Königreich der Zeit - Stefanie Peisker - E-Book

Königreich der Zeit E-Book

Stefanie Peisker

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Beschreibung

Mit jeder Berührung kann die achtzehnjährige Ayla die Zukunft eines Menschen sehen. Diese Gabe ist allerdings mehr Fluch als Segen. Das Königreich, in dem sie lebt, wird von einem rücksichtslosen König regiert, der alles dafür tut, Zukunftsseherinnen wie Ayla in die Finger zu bekommen. Schon ihr ganzes Leben lang durfte niemand von ihrer Gabe erfahren und als es nun eine neue Welle der Verfolgung gibt, muss sie ihr Zuhause verlassen und um ihr Leben rennen. Ganz allein ist Aylas Vorhaben, dem König zu entfliehen, jedoch schier unmöglich - aber wem kann sie trauen? Wer spielt vielleicht nur ein falsches Spiel und verrät sie am Ende doch? Ein Fantasy-Abenteuer gemixt mit Liebe, Verrat und jeder Menge Überraschungen.

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Über die Autorin

Stefanie Peisker ist im März 2002 geboren und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Sie hat im Sommer 2020 die Schule beendet und beginnt im Oktober 2021 eine Ausbildung in Heidelberg.

Mit zwölf Jahren hat sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckt. Wenn sie nicht schreibt, widmet sie sich ihrem Lieblingssport, dem Rhönradturnen und tritt bei nationalen und internationalen Meisterschaften an.

„Oceanblue – Tochter der Sirenen“ war ihr erster Roman.

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Weitere Bücher der Autorin

Danksagung

Prolog

Albert Einstein sagte einst: „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“

Die Leute vor hundert Jahren haben über dieses Zitat gelacht, denn die Technologie boomte, Kriege wurden mit immer neueren Techniken ausgetragen und die Weltmächte wurden stärker und stärker.

Hätten sie damals gewusst, in was für eine Krise sie die Menschheit stürzen werden, hätten sie vielleicht einiges anders gemacht. Vielleicht hätten sie die fossilen Brennstoffe nicht so schnell aufgebraucht und nicht all das Geld in immer modernere Waffen statt in erneuerbare Energiesysteme gesteckt.

Schlussendlich hätte wahrscheinlich nichts davon etwas genützt - die Bomben hätten sowieso alles zerstört.

Bomben, die alles zunichtemachen, ohne das Gebiet für Hunderte von Jahren zu verstrahlen.

Einige Jahrzehnte nach dem dritten Weltkrieg ist Technik immer noch ausschließlich den Königsfamilien vorbehalten. Genauso wie Demokratie nur etwas für Tagträumer ist.

Die Welt hat sich zum ersten Mal in der Geschichte durch zu viel Fortschritt zurückentwickelt.

Einen vierten Weltkrieg mit Stöcken und Steinen findet heute keiner mehr zum Lachen.

Die Realität ist nicht lachhaft, sie ist grausam.

Kapitel 1

Der Mann neben mir wird in einer Woche sterben, wenn er sich nicht sofort auf den Weg ins Krankenhaus macht.

Die Frau vor mir wird bald von ihrem gewalttätigen Ehemann geschwängert werden, wenn sie sich nicht von ihm trennt, ehe das passiert.

Die Frau hinter mir wird ihr Kind verlieren, wenn sie es weiterhin allein zur Schule laufen lässt.

„Erde an Ayla, was träumst du denn schon wieder vor dich hin?“, reißt mich mein kleiner Bruder Jaxon aus meinen Visionen.

„Ich träume gar nicht, ich denke nur darüber nach, welches Gemüse wir wohl heute brauchen könnten“, erwidere ich schnell und versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

„Ja ja“, winkt er ab. „Ich verstehe einfach nicht, wie du so viel Tagträumen kannst, wenn so viele Leute um uns herum sind.“

Genau das ist ja das Problem, denke ich, aber ich spreche es nicht aus. Jaxon darf – genauso wie meine anderen Geschwister – niemals erfahren, welche Gabe in mir schlummert.

„Glaubst du, deine Mama würde sich über einen Sack Kartoffel und einen Bund Karotten freuen?“, frage ich ihn stattdessen und steure auf einen Gemüsestand zu.

Jaxon will mir gerade antworten, als ein Schrei in der Marktstraße ertönt. Nicht nur wir, sondern auch die Leute um uns herum schauen sich fragend um und versuchen das Mädchen zu finden, dessen Schrei wir gerade alle gehört haben.

Auf dem Markt herrscht reges Treiben, deshalb ist es schwer, jemanden auszumachen.

Schließlich sehe ich an einer Haustür, ein Stück die Straße herunter, ein Mädchen in meinem Alter stehen, das von zwei Palastwachen festgehalten wird.

„Lasst mich los! Ich bin nicht die, nach der ihr sucht!“, schreit sie die Wachen an, doch diese lassen sich nicht beirren und schieben das Mädchen die Treppen hinunter.

„Was ist da los? Ich sehe nichts!“, fragt mich Jaxon aufgeregt und hüpft auf und ab, obwohl er niemals hoch genug springen könnte, um über die Köpfe der Leute zu sehen. Er ist erst sechs Jahre alt und sieht somit noch weniger als ich. Denn obwohl ich achtzehn und schon ausgewachsen bin, sind die Menschen um uns herum fast alle größer als ich.

„Ich weiß es auch nicht“, antworte ich ihm und greife reflexartig nach seiner Hand. Die ganze Situation ist mir nicht geheuer und ich spüre die Spannung nur zu deutlich in der Luft liegen. Die Menschen bewegen sich in Richtung der Stände und schieben mich dabei unsanft nach hinten. Ich bin so verwirrt, dass ich stolpere und mich gerade noch rechtzeitig an einer Schulter festhalten kann, bevor ich falle.

Ich erwarte einen Strom Bilder, denn meine Hand liegt auf der Schulter des jungen Mannes vor mir, aber es kommt nichts.

Kein einziges Bild. Keine Vision, die mir seine Zukunft zeigt.

Nichts zu sehen, irritiert mich noch mehr, als alles zu sehen und unterdrücken zu müssen.

Blitzartig ziehe ich meine Hand weg, als hätte ich mich verbrannt.

Der Mann dreht seinen Kopf zu mir und unsere Augen treffen sich. Nun, da ich sein Gesicht sehe, bin ich mir sicher, dass er nur ein paar Jahre älter ist als ich, aber das ist nicht der Grund, weswegen ich nicht wegschauen kann.

Auch seine klaren schönen Augen und die kantigen Gesichtszüge sind nicht der Grund, weshalb ich ihn anstarre und den Blick nicht von ihm abwenden kann.

Einzig und allein die Tatsache, dass ich nichts sehe, wenn ich ihn berühre, lässt mich so erstarrt hier stehen.

Er sagt nichts, sondern hält einfach nur meinem Blick stand, bis ich schließlich wegschaue, da Jaxon meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

„Ich kann sie sehen“, höre ich seine Stimme und plötzlich wird mir klar, dass ich beim Stolpern seine Hand losgelassen habe und er nun nicht mehr neben mir steht.

Panisch schaue ich mich um und finde ihn schließlich einige Meter vor mir zwischen zwei Frauen kniend.

Die Menschen, die eben noch die ganze Straße gefüllt haben, haben sich an die Seiten gedrängt, um den Palastwachen den Durchgang zu gewähren. Jaxon hat sich wohl aus Neugierde bis in die zweite Reihe durchgedrängelt und kniet dort, um zwischen den Beinen der Menschen in der ersten Reihe hindurchschauen zu können.

„Jaxon“, rufe ich aufgebracht und schiebe mich, ungeachtet der bösen Blicke, die ich ernte, durch die Menschen zu ihm.

„Du weißt doch, dass du nicht weglaufen darfst“, herrsche ich ihn an, als ich neben ihm stehe.

„Ich bin nicht weggelaufen, ich wollte nur besser sehen können!“, verteidigt er sich. Ich will ihm gerade widersprechen, als erneut das Geschrei des Mädchens ertönt.

„Ihr werdet in mir nicht finden, was ihr sucht, also lasst mich zurück zu meiner Familie! Sie brauchen mich!“ Dieses Mal klingt sie sehr viel verzweifelter und ich kann ihrer Stimme anhören, dass sie Tränen in den Augen hat.

Ihre Stimme klingt sehr viel näher als beim letzten Schrei. Ich schaue auf.

Tatsächlich schieben die beiden Soldaten das Mädchen einige Sekunden später an uns vorbei und ich kann einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Völlige Verzweiflung gepaart mit unbändiger Hoffnungslosigkeit stehen darin geschrieben.

Das ungute Gefühl in meiner Brust weitet sich aus und ich wende meinen Blick von dem Mädchen ab und wieder zu Jaxon.

„Komm, Jaxon, wir gehen“, sage ich bestimmt und ziehe ihn an seinem Arm hoch.

„Aber ich will doch wissen, warum sie das arme Mädchen mitgenommen haben“, quengelt er.

„Das würden wir wohl alle gerne wissen“, meint die Frau vor mir und dreht sich zu Jaxon um. „Aber unser lieber König wird es uns nicht verraten. Seine Taten sind unergründlich und damit wirst du leben lernen, Kleiner“, fügt sie noch eine kleine Lebensweisheit hinzu.

Sie hat recht. Die Monarchie, in der wir leben, hat nichts mit Volksnähe zu tun. Unserem König sind wir egal und das lässt er uns nicht nur durch seine willkürlichen Festnahmen, sondern auch durch die viel zu hohen Steuerabgaben und Armeeeinzüge spüren. Dass hungernde Familien auch noch ihren Vater an die Armee verlieren oder die Hälfte ihrer Ernte ans Königshaus abgeben müssen, ist völlig normal.

„Aber das ist doch total blöd, wenn man seine Fragen nicht beantwortet bekommt“, erwidert Jaxon, der noch zu jung ist, um die paradoxe Welt zu verstehen, in der er aufwachsen muss.

Bildung zu besitzen und Fragen zu stellen sind zwar geschätzte Werte, aber den König darf man niemals hinterfragen. Eine Familie zu gründen, ist das höchste Privileg auf Erden, aber wenn der König sein Land vergrößern will, muss man seine Familie Hunger leiden lassen, um in den Krieg zu ziehen und wahrscheinlich niemals wiederzukehren.

„Wir müssen los, Jaxon“, sage ich bestimmt, um weitere Fragen abzuschneiden, und ziehe an seiner Hand.

Ich kenne meinen Bruder zu gut und weiß, dass er dazu neigt, sich in Dinge hineinzusteigern, wenn sie ihm nicht gefallen. Öfter als uns lieb ist, hat er Wutanfälle in der Schule oder zuhause und dabei kommt es auch vor, dass er anfängt, über das System zu schimpfen.

Er ist zwar erst sechs und weiß nicht, wovon er redet, aber es ist trotzdem besser, wenn niemand mitbekommt, wie mein Bruder über den König spricht. Das würde wahrscheinlich auf seine Mutter zurückfallen, die ihn ‚besser hätte erziehen müssen‘ und ihm die ‚Werte des Königsreichs beibringen sollte‘. Und dabei ist es nicht so, dass Jaxons Mutter Lisa nicht immer wieder versuchen würde, Jaxon mit Lügen zu füllen, um ihn von den positiven Seiten des Systems zu überzeugen, aber Jaxon ist nicht dumm. Er merkt, dass Lisa es nicht ehrlich meint, und er hört, wie sie abends oft weint oder sich fragt, wie sie unsere Familie weiter durchbringen soll.

Lisa trägt eine große Last, die ich zwar versuche, ihr ein bisschen abzunehmen, aber es ist nicht einfach, ihr ein gutes Gefühl zu geben, wenn ich genauso gut wie sie weiß, dass es schlimm um uns steht. Seit ihr Mann vor vier Jahren erneut eingezogen worden ist, um am Königshaus zu dienen, trägt Lisa die Aufgabe, uns alle allein durchzufüttern. Anfangs ist alles gut gegangen, denn die Entschädigungszahlungen des Königshauses reichten aus und das Land war allgemein in einer guten Verfassung, so dass Lebensmittelpreise und Mieten bezahlbar waren. Doch seit wir vor zwei Jahren den Krieg gegen unser Nachbarland verloren haben, geht es stetig bergab.

Ich ziehe Jaxon durch die aufgebrachte Menge und versuche, all die Stimmen um mich herum auszublenden. Alle fragen sich, was wohl dieses Mal angeblich passiert sein soll und weshalb man dieses Mädchen mitgenommen hat. All diese Stimmen und dazu noch die rasche Abfolge an Bildern vor meinem inneren Auge machen es mir fast unmöglich, mich zu konzentrieren.

In solchen Situationen ist meine Gabe ein wirklicher Fluch. Jedes Mal, wenn ich eine Person berühre und kurz blinzle, sehe ich die Zukunft der jeweiligen Person. Normalerweise kann ich das gut ausblenden, aber bei so vielen Bildern ist es wirklich schwer.

„Aber du wolltest doch noch Zucker kaufen!“, protestiert Jaxon schließlich und bleibt abrupt stehen. Ich schaue ihn an und brauche einen Moment, um zu verstehen, was er zu sagen versucht.

„Ich wollte Gemüse kaufen, keinen Zucker, Jaxon“, sage ich und ziehe eine Augenbraue hoch. „Dachtest du wirklich, du kriegst mich so leicht dazu, Zucker zu kaufen?“

„Hätte ja klappen können“, meint er resigniert und schaut zu Boden.

Zucker ist in den letzten Jahren hier im Land zu einem Luxus geworden, denn seit dem Krieg verweigert unser Nachbarland uns dessen Import. Ich würde es Jaxon wirklich gönnen, mal wieder einen selbstgebackenen Kuchen mit echtem Zucker darin zu essen, aber dafür reicht unser Geld hinten und vorne nicht. Solch einen Luxus können sich inzwischen nur noch die wirklich reichen Menschen leisten.

„Netter Versuch, Kleiner“, lacht ein Mann neben uns und schaut auf Jaxon herab, „Ich habe früher auch immer versucht, meine Mama zu überreden, mir Süßigkeiten zu kaufen.“

Er scheint sich wirklich lustig zu finden, aber Jaxon ist nicht mehr zum Lachen zumute. Er schaut nur einmal kurz zu dem Mann hoch und sagt: „Sie ist nicht meine Mama, sondern meine Schwester.“

Dann zieht er an meiner Hand, um mich zum Gehen zu bewegen.

„Verzeihen Sie, er hat keinen guten Tag“, entschuldige ich mich noch schnell bei dem Mann, bevor ich von Jaxon weitergezogen werde.

Es ist nichts Neues für uns, für Mutter und Sohn gehalten zu werden. Auch wenn ich erst achtzehn und Jaxon schon sechs ist, würden wir auch als zwanzig und fünf durchgehen, was hierzulande eine völlig normale Alterskombination ist. Zwar sind außereheliche Kinder nicht wünschenswert, aber über die Jahre hinweg haben sie ihren schlechten Ruf verloren. Inzwischen sind sie zur Normalität geworden. Viele Teenager werden viel zu früh schwanger, weil sie nicht aufpassen und sich von ihrer elenden Situation in die Arme irgendwelcher Kerle locken lassen.

Und tatsächlich wird es sehr viel lieber gesehen, schon als Teenager Kinder zu bekommen, als kinderlos zu bleiben. Eine Familie zu gründen und dem Königreich starke Nachkommen zu schenken, wird als große Gunst angesehen. Das ist auch – zumindest glaube ich das – der einzige Grund, warum die Bevölkerungszahl trotz dem Krieg und der Armut immer weiter steigt. Wären diese Werte nicht so tief in den Köpfen der Menschen verankert, hätten wahrscheinlich die meisten längst eingesehen, dass man in so einem zerrütteten Land kein Kind bekommen sollte.

Die Menschenmasse um uns herum beginnt sich langsam zu lichten und als ich mich umsehe, bemerke ich, dass wir fast am Ende der Marktstraße angekommen sind. Rechts neben uns entdecke ich einen Gemüsestand und obwohl es nicht der ist, zu dem wir sonst immer gehen, schiebe ich Jaxon in diese Richtung.

Ein paar Minuten später sind wir mit einem Sack Kartoffeln und einem Netz Karotten wieder auf dem Weg nach Hause. Bevor wir um die Ecke biegen, um die Marktstraße zu verlassen, schaue ich mich noch einmal um, wobei mein Blick von einem leuchtenden Augenpaar aufgefangen wird.

Der junge Mann von vorhin, bei dem ich keine Vision hatte.

Ich mustere ihn einen Augenblick und versuche, etwas an ihm zu finden, das außergewöhnlich ist und mir erklären könnte, weshalb ich bei ihm nichts sehe, aber mir fällt nichts auf.

Natürlich bemerke ich, wie gut er aussieht, schließlich bin ich nicht blind und bei diesen breiten Schultern und den verwuschelten braunen Haaren kann ich nicht bestreiten, dass er wirklich hübsch anzusehen ist. Trotzdem erklärt mir das nicht, weshalb er anders ist als alle anderen – hohe Attraktivität hat, soweit ich weiß, keinen Einfluss auf meine Gabe.

Eigentlich sind die einzigen Menschen, bei denen ich nichts sehe, kleine Kinder, die noch nicht für sich selbst entscheiden können, und sehr nahe Familienangehörige.

Im Gegensatz zu nahen Blutsverwandten wie meiner Mutter oder meiner Tante, bei denen meine Gabe gar nicht funktioniert, ist es bei fernen Verwandten jedoch durchaus möglich, etwas zu sehen.

So habe ich bei meinen Cousinen und Cousins jedes Mal Visionen, wenn ich sie berühre, auch wenn sie für mich wie Geschwister sind und ich sie deswegen auch so bezeichne. Jaxon, mein jüngster Cousin, zusammen mit seiner Zwillingsschwester Jessica und deren älterer Schwester Maya sind für mich über die letzten acht Jahre zu meiner neuen Familie geworden. Durch sie und meine Tante Lisa konnte ich, nachdem meine Mutter mich verlassen musste, ein halbwegs normales Leben führen. Sie hat mich damals zu Lisa, der Schwester meines biologischen Vaters, gebracht und diese hat mich mit offenen Armen aufgenommen.

Ich bin ihnen allen bis heute unendlich dankbar, dass ich ein Teil ihrer Familie werden durfte, vor allem, weil sie dadurch noch ein Kind mehr verpflegen mussten und das wenige Gesparte, das meine Mum mir mitgegeben hat, wahrscheinlich nicht einmal für ein Jahr gereicht hat.

Ohne Lisa und ihre Familie wäre ich wohl wie viele andere als Straßenkind geendet. Meine Mutter hatte mich nicht mitnehmen können, auch wenn es ihr damals das Herz gebrochen hat, mich zurückzulassen.

„Mama, du wirst nicht glauben, was wir gerade gesehen haben!“, ruft Jaxon in dem Moment, in dem ich die Haustür aufschließe.

Er will sofort durch den Flur in die Küche rennen, um mit Lisa zu sprechen, aber ich stoppe ihn, indem ich die Kapuze seiner Jacke festhalte.

„Zieh deine schmutzigen Schuhe aus, bevor du durchs Haus läuft“, weise ich ihn an, während ich selbst Schuhe und Jacke ablege und dann Richtung Küche gehe.

„Er wollte mal wieder seinen Schmutz im ganzen Haus verteilen“, sage ich belustigt, während ich die Küche betrete. Ich bin davon ausgegangen, Lisa kochend am Herd stehend anzutreffen, aber sie steht mit dem Rücken gegen den Herd gelehnt und schaut mich aus großen Augen an. Ihr Mund zeigt keine Regung und ich vermisse das Funkeln, das ich sonst in ihren Augen finde.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“, frage ich verwirrt und lege den Sack Kartoffeln und die Karotten auf die Anrichte.

Bevor Lisa mir antworten kann, stürmt Jaxon in die Küche.

„In der Stadt wurde ein Mädchen festgenommen. So richtig mit Palastwachen und Geschrei und so“, platzt es aus ihm heraus.

Lisa reagiert nicht sofort, sondern mustert eine Sekunde ihren aufgeweckten Sohn und schaut dann zu mir.

Irgendetwas stimmt nicht.

„Du hast Palastwachen gesehen“, kommt plötzlich Jessicas Stimme aus dem Wohnzimmer. Eine Sekunde später stürmt Jaxons Zwillingsschwester in die Küche und schaut uns mit großen Augen an. Ihre blonden Haare, die sie in zwei geflochtenen Zöpfen trägt, wackeln hin und her, während sie zwischen mir und Jaxon hin- und herschaut. Ich antworte ihr nicht, denn meine Aufmerksamkeit liegt auf Lisa, doch Jaxon genießt diesen Moment natürlich sehr. Sofort beginnt er damit, seiner Schwester zu erzählen, was er erlebt hat, wobei er einige Details hinzufügt oder übertreibt, um Jessica noch neidischer zu machen.

Jaxon ist gerade mitten im Satz, als Lisa ihre Stimme plötzlich wiederfindet. „Geht bitte in euer Zimmer, Kinder“, sagt sie so bestimmt, dass sofort klar ist, dass Widerspruch zwecklos ist. Jaxon sieht seine Mutter kurz irritiert an, weil diese ihn so unsanft in seiner Geschichte unterbrochen hat, doch dann wendet er sich mit Jessica zum Gehen.

Wir lauschen dem Poltern auf der Treppe und den Schritten über uns, als die beiden in ihrem Zimmer ankommen.

Ich schweige, denn ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich sagen soll. Etwas stimmt nicht und offensichtlich ist es so schlimm, dass es Lisa sehr schwerfällt, es überhaupt auszusprechen.

„Was ist los? Langsam machst du mir Angst“, sage ich schließlich, denn die gespannte Stille zwischen uns zerreißt mich.

Lisa atmet zischend aus und öffnet schließlich den Mund.

Vier Worte verlassen ihren Mund. Vier kleine Worte.

Worte, die auf jeden anderen völlig nichtssagend wirken würden.

Vier Worte, die mein Leben verändern werden.

„Es gibt wieder Gerüchte.“

Ich wende meinen Blick von ihr ab, denn der Ausdruck in ihren Augen bricht mir das Herz.

Wir beide wissen, was es bedeutet, wenn die Gerüchte zurück sind.

„Deswegen ist das Mädchen heute verhaftet worden“, sage ich leise und erinnere mich zurück an das Mädchen. Es sah so hoffnungslos aus und ihre Schreie waren von blanker Panik getrieben.

Ich hatte schon die ganze Zeit eine böse Vorahnung, doch es von Lisa bestätigt zu bekommen, trifft mich trotzdem wie ein Schlag ins Gesicht.

„Wie schlimm ist es?“, frage ich mit zitternder Stimme und will die Antwort eigentlich gar nicht hören.

Anstatt mir zu antworten, greift sie neben sich und nimmt ein Papier von der Anrichte. Sie reicht es mir und ich sehe, dass es ein Brief von Henry ist. Henry ist Lisas Mann. Er ist eingezogen worden, um am Hof zu dienen und schickt seiner Frau und seinen Kindern regelmäßig Briefe nach Hause.

Meine liebe Lisa,

ich weiß, du hast noch gar nicht so bald mit einem Brief von mir gerechnet, aber ich musste dich so schnell wie möglich über die neusten Geschehnisse hier am Hof informieren.

Die Gerüchte sind zurück. Und dieses Mal ist es ihnen viel ernster als vor drei Jahren.

Ich weiß, wir haben immer gehofft, dass es nicht passiert und ich weiß, dass du Ayla liebst wie deine eigene Tochter, aber wir haben uns damals geschworen, das Wohl unserer Familie immer an erste Stelle zu stellen. Ayla muss gehen, sonst seid ihr alle in Gefahr.

Ich weiß, wie schwer das für dich ist und ich wäre gerne bei euch, um euch zu unterstützen, aber ich bin mir sicher, dass ihr das schafft und den richtigen Weg wählt. Die Palastwachen sind schon ausgeschwärmt und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie euch finden. Also solltet ihr sofort handeln.

Die anderen Leute im Dorf müssen möglichst schnell davon überzeugt sein, dass wir als Familie Ayla ausgestoßen haben. Es bricht dir das Herz, so etwas zu behaupten, das weiß ich, aber wir haben keine andere Wahl. Wir müssen an die Zukunft unserer Kinder denken.

Grüße Jaxon, Jessica und Maya von mir und sorge dafür, dass deine Nichte möglichst schnell unser Haus verlässt.

Ich hoffe, euch bald wiedersehen zu können und habe bereits Heimaturlaub beantragt.

In Liebe

Henry

Erstarrt blicke ich noch einige Sekunden länger auf den Brief.

Ich lese ihn erneut und schaue dann hoch.

Tränen stehen in Lisas Augen. Sie hat schon ein bisschen Zeit gehabt zu verdauen, was dieser Brief bedeutet, und schafft es nicht mehr länger, ihre Tränen aufzuhalten.

Ich hingegen weine nicht. Ich habe nicht mehr geweint, seit meine Mum mich verlassen musste, und dies würde sich auch ganz sicher nicht heute ändern. Ich habe gelernt, dass weinen nichts nützt. Man kann nicht schneller denken, keine besseren Entscheidungen treffen und es rettet auch niemanden.

„Ich kann dich nicht gehen lassen. Ich kann dich nicht auch noch verlieren“, sagt Lisa und ich höre deutlich die Verzweiflung in ihrer Stimme. Sie bezieht sich darauf, dass sie schon ihren Bruder, meinen Vater, und dann meine Mum verloren hat. Mein Vater ist im Krieg gefallen, als ich drei war. Meine Mum musste uns für immer verlassen, als ich zehn war.

„Ich muss gehen und das weißt du. Mach es mir nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist. Ich bin euch unendlich dankbar, dass ihr mir die letzten Jahre zu einer Familie geworden seid. Ich werde nie vergessen, was ihr für mich getan habt“, erwidere ich mit fester Stimme. Ich muss stark bleiben, denn ich weiß, dass Lisa es gerade nicht kann.

„Ich habe schon Sarah an diese Leute verloren, jetzt kannst du nicht auch noch gehen“, wimmert sie und unwillkürlich bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Sie spricht von meiner Mutter, die damals fliehen musste und von der wir seitdem nichts mehr gehört haben.

Damals gab es ebenfalls Gerüchte – Gerüchte, dass es eine Zukunftsseherin in unserem Dorf gebe. Solchen Gerüchten geht das Königshaus immer nach, denn Menschen mit meiner Gabe, sind extrem wertvoll für sie.

„Ich werde packen gehen“, sage ich mit mechanischer Stimme. Ich darf die Gefühle, die in mir aufsteigen wollen, nicht hochkochen lassen. Ich muss so ruhig bleiben wie meine Mutter damals. Sie war so gelassen, als sie unsere Sachen packte und mit mir loslief, dass ich die Situation gar nicht verstand. Ich war erst zehn und dachte, dass wir einfach nur meine Tante besuchen würden, aber ich begriff rasch, dass ich mich gehörig getäuscht hatte.

„Ich werde dir Proviant einpacken“, sagt Lisa mit zittriger Stimme.

Ich schaue sie nicht an, sondern wende mich zur Treppe.

Ich kann den Blick in ihren Augen gerade nicht ertragen. Mit genau diesem Blick hat sie meine Mum angesehen, als diese gegangen ist. Ich schließe für einen Moment die Augen und sofort ist die Erinnerung wieder klar vor meinen Augen.

Acht Jahre vorher:

Heute Nachmittag sind wir angekommen und meine Mum hat mich direkt zu meiner Cousine Maya geschickt, damit ich mit ihr spiele und sie sich mit Lisa unterhalten kann. Alles kam mir normal vor, bis ich schließlich vom Spielen kurz ins Haus kam, um etwas zu trinken und plötzlich das vom Weinen verzerrte Gesicht meiner Tante sah. Auch meiner Mum rannen stille Tränen die Wangen hinunter.

Ich habe meine Mutter noch nie weinen sehen und diese Tatsache erschrickt mich so sehr, dass ich ein Wimmern ausstoße. „Mama?“

Beide Frauen drehen sich zu mir um und versuchen, schnell so zu tun, als wäre nichts. Aber ich bin nicht dumm. Ich habe die Ausdrücke in ihren Gesichtern gesehen und lasse mich nicht von den plötzlich auf ihren Lippen erscheinenden Lächeln täuschen.

„Alles in Ordnung, mein Schatz, geh wieder raus spielen“, sagt meine Mum.

„Aber Mama, warum weinst du?“, stoße ich verwirrt aus.

Sie wischt sich über die nassen Wangen und meint dann: „Ich bin einfach nur ein bisschen traurig, aber das muss dich gar nicht kümmern.“

Ich mustere sie einen weiteren Moment, aber traue mich nicht, weiter nachzufragen.

Den Rest des Nachmittags kann ich an nichts anderes mehr denken und auch beim Abendessen ist mir die bedrückte Stimmung nur allzu bewusst. Etwas liegt in der Luft, aber ich begreife einfach nicht, was es ist.

Lisa schickt uns Kinder schließlich ins Bett und als ich meiner Mum einen Gute-Nacht-Kuss geben will, zieht sie mich an sich. Sie drückt mich fest und streicht über meine Haare.

„Ich liebe dich wirklich sehr, mein kleiner Engel. Vergiss das nie“, flüstert sie mir ins Ohr und küsst mich auf den Scheitel.

Dann lässt sie mich los und schiebt mich in Richtung Treppe.

Hilflos folge ich Maya, denn ich weiß nicht, was ich tun soll.

Am nächsten Morgen ist meine Mum weg.

Tante Lisa erklärt mir, dass sie gehen musste und dass ich erst einmal bei ihnen bleiben würde, aber ich höre ihr gar nicht zu.

Meine Mum hat mich verlassen.

Sie ist einfach weggegangen.

Ich kann nicht anders als zu weinen und von Tante Lisa wegzurennen. Sie hat gewusst, dass meine Mum gehen wird, deswegen hat sie gestern geweint! Sie hat es gewusst und mir nichts gesagt!

Ich renne aus der Tür und obwohl Lisa mir hinterherruft, dass ich stehenbleiben soll, laufe ich immer weiter. Hinter dem Haus geht es über ein Feld zum Wald und genau dorthin laufe ich. Ich will nicht tief in den Wald hineingehen, denn der Wald ist unheimlich, also bleibe ich am Waldrand, setze mich auf einen Baumstumpf und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen.

Heute:

Ich schüttle leicht den Kopf, als könne ich damit die Erinnerung verwerfen und öffne die Augen wieder.

Ich habe damals einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, warum meine Mum gehen musste und schließlich konnte ich ihr verzeihen.

Doch erst in diesem Moment verstehe ich wirklich, was meine Mum damals durchlebt hat. Die Gefühle, die von Angst über Verzweiflung bis hin zu Wut und Hoffnungslosigkeit reichen, steigen immer weiter in mir auf.

Ich werde mein Leben hier verlassen müssen – ohne mich zu verabschieden, ohne eine Erklärung zu hinterlassen, ohne eine Sicherheit zu haben, wie meine Zukunft aussehen wird.

Mit zehn Jahren dachte ich, dass ich das Opfer der Situation war, doch nun begreife ich, dass meine Mutter diejenige war, die viel mehr leiden musste als ich.

Schnell steige ich die Treppen hinauf, um mich von meinen Gedanken abzulenken. Ich will nicht weiter über meine Mum und die furchtbaren Dinge, die sie wahrscheinlich durchleben musste, nachdenken.

Stattdessen gehe ich schnell in das Zimmer, das Maya und ich bewohnen, und krame meine kleine Reisetasche unter dem Bett hervor.

„Was machst du?“, fragt Maya, die auf ihrem Bett liegt und bis gerade eben noch ein Buch gelesen hat. Sie legt das Buch auf ihren Nachttisch und setzt sich auf.

Ich antworte ihr nicht, sondern beginne wahllos, ein paar Hosen, Pullis und Unterwäsche in die Tasche zu schmeißen. Viel werde ich nicht mitnehmen, jedes Kilo ist ein Kilo mehr, das ich durch den Wald schleppen muss.

„Ayla, was machst du? Warum packst du?“, fragt Maya erneut und ich höre die Verwirrung in ihrer Stimme.

„Ich muss gehen“, sage ich mit möglichst ruhiger Stimme und hole ein paar Sachen aus dem Bad. Ein Handtuch, um mich vielleicht in einem See waschen zu können, meine Zahnbürste und Zahnpasta, mehr nicht. Ich werde versuchen, auf meiner langen Reise nicht völlig zu verwahrlosen, denn so bleibe ich unauffällig, wenn ich irgendwo ankomme.

„Und wohin gehst du?“

„Das kann ich dir nicht sagen“, erwidere ich und spüre plötzlich Mayas Hand auf meiner Schulter. Sie versucht, mich zu sich zu drehen, doch ich schüttle ihre Hand ab, verschließe meine Tasche und nehme sie auf den Rücken.

„Auf Wiedersehen, Maya, sag deinen Geschwistern, dass ich sie liebe“, sage ich und verlasse das Zimmer.

In diesem Moment verstehe ich, weshalb meine Mum gehen musste, ohne sich von mir zu verabschieden. Sie hätte es mir nicht erklären können, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ich als kleines Mädchen das Geheimnis nicht für mich behalten könnte, war zu hoch. Sie musste so schnell und unauffällig wie möglich verschwinden. Genauso wie ich jetzt. Ich kann es Jaxon und Jessica nicht erklären – nicht einmal Maya kann ich eine anständige Erklärung bieten.

Ich stehe noch einen Moment im Flur und blicke zu der Tür, hinter der Jaxon und Jessica gerade spielen. Sie ahnen nichts und es wird sie treffen wie eine kalte Dusche, wenn sie erfahren, dass ich weg bin.

Eine Träne fällt auf meine Wange. Schnell wische ich sie weg. Ich kann jetzt nicht emotional werden, auch wenn ich das Gefühl habe, meinen Geschwistern genau das anzutun, was meine Mum mir damals angetan hat.

Ich verlasse sie. Für immer.

Ohne es zu merken, habe ich einen Schritt in Richtung der Tür gemacht, doch als es mir auffällt, reiße ich mich schnell wieder zusammen und gehe stattdessen zur Treppe.

Am unteren Treppenabsatz angekommen, sehe ich meine Tante in der Küche. Sie hat eine Tasche mit Essen auf den Tresen gestellt.

„Ich würde dir gerne mehr mitgeben, aber dann wird dein Gepäck zu schwer“, sagt sie, als ich die Tasche nehme.

„Vielen Dank“, antworte ich, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.

„In der Tasche ist auch ein Beutel mit den wichtigsten Medikamenten und etwas Geld, damit du dir auf dem Weg neuen Proviant kaufen kannst. Ich habe alles zusammengekratzt und hoffe, dass es reicht“, spricht sie weiter und erneut steigen Tränen in ihre Augen.

„Wenn es irgendwann sicher ist, werde ich dir einen Brief schreiben", sage ich, während ich die Haustüre öffne.

„Das wäre schön“, erwidert sie und dreht mich noch einmal zu sich.

Ich weiß, dass es ihr viel bedeuten würde, denn ich kann mich noch ganz genau daran erinnern wie sie vor Freude geweint hat, als sie, drei Monate nachdem meine Mum uns verlassen hat, einen Brief von ihr bekam, in dem Mum schrieb, dass es ihr gut gehe und sie uns bald wieder schreiben würde.

Doch das ist nie passiert. Nach diesem einen Brief, den ich seitdem unter meiner Matratze aufbewahrt und auch jetzt mitgenommen habe, haben wir nichts mehr von ihr gehört. Komplette Funkstille.

Wir haben nie wieder darüber gesprochen und nie ausgesprochen, dass ihr wahrscheinlich etwas zugestoßen ist. Wir wollten es beide nicht wahrhaben.

Lieber haben wir an der unrealistischen Idee festgehalten, dass sie noch lebt und sich unter falscher Identität ein neues Leben aufgebaut hat.

Lisa schließt mich fest in ihre Arme und hält mich einige Sekunden an sich gedrückt.

„Ich hoffe, du schaffst es. Du hast es mehr als verdient, ein großartiges Leben zu führen.“

„Ich habe dich lieb, Lisa. Du bist für mich wie eine zweite Mutter geworden“, erwidere ich und gebe ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

Mit den zwei Taschen, meiner dicken Winterjacke, Mütze und Handschuhen gehe ich los. Es ist zwar erst Ende Oktober, aber der Winter ist schon im Anmarsch. Ich werde mich darauf einstellen müssen, mehrere Wochen unterwegs zu sein und die meiste Zeit im Freien schlafen zu müssen.

Die Kälte der Nacht macht mir jetzt schon Angst, aber ich schiebe sie weg und gehe geradewegs auf den Waldrand zu. Mit Absicht nehme ich den kürzesten Weg in den Wald hinein, um möglichst wenig Menschen zu begegnen.

Zum Glück liegt unser Haus am Stadtrand, denn für ein Haus näher an der Innenstadt hätte das Geld niemals gereicht, sodass ich quasi unbemerkt die Stadt verlassen und in den Wald vordringen kann.

Mein Plan ist es, immer weiter dem Weg zu folgen, bis ich ins nächste Dorf komme. Dort würde ich mich mit neuem Essen eindecken und vielleicht für eine Nacht Obdach in einem Kloster suchen, um mich aufzuwärmen. Dann werde ich weiterziehen und ein Dorf nach dem anderen hinter mir lassen, bis ich die Grenze unseres Königreichs erreiche.

Wirklich sicher kann ich mich nirgendwo fühlen, aber wenn ich es in ein anderes Königreich schaffen würde, stünden meine Chancen zumindest etwas besser. Zumindest solange, bis es in jenem Reich dieselben Gerüchte gäbe und ich erneut fliehen müsste.

Am Waldrand angekommen, blicke ich noch ein letztes Mal zurück auf die Stadt. In den Jahren, die ich hier verbracht habe, ist sie zu meinem Zuhause geworden und ich spüre einen Stich im Herzen, als ich mich abwende und den Wald betrete.

Kapitel 2

„Ein kleines Mädchen, ganz allein im Wald unterwegs“, ertönt eine höhnische Stimme hinter mir.

Die ersten zwei Tage meiner Reise habe ich ohne besondere Vorkommnisse überstanden, doch ich weiß, dass ich jederzeit auf Wegelagerer treffen kann. Seitdem unser Königreich die Kriege begonnen hat, haben viele junge Männer ihr Zuhause verlassen, um nicht eingezogen zu werden. Ein Leben im Wald erscheint ihnen immer noch besser, als an der Front zu sterben.

Doch im Wald finden nicht einmal genug Nahrung zum Leben und so müssen sie sich durch Überfälle auf Reisende mit dem Nötigsten versorgen.

„Bleib mal stehen, Kleines“, höre ich die Stimme erneut, doch ich drehe mich nicht zu ihm um. Ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört und gehe schnellen Schrittes weiter.

Dem Mann muss klar sein, dass es bei mir nichts zu holen gibt, schließlich habe ich nur wenig bei mir. Hätte er sich etwas erhofft, hätte er sich wahrscheinlich einfach an mich herangeschlichen, hätte mich niedergeschlagen und wäre mit meinen Sachen verschwunden.

„Das ist aber nicht sehr höflich, dass du nicht einmal stehenbleibst“, sagt er und dieses Mal ist seine Stimme lauter. Er scheint zu mir aufzuschließen.

Es ist schon nach Einbruch der Dunkelheit und ich hatte eigentlich vor, mir möglichst bald einen Ort zum Schlafen auszusuchen, doch das plötzliche Auftreten dieses Mannes macht meinen Plan zunichte.

Ganz offensichtlich lässt er nicht locker. Wahrscheinlich erhofft er sich ein nächtliches Vergnügen von mir, schließlich bin ich eine schutzlose junge Frau und er ein einsamer Waldbewohner.

Genau wegen dieser Typen wird uns als Kindern immer gesagt, dass wir den Wald meiden sollen.

Ich zucke zusammen, als ich plötzlich seine Hand an meiner Schulter spüre. Bilder, die mir seine Zukunft zeigen, strömen auf mich ein, doch ich schiebe sie weg. Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Schwungvoll dreht er mich zu sich um und ich habe keine andere Wahl mehr, als meinem Gegner in die Augen zu sehen.

Wie erwartet ist es ein junger, hochgewachsener, starker Mann, der sich perfekt in der Armee machen würde, wenn er nicht im Wald leben würde.

„Und so hübsch auch noch. Heute scheint wirklich mein Glückstag zu sein“, sagt er und ein Funkeln blitzt in seinen hellblauen Augen auf.

„Könntest du mich bitte loslassen, ich muss weiter“, sage ich bestimmt. Er darf nicht spüren, wie sehr mir schon durch seine bloße Anwesenheit die Knie zittern. Ich weiß, was im schlimmsten Fall auf mich zukommen kann und ich weiß auch, dass ich ihm körperlich zu sehr unterlegen bin, um mir irgendwelche Chancen auszurechnen, mich gegen ihn wehren zu können. Ich werde es mit Worten versuchen müssen.

„Aber warum denn? Wir können doch so viel Spaß zusammen haben“, erwidert er und macht einen Schritt auf mich zu, sodass ich jetzt seinen Atem auf meinem Gesicht spüre. Ich weiche einen Schritt zurück, was er höhnisch kommentiert: „Warum denn so scheu? Du musst doch gewusst haben, was auf dich zukommt, wenn du nachts in den Wald gehst.“

„Natürlich bin ich mir dessen bewusst gewesen, schließlich bin ich kein naives Dummchen. Im Gegensatz zu dir, mein Lieber“, stoße ich aus und versuche dabei, so selbstsicher wie möglich zu klingen.

Erneut kommt er einen Schritt auf mich zu und wieder weiche ich einen Schritt zurück. Ich spüre an meinen Hacken, dass ich am Rand des Weges angekommen bin und jeder weitere Schritt mich zu Fall bringen würde, denn der Weg verläuft direkt an einem steilen Abhang.

„Warum sollte ich naiv sein?“, fragt er mit einem kalten Lächeln. Man sieht ihm deutlich an, wie ihn das Leben im Wald abgestumpft hat. Es hat das Leben aus seinen Augen getrieben

„Weil du nicht wissen kannst, welche Krankheiten ich dir hinterlasse, wenn du mich nicht gehen lässt. Krankheiten, an denen du stirbst, wenn du keine Medikamente bekommst, und so wie ich das sehe, wirst du hier im Wald keine finden“, erwidere ich mit stahlhartem Blick.

Diese Andeutung ist meine einzige Chance, ihn abzuschrecken.

Er mustert mich einen Moment und ein Knurren entfährt seinen Lippen. Dann tritt er einen weiteren Schritt nach vorne und schaut mir tief in die Augen.

Und dann ... lacht er. Ein tiefes, leises Lachen kommt zwischen seinen Lippen hervor und ich schlucke schwer.

„Du lügst. Du bist eine Jungfrau durch und durch, das kann ich sehen“, sagt er und ich schließe kurz die Augen, um mich seelisch auf den folgenden Angriff vorzubereiten.

Doch anstatt seine Hände zu spüren, höre ich plötzlich einen lauten Knall. Vor Schreck reiße ich die Augen wieder auf und alles geht ganz schnell.