Oceanblue - Stefanie Peisker - E-Book

Oceanblue E-Book

Stefanie Peisker

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Beschreibung

Für die 16-jährige Kaisy gibt es nichts Schöneres, als in ihrer Band zu singen. Abgesehen davon, führt sie ein ganz durchschnittliches Teenagerleben ... Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem sich ihre Sirenen-Stimme zeigt und damit ihr größter Albtraum wahr wird: Sie muss ihr altes Leben aufgeben und an einen Ort gehen, den sie nur aus Erzählungen kennt ... Ein Internat auf einer Insel im Mittelmeer soll ihr helfen, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren, doch neue Freunde, neue Feinde und der charmante Chris machen Kaisys neues Leben aufregender, als sie es je gewollt hätte. Sie gerät auf die Spuren ihrer eigenen Vergangenheit und muss feststellen, dass auf der Insel wohl nicht jeder mit offenen Karten spielt ... Spannendes Fantasy-Abenteuer gemixt mit Liebe, Freundschaft und Konflikten. Mit einzigartigen Charakteren wird eine mitreißende Geschichte geschaffen.

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Für alle, die sich von der Geschichte der Sirenen mitreißen lassen...

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Prolog

Voller Genugtuung verließ sie den Raum und genoss dabei jeden Schritt. Natürlich spürte sie die entsetzten Blicke, die ihr nachgeworfen wurden, aber das bestärkte ihren Stolz nur noch.

Sie hatte bekommen, was sie wollte. Natürlich hatte sie das.

Vor dem Haus hielt ihr ein junger Mann im Anzug schon abwartend die Autotür auf. Er gehörte schon seit Langem zu ihren Leuten, doch sein Name hatte sie nie interessiert.

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, stieg sie mit einem zufriedenen Lächeln ein.

„Das hat aber lange gedauert. War es doch nicht so ein einfaches Spiel, wie erwartet?“, fragte ein Mann, der sie im Auto erwartete, mit selbstsicherer Stimme.

„Ach ..., es war noch viel einfacher, als erwartet. Ihr armseliger Widerstand ist in meinen Händen zerbröselt wie abgebranntes Holz“, antwortete sie, schadenfroh grinsend.

„Und wieso hat es dann so lange gedauert?“, fragte er, während sich das Auto in Bewegung setzte.

„Du kennst uns doch. Wir hatten eben noch einen netten Plausch.“

„Das kann ich mir vorstellen, obwohl ich mir eher weniger vorstellen kann, dass sie es nett fand“, meinte er wissend.

„Manche Leute wissen meine Gesellschaft eben nicht so zu schätzen wie du. Aber das braucht sie ja auch nicht, schließlich bin ich nicht gekommen, um sie wieder als meine beste Freundin zu bekommen, sondern dafür zu sorgen, dass die kleine Kadriya später hierher zurückkommen kann“, sagte sie plötzlich vollkommen kühl.

Als er nichts erwiderte, fragte sie: „Ist denn schon alles für unsere Abreise bereit?“

Statt des Mannes neben ihr, antwortete einer, der vorne im Auto saß: „Aber natürlich. Morgen Mittag ist ein Schiff für sie persönlich reserviert, und am Hafen werden sie direkt von einem Fahrer abgeholt.“

„Sehr gut. Wenn wir die Kleine abgeliefert haben, können wir endlich vollenden, was wir so lange aufgebaut haben.“

Kapitel 1

Ein Fuß nach dem anderen.

Langsam verlasse ich meine Umkleide und trete in einen Flur mit unendlich vielen Türen. Vor Anspannung zittere ich am ganzen Körper.

Nach ein paar Schritten, den Gang entlang, biege ich ab und betrete einen komplett leeren Raum. In der Mitte des Raums bleibe ich stehen und starre auf die Tür, die zur Bühne führt. Meine Hände sind nass geschwitzt, und kurz befürchte ich, mir könne jeden Moment das Mikrophon aus der Hand rutschen. Bei diesem Gedanken drücke ich es noch fester mit beiden Händen gegen die Brust.

Atmen! Ganz ruhig durchatmen!

In meinem Mund schiebe ich ein Hustenbonbon hin und her, da ich heute Morgen mit Husten und Halsschmerzen aufgewacht bin. Genau heute! An einem der wichtigsten Tage meines Lebens!

Mit viel Tee, Hustensaft und Bonbons habe ich es über den Tag hinweg geschafft, dass meine Stimme nicht mehr ganz so rau klingt, aber natürlich ist mir klar, dass dies nicht das Konzert meines Lebens werden wird.

Mir ist auch klar, dass die Halsschmerzen möglicherweise ein bedenkenswertes Anzeichen für die Verwandlung sein könnten und ich eigentlich lieber nicht auftreten sollte, aber vielleicht bekomme ich ja auch einfach nur eine Grippe.

Außerdem kam es für mich sowieso nie in Frage das Konzert abzusagen.

Zur großen Besorgnis meiner Mutter, die im Gang auf mich gewartet hat und jetzt hinter mir den Raum betritt.

„Bist du dir wirklich sicher, Kaisy?“, fragt sie zum gefühlt hundertsten Mal.

„Ja, bin ich“, stöhne ich, ohne mich zu ihr umzudrehen.

Mein Konzert beginnt in einer Viertelstunde, da werde ich jetzt bestimmt nicht mehr absagen.

„Ich bin mir sicher, alle werden es verstehen“, meint sie und sieht mich besorgt an. Klar, die paar Leute, die den wahren Grund kennen, würden es verstehen, aber alle anderen würden denken, ich kneife.

„Ich werde nicht absagen, Mum“, wehre ich mich genervt. Natürlich kann ich ihre Angst verstehen, aber das hält mich trotzdem nicht ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass es heute passiert ist so gering...

Außerdem würde ich damit unsere ganze Band in ein schlechtes Licht rücken. Einen solchen Auftritt so kurzfristig abzusagen, ist wirklich unprofessionell, was schlussendlich auf die ganze Band zurückfallen würde.

„Ihr seid doch nur die Vorband!“

Langsam reicht es mir. Ihre Ängstlichkeit geht mir langsam echt auf den Zeiger. Nur, weil sie selbst immer vom Schlimmsten ausgeht, muss ich das doch nicht auch. Das hier ist mein Leben und heute ist mein Abend. Ich möchte nicht dauernd darüber nachdenken, wann und ob es passiert. Ich möchte, dass alles so weitergeht wie bisher, auch wenn meine Mum das etwas strenger sieht.

Um dieser Diskussion endlich ein Ende zu machen, drehe ich auf dem Absatz um und schaue ihr tief in die Augen. „Mama! Ich werde heute auftreten. Wenn du nicht vorhast mich zu unterstützen, dann kannst du auch gerne gehen!“

„Jetzt tu doch nicht so, als würde es darum gehen, dass ich dich nicht unterstützen will!“, meint sie, jetzt auch etwas lauter.

„Tu ich doch gar nicht! Ich weiß, dass es dir darum geht, dass du Angst hast, dass meine Verwandlung zur S...“

Doch sie schneidet mir das Wort ab. „Kaisy, nein! Das hatten wir doch schon oft genug!“

Ich verdrehe nur die Augen. Wir reden und diskutieren nun schon so lange darüber, ohne das Problem wirklich beim Namen zu nennen. Sie sagt immer, es wäre besser, nicht direkt darüber zu sprechen, falls uns jemand zuhört, aber ich weiß, warum sie das Problem nicht anspricht. Die Erinnerungen, die sie mit diesem Thema verbindet, sind einfach zu schmerzlich, weshalb ich sie auch nie dazu gedrängt habe, offen darüber zu sprechen.

Einige Momente schauen wir uns schweigend an, wobei ihr Gesicht allmählich entspannter wirkt.

„Du weißt wie gefährlich das ist, oder?“, fragt sie, plötzlich ganz ernst und ruhig.

„Ja, weiß ich“, antworte ich im gleichen Ton. Zwar würde ich es nicht so überdramatisieren wie sie, aber mir ist schon bewusst, dass es riskant ist.

Ich weiß, dass das nächste halbe Jahr definitiv den Verlauf meines ganzen Lebens bestimmen wird, ohne dass ich es beeinflussen könnte. Trotzdem rede ich mir ein, dass meine Abneigung gegen die Verwandlung ein Zeichen sein könnte, dass es nicht passiert. Und selbst wenn es passiert, kann das Universum doch wenigstens so gnädig sein und es an einem der übrigen hundertfünfundsiebzig Tage passieren lassen. Dieser Tag heute gehört mir, und ich werde ihn mir nicht durch irgendwelche vererbten Genmutationen kaputtmachen lassen. Die Musik, die Band und vor allem dieser Auftritt bedeuten mir dafür zu viel.

Heute ist unser zweiter Auftritt vor so vielen Menschen, doch meine Nervosität ist noch größer als beim ersten Mal. Nicht nur wegen der Angst vor meiner eventuellen Verwandlung, sondern auch, weil die BerlinBoys eine durchaus bekannte Band sind. Und wenn wir als Vorband schlecht sind und das Publikum nicht in Fahrt bringen, dann werden wir niemals wieder die Vorband von irgendwem sein. Ich weiß, ich sollte mir darüber keine Gedanken machen, und dennoch breiten sich die Selbstzweifel in meinem Kopf aus.

„Ich werde dich wohl sowieso nicht mehr abhalten können“, sagt sie resigniert. Ich antworte ihr nicht, sondern lächle ihr nur aufmunternd zu.

„Ich hoffe wirklich, du behältst Recht und meine Sorge bleibt unbegründet.“ Mit diesen Worten dreht sie sich um und geht.

Das Gespräch hat mich aufgewühlt, hat aber nichts an meiner Entscheidung geändert.

Ich atme noch einmal kurz durch und stelle mich vor die schwarze Tür, die zur Bühne führt.

„Bereit, den Leuten so richtig einzuheizen?“

Daniel, unser Gitarrist und gleichzeitig der beste Freund, den man sich wünschen kann, legt mir eine beruhigende Hand auf den Rücken.

„Total!“, sage ich mit zweifelndem Unterton und höre ihn leise lachen. „Lach nicht, Blödmann!“, sage ich und boxe ihm in die Seite.

„Okay! Okay!“, ruft er und reißt die Hände hoch, als würde ich mit einer Waffe auf ihn zielen.

Ich kneife die Augen zusammen, richte das Mikrophon auf ihn und sage: „Du – sollst – dich – nicht – immer – über – mich – lustig – machen!“

Nach jedem Wort tippe ich ihm mit dem Mikrophon auf die Brust.

„Seid ihr bereit?“, fragt ein Mann mit Headset und komplett schwarzer Kleidung, der, wie ich annehme, vom Backstage-Team ist. Sein Namensschild weist ihn als Josh aus.

Als ich hinter mir mehrere Stimmen höre, drehe ich mich um und sehe, dass inzwischen auch die anderen eingetrudelt sind. Ben, unser blonder Schlagzeugspieler, der nervös seine Sticks in den Händen tanzen lässt, steht neben Jason, dem Schönling unserer Band.

Nicht dass Ben oder Daniel hässlich wären, aber sie sind einfach nur durchschnittlich, während Jason mit seinen dunkelbraunen Haaren, tiefblauen Augen und seinem muskulösen Körper deutlich heraussticht. Nur durch ihn wurde das Ansehen unserer Band und das von mir, Daniel und Ben enorm gepusht, auch wenn das natürlich nie jemand ausspricht. Zusätzlich ist er, auch wenn ich das nie zugeben würde, gewissermaßen der Grund, weshalb ich in dieser Band singe.

Als die Band vor zwei Jahren eine neue Sängerin gesucht hatte, war ich mit meinen gerade mal vierzehn Jahren unglaublich in Jason verknallt, wobei es mir egal war, dass das für die Hälfte meiner Jahrgangsstufe ebenso zutraf. Also habe ich mir einen uneinholbaren Vorsprung verschafft, indem ich Daniel, der zu der Zeit auf mich stand, erzählt habe, es sei mein allergrößter Wunsch, in seiner Band zu singen.

So kam eins zum anderen, und entgegen all meiner Vorstellungen habe ich nicht nur Daniel als besten Freund dazugewonnen, sondern auch noch Ben und Jason. Zu einem Date zwischen mir und Jason ist es zum Glück nie gekommen, denn schon nach kurzer Zeit in der Band hatte ich mir eingestehen müssen, dass er ein elender Herzensbrecher ist.

„Vergiss nicht, dein Mikrophon anzumachen, Kaisy!“, wendet sich Josh an mich und holt mich so aus meinen Gedanken. Ich nicke, während er sich der Tür vor uns zuwendet und sie öffnet. Draußen jubelt und klatscht das Publikum. Sie warten nur auf dich! Sie wollen dich hören!, versuche ich mir Mut zuzusprechen, auch wenn es nicht wirklich funktioniert.

Vor uns liegen nun nur noch ein paar Meter in einem schwarzen Gang und eine Treppe hoch zur Bühne.

Jason, Ben und Daniel laufen an mir vorbei und bringen sich auf der Bühne in Position, während ich am Treppenabsatz noch auf meinen Einsatz warte. Daniel zwinkert mir zu, und ich strahle ihn an.

Schnell lege ich den Schalter meines Mikrophons um und betrete unter tosendem Applaus die Bühne. Das Grölen des Publikums nimmt mir die Angst, und ich bin froh, nicht abgesagt zu haben.

Von meinem Platz aus kann ich wegen der vielen Scheinwerfer eigentlich nur die ersten drei Reihen erkennen, aber die Lautstärke des Publikums sagt mir, dass das Konzert gut besucht sein muss.

Wir haben uns bei der Generalprobe zunächst darauf geeinigt, mit einem langsamen Lied zum Einstieg anzufangen und erst danach richtig loszulegen, also spielt Jason den ersten Akkord auf dem Keyboard.

Die Menge verstummt.

Nach dem fünften Akkord haben alle ihre Handytaschenlampe angemacht und schwenken sie über dem Kopf. Nach dem nächsten Akkord lege ich das Mikrophon an meine Lippen und fange an zu singen. Schon mein erster Ton wischt alle meine schlechten Gefühle weg.

Weg sind alle Zweifel und alle Sorgen. Es bleibt nur noch meine unendliche Freude über diesen Augenblick.

Nach unserem vorletzten Lied ist die Stimmung der absolute Hammer. Das Publikum gröhlt begeistert mit, und als ich verkünde, dass wir nun unser letztes Lied spielen werden, bevor die BerlinBoys auf die Bühne kommen, rufen sie laut: „Ooooh“ Stolz über unsere Leistung, lächle ich überglücklich, während Jason das letzte Lied anstimmt. Unsere Aufgabe, dem Publikum ordentlich einzuheizen, haben wir voll und ganz erfüllt.

Ein paar Sekunden, bevor ich mit meinem letzten Gesang einsetze, durchströmt mich eine tiefe Wärme.

Es ist, als trüge sie mich weg, bis ich gar nicht mehr richtig da bin. Völlig entspannt lasse ich mich innerlich fallen und schließe die Augen, um das Intro zu genießen. Normalerweise sehe ich, wenn ich die Augen schließe, immer schwarz. Aber dieses Mal wirkt alles blau. Ein Blau, dass mich an eine Farbe aus meinem Malkasten erinnert, die sich „Oceanblue“ nennt.

Irgendwie entspannt mich dieses Meerblau.

Als ich dann meine Stimme aus den Lautsprechern höre, bin ich sofort wieder hellwach, und mein Puls springt auf hundertachtzig. Vor Schreck fällt mir fast das Mikrophon aus der Hand.

Meine Stimme klingt auf einmal viel weicher, sanfter und melodischer.

Es ist tatsächlich passiert!

Meine Sirenenseite zeigt sich!

Das darf doch nicht wahr sein!

Ich habe noch nie eine Sirene singen gehört, und doch identifiziere ich das, was ich da aus den Lautsprechern höre, sofort als Sirenengesang. Wie zur Bestätigung wird es schlagartig totenstill im Publikum. Alle starren mich gebannt an und scheinen sich noch näher aneinanderzudrängen, um noch näher an der Bühne zu sein. Um näher bei mir zu sein. Um näher an meinen Lippen zu sein.

Da meine Mutter ein normaler Mensch ist und ich dadurch nur eine Art „Halbblut“ bin, standen die Chancen fifty-fifty, ob ich das Sirenen-Gen von meinem Vater vererbt bekommen habe oder nicht. Es hätte genauso gut sein können, dass ich einfach als ganz normaler Mensch weiter in meinem kleinen Dorf hätte leben können, ohne dass sich je etwas verändert hätte.

“Hätte, hätte, Fahrradkette ...“, kommt mir einer meiner Lieblingssprüche aus der Grundschule in den Sinn.

Wir haben zu Hause nie viel über mein mögliches Leben als Sirene gesprochen, aber ich habe verstanden, dass man vor allem als Halbblut beim ersten Mal nicht alle Anwesenden betören kann – insbesondere, wenn es in der Öffentlichkeit passiert.

Auch, wenn es eigentlich nur vollkommene Sirenen oder gar keine Sirenen gibt, hat man mir erklärt, dass bei Halbblütern das erste Mal meist schwächer ist, sich dieser Unterschied jedoch schnell legt. Meine Oma hat versucht, mir irgendetwas über Training und Vorbereitung im Zusammenhang mit der Intensität zu erklären, aber ich habe es nie wirklich verstanden.

Merkwürdigerweise habe ich an diesem Abend das Gefühl, alle eingenommen zu haben. Aber ich traue diesem Erfolg nicht. Wahrscheinlich sehe ich die Leute, die nicht berauscht sind, nur nicht, da ich aufgrund der Scheinwerfer nur ein paar Meter weit blicken kann.

Wahrscheinlich schnipsen schon einige vor den betörten Gesichtern ihrer Freunde herum und wollen sie zurückholen.

Gerade hat mein Lied eine kurze Gesangspause, und ich bin unsicher, was ich tun soll. Wie versteinert stehe ich da und versuche, einfach nur zu lächeln. Kurz überlege ich, das Mikrophon auszumachen, aber das wäre wohl keine gute Lösung, schließlich würde das für noch mehr Irritation sorgen.

Unschlüssig, ob ich weitersingen soll, bringe ich jedoch nicht den Mut auf, einfach aufzuhören und meine Band blöd dastehen zu lassen. Suchend blicke ich zu meinen Bandmitgliedern, die jedoch das Lied weiterspielen und mich gebannt anstarren.

Okay, ganz ruhig. Ich muss ganz rational bleiben und mir überlegen, was meine Mum jetzt tun würde. Sie wüsste bestimmt, was zu tun ist. Mein Blick schweift über die Menge, aber ich kann meine Mutter nirgends erkennen.

Mit zitternden Fingern klammere ich mich am Mikrophon fest, als wäre es ein rettender Ast, und singe einfach weiter. Bei jedem Ton, der aus den Lautsprechern kommt, hoffe ich, dass meine Stimme sich wieder zurückverwandelt, aber das passiert nicht.

Meine Stimme wird nie wieder normal werden. Als Sirene kann man leider nicht steuern, ob man betörend oder normal singen möchte.

Nach ewigen zwei Minuten singe ich erleichtert meine letzte Zeile, warte das Outro ab und bedanke mich möglichst gelassen beim Publikum. Der Applaus ist ohrenbetäubend, was mich fürs erste beruhigt. Würden nicht alle verwirrt durch die Gegend schauen, wenn sie etwas gemerkt hätten?

Als der Applaus endlich ein bisschen abnimmt, verlasse ich, so froh wie noch nie, die Bühne. Schnell laufe ich die Treppe hinunter, den Gang entlang, durch die geöffnete Metalltür und stürme in meine Umkleide.

Durch die geschlossene Tür höre ich noch, wie die anderen sich stolz abklatschen.

Erschöpft lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Tür und lausche noch einige Sekunden mit geschlossenen Augen. Zwar macht weder das Publikum noch meine Band den Eindruck, etwas bemerkt zu haben, aber ich traue mich trotzdem noch nicht wieder hinaus. Was ich jetzt absolut nicht brauchen kann, sind irgendwelche Fragen. Ehrlich gesagt, kann ich gerade gar nichts gebrauchen.

Wieso kann ich nicht zurück in die Vergangenheit reisen und meinem früheren Ich mal ordentlich die Meinung geigen? Wieso habe ich nicht einfach auf meine Mum gehört?

Ich habe Anzeichen gehabt und sie nicht ernst genommen. Ich habe es geahnt, und es ist mir einfach egal gewesen, weil ich es nicht wahrhaben wollte.

Als ich die Augen wieder öffne, blicke ich im Schminkspiegel direkt in mein völlig überfordertes Gesicht.

Mich hat nie jemand auf so etwas vorbereitet, geschweige denn mir gesagt, wie ich reagieren soll. Aber warum auch... Wäre ich nicht so stur gewesen, sondern hätte gehandelt, wie jeder normale Mensch mit so einer Genmutation, hätte ich die Situation besser eingeschätzt. Ich wäre erst gar nicht aufgetreten, sondern einfach zu Hause geblieben. Meine Verwandlung hätten dann nur meine Mum und vielleicht meine kleine Schwerster Chiara mitbekommen und nicht so viele fremde Menschen.

Erschöpft lasse ich mich auf den Stuhl vor dem Schminktisch fallen und betrachte mich: rotbraune Haare, blaue Augen, kleine Stupsnase und ein etwas zu schmaler Mund. Ich sehe, was ich immer sehe, außer der Tatsache, dass ich, obwohl ich schon immer sehr klein und zierlich gewesen bin, jetzt auch noch unglaublich zerbrechlich aussehe. Es sieht so aus, als würde ich bei der kleinsten Berührung sofort in mich zusammenfallen wie ein Kartenhaus.

Meine ohnehin von Natur aus großen Augen wirken noch größer, und nach ein paar Sekunden füllen sie sich mit Tränen. Meine Sicht wird immer trüber, bis ich die Augen schließe.

Ein unendlicher Strom an Fragen schwirrt mir durch den Kopf, sodass es sich nach ein paar Minuten anfühlt, als würde er gleich platzen.

Unwillkürlich schüttle ich den Kopf, als würden die Fragen dann einfach abfallen, aber es werden nur immer mehr.

Haben die Leute es bemerkt? Wird im Zuschauerraum schon wild spekuliert? Was wird nun mit mir passieren?

Ist meine Mum sehr sauer? Habe ich richtig gehandelt?

Hätte ich aufhören sollen zu singen?

Aber die wichtigste Frage, zu der ich immer wieder zurückkehre, ist: Was wird nun mit mir passieren? Die ungefähre Antwort auf diese Frage weiß ich von meiner Oma, aber besonders detailreich sind ihre Erzählungen nie gewesen.

Man wird mich an einen Ort bringen, an dem ich lerne, meine Kräfte zu kontrollieren. Wo dieser Ort sein soll, weiß ich nicht. Meine Oma hat immer gemeint: „Das braucht dich erst zu interessieren, wenn es so weit ist.“

Und egal, wieviel ich gebettelt habe, ich habe nie eine Erklärung von ihr bekommen.

Mit immer noch geschlossenen Augen taste ich nach dem Wasserhahn und spritze mir eiskaltes Wasser ins Gesicht, was mich ein wenig beruhigt.

Ich kann es sowieso nicht mehr rückgängig machen!, sage ich mir immer wieder, aber das macht es nicht besser.

Schon aus Respekt muss ich mich jetzt eigentlich draußen blicken lassen und den BerlinBoys zuhören, schließlich sind sie die Stars an diesem Abend.

Also ziehe ich mir, so langsam ich kann, mein Showoutfit aus, schlüpfe in Hose und T-Shirt und wasche mir erneut das Gesicht. Anschließend atme ich zweimal ganz tief durch, bevor ich mit leisen Schritten meine Umkleide verlasse.

Da erst nach unserem Auftritt das eigentliche Konzert begonnen hat, darf niemand den Backstage-Bereich betreten, worüber ich heilfroh bin. Vielleicht kriege ich so noch ein bisschen Ruhe. Meine Mutter würde wahrscheinlich am liebsten jetzt schon zu mir stürmen, mich rauszerren und drei Milliarden Mal sagen: „Hab ich dir ja gleich gesagt!“ Oder: „Sieh nur, was du angerichtet hast mit deiner Sturheit!“

„Wohin des Weges, junge Dame?“, ertönt es hinter mir, noch bevor ich drei Schritte weit gekommen bin.

Stocksteif bleibe ich stehen und drehe mich wie in Zeitlupe um. Ich hatte mich wohl getäuscht; Ruhe würde ich auch hier nicht haben.

„Hi, Mum! Wo kommst du denn her?“

Unschuldig lächle ich sie an, auch wenn ich den hysterischen Unterton in meiner Stimme nicht unterdrücken kann.

Sie zieht die Augenbrauen hoch: „Denkst du wirklich, es gibt hier keinen Hintereingang?“

„Oh …, wie ... schön!“, stammle ich, während ich versuche, ihr nicht direkt in die Augen zu schauen.

Daraufhin schweigen wir beide ein paar Sekunden, bis ich die Stille durchbreche: „Ich gehe mal davon aus, dass du unseren Aufritt gesehen hast?“

Sie zieht die Augenbrauen noch höher.

In diesem Moment wünsche ich mir, ich hätte auch sie mit meinem Lied hypnotisiert. Aber mir ist klar, dass sie das ganze Lied über bei vollem Bewusstsein war. Meine Mutter ist zwar nur ein Mensch, doch durch die Schwangerschaft mit mir ist sie immun gegen Sirenengesang geworden.

Meine Oma meinte immer: „Stell dir vor, das Sirenenelternteil ist nicht da, und deine Kräfte entfalten sich. Wer soll es denn bemerken, wenn du selbst deine eigene Mutter verzaubern kannst?“

So ganz habe ich diese Erklärung nie verstanden, doch jetzt, wo dieser Satz so gut auf meine Situation zutrifft, begreife ich es. Leute, die man betört, merken es nicht und können sich auch danach nicht daran erinnern.

Wem sollte ich denn dann erzählen, was passiert ist, wenn sich niemand außer mir erinnert?

„Hat es dir gefallen?“, frage ich schnell, bevor sie etwas sagen kann.

„Ja! Vor allem beim letzten Lied war das Publikum wirklich wie gebannt! Also wirklich, als ob du zaubern könntest!“, meint sie ironisch, und endlich lächelt sie mich an.

Ein riesiger Fels fällt mir vom Herzen, als ich sehe, dass sie nicht vorhat, mir Vorwürfe zu machen. Ehe sie noch etwas sagen kann, werfe ich mich in ihre Arme.

„Nach dem Konzert müssen wir sofort fahren. Laut den offiziellen Regeln, musst du so schnell wie möglich dein Zuhause verlassen, um unangenehme Situationen in der Öffentlichkeit zu verhindern“, erklärt sie, was ich wohl einfach hinnehmen muss.

„Möchtest du wirklich nicht bleiben?“, fragt Daniel, der uns nach dem Konzert zum Auto begleitet.

„Nein … Ich kann nicht. Außerdem bin ich müde vom Auftritt“, versuche ich ihm eine halbwegs glaubwürdige Erklärung zu liefern, warum ich nicht bleiben kann, um unseren Auftritt zu feiern.

„Tja, Kleine! Ich werde dich dran erinnern, wenn dir am Montag alle von der geilen Party erzählen!“, neckt er mich.

„Und ich werde dich erinnern, wenn du morgen mit einem fiesen Kater aufwachst und den ganzen Tag schlecht drauf bist!“, kontere ich schnell.

Mir ist natürlich bewusst, dass wir uns an gar nichts mehr erinnern werden und dass das hier unser letztes Gespräch sein würde, aber bei so einer Steilvorlage kann ich einfach nicht widerstehen.

„Na, dann muss ich dich wohl diese furchtbar miese Entscheidung treffen lassen.“

„Du weißt doch, wie stur ich bin!“

Wir umarmen uns, und er dreht mir den Rücken zu, um zu den anderen zurückzugehen.

„Viel Spaß!“, rufe ich ihm hinterher, was er mit „Werde ich haben!“ beantwortet.

Ich schaue ihm noch hinterher, bis er in der Tür verschwunden ist, dann steige ich ins Auto.

Mit einem lauten Knall schlage ich die Autotür zu und grummle: „Tschüss, altes Leben!“

„Jetzt übertreib doch nicht so! Du kannst doch irgendwann wieder zurückkommen. Was sind denn schon drei Jahre? Außerdem findest du bestimmt viele neue Freunde“, versucht meine Mum mich vom Fahrersitz aus zu beschwichtigen.

„Toll!“, gebe ich wenig überzeugt zurück.

„Jetzt zeig doch mal ein bisschen Enthusiasmus! Du tust ja gerade so, als würde die Welt untergehen“, meint sie wenig überzeugend.

Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass in diesem Moment eindeutig die Welt für mich untergeht.

Ich öffne den Mund, um ihr zu antworten, schließe ihn jedoch wieder. Ich habe an diesem Abend nicht die Nerven für eine ewig lange Predigt über die Vorteile als Sirene und dass ich bestimmt viel Neues erleben werde.

Die Erwachsenen machen sich das immer so einfach.

Nur, weil man seine alten Freunde behalten möchte, heißt das doch nicht, dass man nicht offen für Neues ist.

„Ich habe Grace angerufen. Sie nimmt den ersten Zug, den sie kriegt. Morgen Nachmittag fahrt ihr dann los, bis dahin musst du also gepackt haben!“

Grace ist meine Oma, und von ihr hat mein Vater sein Sirenen-Gen geerbt. Sie hat sich recht gut gehalten und, auch wenn sie es liebt, in Rätseln zu sprechen, ist sie meine Lieblingsoma.

„Wisst ihr schon, was ihr den Leuten sagen werdet, weshalb ich vom einen auf den anderen Tag verschwinde?“, frage ich, denn gerade, als ich Daniel verabschiedet habe, ist mir aufgefallen, dass ich ja eine Art Alibi brauche.

Schließlich habe ich eigentlich Montag wieder Schule.

Vor einer Woche habe ich die elfte Klasse begonnen, um in zwei Jahren mein Abi zu machen, aber dieser Traum endet jetzt wohl. Ob ich will oder nicht, ich werde nicht mehr an meine alte Schule zurückkehren, geschweige denn, mein Abi machen dürfen.

„Nein, wir wissen noch nicht ganz, was wir erzählen werden“, fährt meine Mutter fort.

„Auf jeden Fall werden wir sagen, dass du jetzt auf ein Internat in einem anderen Land gehst. Nur über die Plötzlichkeit sind sich Grace und ich noch nicht ganz einig. Aber darüber musst du dir keine Gedanken machen. Deine Oma und ich regeln das schon.“

In diesem Moment, durchströmt mich das Gefühl, dass ich nicht mehr mein Leben, sondern das von jemand anderem führen soll. Niemand fragt mich, ob ich auf diese mysteriöse Sirenenschule gehen und ob ich mein ganzes Leben hier zurücklassen will.

Hat eigentlich je jemand darüber nachgedacht, dass ich mir in den ersten sechzehn Jahren meines Lebens etwas aufgebaut habe?

Kapitel 2

Mit meinem großen Reisetrolley und meiner Handtasche bewaffnet, stehe ich neben meiner Oma an der Bushaltestelle.

Heute Morgen musste ich, ohne zu wissen, wo es überhaupt hingeht, meinen Koffer möglichst schnell packen. Meine Mutter wollte eigentlich gestern Abend schon, dass ich alles komplett fertig packe, damit wir heute keinen Stress haben. Dieser Plan wurde jedoch jäh von meiner kleiner Schwester Chiara zerstört.

Als sie gehört hat, was passiert ist, hat sie mich stundenlang über alles ausgefragt.

Natürlich kann ich ihre Neugierde verstehen, schließlich könnte ihr das alles in zwei Jahren auch passieren. Ich musste die Geschichte, fünfmal, mit allen kleinen Details erzählen. Doch als sie wissen wollte, wie es sich angefühlt hat, musste ich passen. Dieses Gefühl, das mich durchströmt hat, als ich gesungen habe, war unbeschreiblich. Irgendwie so, als wäre ich jetzt innerlich da angekommen, wo mein Körper, ohne es zu wissen, schon immer hingewollt hat.

Und obwohl ich weiß, dass ich es nicht darf und es gefährlich ist, habe ich das Bedürfnis, es erneut zu tun.

Das Gefühl ist wie Zucker für die Seele. Wunderschön, und wenn man einmal angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören.

Trotzdem habe ich keinen singenden Ton mehr von mir gegeben, was mir nicht leicht gefallen ist.

Normalerweise laufe ich oft singend durchs Haus, doch jetzt geht das nicht mehr, und irgendwie macht mich das traurig. Auch schon vor der Verwandlung hat mich das Singen glücklich gemacht, egal wie es mir ging.

Das einzige, was mir geblieben ist, ist die meerblaue Farbe, wenn ich die Augen schließe. Auch wenn ich nicht singe, begleitet sie mich. Ich weiß nicht, ob es normal ist, aber eigentlich ist es mir auch egal. Diese Farbe zu sehen, die mich jedes Mal wieder an die „Oceanblue“-Farbe aus meinem Malkasten erinnert, macht mich einfach glücklich.

In Gedanken versunken, erwische ich mich, wie ich einen Ohrwurm, den ich schon den ganzen Tag habe, mitsummen möchte, halte mich aber zurück und versuche mich abzulenken, indem ich die Menschen an der Bushaltestelle beobachte.

Außer mir stehen dort nur noch ein junger Mann mit Zigarette, ein Paar, das die Finger nicht voneinander lassen kann, und meine Oma. Sie hat nur eine Handtasche dabei, denn sie wird mich nur hinbringen und dann wieder nach Hause zurückkehren.

Eigentlich wäre es die Aufgabe meines Dads gewesen, mich zu diesem sagenumwobenen Ort zu bringen, doch da er vor einem Jahr gestorben ist, übernimmt meine Oma diese Aufgabe.

Er ist Auto gefahren, hat dann die Kontrolle über das Lenkrad verloren und ist mit dem Auto über die Brüstung ins Meer gestürzt.

Wieso er an einem klaren trockenen Sommertag die Kontrolle verloren hat oder weshalb das genau einen Tag vor meinem fünfzehnten Geburtstag passiert ist, wird wohl für immer ungeklärt bleiben, denn genau diese Fragen traut sich keiner zu fragen. Sein Tod ist einfach ein Tabuthema, wie alles, was mit meinem Dad zu tun hat.

Ich hätte gerne mehr über ihn gesprochen, aber Mum hat mir immer das Wort abgeschnitten, wenn ich über ihn reden wollte, also habe ich irgendwann damit aufgehört.

Ich weiß nicht, ob meine Mum den Verlust je verkraftet hat, denn getrauert hat sie nie.

Nach seiner Beerdigung tat sie einfach so, als wäre nichts passiert. Ignorierte, dass in unserem Haus ganz gewaltig etwas fehlte und hielt sich durchgehend mit Arbeit beschäftigt. Im Großen und Ganzen hat sie es wohl eher verdrängt als verarbeitet.

Das Einzige, was ihre Maskerade manchmal gestört hat, waren Fernsehernachrichten, die über den Unfall berichtet haben. Selbst sie konnte nicht einfach weiter lächeln, als detailliert die kaputte Absperrung gezeigt wurde und Taucher das Autowrack aus dem Wasser holten.

Der Bus kommt mit quietschenden Reifen vor uns zum Stehen. Mühsam hieve ich meinen Koffer in den Bus und lasse mich in der ersten freien Reihe auf einen Sitz fallen. Einige ältere Menschen schauen mich befremdlich an, sodass ich meine Aufmerksamkeit schnell wieder meiner Oma zuwende.

Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, setzt sie sich neben mich.

„Kannst du mir jetzt endlich erzählen, wohin wir fahren?“, frage ich, um einen freundlichen Ton bemüht.

Einen Moment lang schaut sie mich nachdenklich an und meint dann: „Könnte ich schon, aber dann ist es ja keine Überraschung mehr!“ In ihrer Stimme schwingt fast kindliche Freude mit.

Mein Lächeln erstirbt, und ich ziehe die Augenbrauen hoch.

„Ist das dein Ernst?“, frage ich sarkastisch. „Mein ganzes Leben wird auf den Kopf gestellt, und dein einziges Problem ist, mich zu überraschen!?“

Abwartend schaue ich sie an, aber sie lächelt mich nur weiter unschuldig an. Also muss ich wohl nachhelfen:

„Ich weiß, du meinst es gut, aber ich bin gerade wirklich nicht scharf auf Überraschungen.“

„Tja, ich werde es dir trotzdem nicht sagen!“, erwidert sie mit einem Lächeln, das mir entgegenschreit, wie sehr sie es liebt, mich zu ärgern.

Genervt verdrehe ich die Augen. Ich beschließe, es aufzugeben, denn mir wird klar, dass sie mir, wenn ich weiter quengle, erst recht nichts verraten wird.

„Mach es dir einfach gemütlich. Wir werden einige Stunden gen Süden fahren“, weist sie mich an, was ich mit einem Stöhnen erwidere.

Als ich wieder aufwache, habe ich keine Ahnung, wann ich eingeschlafen bin und wie lange wir jetzt schon in diesem Bus sitzen.

„So, hier müssen wir raus!“, meint meine Oma und geht beschwingt den Gang entlang. Es erinnert mich an solche Filme, in denen ein kleines Mädchen mit wehendem Haar und natürlich in Zeitlupe über eine Wiese läuft und alles Super-duper-Sonnenschein ist, bis etwas den harmonischen Moment zerstört.

Dieses Etwas bin dann wohl ich. Denn bei meinem Gang durch den Bus donnere ich mit meinem Koffer erstmal an einen Sitz und fahre dann einem Typen, der seine Füße in den Gang streckt, über die Zehen.

Noch während ich damit beschäftigt bin, meinen Koffer aus dem Bus zu heben, rieche ich den unverwechselbaren Duft des Meeres und höre die Schiffe. Als ich aufblicke, bestätigt sich mein Verdacht:

Wir sind an einem Hafen.

Die Straße runter muss das Meer sein, doch zu sehen sind eigentlich nur aneinandergereihte Boote, die an Holzstegen festgemacht sind. Immer wieder kann ich Touristen sehen, die offensichtlich von den Booten und dem Meer begeistert sind.

„Was machen wir hier?“, frage ich leicht irritiert.

Die Mittagssonne hat inzwischen ihren Höchstpunkt erreicht und brennt von oben auf uns herab. Natürlich habe ich nicht daran gedacht, einen Hut einzupacken, also muss meine Hand als Sonnenschutz herhalten. Mit der Hand auf der Stirn, sehe ich zu meiner Oma, die gerade auf ihre Armbanduhr sieht.

„Hier, meine Liebe, fährt in einer halben Stunde das Schiff ab, das uns zu deinem neuen Zuhause bringt.“

Sie scheint es kaum abwarten zu können. Ein bisschen erinnert sie mich an ein kleines Kind, das schon im Oktober zu fragen anfängt, wann endlich Weihnachten ist.

In welchem Land sind wir überhaupt? Ich werde immer skeptischer und frage: „Wo liegt denn diese Schule? Du weißt, dass die einzige Fremdsprache, die ich beherrsche, Englisch ist, abgesehen von Latein, das man aber nirgends brauchen kann.“

Mir ist schon klar gewesen, dass wir nicht nur drei Häuser weiterfahren würden. Aber das Land verlassen?

„Wir fahren zu einer der Inseln vor der Küste, aber das siehst du alles schon noch früh genug. Du weißt doch, dass Sirenen ihre Kraft aus dem Meer ziehen und aus diesem Grund ist eine der Inseln vor der italienischen Küste schon seit Jahrhunderten in Besitz der Sirenengemeinde. Falls es dich beruhigt: Die Insel ist komplett besiedelt mit deutschsprachigen Menschen, du wirst also keine Sprache lernen müssen. Auch wenn dir das wirklich gut tun würde... Ich habe deinen Eltern immer gesagt, sie sollen dich bei mir wohnen lassen, damit du an das Sprachgymnasium bei uns gehen kannst. Aber manche Leute lassen sich eben nicht zu ihrem Glück zwingen.“

Sie schüttelt lächelnd den Kopf. Ich, auch wenn ich ihr das natürlich nicht sage, bin froh, dass mich meine Eltern nicht zu meiner Oma gegeben haben. Sie ist zwar eine wirklich tolle Oma, aber ihr Drang, immer alles besser zu wissen, hätte mich auf Dauer wohl wahnsinnig gemacht. Außerdem lässt sie die Tatsache, dass ich eine Vollniete im Sprachenlernen bin, immer außer Acht.

„Jaja, Oma... Was du nicht alles anders machen würdest“, kommentiere ich.

„Tja, Kadriya, aber mir hört ja keiner zu.“

„Da kann man wohl nichts machen“, meine ich lakonisch.

Sie schaut sich suchend um und sagt: „Fürs erste würde es mir reichen, wenn du mir helfen könntest, den Informationsschalter zu finden. Wir brauchen ja schließlich noch Fahrkarten, nicht wahr?“

Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Oma schon einmal hier war. Auch wenn das letzte Mal wahrscheinlich war, als sie meinen Vater zu der Insel gebracht hat, was schon eine ganze Zeit her sein müsste.

Davor hat sie natürlich jahrelang selbst als Schülerin dort verbracht, aber das ist jetzt wirklich schon sehr lange her.

Während ich noch versuche auszurechnen, wie viele Jahre das jetzt wohl her sein mag, hat sie offensichtlich den Informationsschalter gefunden. Schnurstracks geht sie auf ein Gebäude zu, und ich haste ihr hinterher.

Über dem zweistöckigen Haus prangt ein großes leuchtendgrünes “I“ und dahinter etwas kleiner die restlichen Buchstaben, um das Wort „Info“ zu bilden.

Hinter der Glasfront, die sich anscheinend über fast das ganze Erdgeschoss zieht, kann ich einen jungen Mann hinter einer Art Theke stehen sehen. Seine braunen Haare wirken durch die hereinflutende Sonne, als wären sie mit Goldsträhnen durchzogen.

Eine automatische Tür öffnet sich, und drinnen überzieht sofort eine Gänsehaut meine nackten Armen.

Ist es wirklich so schwer, einen Raum nur so weit runter zu kühlen, dass einem keine Eiszapfen an der Nase wachsen, sobald man ihn betritt?

Wir treten an den Schalter, und aus der Nähe sehe ich, dass der Typ wirklich goldblond gesträhnte Haare hat.

Schnell wende ich mich ab, als ich bemerke, dass ich ihn schon viel zu lange angestarrt habe. Die Röte schießt mir ins Gesicht, doch der Typ scheint mehr auf meine Oma zu achten. Diese lässt ihren Blick durch den Raum schweifen, um zu überprüfen, ob uns jemand belauscht, und als wir am Schalter angekommen sind, sagt sie:

„Zwei Karten zu Kalliopa, bitte.“

Eine kalte Brise lässt meine Beine erzittern, und ich verschränke die Arme vor der Brust, um mit meinen Händen meine Arme zu wärmen.

Kurz herrscht Schweigen, während der Typ erst meine Oma und dann mich von Kopf bis Fuß mustert. Und zwar so auffällig und lange, als wäre es ihm scheißegal, dass wir es bemerken.

Als er bei meinem Gesicht angekommen ist, werfe ich ihm einen herausfordernden Blick zu, woraufhin er mich noch einmal ausgiebig mustert. Er macht mich wütend, doch die Tatsache, dass er mich ganz offensichtlich provozieren möchte, hält mich zurück, etwas zu sagen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens räuspert sich meine Oma, und er fragt eintönig: „Namen?“

„Kadriya und Grace Kayser“, antwortet meine Oma im gleichen eintönigen Tonfall.

Nachdem er einiges in seinen Computer eingegeben hat, legt er seine geöffnete Hand auf den Tresen.

Auffordernd schaut er mich mit seinen hellblauen Augen an, doch als ich nur irritiert die Augenbrauen zusammenziehe, wendet er sich an meine Oma. Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf, als sie ihre Hand mit der Handoberfläche nach oben in seine legt.

„Dass das wirklich immer noch sein muss, Marc…“ Sie schüttelt ungeduldig und leicht genervt den Kopf.

„Ich mache nur meinen Job, Grace. Wäre es dir lieber, wenn ich jedem eine Fahrkarte verkaufe?“

Was sollte das denn jetzt? Ist Händchenhalten hier die neue Bezahlungsmethode, oder was? Ich zwinkere noch einmal, um mich zu versichern, dass ich nicht halluziniere.

Nach dem Tod meines Opas habe ich nicht erwartet, noch einmal einen Mann ihre Hand halten zu sehen.

Sie übergeht seine Bemerkung und fragt: „Fertig?“

Als Antwort lässt er ihre Hand los, und sie nimmt ihre vom Tresen. Sein Blick wandert erneut zu mir. Als ich nicht reagiere, schaut er auf seine Hand und schließlich zu meiner Oma.

„Kadriya, gib ihm deine Hand“, fordert sie mich auf, als würde ich mich gegen etwas total Selbstverständliches wehren.

„Ich werde gar nichts tun!“, gebe ich irritiert und aufgebracht zurück. Die haben sie ja nicht mehr alle!

Im Gegensatz zu meiner Oma, die immer genervter wirkt, lacht der Typ.

„Marc muss das tun“, seufzt sie, setzt dann aber zu einer Erklärung an: „Er ist ein ausgebildeter Seelenseher und kann durch die Berührung erkennen, ob du eine Sirene bist. Du kannst dir ja wahrscheinlich denken, dass nicht jeder auf die Insel darf, also muss irgendjemand das überprüfen.“

Diese Gabe ist mir völlig neu. Ich weiß, dass die Männer, die das Sirenen-Gen geerbt haben keine betörenden Stimmen haben, sondern mit besonders viel Kraft, Ausdauer und Scharfsinn gesegnet sind. Soweit ich das verstanden habe, werden sie Ägire genannt und ihre größten Aufgaben bestehen darin, die Sirenen zu begleiten, zu beschützen und sich mit ihnen fortzupflanzen, um so für den Fortbestand der Sirenen zu sorgen. Aber davon, dass sie durch Berührung lesen können, ob man das Sirenen-Gen in sich trägt, habe ich nie gehört. Ob das wohl alle Männer hier können?

Als ich erneut zu dem Mann vor mir blicke, wirft er mir immer noch auffordernde Blicke zu. Sofort werde ich feuerrot, denn mir geht auf, wie kindisch ich mich benommen habe.

Heimlich verfluche ich meine Oma dafür, dass sie mir davon nichts erzählt hat, bevor ich mich hier zum Deppen gemacht habe.

Schnell lege ich meine Hand auf seine, um mir weitere Peinlichkeiten zu ersparen.

Als er meine Hand spürt, erlischt sein Grinsen, stattdessen schaut er mir ganz tief in die Augen, fast so, als versuche er, durch mich hindurchzusehen. Als wolle er in mich hinein, bis auf den Grund meiner Seele schaun. Daraufhin setzt ein Kribbeln in meinen Fingerspitzen ein, das langsam meinen Arm hochwandert. Erschrocken über das Kribbeln will ich meine Hand wegziehen, doch er hält sie fest.

Gleichzeitig hält sein Blick meine Augen so gefangen, dass ich nicht wegsehen kann.

Das Kribbeln ist jetzt schon bei meiner Schulter angelangt, und als es an meiner Brust, auf Höhe des Herzens, angekommen ist, lässt er meine Hand endlich los. Schneller als ich erwartet hätte, ziehen wir beide unsere Hände auseinander.

Erneut blickt er zu meiner Oma, doch dieses Mal mit fragendem Blick.

„Kadriya Kayser, sagtest du?“, fragt er gedankenverloren.

„Ja, genau, die bin ich ... Gibt es damit ein Problem?“, antworte ich schnippisch, auch wenn er immer noch meiner Oma zugewandt ist.

„Nein, natürlich nicht. Wir ... Ich frage mich nur, wann sich deine Stimme gezeigt hat?“, fragt er und wendet sich schließlich doch an mich.

„Ich singe in einer Band und ...“, beginne ich, doch meine Oma unterbricht mich: „Müssen wir das unbedingt besprechen?“

„Lass deine Enkelin doch ausreden, Grace. Ich erfahre die Geschichte so oder so“, sagt er und tippt sich an den Kopf, als übermittle er ihr irgendeine geheime Botschaft.

Mit einem verwirrten Blick zu meiner Oma, setze ich erneut an: „Wir hatten gestern einen Auftritt und ... Na ja ... Beim letzten Lied habe ich definitiv alle umgehauen.“

„Du hast nach deinem sechzehnten Geburtstag auf einem öffentlichen Konzert gesungen?“, fragt er verständnislos, woraufhin meine Oma erwidert:

„Offensichtlich hat sie das. Aber ich wüsste nicht, was dich das angehen würde.“

„Oh, Grace ... Eine ganze Menge ... Glaub mir.“ Freaks! Alles Freaks hier!, denke ich, doch als mein Gehirn die winzigen Wort: so wie du, hinzufügt, versuche ich mich mit einem Blick durch die Halle abzulenken.

Er lächelt mich belustigt an: „Tja, man kann sich sein Leben nicht aussuchen.“

Ich brauche zwei Sekunden, bis mein Gehirn verarbeitet hat, was gerade passiert ist. Und noch einmal zwei Sekunden, bis ich wirklich realisiert habe, was der Typ gerade getan hat.

Nein! Bitte tu mir das nicht an, Universum! Er kann doch keine Gedanken lesen, oder? Was, wenn doch? Was, wenn er alles, was ich über seine Haare und sein auch sonst sehr attraktives Gesicht gedacht habe, mitbekommen hat?

Wie zur Bestätigung gibt er seinen Augenbrauen einen flirtenden Schwung. Ich würde am liebsten im Boden versinken. Wieso muss so etwas immer mir passieren?

Ist mein Leben noch nicht kompliziert genug?

Sofort befehle ich meinem Gehirn, an nichts zu denken.

An rein gar nichts!

Und als ich mich angestrengt bemühe, an unseren Vorgarten zu denken, verschwindet er in einem Raum hinter sich. Meine Gedanken scheinen ihn zu langweilen. Zum Glück.

Ich werfe meiner Oma einen wütenden Blick zu, doch bevor ich etwas sagen kann, ist der Typ schon wieder da, und ich sehe ihm an, dass er auch das gehört hat ...

Vorgarten! Pinke Blumen! Gelbe Blumen! Grünes Gras!

„So, hier sind sie!“ Marc überreicht meiner Oma zwei Karten, und sie schiebt ihm das Geld über den Tresen.

„Na, dann bis zum nächsten Mal, meine Damen!“, sagt er, während wir das Gebäude verlassen.

Ich fühle mich noch immer von ihm provoziert, also kann ich mich nicht zurückhalten, in Gedanken laut Arschloch zu schreien. Ich bin mir sicher, dass er es hört, und diese Tatsache bringt mir Genugtuung.

„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass er Gedanken lesen kann?!“, frage ich meine Oma, als wir weit genug von dem Gebäude entfernt sind.

„Um mir damit den ganzen Spaß zu verderben?“, fragt sie lachend.

Ich reiße die Augen auf und starre sie an. Das hat sie mir doch nicht ernsthaft nur zu ihrer Belustigung angetan?!

Ihr Lachen wird immer leiser, bis sie schließlich meint:

„Als er mit dir fertig war, dachte ich ja schon, du würdest es gar nicht mehr bemerken, aber zum Schluss wurde es ja doch noch ganz lustig!“

Sie ist geisteskrank. Schlicht und ergreifend geisteskrank. Ich muss einfach einsehen, dass sie auch schon eine alte Dame ist. Da werden ja viele Leute seltsam im Kopf.

„Du bist verrückt Oma!“

„Nein, eigentlich bin ich nur ein bisschen schadenfroh“, erwidert sie mit einem zufriedenen Lächeln.

Das Meer breitet sich weit vor mir aus. Ich habe mir einen Platz ganz vorne sichern können, sodass ich nichts außer dem großen, blauen Meer sehen kann, das sich bis zum Horizont ausbreitet. Meine Oma hat sich schon vor fünf Minuten ins Board-Restaurant verabschiedet, um sich einen Kaffee zu holen, also sitze ich alleine.

Jemand tippt mich an, und als ich mich umdrehe, schaue ich in wunderschöne grüne Augen.

„Bist du auch neu auf der Insel?“, fragt ein Mädchen lächelnd und sieht dabei mit ihren wilden blonden Locken aus wie ein Engel, der gerade aus dem Bett gefallen ist. Bei ihrem freundlichen Auftreten muss ich automatisch auch lächeln.

„Was ist?“, fragt sie, denn anscheinend habe ich sie verunsichert.

„Nichts! Ich bin nur froh, nicht die Einzige zu sein, die neu auf der Insel ist“, gebe ich beruhigt zurück.

Sie strahlt mich an: „Ich bin Miranda! Und du?“

„Kaisy!“

Eigentlich ist Kaisy nur eine Abkürzung, aber man könnte es auch für meinen richtigen Namen halten.

Schließlich nennen mich alle so, und ich habe in den letzten Jahren sogar auf meine Tests nur noch „Kaisy“ geschrieben. Der einzige Mensch, der immer noch vehement an meinem richtigen Namen festhält, ist meine Oma. Es ist nicht so, dass ich den Namen Kadriya nicht mag, aber Kaisy ist nun mal einfacher, und die Leute wissen, wie sie ihn schreiben sollen.

Mein Dad hat den Namen ausgewählt. Kadriya kommt aus dem Türkischen, wo es Kadriye heißt und für Macht und Stärke, aber auch für Wert steht. Er hat immer gesagt, ich wäre das Wertvollste, was er habe, und so jemand Wertvolles sei so einzigartig, dass er auch einen einzigartigen Namen verdient.

Miranda steht unschlüssig vor mir, sodass ich den Kopf in den Nacken legen muss, um ihr ins Gesicht zu sehen.

„Magst du dich nicht zu mir setzen. Wenn ich sitze und du vor mir stehst, fühle ich mich noch kleiner, als ich eh schon bin.“

Während sie sich setzt, frage ich: „Und mit wem bist du hier?“

Ihr Gesicht hellt sich auf: „Mit meiner Mum. Mein kleiner Bruder wollte eigentlich auch unbedingt mit, aber er ist noch zu klein.“ Ihr entfährt ein kleines Kichern, bevor sie sich wieder an mich wendet: „Und wer begleitet dich?“

„Meine Oma.“

„Oh, das tut mir leid! Ich wollte nicht ..!“, stammelt sie.

„Du wolltest nicht was?“, frage ich irritiert.

Ein paar Sekunden schweigt sie, bis sie kleinlaut fragt:

„Ist deine Mutter auch im Bürgerkrieg gefallen?“

Ich muss verwundert lachen: „Du denkst, meine Mutter ist tot? Und was meinst du mit Bürgerkrieg?“

„Ja, sonst wäre sie doch hier, um dich zu unterstützen.“

Ihr Blick heftet sich wieder aufs Meer, als würde sie etwas darin suchen.

„Meine Mutter ist keine Sirene, sondern ein ganz normaler Mensch. Ich habe es von meinem Dad geerbt“, sage ich und stocke kurz, bevor ich ergänze:

„Er ist aber vor einem Jahr bei einem Verkehrsunfall gestorben.“

Betroffen und unschlüssig, was sie erwidern soll, schaut sie weiter aufs Meer.

Freundschaftlich knuffe ich sie in die Seite und sage:

„Schau nicht so. Ich rede gerne über meinen Vater.“

Sie lächelt mir zu.

„Mmh...“, beginne ich, ohne zu wissen, wie ich das Thema wechseln könnte.

Kurz überlege ich, ob ich nochmal nach dem Bürgerkrieg fragen soll, aber ein Gute-Laune-Thema ist das ja auch nicht wirklich.

„Wie lange ist es bei dir her, dass sich deine Stimme verändert hat?“, frage ich stattdessen.

„Ungefähr eine Woche, aber zu spät, um einen früheren Bus zum Hafen zu nehmen “, antwortet sie, während sich ihr Gesicht immer mehr aufhellt und sie schließlich belustigt grinst.

„Was ist?“, frage ich, jetzt ebenfalls lächelnd.

„Ach, ich musste nur gerade wieder daran denken, wie meine Mum ihr Handy fallen gelassen hat“, sagt sie.

Ich verstehe nur Bahnhof.

„Du musst wissen“, beginnt sie zu erklären, „dass ich einen älteren Bruder habe, der das Gen nicht geerbt hat, schließlich ist nur meine Mutter eine Sirene und mein Vater nicht, von daher ist es bei mir unklar gewesen.

Doch meistens wird das Gen entweder an alle Kinder oder an keins vererbt. Natürlich kommt es vor, dass eines es hat und ein anderes nicht, aber das ist eher selten.“

„Oh...“, meine ich, auch wenn mir immer noch nicht aufgeht, was daran so lustig ist.

„Deshalb hat meine Mutter nicht damit gerechnet, dass ich das Gen habe. Während sie also einkaufen war, saßen ich und mein Bruder auf der Couch und ich hatte einen hartnäckigen Ohrwurm und habe leise vor mich hingesungen. Und so ist es passiert... Meine Mutter kam mit dem Handy am Ohr zurück und hat es fallen gelassen, als sie gesehen hat, wie mein Bruder fast auf meinem Schoß saß und mich mit großen Augen angehimmelt hat.“

Ich kann mir vorstellen, wie witzig es ausgesehen haben muss, als ihr Bruder wie ein schwanzwedelnder Hund an ihr klebte. Wir beide müssen laut lachen, aber sie ist noch nicht fertig.

„Es wird noch besser“, sagt sie, immer noch kichernd.

„Sie hat uns ganz verstört angestarrt und uns gefragt, was wir da machen. Anscheinend war sie so geschockt von diesem Anblick, dass sie ernsthaft dachte, wir könnten ... wir könnten ...“

Miranda kann vor Lachen den Satz nicht zu Ende bringen. Wir beide kriegen uns nicht mehr ein vor Lachen.

Doch schließlich holt sie tief Luft und fragt ganz aufgeregt: „Okay! Jetzt bist du dran! Wen hast du um den Verstand gebracht?“

Als ich ihre Neugier sehe, habe ich Lust, sie etwas zu necken: „Tja... Ich weiß nicht ...“

Natürlich durchschaut sie mich, fixiert mich, lehnt sich noch etwas weiter nach vorne und quengelt: „Komm schon! Erzähl’s mir! Bitte!“

„Schon gut... Aber es nicht so witzig wie deine Geschichte!“, beschwichtige ich sie und erzähle ihr anschließend von dem Konzert, bei dem ich das Publikum betört habe.

„Krass!“, entfährt es ihr, als ich ende. „Und nur dein Vater hat das Gen gehabt?“, fragt sie ungläubig, woraufhin ich verunsichert murmle: „Ja, warum?“

„Krass!“, sagt sie erneut, diesmal etwas lauter, und ich sehe so etwas wie Stolz in ihrem Gesicht.

„Was denn?“, frage ich, schon wieder etwas kichernd, denn ihr erstauntes Gesicht ist einfach zu lustig anzusehen.

„Dir ist schon bewusst, wie krass das ist, oder? Die meisten, vor allem, wenn sie nicht jahrelang auf der Insel gewesen sind, schaffen es gerade einmal, ein paar Menschen in ihren Sirenenbann zu ziehen. Schließlich haben wir ja noch keine Übung, und es passiert ohne Absicht, also auch ohne, dass man sich darauf konzentriert.“

„Oh ...“, ist das einzige, was mir dazu einfällt.

Weder meine Oma noch meine Mum haben mir je viel erzählt von Dads Gen und auch nicht von der Menge der Menschen, die er in seinen Bann gezogen hat, bei seinem ersten Mal.

Es entsteht ein kurzes Schweigen, denn ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Mirandas Erklärungen haben mich irgendwie überfahren.

„Weißt du, wie lange wir noch fahren?“, frage ich schnell, um das Schweigen zu brechen und gleichzeitig das Thema zu wechseln.

Offensichtlich erleichtert über meinen eleganten Themenwechsel, gibt sie zurück: „Nicht mehr lange.

Meine Mum meinte eben, dass wir in spätestens zwanzig Minuten anlegen müssten.“

„Weißt du viel über die Insel und die Schule?“, frage ich, erleichtert, dass mir diese Frage eingefallen ist.

Vielleicht erfahre ich jetzt mehr als von meiner Oma.

Sie überlegt kurz, gibt dann aber leicht resigniert zu:

„Na ja... Eigentlich weiß ich nur ganz grundlegende Dinge. Meine Mum hat immer gemeint, falls ich keine Sirene bin, wäre es besser, wenn ich so wenig wie möglich weiß.“

„Tja, dann sind wir ja schon zu zweit. Meine Oma hat mir auch nie viel verraten. Sie hat mir nicht mal gesagt, dass dieser komische Kartenverkäufer Gedanken lesen kann!“

Sie starrt mich an.

„Was ist?“, frage ich verwirrt.

„Der kann ... Gedanken lesen?“, stottert sie.

Ich pruste los, und nach ein paar Sekunden hat sie wohl ihren Schrecken überwunden und muss mitlachen.

„Ich glaube, ich habe über die Hälfte der Zeit über seine schönen blauen Augen nachgedacht!“, meint sie zwischen zwei Lachern, und wir müssen noch mehr lachen. „Na ja, wenn ich so darüber nachdenke ...,

vielleicht war es auch die ganze Zeit“, fügt sie nach ein paar Sekunden hinzu.

„Du hast ihm wenigstens nicht gesagt, dass er ein Freak ist!“, gebe ich lachend meine Gedanken zu, woraufhin wir noch mehr lachen müssen.

Ich bin froh, dass ich über den Typ habe sprechen können. Dadurch kommt mir die Situation am Schalter gar nicht mehr so peinlich, sondern irgendwie eher lustig vor.

„Was ist denn passiert? Hast du sie verschreckt?“, fragt meine Oma, als sie einige Minuten später mit einem Kaffeebecher wiederkommt, und zeigt in Richtung der weggehenden Miranda. „Die sah doch wirklich nett aus!“, fährt sie fort.

Bevor sie noch etwas sagen kann, meine ich schnell: „Ist sie auch, aber ihre Mutter hat gemeint, dass wir gleich anlegen und sie kommen soll.“

„Ja, dann ist´s ja gut…“, sagt sie erleichtert.

Ihre Reaktion kränkt mich etwas. Sie traut mir offensichtlich nicht einmal zu, mit anderen Leuten nett plaudern zu können.

Eine Pause entsteht, in der wir beide unseren eigenen Gedanken nachhängen.

Als meine Gedanken wieder bei dem Typen vom Kartenverkauf landen, wende ich mich schließlich wieder zu ihr: „Was ist ein Seelenseher? Also ich weiß, wofür er da ist, aber was genau ist er?“

Kurz denkt sie nach, bevor sie erklärt: „Die Seelenseher sind die männlichen Nachkommen aus einer der vier Grundfamilien. Niemand weiß genau, was sie von den restlichen Ägiren unterscheidet. Sie haben das gleiche Aussehen und auch durch ihr Blut unterscheiden sie sich nicht von normalen Ägiren. Vor ihrer Verwandlung können sie auch noch keine Gedanken lesen.“

„Es können also nicht alle Männer auf der Insel Gedanken lesen?“, frage ich zur Sicherheit noch einmal nach.

„Oh, nein! Das wäre ja furchtbar!“, stöhnt sie auf.

„Glaub mir, jeder Seelenseher mehr ist einer zu viel...“

„Wie kommen sie denn damit zurecht, dass sie nicht alle diese Gabe haben? “, frage ich.

„Na ja ... Es ist eben so. Da gibt es nichts dran zu ändern“, antwortet sie, woraufhin ich sofort die nächste Frage stelle.

„Versuchen sie denn herauszufinden, was die Seelenseher von den anderen unterscheidet?“

Diese Frage bringt sie dazu leise zu kichern, bevor sie erwidert: „Nein! Du musst dich von der Vorstellung verabschieden, dass es für alles immer eine wissenschaftliche Erklärung geben muss. Auf der Insel gibt es keine Wissenschaftler, die alles zu ergründen versuchen.“

„Mmmh…“, murmle ich, da ich nicht weiß, was ich davon halten soll.

„Du musst dir das so vorstellen: Für die Menschen sind Sirenen ein Mythos, und der Mythos versucht nie, sich selbst zu ergründen. Oder hast du Rotkäppchen schon mal fragen hören, warum der böse Wolf sprechen kann?

Wir glauben, dass die Natur die Seelenseher geschaffen hat, damit wir die Insel beschützen können, aber glaub mir, das kannst du erst verstehen, wenn du den Zauber der Insel gespürt hast. Also lassen wir das Thema erstmal sein, okay?“

Wie oft ich diesen Satz in der Vergangenheit schon gehört habe! Immer ist sie es, die ein Thema beendet, und damit ist es dann auch beendet.

„Freust du dich denn schon?“, fragt sie plötzlich wie aus heiterem Himmel und klingt dabei schon wieder so aufgeregt wie ein kleines Kind vor Weihnachten.

„Keine Ahnung“, sage ich, denn ich will ihr die gute Laune nicht verderben. So wie man einem kleinen Kind nicht sagt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt, werde ich ihr nicht sagen, dass ich lieber keine Sirene wäre. Denn dann könnte ich jetzt mit meinen Freunden im Garten chillen und mir nur über banale Dinge wie Jungs und Instagram-Fotos Sorgen machen.

„Ich weiß, was du denkst!“, meint sie lächelnd. „Du musst mir nicht vorgaukeln, dass du gerne hier bist. Ich war auch mal an dem Punkt, an dem du jetzt stehst, und ich hatte auch keine Lust auf diese Insel.“

Verwirrt schaue ich sie an: „Ich dachte, dich würde es kränken, wenn ich dir sagen würde, dass ich nicht hier sein möchte…“ „Och, Schätzchen! Glaub mir, du wirst dir heute noch öfter wünschen, nicht hier zu sein“, entgegnet sie wissend.

„Was soll das denn nun wieder heißen?“, entgegne ich, denn sie macht mir gerade etwas Angst.

„Vertrau mir einfach, dass ich das auch mal durchgemacht habe!“

Kapitel 3

"Durchgemacht", schwirrt mir die vage Umschreibung meiner Oma wieder durch den Kopf, als das Schiff anlegt. Inzwischen verstehe ich, was sie damit gemeint hat. Hier im Hafen liegen bestimmt zwanzig Luxusyachten und offensichtlich genießen diese Menschen den Ausblick von ihrer Yacht, um sich die “Neuen“ anzuschauen. Sie glotzen so unverhohlen auf die aussteigenden Passagiere, dass es mir kalt den Rücken runterläuft.

Wie kann man denn so ohne Schamgefühl Leute anglotzen? Haben die denn gar keine Manieren?

Ich weiß nicht, ob es mir nur so vorkommt, dass sich auf jeder dieser Yachten nur ein Mann und ungefähr fünf gutaussehende junge Damen befinden, oder ob es wirklich so ist. Vielleicht stelle ich mir die Besitzer einer Yacht aber auch nur so vor und deshalb bilde ich mir das ein.