefkühlschränke zerbarsten und die Glasscherben regneten dicht hinter uns nieder, während Archer und ich den Gang entlangliefen. Schließlich rutschten wir noch über den glatten Boden vor der Bäckerei und hatten den Eingang erreicht. Um uns herum hasteten die Leute blutig und unter Schock stehend auf die zerbrochenen Schaufenster zu.

Als ich den Parkplatz und die dahinterstehenden Gebäude sah, rutschte mir das Herz in die Hose. In dicken Wolken stieg Rauch über den orangeroten Flammen auf. Ein Stromleitungsmast war auf eine Reihe Autos gestürzt, deren Dächer jetzt eingedrückt waren. In der Ferne heulten Sirenen. Ein Wagen preschte über den Parkplatz in ein anderes Fahrzeug hinein. Metall schepperte und gab nach.

»Es ist apokalyptisch«, murmelte Archer.

Ich musste schlucken. »Fehlen nur noch die Zombies.«

Er blickte auf mich herab, hob die Brauen und war gerade dabei, den Mund zu öffnen, als schwallartig ein Teil der Snack-Abteilung auf uns niederging.

Chips und Brezeln flogen durch die Luft, dazwischen Erdnusslocken und Folienfetzen. Prasselnd regnete alles auf uns herab und landete auf dem Boden. In der Mitte der Regale prangte jetzt ein Loch.

»Lass uns zusehen, dass wir wegkommen«, drängte Archer noch einmal und dieses Mal widersprach ich nicht.

Ich sparte mir meine Worte für die nächste Auseinandersetzung, denn ich wusste, dass Archer, sobald wir wieder im Blockhaus waren, wenn wir es je bis dorthin schafften, darauf drängen würde, so schnell wie möglich Idaho zu verlassen. Ich hatte kapiert, dass es im Supermarkt nicht mehr sicher war, und wenn er wegwollte, dann meinetwegen. Angesichts von Beths Zustand wäre es schlau, das alles so weit wie möglich hinter uns zu lassen, doch ich würde hier niemals ohne Daemon weggehen.

Das konnte er vergessen.

Wir jagten an einer demolierten Kasse vorbei. Archer war vor mir, als ich abrupt stehen blieb. Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an, weil ich ein intensives Prickeln im Nacken spürte.

Meine Knie wurden weich und die Luft wich mir aus den Lungen. Das Prickeln war warm und vertraut und hatte mir in den letzten beiden Tagen sehr gefehlt. Mein Herz schlug auf Hochtouren und brachte das Blut in meinen Adern zum Kochen.

Daemon.

Langsam und unsicher drehte ich mich um, als würde ich mich auf Treibsand bewegen, und ließ den Blick durch das zerstörte Geschäft wandern. Licht blitzte pulsierend zwischen den ruinierten Regalen auf. Die Zeit schien fast stillzustehen und die Luft wurde immer stickiger, bis ich kaum noch atmen konnte. Benommen und allzu hoffnungsvoll, während die Gefühle mich übermannten, schritt ich wieder tiefer in das Geschäft hinein und auf die Lichter zu.

»Katy!« Archers Stimme drang von den zerborstenen Türen zu mir. »Was tust du?«

Als ich an einem umgestürzten Ständer mit Süßigkeiten vorbeikam, wurde ich schneller. Tüten knirschten unter meinen Füßen. Mein Mund war staubtrocken und ich sah nur noch verschwommen. Der brennende Schmerz an meiner Schulter war fast vergessen.

Wind kam auf und blies mir das Haar ins Gesicht. Ich wusste nicht, woher er kam, aber ich ging immer weiter, bis ich den Anfang des Ganges mit dem Salzgebäck erreicht hatte.

Ich trat ein wenig zur Seite, nur ein kleines Stück, um den Gang vollständig einsehen zu können. Mir blieb das Herz stehen. Meine gesamte Welt kam zum Stillstand.

»Verdammt!«, rief Archer und seine Stimme klang jetzt näher. »Nein!«

Doch es war zu spät.

Ich sah ihn.

Und er sah mich.

Er stand dort in seiner wahren Erscheinungsform und strahlte so hell wie ein Diamant. Äußerlich unterschied er sich nicht von den anderen Lux, doch in jeder einzelnen Zelle meines Körpers spürte ich, dass er es war. Alle Zellen, die mich zu dem gemacht hatten, was ich war, erwachten zum Leben und riefen nach ihm. Er war noch immer das wunderbarste Wesen, das mir je begegnet war. Groß und leuchtend wie tausend Sonnen stand er vor mir und seine Konturen schimmerten hellrot.

Genau im selben Moment wie ich ging er einen Schritt nach vorn und ich nahm durch unsere besondere Verbindung Kontakt zu ihm auf. Sie bestand, seit er mich geheilt hatte. Für immer.

Daemon?, rief ich ihm zu.

Er war verschwunden, bewegte sich zu schnell, als dass ich hätte sehen können, wohin.

»Kat!«, brüllte Archer. Gleichzeitig war ich mir sicher meinen Namen in einer tieferen, sanfteren Stimme zu hören, die meinen Magen zum Flattern brachte und bei der sich mir das Herz zusammenzog.

Ein warmer Schauer lief mir über den Rücken, und als ich mich umdrehte und den Kopf hob, blickte ich in faszinierend smaragdgrüne Augen und ein Gesicht mit hohen Wangenknochen, das, egal zu welcher Jahreszeit, immer gebräunt zu sein schien. Dunkles Haar fiel über ebenso dunkle Augenbrauen.

Volle Lippen hoben sich an den Mundwinkeln.

Es war nicht Daemon.

Es war Dawson, der, gut eineinhalb Köpfe größer als ich, auf mich herabschaute. Kurz meinte ich, so etwas wie Reue in seinen Augen zu erkennen, aber vielleicht war es auch nur Wunschdenken. Licht breitete sich hinter seinen Pupillen aus und färbte die gesamten Augäpfel weiß. Knisternd bahnte sich die Energie in dünnen, zackigen Linien einen Weg über seine Wangen.

Plötzlich blitzte es hell auf, eine Hitzewelle schien mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen und danach nahm ich nichts mehr wahr.

Kapitel 3

Daemon

Ständig Stimmen in meiner eigenen Sprache zu hören und dazu noch ein Dutzend verschiedener menschlicher Sprachen brachte meine Schläfen zum Pochen. Die Worte. Die Sätze. Die Drohungen. Die Versprechen. Das gottverdammte unaufhörliche Plappern meiner frisch eingetroffenen, ziemlich stark erweiterten Familie, sobald einer von ihnen etwas entdeckte, was er oder sie noch nicht kannte, und das geschah ungefähr alle fünf Sekunden.

Oh! Ein Mixer.

Oh! Ein Auto.

Oh! Menschen bluten so leicht und sind ganz schön zerbrechlich.

Ja, sobald sie nur die Augen aufschlugen, sahen sie etwas zum allerersten Mal. Wie sie ehrfürchtig an Geräten und mit der menschlichen Anatomie spielten, wirkten sie fast kindlich, gleichzeitig ein bisschen debil.

Doch die Neuankömmlinge waren die kältesten Typen, die mir je begegnet waren.

In den letzten achtundvierzig Stunden hatten buchstäblich Tausende meiner Spezies die Erde zum ersten Mal betreten und ich kam mir vor wie in einem riesigen Bienenstock. Wir waren alle miteinander verbunden, befanden uns auf derselben Wellenlänge, wie kleine Arbeitsbienen für die Königin.

Wer auch immer das sein mochte.

Zwischenzeitlich war es überwältigend, wie die Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte von Tausenden im Kopf jedes einzelnen Lux gebündelt wurden. Macht übernehmen. Kontrollieren. Herrschen. Dominieren. Unterwerfen. Ein wenig besser wurde es nur, wenn ich mich in menschlicher Erscheinungsform befand. Das schien die Verbindungen zu lockern, zurückzudrehen, allerdings galt das nicht für alle.

Mit großen Schritten ging ich über die gebohnerten Dielen einer verglasten Halle in einer Villa, in der eine ganze Armee hätte unterkommen können, und es wäre noch immer Platz für Gäste gewesen. Als ich meinen Zwillingsbruder Dawson erblickte, sah ich rot. Lässig lehnte er neben einer geschlossenen Flügeltür an der Wand.

Das Kinn gesenkt und mit zusammengezogenen Augenbrauen tippte er konzentriert auf seinem Smartphone herum. Ich hatte den hell erleuchteten Raum bereits halb durchquert – er roch nach Rosen, aber auch ein wenig metallisch nach Blut –, als er den Kopf hob und tief Luft holte. »Hi«, grüßte er. »Da bist du ja. Sie –«

Ich nahm ihm das Telefon aus der Hand, drehte mich um und warf es mit so viel Schwung wie möglich fort. Es flog durch den Raum und zerbarst an der gegenüberliegenden Wand.

»Was soll das, Mann?«, motzte Dawson und fuchtelte wütend mit den Händen in der Luft. »Ich war bei Candy Crush schon auf dem neunundsechzigsten Level. Weißt du, wie schwierig das –?«

Ich holte aus und rammte ihm die Faust in seinen Kiefer. Er taumelte rückwärts, bis die Wand ihn stoppte, und hielt sich mit der Hand das Gesicht, während ich eine perverse Befriedigung in mir verspürte.

»Mann!«, brummte er, während er den Kopf hob, ihn zur Seite neigte und die Hand senkte. »Ich habe sie nicht umgebracht. Natürlich nicht.«

Mühsam holte ich Luft und fühlte mich auf einmal so leer wie ein umgekippter Topf Wasser.

»Ich habe gewusst, was ich tat, Daemon.« Er blickte in Richtung der Tür und senkte die Stimme. »Es ging nicht anders.«

Ich schoss vor, packte ihn am Hemdkragen und hob ihn hoch, bis nur noch die Fußspitzen den Boden berührten. Die Begründung reichte mir nicht. »Du bist noch nie in der Lage gewesen, die Quelle richtig zu kontrollieren. Warum zum Teufel sollte es jetzt plötzlich anders sein?«

Seine Pupillen begannen weiß zu glühen. Er zwang seine Arme zwischen meine, drückte sie auseinander und befreite sich. »Ich hatte keine Wahl.«

»Ja, sicher.« Ich trat um ihn herum und entfernte mich bewusst von ihm, bevor ich ihn noch durch eine Mauer und vor einen Panzer geschleudert hätte.

Dawson drehte sich um und ich spürte seinen glühenden Blick auf dem Rücken. »Lern du erst mal selbst, dich zu kontrollieren.«

Ich blieb vor der geschlossenen Tür stehen und sah ihn über die Schulter hinweg an.

Er schüttelte den Kopf. »Es tut –«

»Sag’s nicht«, warnte ich.

Kurz kniff Dawson die Augen zusammen, und als er sie wieder öffnete, starrte er fast verzweifelt auf die geschlossene Tür. »Wie lange noch?«, flüsterte er.

In dem Moment bekam ich echt Angst. Es war zu viel für ihn. Ich wusste, dass er mit seinen Kräften am Ende war und sich in einer blöden Lage befand. Er hatte wirklich keine andere Wahl gehabt. »Ich weiß nicht, denn …«

Mehr musste ich nicht sagen; ich sah, dass er verstanden hatte. »Dee …«

Unsere Blicke trafen sich. Es gab nichts mehr hinzuzufügen. Ich blickte wieder nach vorn und stieß die Flügeltür auf. Das Pochen in meinem Schädel wurde stärker, als ich das große, runde Büro betrat.

Darin befanden sich mehrere Neuankömmlinge, doch meine Aufmerksamkeit galt vor allem demjenigen, der mit dem Rücken zu mir saß, demjenigen, zu dem wir uns sofort hingezogen gefühlt hatten, als sie am Blockhaus erschienen waren.

Er saß in einem Ledersessel und blickte auf einen großen Flachbildschirm an der Wand. Ein lokaler Fernsehsender zeigte Bilder aus dem Stadtzentrum von Coeur d’Alene. Der Ort war ein vollkommen anderer als noch vor drei Tagen. Rauch stieg jetzt aus den Gebäuden auf und im Westen färbten Feuer den Himmel rot wie bei einem glühenden Sonnenuntergang. Die Straßen waren total verwüstet. Es sah aus wie im Krieg.