Oceanblue - Lügen der Rettung - Stefanie Peisker - E-Book

Oceanblue - Lügen der Rettung E-Book

Stefanie Peisker

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Beschreibung

Kaisy und Lucas sehnen sich nach einem neuen und gemeinsamen Leben - jenseits der Insel und ihren Aufträge in der Organisation. Doch einige gefährliche Missionen müssen noch erledigt werden, denn ihre Gegner, allen voran Maxi, bringen Kaisy und ihre Freunde in große Gefahr. Als Kaisy erfährt, dass Maxi und seine Verbündeten beginnen, Schwerverbrecher aus dem Gefängnis zu befreien, ist sie wild entschlossen ihre letzte Herausforderung anzunehmen. Zusammen arbeiten sie einen waghalsigen Plan aus und keiner von ihnen weiß, ob sie nicht ein zu großes Risiko eingehen - ein Risiko, das Menschenleben kosten könnte ... Im dritten Band der Oceanblue-Trilogie wird es noch einmal sehr spannend - Liebe, Hass und Aufregung werden zu einem fesselnden Ende der Reihe vereint.

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Seitenzahl: 421

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Für alle, die sich von der Geschichte der Sirenen mitreißen lassen...

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 1

„Das ist doch nicht euer Ernst, oder?“, fragt Luces genervt.

„Ich dachte mir schon, dass du so reagieren würdest...“, entgegne ich seufzend. „Aber hör doch erst einmal zu, bevor du Nein sagst!“

„Ich brauche nicht mehr zu hören, um zu wissen, dass das völliger Schwachsinn ist!“, erwidert er, und noch bevor ich wieder etwas sagen kann, mischt sich Herr Lorenz ins Gespräch ein. „Jetzt regt euch doch beide erst einmal ab, und dann reden wir darüber.“

„Da gibt es aber nichts mehr zu reden!“, stöhnt Luces und lässt sich widerwillig auf einen der Stühle vor Herrn Lorenz‘ Schreibtisch fallen.

Herr Lorenz, der Leiter der Organisation, für die Luces und ich arbeiten, geht ganz gelassen um den Schreibtisch herum und setzt sich auf seinen Stuhl, während ich mich neben Luces setze.

„Ich verstehe nicht, warum wir das überhaupt diskutieren. Meine Antwort steht sowieso fest. Ich werde doch nicht dabei zusehen, dass dieser lebende Gefahrenmagnet“, sein Blick wandert zu mir, „dieses Gebäude verlässt.“

„Luces, reiß dich zusammen!“, weist Herr Lorenz ihn zurecht. „Ich möchte nicht, dass du so über sie redest!“

„Ist schon okay, Herr Lorenz, Luces braucht das – schließlich ist er in der Kleinkinder-Trotzphase steckengeblieben“, sage ich sarkastisch und ernte einen scharfen Blick von der Seite.

„Wenigstens versuche ich nicht alle paar Minuten, ein neues Selbstmordkommando zu starten“, zischt er.

„Seit wann ist es denn ein Selbstmordkommando, wenn man seine Familie besuchen möchte?“, frage ich genervt.

„Seit es Leute gibt, die dich unter allen Umständen tot sehen wollen!“, meint Luces heftig. Er spielt auf die Leute an, die mit Maxi zusammenarbeiten und mich hassen, weil ich die Tochter von Lian de Montegrande bin.

„Kaisy! Luces! Jetzt seid ihr beide mal leise!“, unterbricht uns plötzlich eine weibliche Stimme von hinten. Wir beide drehen uns um und sehen Frau Lorenz, die ganz gemächlich durch das Büro zu uns kommt.

„Man hört euch ja bis auf den Gang heraus streiten“, schimpft sie und zieht sich einen Stuhl neben ihren Mann.

Keiner von uns sagt mehr etwas, stattdessen starren wir beide genervt vor uns hin.

Einige Momente herrscht Stille, dann sagt Frau Lorenz ganz ruhig: „Erklärt mir jetzt mal einer, worum es hier überhaupt geht?“

„Also“, beginne ich, doch Luces unterbricht vehement:

„Kaisy will mal wieder die Organisation ganz alleine verlassen, weil sie ganz offensichtlich noch nicht oft genug fast gestorben wäre.“

Ich schieße ihm einen kalten Blick zu, doch er meint nur: „Was denn? Ist doch wahr.“

Frau Lorenz sieht uns kurz skeptisch an, bevor sie sich an mich wendet, als hätte Luces Ausbruch gar nicht stattgefunden. „Und was genau willst du draußen tun?“ „Meine Familie besuchen. Meine Mum ist schon ziemlich misstrauisch geworden, weil ich in den Pfingstferien nicht nach Hause gekommen bin. Da konnte ich ihr aber noch erzählen, dass ich lieber mit meinen Freunden im Internat bleibe, statt für eine Woche nach Hause zu kommen. Schließlich ist der Weg ja recht weit.“

Bei der Erinnerung an das Telefonat mit meiner Mum vor circa zwei Monaten fühle ich mich immer noch schlecht. Ich musste sie anlügen, und sie war unendlich traurig, weil ich nicht nach Hause gekommen bin. Aber damals ging es nicht, denn das war nur zwei Wochen nach meiner Entführung, und die ganze Organisation war noch in vollem Aufruhr deswegen.

Die Entführung ging von einer Gruppe aus, die gegen uns, die ASOG, kämpft. Vor allem aber kämpfen sie gegen mich. Maxi ist einer von ihnen, und er hat mich in meiner Zeit als Schülerin auf der Insel mehrmals versucht zu töten. Und auch die Entführung habe ich nur überlebt, weil Luces und die anderen mich früh genug befreien konnten.

Und das alles nur wegen meiner leiblichen Mutter.

Lian de Montagrande.

Ich habe sie nie kennengelernt und weiß auch nur über sie, was mir andere erzählt haben. Vor allem aber weiß ich, dass sie die Gründerin dieser Organisation ist und dass sie vor über fünfzehn Jahren einen Bürgerkrieg angezettelt hat, bei dem viele Menschen gestorben sind - unter anderem auch sie selbst. Lian ging es darum, die Menschen, die ihre Kräfte benutzen, um an Macht oder Geld zu gelangen, zahlen zu lassen. Der Bürgerkrieg ist jedoch ziemlich ausgeartet, und viele Unschuldige sind dabei gestorben.

Viele Menschen auf der Insel hegen immer noch, fünfzehn Jahre nach ihrem Tod, größten Hass gegen sie, weshalb meine Verwandtschaft mit ihr unbedingt ein Geheimnis bleiben muss. Eigentlich bin ich auch nur deshalb hier in der Organisation. Auf der Insel waren mein Geheimnis und damit mein Leben in zu großer Gefahr.

„Naja, auf jeden Fall stehen ja jetzt die Sommerferien an und damit auch mein Geburtstag“, spreche ich weiter, „und meine Mum denkt ja immer noch, dass ich auf die Schule auf der Insel gehe. Sie weiß, dass das Internat in den Sommerferien geschlossen ist, also kann ich sie damit nicht hinhalten. Außerdem habe ich sowieso schon die ganze Zeit das Gefühl, dass sie und meine Schwester immer misstrauischer werden ... “

Um meinen Aufenthaltsort geheim zu halten, haben die Menschen hier ein Konstrukt an Lügen gesponnen, als sie mich hergeholt haben. Meine Familie denkt, ich wäre noch in der Schule auf der Insel, und die Menschen auf der Insel denken, ich wäre bei meiner Familie. Ich kann eigentlich ganz gut damit leben, denn ich weiß, dass es sicherer für mich und vor allem auch sicherer für meine Familie ist, wenn sie nicht wissen, wo ich wirklich bin, aber dieses andauernde Lügen macht mich langsam wirklich fertig. Mein Familie bedeutet mir alles und ich kann ihnen so viel nicht erzählen.

„Ja, ich verstehe ...“, murmelt Frau Lorenz nachdenklich.

„Dann müssen wir eben etwas anderes finden. Sag deiner Familie doch einfach, dass du bei einer Freundin bleibst, oder sowas“, schlägt Luces vor.

„Dich wird das jetzt wahrscheinlich schocken, aber ich will meine Familie nicht schon wieder anlügen!“, fauche ich zurück.

„Du lügst sie doch die ganze Zeit an, oder hast du ihnen erzählt, dass du hier bist?“, entgegnet er hart.

„Nein, habe ich nicht, aber ich will ihnen nicht noch mehr Lügen erzählen!“

„Hier geht es aber nicht darum, ob du das Ganze mit deinem Gewissen vereinbaren kannst, Kaisy! Warum verstehst du das nicht!?“

„Wieso verstehst du nicht, dass ich meine Familie auch einfach gerne mal wiedersehen will?!“, fauche ich zurück, doch in dem Moment, in dem die Worte meinen Mund verlassen, bereue ich sie.

Im Raum wird es totenstill.

Luces wurde von seiner Familie und seinen Freunden verstoßen, als klar wurde, dass er ein Halb-Ägir ist. Ein Halb-Ägir ist ein Kind von einer Sirene und einem Ägir, das jedoch nie seine Verwandlung hat. Er hat die Gene eines Ägirs in sich, aber sie sind nie zum Vorschein getreten. Er gilt damit als Schande für seine Familie, und seine Eltern wollten seine bloße Existenz komplett aus ihrem Leben streichen. Er hat keine Familie, die ihn liebt und die er liebt und die er unbedingt sehen möchte. Er kennt dieses Gefühl nicht. Nicht mehr ...

Er hat sich hier ein komplett neues Leben aufgebaut, und der einzige, der ihm aus seinem alten Leben geblieben ist, ist sein kleiner Bruder Liam. Er arbeitet ebenfalls in der Organisation, ist aber nur am Wochenende hier und wohnt unter der Woche auf der Insel bei seinen Eltern. Diese wissen natürlich nichts von der ASOG – Anti-Sirenpower-Organisation-of-Germany. Genauso wie fast alle anderen Sirenen und Ägire auf der Insel. Genauso wie ich, noch bis vor ein paar Monaten. Die ASOG arbeitet verdeckt gegen die Verbrecher auf der Insel, weil die Polizei und die Gerichte korrupt und unfähig sind.

„Du bringst deine Familie nur unnötig in Gefahr“, sagt Luces schließlich und unterbricht damit die Stille.

„Wenn ich nicht gehe, bringe ich sie auch in Gefahr. Du kennst meine Mum nicht ... Sie würde ganz sicher auf der Insel auftauchen, wenn ich ihr sage, dass ich nicht komme. Und sobald sie weiß, dass ich nicht mehr auf der Schule bin, wird sie mich suchen, und dann ist sie und auch die Organisation in viel größerer Gefahr“, erkläre ich.

„Damit hat sie recht, Luces“, stimmt Herr Lorenz mir zu, und Luces‘ Gesichtszüge verfinstern sich.

„Und dennoch muss ich Luces zustimmen, dass Kaisy nicht die vollen sechs Wochen lang weg sein kann ... Wir brauchen sie, und sie braucht unseren Schutz“, fügt Frau Lorenz nachdenklich dazu.

„Davon rede ich doch die ganze Zeit!“, seufzt Luces, zunehmend genervt.

„Ich könnte ja nur für zwei Wochen nach Hause. Ich bin mir sicher, solange ich überhaupt komme, ist das Misstrauen meiner Mum erst einmal genug gestillt“, schlage ich enthusiastisch vor. Mir ist gerade jeder Kompromiss recht, bei dem ich meine Mum und meine Schwester mal wiedersehen kann.

„Das klingt für mich nach einem guten Zeitraum ... Du müsstest aber versuchen, während dieser Zeit so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit zu sein. Dich sollten so wenig Menschen wie möglich sehen“, sagt Herr Lorenz, und ich nicke zustimmend.

„Ihr könnt das doch nicht ernst meinen!“, empört sich Luces. „Hab ihr denn gar nichts gelernt aus dem letzten Mal? Die Wahrscheinlichkeit, dass Kaisy wieder geschnappt wird, ist ziemlich groß, sobald sie unsere Mauern verlässt. Wollt ihr wieder viele Leute in Gefahr bringen, so wie beim letzten Mal, als wir sie befreien mussten?“

Unwillkürlich bildet sich ein Kloß in meinem Hals, der sich immer meldet, wenn ich daran denke, wie viele Menschen sich in Gefahr gebracht haben, um mich zu befreien, als ich entführt worden bin. Mir ist klar, dass es nicht anders ging, aber die Tatsache, dass einer von ihnen hätte sterben können, nur damit ich dort rauskomme, bereitet mir immer noch Bauchschmerzen.

„Ich glaube nicht, dass sie es riskieren würden, Kaisy zu Hause anzugreifen, schließlich ist es für sie am aller wichtigsten, dass all die dunklen Geheimnisse der Insel im Verborgenen bleiben“, sagt Herr Lorenz.

Damit spricht er definitiv einen wichtigen Punkt an.

Die Gruppe, die mich damals entführt hat und mich töten wollte, weil ich Lians Tochter bin, kämpft nur gegen uns, weil wir ihre Geheimnisse aufdecken. Bei ihnen läuft alles über Korruption und ihre übernatürlichen Kräfte, und damit kommen sie seit Jahrzehnten durch, weil die Inselpolizei und die Inselgerichte genauso korrupt sind. Sie sind wie eine Maffia-Bande, deren Macht so weit reicht, dass es enorm schwer ist für uns, etwas gegen sie zu unternehmen. Wir bringen immer wieder einzelne ins Gefängnis, aber das große Netz an Verbrechern werden wir so nie kleinkriegen.

„Aber“, will Luces gerade wieder ansetzen, als Herr Lorenz ihn unterbricht.

„Luces, ich habe dich eigentlich nicht hierherkommen lassen, um mir deine Erlaubnis zu holen“, erklärt er.

„Ich entscheide, was hier passiert, und auch wenn mir deine Meinung sehr wichtig ist, ist diese Diskussion jetzt beendet.“

Ich sehe wie Luces Kiefermuskeln zu arbeiten beginnen. Ganz offensichtlich muss er sich sehr zusammenreißen, um Herrn Lorenz nicht anzufauchen. Das einzige, was ihn zurückzuhalten scheint, ist sein Respekt vor ihm, denn Herr Lorenz ist der wichtigste Mann in dieser Organisation. Er ist der Leiter, und wir alle stehen unter seinem Wort.

„Wir müssen sie wenigstens wegbringen und ihr Haus im Auge behalten, damit wir schnell eingreifen können“, sagt Luces schließlich durch zusammengepresste Zähne.

„Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen. Ich habe Andrew gefragt, ob er sich freinehmen kann, um Kaisy zu begleiten“, erklärt Herr Lorenz.

Andrew arbeitet auch für diese Organisation, aber offiziell ist er Polizist auf der Insel. Diese Tatsache ist überaus nützlich für uns, denn so bekommen wir alle Informationen immer aus erster Hand. Doch mit seiner Arbeit hier in der Organisation arbeitet er quasi beim Feind, und wenn je rauskommt, dass er hier arbeitet, könnte das ganz schön böse ausgehen. Und auch die Tatsache, dass Andrew ein Halb-Ägir ist und niemand auf der Insel das weiß, macht es für ihn noch gefährlicher. Genauso wie Luces müsste er eigentlich von der Insel verstoßen werden, doch Andrew ist in Amerika aufgewachsen, und als er hierher gekommen ist, hat er sich als Ägir ausgegeben.

„Aber Andrew meinte, dass es ganz schlecht aussieht. Alle Polizisten mit Kindern wollen unbedingt während der Sommerferien freihaben, um in den Urlaub zu fliegen, also hat er ganz schlechte Karten, noch freizubekommen.“

Wieder tritt Schweigen ein, bis Herr Lorenz zu Luces sagt: „Und deswegen habe ich dich eigentlich hergebeten.“

„Wollen Sie mich verarschen?“, fragt Luces, als ihm offensichtlich aufgeht, was Herr Lorenz von ihm will.

„Ich soll Ihrem Selbstmordkommando nicht nur ohne Diskussion zustimmen, sondern es auch noch beobachten?“

„Du weißt, dass ich dich nicht fragen würde, wenn es einen anderen Weg gäbe“, sagt Herr Lorenz. „Du weißt, dass die meisten unserer Mitarbeiter noch einen normalen Job haben und nicht Vollzeit hier arbeiten, so wie du. Sie können Kaisy nicht durchgehend bewachen.“

„Wartet mal! Luces soll mich begleiten?“, frage ich empört, als auch mir die Situation reichlich spät klar wird.

„Ja, genau“, erwidert Herr Lorenz, der von seiner Idee ziemlich überzeugt zu sein scheint.

„Ich gehe mal davon aus, dass es sowieso nichts ändern würde, wenn ich zu diskutieren anfangen würde?“, fragt Luces resigniert.

„Nein, würde es nicht. Ich möchte, dass Kaisy gut beschützt ist, und du bist einer unserer besten Männer.“

Luces murmelt etwas vor sich hin, doch ich bin einfach nur froh, dass ich diese Diskussion gewonnen habe, auch wenn ich mir definitiv etwas Schöneres vorstellen kann als eine Autofahrt von hier bis nach Deutschland zu mir nach Hause mit Luces, der mir durchgehend sagen wird, wie dumm das alles ist.

„Da dir dann zwei Wochen Training fehlen werden, erwarte ich jedoch, dass du in den nächsten Tagen, bevor du fährst, besonders hart trainierst“, sagt Herr Lorenz, zu mir gewandt, dann dreht er sich zu Luces,

„Ich hoffe auch bei deinem Training gibt es Fortschritte.“

Luces scheint sich erst einen Moment fassen zu müssen, bevor er in ruhigem Ton antworten kann. „Ja, wir machen Fortschritte. Anfangs sah es nicht so aus, als könnte ich je lernen, mich vor Sirenenstimmen abzuschirmen, so wie es Ägire lernen können, aber inzwischen schaffe ich es mit viel Konzentration schon ungefähr zwanzig Sekunden lang. Immer noch nicht ausreichend, aber mit viel Training wird es schon.“

„Das ist schön zu hören. Trainiert ihr beide denn auch, wenn Andrew nicht da ist?“, fragt er weiter.

Dieses Mal antworte ich: „Anfangs konnten wir Luces‘ mentales Training nur durchführen, wenn Andrew dabei war, doch seit einigen Tagen trainieren wir auch unter der Woche, wenn Andrew auf der Insel und nicht hier ist.“

„Und dein körperliches Training, Kaisy, findet immer noch täglich statt, liege ich da richtig?“, fragt er, und ich nicke.

Er scheint sich genug auf den neuesten Stand gebracht zu haben, denn er verabschiedet sich von uns, und wir verlassen den Raum.

„Du weißt, wie verrückt das ist, oder?“, fragt mich Luces eindringlich, als wir die Tür hinter uns geschlossen haben.

„Ja, weiß ich“, erwidere ich gelassen, denn ich habe diese Diskussion ja schon gewonnen.

„Und warum lässt du es dann nicht einfach?“

Sein unermüdlicher Wille, mich von allem und jedem fernzuhalten, geht mir langsam aber sicher wirklich auf die Nerven, sodass ich einfach herausplatze: „Weil unser Leben eben nicht einfach ist, Luces! Unser Leben ist verrückt, und ich weiß, dass du immer versuchst, mich da rauszuhalten, aber so läuft das eben nicht.“

Er will etwas erwidern, aber ich spreche schnell weiter:

„Wir haben es mit Menschen zu tun, die andere Menschen mit bloßem Gesang manipulieren, Luces!

Und ich bin auch so einer ... Ich gehöre zu diesem ganzen verrückten System, das sich unser Leben nennt.“

„Das solltest du aber nicht“, meint er etwas ruhiger,

„du kannst nicht einmal richtig kämpfen.“

„Tja, dann sollten wir das mal lieber ändern, statt hier zu diskutieren“, meine ich und versuche, ihn vom Thema abzubringen.

„Ja, vielleicht geschieht ja noch ein Wunder in den nächsten Tagen“, erwidert er und schenkt mir ein leicht resigniertes Lächeln.

Kapitel 2

„Sag mal, du wohnst ja in einem richtigen Kaff hier“, kommentiert Luces, als er am Ortsschild meiner Heimatstadt vorbeifährt.

„Hey, so klein ist es hier gar nicht! Wir haben schließlich ein eigenes Ortsschild“, erwidere ich, wobei ich mir ein Lachen verkneifen muss.

„Weil das auch als Beweis dafür zählt, dass das hier kein Kaff ist?“, meint er, um mich zu ärgern.

„Hier gibt es sogar ein Einkaufszentrum“, verteidige ich mein Städtchen weiter, obwohl ich es früher selbst immer als Dorf bezeichnet habe.

„Bestimmt nur, weil die Kuhweiden billig zu kaufen waren“, erwidert er und biegt von der Hauptstraße in eine Nebenstraße ab.

Ich werfe einen Blick nach draußen und sehe Daniels Haus am Straßenrand. Daniel war mein bester Freund, als ich noch hier gewohnt habe.

Luces scheint aufgefallen zu sein, dass ich ruhig geworden bin, denn er fragt: „Ist was?“

„Da vorne“, ich deute auf das Haus, „wohnt mein ehemaliger bester Freund. Er war auch in der Band, in der ich gesungen habe, bevor ich auf die Insel gekommen bin. Ich habe ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen“, erkläre ich.

Er schweigt einen Moment, dann sagt er: „Es tut mir leid. Auch wenn du mir echt auf die Nerven gehst in letzter Zeit, würde ich dir all das hier gerne zurückgeben, wenn ich könnte.“

Seine Worte überraschen mich. Wir haben nie viel über mein altes Leben gesprochen, aber er scheint viel stärker gespürt zu haben, als ich dachte, wie sehr ich mein altes Leben vermisse. Mein altes Leben, in dem mich keiner töten wollte, in dem ich einfach ich sein konnte, in dem ich kein Kampftraining oder einen Bodyguard gebraucht habe.

Luces biegt erneut ab und hält schließlich an.

„Wir können immer noch umdrehen und wieder zurückfahren“, meint er, als wir vor unserer Einfahrt stehengeblieben sind. Die Straße, in der ich die ersten sechzehn Jahre meines Lebens verbracht habe, liegt vor uns. Und nur ein paar Meter von uns entfernt ist das Gartentörchen, das zum Haus führt, in dem ich aufgewachsen bin.

„Du weißt, dass das nicht passieren wird“, erwidere ich und öffne die Autotür. Auch er steigt aus, und wir treffen am Kofferraum wieder aufeinander.

„Ich weiß ..., denn du bist und bleibst einfach ein dickköpfiges Naivchen“, murmelt er, was ich nur mit einem Augenverdrehen beantworte. Die Freude, meine Familie wiederzusehen, vertreibt mein Verlangen, mich mit ihm zu streiten.

„Du glaubst doch nicht, dass ich mir diese Autofahrt mit dir angetan habe, um jetzt wieder umzudrehen“, necke ich ihn, und er schüttelt nur den Kopf über mich.

Erstaunlicherweise waren die letzten Stunden mit ihm in diesem Auto ziemlich angenehm. Entgegen meiner Erwartung hat er nur ab und zu eine dumme Bemerkung gemacht und hat sich sonst ganz normal mit mir unterhalten. In diesem Zustand kann ich ihn wirklich gut leiden – wenn wir reden, lachen und einfach normal sein können. Jedoch blitzt da immer wieder dieser kleine Bösewicht namens Realität durch und bringt uns dazu, uns zu streiten. Ich weiß, dass er mich nur beschützen möchte und eigentlich ist es ja auch ganz süß, dass er sich um mich sorgt, aber manchmal übertreibt er es wirklich maßlos.

Er hebt meinen Koffer aus dem Kofferraum und stellt ihn neben mir ab.

„Danke“, sage ich schnell und greife schon nach dem Griff meines Koffers, um loszugehen, als er mich aufhält. Seine Hand liegt so schnell auf meiner Schulter, dass ich gar nicht mitbekomme, wie sie dort hingekommen ist. Wie jedes Mal, wenn er mich berührt, geht von seiner Hand eine Wärme aus, die meinen ganzen Körper durchflutet.

„Kaisy, ich meine das ernst. Bleib immer im Haus, oder ich schleife dich wieder zurück“, sagt er eindrücklich.

„War es das mit den Drohungen?“, frage ich lässig, denn ich habe mit so etwas gerechnet.

Seine Kiefermuskeln fangen an zu arbeiten, und ich weiß, dass er sich gerade einige Gemeinheiten verkneift.

„Na dann, tschüs, bis in zwei Wochen. Ich schreib dir zwischen drin mal, ob ich noch lebe“, sage ich, gebe ihm einen Kuss auf die Wange, einfach nur, um ihn zu provozieren, und gehe los.

Luces erwidert nichts, aber ich spüre seinen Blick auf meinem Rücken.

Damit meine Familie nichts ahnt, haben wir beschlossen, dass ich die letzten paar Meter laufe, damit es so aussieht, als wäre ich ganz normal von der Bushaltestelle gekommen. Es war schon schwer genug, ihnen zu erklären, weshalb ich nur so kurz bleibe, da wollte ich ihnen nicht auch noch erklären müssen, weshalb ich hergefahren werde. Vor allem, wenn mein Fahrer der attraktivste Mann ist, der mir je begegnet ist.

Mit seinen leuchtenden Augen, seinen verwuschelten Haaren, den kantigen Gesichtszügen und dem durchtrainierten Körper ... Meine Gedanken schweifen schon wieder zu Luces, und ich versuche, sie dort wegzuholen, indem ich mich auf die Haustür konzentriere, die immer näher rückt.

Endlich angekommen, klingle ich, und meine Schwester Chiara macht wenige Sekunden später die Tür auf.

Ehe ich mir es versehe, schlingt sie die Arme um mich.

„Da bist du ja endlich!“

Auch meine Mum kommt in den Flur, und als meine Schwester mich losgelassen hat, kann ich auch sie begrüßen.

„Schön, euch wieder zu sehen!“, sage ich schließlich und schiebe sie ins Haus hinein, um die Haustür hinter mir zu schließen.

Wir schwätzen ein paar Minuten über Belangloses, und ich erfahre, dass es ihnen gut geht und dass sich sogar Chiaras Noten verbessert haben, was laut meiner Mum geradezu einem Weltwunder gleicht.

„Wäre es okay, wenn ich kurz meine Sachen nach oben bringe und mich umziehe?“, frage ich, eigentlich nur aus Höflichkeit, und warte die Antwort gar nicht ab, sondern hieve meinen Koffer die Treppe hoch.

Als allererstes lasse ich mich auf mein Bett fallen und bleibe dort bestimmt fünf Minuten liegen. Es fühlt sich einfach gut an, mal wieder im eigenen Bett zu liegen und im eigenen Zimmer zu sein. Seit einigen Monaten stehe ich unter Dauerstress und da kommt mir dieses wohlige Gefühl von Zuhause gerade recht.

„Das sieht aber nicht aus, als würdest du dich umziehen“, kommentiert Chiara, nachdem sie, ohne zu klopfen, die Tür aufgerissen hat. Sie lässt sich neben mich aufs Bett sinken und meint: „Glaub erst gar nicht, dass du meinen Fragen entkommen kannst. Mum konntest du vielleicht weißmachen, dass du während der Pfingstferien in der Schule warst mit deinen Freunden, aber wir beide wissen, dass das nicht stimmt.“ Sie mustert mich mit durchdringendem Blick und ich habe kurz das Gefühl wirklich durchleuchtet zu werden. Chiara ist sehr viel schwerer hinters Licht zu führen als meine Mum und deswegen würde ich mir für sie ein bisschen bessere Lügen überlegen müssen.

„Ach, tun wir das?“, frage ich unschuldig und hoffe inständig, dass sie nichts konkretes ahnt.

„Ich kenne dich ... Du würdest nie länger in der Schule bleiben, als nötig“, meint sie. Ich wehre sofort ab: „Du weißt aber schon, dass ich nur in dem Internat bei der Schule war und nicht wirklich in der Schule.“

„Trotzdem ... Es muss einen anderen Grund geben, weshalb du nicht gekommen bist“, wirft sie murmelnd ein.

„Ich habe eben viele tolle Freunde gefunden“, versuche ich sie von ihren Fragen abzubringen.

„Freunde, also“, wiederholt sie und sieht mich skeptisch an.

„Ja, genau“, sage ich schnell und wehre dann weitere Einwände ab, indem ich meine: „Da wir das jetzt geklärt haben, würde ich mich wirklich gerne umziehen, also geh doch einfach schon mal runter, und ich komm gleich nach.“

Sie erhebt sich, doch bevor sie den Raum verlässt, sagt sie: „Unsere Unterhaltung ist noch nicht zu Ende.“

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hat, setze ich mich auf und ziehe mein Handy aus der Handtasche, um Luces zu schreiben.

„Bin gut angekommen. Lebe und habe keine Apokalypse ausgelöst“, tippe ich schnell und schicke es ab.

Seine Antwort kommt sofort: „Du meinst wohl: noch nicht.“

Automatisch suche ich den Augenverdreh-Smiley raus und schicke ihn ab.

Dann lege ich mein Handy weg und ziehe mir eine bequeme Jogginghose an, bevor ich mein Zimmer wieder verlasse.

Ich will gerade die Treppe runtergehen, als Mum hochruft: „Kannst du das iPad aus meinem Zimmer mitbringen?“

„Klar“, rufe ich zurück und gehe den Gang entlang zu ihrem Zimmer.

Wie jedes Mal, wenn ich in ihr Zimmer gehe, trifft mich ein kleiner Stich ins Herz. Dieses Zimmer erinnert mich einfach jedes Mal wieder daran, dass mein Dad nicht mehr da ist. Meine Mum hat das Zimmer fast gar nicht verändert, nachdem er gestorben ist. Zwar hat sie das Bett ausgetauscht und Dads Schreibtisch rausgeschmissen, sodass nur noch ihr Schreibtisch dasteht, doch sonst sieht es noch genauso aus wie früher. Die Tapete, der Teppich, die Schränke - alles noch so, als würde mein Dad immer noch jede Nacht hier bei ihr schlafen. Wir haben meiner Mum immer wieder gesagt, dass sie gerne alles verändern kann oder dass wir die Zimmer tauschen könnten, damit sie damit abschließen kann, aber sie wollte nicht.

Ich reiße mich aus meinen Gedanken und greife schnell nach dem iPad auf dem Nachttisch, doch auf dem Weg aus dem Zimmer bleibe ich noch einmal stehen. Das Hochzeitsfoto meiner Eltern, das neben der Tür in einem schönen Holzrahmen hängt, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Mein Dad steht hinter meiner Mum, und er umarmt sie von hinten. Sie sehen unfassbar glücklich aus. Unter dem Bild ist ihr Hochzeitsdatum in schöner verschnörkelter Schrift geschrieben: 24.02.2001

Ein halbes Jahr später kam ich auf die Welt. Meine Mum hat immer gesagt, dass sie noch heiraten wollte, bevor ich da bin. Sie wollte aber auch nicht hochschwanger heiraten, deswegen haben sie ganz kurzfristig noch im Februar geheiratet, weil man den Bauch meiner Mum da noch nicht gesehen hat.

Erst jetzt geht mir auf, dass auch das eine Lüge gewesen ist. Meine Mum war nicht schwanger, als die beiden geheiratet haben. Es war damals Lian, die mit mir schwanger war.

Die Erkenntnis trifft mich völlig überraschend. Ich lasse fast das iPad fallen, als mir bewusst wird, was ich bis jetzt erfolgreich verdrängt habe. Ich habe die ganze Zeit verdrängt, was zwischen Lian und meinem Dad war. Ich habe mir nie erlaubt darüber nachzudenken, dafür trifft es mich jetzt umso härter.

„Mum!“, rufe ich hinunter, und meine Stimme klingt gar nicht mehr wie meine eigene. In meinem Kopf überschlägt sich alles.

„Was denn, Liebes?“, kommt es von unten.

„Komm mal bitte hoch“, rufe ich, ohne dass ich darüber nachdenke. Sie scheint zu hören, dass irgendetwas nicht stimmt, denn sie fragt nicht weiter nach, sondern kommt die Treppe hochgelaufen. Ich höre, dass sie im Türrahmen erscheint, aber ich kann sie nicht anschauen. Meine Augen starren immer noch auf das Bild.

„Was ist denn?“, fragt sie ganz ruhig.

Ich traue meiner Stimme nicht genug, um etwas zu sagen, also deute ich nur mit dem Finger auf das Datum auf dem Bild.

Sie folgt meinem Finger. „Was denn? Du weißt doch, dass dein Dad und ich da geheiratet haben.“

Endlich schaffe ich es, sie anzusehen. „Ich bin ein halbes Jahr später zur Welt gekommen. Aber nicht du, sondern Lian war zu dem Zeitpunkt im dritten Monat schwanger.“ Ich mache eine kurze Pause, denn mein Hals schnürt sich langsam zu.

„Du und Dad ... Ihr habt euch zwei Jahre vor der Hochzeit kennengelernt. Ihr wart schon eineinhalb Jahre zusammen, als Lian ..., als sie schwanger wurde mit mir“, stelle ich fest, und meine Stimme erstirbt fast.

Meine Mum wendet den Blick ab und sagt einen langen Moment lang nichts. „Ich habe gehofft, dass es dir nie auffällt“, murmelt sie dann.

„Was? Dass Dad dich ein paar Monate vor eurer Hochzeit betrogen hat? Dass ich das Ergebnis eines Seitsprungs bin?“, frage ich fassungslos.

Sie hat ihre Augen geschlossen, und ich sehe, dass sie tief durchatmet, bevor sie ganz ins Zimmer tritt, die Tür hinter sich schließt und sagt: „Setz dich, ich glaube ich muss dir erzählen, wie das damals war. Wie gesagt, ich habe gehofft, dass du nie nachrechnest, aber eigentlich hätte ich mir denken können, dass du dafür zu neugierig bist.“

Ich kann nicht anders, als sie anzustarren. Mein Dad ist für mich immer mein Held gewesen, er war der perfekte Vater ... Dass er überhaupt mit dieser Revolutionärin zusammen war, hat mich geschockt, als ich davon erfahren habe, aber dass ... Ich habe nie darüber nachgedacht, dass mein Dad – mein perfekter Dad – meine Mum betrogen haben könnte.

Ich frage mich, warum mir das nicht schon früher aufgefallen ist, aber eigentlich weiß ich, warum. Seit ich das mit Lian weiß, habe ich versucht, so wenig wie möglich darüber nachzudenken. Ich habe die Gedanken immer weggeschoben.

„Setz dich bitte“, fordert sie mich erneut auf, und schließlich schaffe ich es mich neben sie aufs Bett zu setzen.

„Du hast recht. Dein Dad hat die Insel und Lian schon Jahre vor dem Bürgerkrieg verlassen. Wir haben uns getroffen und zwischen uns hat es einfach gepasst.

Nach etwas über einem Jahr hat mir dein Dad den Heiratsantrag gemacht, und ich habe natürlich Ja gesagt. Ich hätte zuvor nie gedacht, dass man innerhalb von so kurzer Zeit so etwas aufbauen kann, aber dein Dad und ich …, wir hatten etwas Besonderes. Wir waren jung, und wir haben uns geliebt. Wir haben euch immer erzählt, dass wir geheiratet haben, weil wir kein Kind wollten, ohne geheiratet zu haben, aber so war es eigentlich nicht. Als wir geheiratet haben, wussten wir noch gar nicht, dass es dich geben wird.“

„Und wieso habt ihr es uns dann so anders erzählt?“,

frage ich verwirrt.

„Weil wir uns darauf geeinigt haben. Sobald wir dich hatten, ist jeder davon ausgegangen, dass wir deswegen so kurzfristig geheiratet haben, und dann war es nun mal einfacher, die Leute mit dieser Geschichte abzuspeisen“, erklärt sie, und zumindest das leuchtet mir ein. Jeder würde davon ausgehen, dass sie wegen mir geheiratet haben.

„Ein halbes Jahr später stand dann plötzlich Lian vor unserer Tür und hatte dich dabei. Du warst gerade mal zwei Wochen alt“, erzählt sie weiter.

„Wusstest du denn, dass Dad dich betrogen hat?“, frage ich nach.

„Nein, es hat mich ziemlich überraschend getroffen“, erwidert sie und lächelt dabei. Keinerlei Wut oder Ähnliches ist in ihrem Gesicht oder ihrer Stimme.

„Erst dann hat mir dein Dad erzählt, dass er drei Monate vor unserer Hochzeit auf der Insel war. Ich dachte damals, dass er nur einen Arbeitstermin hatte.

Er ist zu Lian gegangen, um sie davon zu überzeugen, dass sie den Krieg nicht beginnen soll. Er wollte sie dazu bringen, es friedlich zu versuchen. Bei diesem Treffen bist du entstanden.“

Ihre ruhige, gelassene Stimme verwirrt mich. „Warst du da nicht mega sauer? Er hat dich doch betrogen und dich angelogen!? Wieso hast du ihn nicht verlassen?“

Sie lacht leise und sagt dann: „Glaub mir, ich war sauer.

Ich war enttäuscht und wütend, und unter anderen Umständen hätte ich deinen Vater wahrscheinlich verlassen.“

„Unter anderen Umständen?“, hake ich verwirrt nach.

„Wärst du nicht gewesen“, sagt sie schlicht.

„Was hat das denn damit zu tun, dass Dad und Lian zu dumm waren, um sich zu schützen?“, werfe ich aufgebracht ein. Erst als die Worte meinen Mund verlassen haben, wird mir klar, dass ich gerade über das Liebesleben meines Vaters spreche, und meine Wangen werden heiß.

Sie lacht über meinen Einwurf, doch schließlich erklärt sie: „Ich wollte dich. Vom ersten Moment an wollte ich dir eine Mum sein, eine Mutter, die dir eine bessere Zukunft ermöglicht.“ Sie schweigt einen Moment, als würde sie in Erinnerungen schwelgen. „Ich werde nie vergessen, wie Lian dich mir gegeben hat. Sie und dein Dad wollten kurz alleine in der Küche reden, also bin ich mit dir im Wohnzimmer geblieben. Sie haben sich lauthals in der Küche gestritten, aber ich kann dir nicht mal sagen, über was. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich ist, aber ab diesem Moment hatte ich dich in mein Herz geschlossen.“

Ganz unbewusst haben sich Tränen in meine Augen geschlichen.

„Als Lian und dein Dad wieder zu uns kamen, war meine Entscheidung schon längst gefallen. Doch dein Dad wusste das nicht. Er hat mir gesagt, dass er dich behalten wird, weil auf der Insel gerade alles kurz vor dem Krieg stehe. Er hat mir gesagt, dass er es versteht, wenn ich gehe und euch nie wiedersehen will, aber ich habe das sofort von mir gewiesen. Die Wut auf deinen Dad war nichts im Vergleich zur Liebe für dich. Ich habe einen Deal mit Lian gemacht, sodass ich dich adoptiert habe. Der 22. September 2001, an dem du offiziell meine Tochter wurdest.“ Jetzt laufen auch über ihre Wangen ein paar Tränen. Ich höre die Ehrlichkeit in ihren Worten, und es bricht mir fast das Herz.

„Aber du und Dad ..., ihr habt immer so glücklich gewirkt“, sage ich schließlich leise.

„Das waren wir auch, Kaisy. Dein Dad hat zwar einen Fehler gemacht, aber ich bin froh, dass ich nicht den Fehler gemacht habe, ihn zu verlassen. Es hat Zeit gebraucht, bis ich ihm verzeihen konnte, aber ich wusste, dass er mich liebt. Dein Dad war ein guter Mann; er hat Fehler gemacht in seinem Leben, aber dich zu behalten war keiner.“

Ich bin unfähig, etwas zu sagen. Einige Minuten sitzen wir einfach nur da, bis sie mich in ihre Arme zieht.

„Was ist denn hier los?“, kommt es plötzlich von der Tür. Ich schaue zur Seite und sehe Chiara im Türrahmen stehen. „Ich dachte, wir wollten Kuchen essen“, sagt sie ganz verdattert.

Ich löse mich von meiner Mum und lächle Chiara an.

„Das machen wir“, sage ich und erhebe mich.

„Hast du geweint?“, fragt sie mich, als ich mir mit der Hand über die Augen wische.

„Nur vor Glück“, sage ich und werfe meiner Mum ein warmes Lächeln zu. Die Tatsache, dass meine Mum mich wirklich gewollt hat und mich nicht nur genommen hat, weil sie musste erwärmt mein Herz so sehr, dass ich unwillkürlich meine Schwester in den Arm nehme – einfach so, völlig grundlos.

„Okay“, murmelt sie verwirrt, erwidert aber meine Umarmung. „Du scheinst uns ja doch ganz schön vermisst zu haben.“

„Das habe ich, glaub’ mir.“

Kapitel 3

Die nächsten Tage verbringe ich ganz friedlich mit meiner Familie. Meine Mutter wollte mich zwar schon oft überreden, mal zum Essen und Freunde treffen in die Stadt zu gehen, aber ich konnte das bis jetzt ganz gut abwenden.

Seit ich angekommen bin, habe ich nichts mehr von Luces gehört. Ich sitze gerade auf meinem Bett und will ihm eine Nachricht schreiben, als mir auffällt, dass mein Handy leer ist. Schnell krame ich das Ladekabel aus meinem Nachttisch und stecke mein Handy an.

Heute ist mein Geburtstag und den Morgen habe ich mit meiner Mum und meiner Schwester beim Brunchen verbracht.

„Kaisy?“, ruft meine Mum von unten.

„Komme!“, rufe ich zurück, denn sie hat mich vor einer Stunde hochgeschickt, weil sie eine Überraschung für mich vorbereiten wollte. Jetzt bin ich natürlich ziemlich gespannt, also springe ich aus meinem Bett, werfe noch kurz einen Blick über die Schulter und hüpfe dann gut gelaunt die Treppe hinunter. Erst heute Morgen, als ich realisiert habe, dass ich trotz all dem Wahnsinn meinen Geburtstag mit meinen Liebsten verbringen kann, habe ich begriffen, wie gut ich es habe. In letzter Zeit hat sich mein Leben nur um Entführung, Ermittlungen, Korruption und so weiter gedreht, und ich habe völlig aus dem Blick verloren, wie viel Glück ich habe.

Am unteren Treppenabsatz angekommen, betrete ich das Wohnzimmer, und mir fallen fast die Augen aus dem Kopf. Vor mir stehen ungefähr zwanzig Leute, die laut „Happy Birthday“ schmettern. Sofort erkenne ich meine ganzen Freunde aus der Zeit vor der Insel.

Ziemlich genau vor einem Jahr, kurz nach meinem 16.

Geburtstag, bin ich auf die Insel gekommen, und seitdem habe ich keinen von ihnen mehr gesehen.

Sprachlos schlage ich mir die Hände vors Gesicht, weil ich so überrascht bin.

Die Menge beendet ihren Gesang, und sofort stürmen sie zu mir, um mich zu umarmen und mir Glückwünsche zu sagen.

Beim Anblick meiner Freunde, den Geschenken, die auf dem Couchtisch stehen, und dem vielen Kuchen, der auf dem Küchentisch platziert ist, bin ich total gerührt.

Das Einzige, was fehlt, sind meine Freunde von der Insel - vor allem Kathi, Bella und Felix.

Und auch Liam und … Luces hätte ich gerne hier. Es überrascht mich selbst, aber Luces ist ein wichtiger Teil in meinem Leben geworden. Natürlich streiten wir uns häufig, aber wir sind Freunde … Nein, wir sind nicht direkt Freunde …, wir sind irgendwie mehr als das und gleichzeitig weniger.

Die folgenden Stunden nutze ich, um Unmengen an Kuchen zu vertilgen und mich auf den neuesten Stand der Ereignisse in meiner alten Schule bringen zu lassen.

Jedes Mal, wenn das Gespräch in Richtung meines angeblichen Internatlebens auf meinem angeblich normalen Internat fällt, wechsle ich schnell das Thema.

Gegen sieben wirft meine Mum unsere Gäste schließlich wieder raus. Als der letzte aus der Tür ist, sagt sie: „Ich hoffe es ist okay, dass ich sie jetzt rausgeschmissen habe. Ich war mir nicht sicher, ob du dich freust, und habe sie deswegen nur für Kaffee und Kuchen eingeplant.“

„Du bist die Beste!“, stoße ich statt einer Antwort aus und umarme sie. Sie lacht in mein Haar hinein, und als ich sie loslasse, lächelt sie mich fröhlich an.

„Schön, dass es dir gefallen hat“, sagt sie.

„Das hat es“, verstärke ich, „ich hol mal schnell mein Handy von oben, und dann komm ich und helfe dir mit dem Abendessen.“

„Ja, ja, mach ruhig. Viel muss ich sowieso nicht mehr fertigmachen.“

Ich laufe in mein Zimmer zu meinem Handy. Rasch schalte ich es ein, denn eigentlich wollte ich Luces ja vor Stunden schon Bescheid sagen, dass ich noch lebe.

Als mein Handy wieder läuft, sehe ich, dass ich fünf unbeantwortete Anrufe von Luces habe. Da ich keine Ahnung habe, was er von mir wollen könnte, rufe ich ihn schnell zurück.

„Bist du eigentlich verrückt geworden?“, meldet sich Luces ohne Begrüßung.

„Warum, was ist los?“, frage ich alarmiert zurück.

„Was passiert ist? Zwanzig Leute, die auch deine Mörder hätten sein können, sind in dein Haus einmarschiert, und du antwortest mir seit drei Stunden nicht auf meine Anrufe“, antwortet er wütend.

„Oh“, ist das einzige, was ich hervorbringe, „Sorry, darüber habe ich nicht nachgedacht. Es waren alte Freunde ...“

Ich spüre sogar durch den Hörer, wie sauer er ist, und spiele nervös an meinen Socken herum.

Er sagt eine Weile nichts, und ich weiß nicht, was ich sagen könnte.

„Aber dir geht es gut, oder?“, fragt er schließlich mit ruhigerer Stimme.

„Ja, mir geht es gut“, antworte ich sofort, „Tut mir echt leid, aber ich wusste nichts von der Überraschungsparty, sonst hätte ich es meiner Mum ausgeredet oder dir Bescheid gesagt.“

„Ist schon okay“, wehrt er ab. „Ich habe mir schon so etwas gedacht, ich wusste ja, dass du heute Geburtstag hast, und die Luftballons an eurer Haustür haben mich etwas beruhigt.“

„Danke, dass du meinen Geburtstag nicht gesprengt hast“, sage ich ironisch, um die Stimmung etwas aufzuheitern.

„Wieso? So ein gutaussehender junger Mann mit Waffe in der Hand wäre doch eine schöne Überraschung gewesen“, erwidert er sarkastisch. Sofort bildet sich ein Bild vor meinem inneren Auge, in dem er mit einer Waffe durch den Garten rennt, die Fensterscheiben zerschießt und sich professionell ins Haus schwingt, um dann auf eine verdutzte Menge Teenager zu treffen.

„Lass mich raten: Du stellst dir gerade vor, wie ich in dein Haus einbreche und deine Gäste bedrohe“, meint er, und ich muss lachen, weil er meine Gedanken ziemlich gut erraten hat.

„In meiner Fantasie hast du sie nicht bedroht, sondern hast dich ziemlich gewundert, dass keiner von ihnen mich angreift“, erwidere ich und höre, wie er ein leises, tiefes Lachen am anderen Ende der Leitung ausstößt.

„Was machst du eigentlich die ganze Zeit so? Ist ja nicht so spannend vor meinem Haus“, frage ich dann.

„Ich sitze hier im Auto und arbeite, werte Computerdaten aus, schreibe Programme, setze Fälle zusammen und sowas“, erklärt er.

„Fleißiges Bienchen“, kommentiere ich, um ihn zu ärgern.

„Bienchen? Dein Ernst?“, fragt er zurück. „Hätte es nicht wenigstens etwas sein können, was man nicht mit einem Schlag töten kann?“

„Tja ... Fleißige Bären gibt’s halt nicht zur Auswahl“, necke ich ihn. „Da wir das jetzt geklärt haben, würde ich ganz gern zurück zu meiner Familie. Gibt’s noch was, was du mit mir besprechen musst?“

„Eigentlich nicht. Viel Spaß noch und übrigens: Alles Gute zum Geburtstag. Auf dein Geschenk musst du wohl noch etwas warten“, sagt er, und noch bevor ich etwas erwidern kann legt er auf.

Ich nehme mein Handy vom Ohr und schaue verdutzt auf den Bildschirm. Luces will mir etwas schenken?

Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet ...

Und was überhaupt?

Meine Gedanken schweifen ab, doch ich werde vom Vibrieren meines Handys abgelenkt. War ja klar, dass Luces doch noch etwas vergessen hat.

Ohne auf den Anrufer zu schauen, nehme ich ab und frage: „Was gibt’s?“

„Hallo Kaisy“, ertönt eine zischende Stimme vom anderen Ende. Vor Schreck fällt mir fast mein Handy aus der Hand.

„Maxi?“, frage ich leise.

„Oh, ja! Hast du etwa vergessen, dass du mir mal deine Nummer gegeben hast, als wir zusammen auf dem Internat waren?“, fragt er höhnisch.

Ich schlucke schwer, denn darüber habe ich nie nachgedacht. Natürlich hat er meine Nummer, schließlich sind wir befreundet gewesen, bevor er ...,

bevor er versucht hat, mich umzubringen.

„Was willst du?“, zische ich.

„Warum so misstrauisch? Kann ich nicht einfach anrufen, um mit dir zu plaudern?“, fragt er höhnisch.

„Nein, kannst du nicht, weil du ein verlogener Mistkerl bist. Also spuck aus, was du mir zu sagen hast“, fahre ich ihn an.

Ich bin so angespannt, dass ich fast das Gefühl habe, Strom würde durch meine Adern fließen.

Er lacht auf, ihm scheint es Spaß zu machen, mir Angst einzujagen.

„Was willst du?“, frage ich.

„Sicher gehen, dass du mich nicht vergisst“, entgegnet er.

Eine Gänsehaut überzieht mich, und ich kann kaum noch atmen.

„Wie könnte ich dich vergessen“, flüstere ich.

Er schweigt, und ich überlege aufzulegen, doch er sagt, als hätte er meine Gedanken gelesen: „Leg lieber nicht auf, ich bin noch nicht fertig, und andernfalls muss ich eben bei dir zu Hause vorbeikommen.“ Er macht eine kleine Pause, um meine Nerven noch mehr zu strapazieren, und sagt dann: „Außer natürlich, du möchtest deine Mutter oder deine kleine Schwester mit reinziehen.“

„Lass sie da raus!“, fauche ich sofort. „Das ist eine Sache zwischen uns beiden!“

Er lacht auf – ein kaltes Lachen ohne jegliche Freude darin. „Das hier geht um sehr viel mehr, als nur uns beide. Du und deine kleinen Freunde von der ASOG, ihr tretet all das hier los. Ihr solltet lieber eure Finger von diesen Angelegenheiten lassen. Ihr wisst gar nicht, mit wie vielen Leuten und mit wieviel Geld und Macht ihr es zu tun habt.“

Ich schlucke schwer. Er hat recht – wir wissen zwar, dass es ein riesiges Netz gibt, aber wir haben nicht wirklich eine Ahnung von den Ausmaßen.

„Wir werden nicht wegschauen. Ihr bestehlt Menschen, ihr tötet sie, nur um an Macht und Geld zu kommen, und das wird ein Ende haben“, entgegne ich mit fester Stimme.

„Nein, Kaisy, das siehst du falsch. Manche Menschen müssen eben aus dem Weg geräumt werden. So ist unsere Welt eben“, meint er.

„Nein, so ist eure Welt. Diese verkehrte Welt, die ihr euch aufbaut. Voller Betrug, Macht und Gier.“

„Ich sehe schon, wir werden hier nicht auf einen Nenner kommen“, wirft er gelangweilt ein, als hätte ich ihm gerade eine stundenlange Moralpredigt gehalten.

„Mit dir werde ich niemals einer Meinung sein“, zische ich zurück.

„Schade, denn wie ihr wisst, haben wir überall unsere Finger im Spiel“, erwidert er. „Ihr hättet den Deal, den Jason euch angeboten hat, lieber annehmen sollen.“

Jason, der kleine Bruder meines guten Freundes Tommy, der vor einigen Monaten gestorben ist, arbeitet für Maxi und seine Leute. Ich kann mir nicht vorstellen, warum, aber es ist so und vor ein paar Wochen ist Jason zur ASOG gekommen, um uns das Angebot zu machen, dass sie uns nichts tun, wenn wir unsere Arbeit beenden.

„Ich bin gespannt auf unsere nächste Begegnung, Kaisy. Vielleicht ja direkt bei dir zu Hause ... Hätte doch was ...“

Mit diesen Worten beendet Maxi das Telefonat. Ich keuche entsetzt auf.

In meinem Kopf überschlagen sich alle Gedanken, und völlige Verwirrung und Verzweiflung breiten sich in mir aus. Maxis Leute sind einfach vollkommen skrupellos und unberechenbar. Er ruft bei mir an, einfach nur, um mir Angst zu machen – und es klappt auch noch.

Für die nächsten Minuten bin ich zu nichts mehr fähig.

Ich schaffe es noch, mich auf mein Bett sinken zu lassen, doch nach ein paar Minuten überschlagen sich meine Gedanken so sehr, dass mir der Kopf schmerzt.

Maxis Stimme zu hören hat so viele Erinnerungen und all die Fantasien und Albträume darüber, was er mit seinen Leuten anstellen könnte, wieder hochgeholt. Sie sind uns irgendwie immer einen Schritt voraus und ich habe immer mehr das Gefühl, dass sie mein Leben übernehmen; das Gefühl, dass sie entscheiden, wie mein Leben weitergehen wird. Nicht einmal meine Familie kann ich mehr besuchen ohne, dass sie mich beobachten und bedrohen.

Schließlich schaffe ich es, mich zu beruhigen und Luces anzurufen. Er meldet sich sofort, und als ich ihm von Maxis Anruf erzähle, spüre ich, wie bei ihm die Wut hochkocht. Bevor er auflegt, fragt er noch, ob ich mich sicher genug fühle, um hier zu bleiben, was ich sofort bejahe. Ich werde ihnen nicht die Genugtuung gönnen, dass ich meine Ferien zu Hause abbreche, nur weil ich Angst vor ihnen habe.

Nach dem Telefonat verlasse ich meine Zimmer.

Meine Mum und meine Schwester dürfen nichts von dem ganzen Chaos in meinem Leben wissen, also muss ich mich möglichst normal verhalten. Ich treffe meine Mutter in der Küche und sehe, dass sie das Abendessen schon komplett fertig gemacht hat.

„Tschuldigung, dass ich dir nicht geholfen habe. Ich musste oben noch …“, setze ich an, doch mir fehlt die passende Ausrede.

„Mit einem Jungen telefonieren?“, beendet Chiara meinen Satz von hinten. „Vielleicht demselben, wegen dem du in den Pfingstferien nicht nach Hause gekommen bist?“

„Sehr witzig. Du spinnst dir aber auch immer das zusammen, was dir gut passt, oder?“, entgegne ich und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich vor zwei Minuten noch mit einem Psychopathen telefoniert habe.

„Bin gleich fertig, kannst schon mal den Tisch decken“, flötet meine Mum aus der Küche, während sie in einem Topf rührt.

Ich greife mir Teller und Besteck und stelle alles auf den Tisch, und auch Chiara hilft mir.

„Ist schon ein Topfuntersetzer auf dem Tisch?“, fragt meine Mum, während sie den großen Suppentopf vom Herd nimmt.

„Nein, warte kurz!“, erwidere ich und schnappe mir einen Untersetzer.

Einige Minuten später sitzen wir alle am Tisch und haben einen leckeren, heißen Teller Suppe vor uns. Die Suppe kann ich nach diesen stressigen Minuten echt gebrauchen.

„Ist alles okay bei dir? Du bist so still?“, fragt meine Mum mich, und ich winke schnell ab. „Alles gut. Ich hab nur nachgedacht.“ Ich lächle sie breit an, damit sie sich keine Sorgen macht, und greife schnell nach meinem Löffel. Genau in dem Moment, in dem ich den Löffel an den Mund führe, klingelt es an der Tür.

„Wer ist das denn? Erwartet einer von euch Besuch?“,

fragt meine Mum und erhebt sich.

Ich schaue Chiara fragend an, aber sie schüttelt nur den Kopf.

Meine Mum verschwindet im Hausflur, und ich höre, wie sich die Haustür öffnet.

„Ja, hallo!“, sagt sie in überraschtem Tonfall.

„Hallo, Frau Kayser!“, erwidert eine andere Stimme, die mir sofort bekannt ist. Schneller, als ich denken kann, schieße ich zur Tür und erblicke Luces im Türrahmen.

„Was machst du denn hier?“, stoße ich aus.

Meine Mum dreht sich zu mir um und sieht mich fragend an. „Willst du mir deinen Besuch vielleicht vorstellen?“

Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass ich gerade alles lieber tun würde, aber statt mir ergreift Luces das Wort.

„Mein Name ist Luces. Ich bin ein Schulfreund von Kaisy, und ich bin während der Schulferien auch bei meiner Familie in Deutschland. Ich dachte, ich schaue vorbei, da sie ja heute Geburtstag hat“, erklärt Luces mit weicher Stimme, und ich sehe, wie meine Mutter dahinschmilzt. Wenn sie wüsste ...

„Und warum hast du mir nicht gesagt, dass er kommt?“, fragt mich meine Mutter, und ich versuche mit einem unbekümmerten Lächeln zu sagen: „Das muss ich vergessen haben. Mit der ganzen Überraschungsparty und dem Trubel hier.“

„Na ja, ist ja auch egal“, winkt sie ab und dreht sich wieder zu Luces. „Komm doch rein, und iss mit uns!“

„Ich glaube, Luces hat gerade keine Zeit, um mit uns zu essen“, sage ich mit harter Stimme und schaue Luces scharf an.

„Nichts da! Jetzt ist er hier, jetzt isst er auch mit uns!“,

erwidert sie, zieht Luces in den Flur und schließt hinter ihm die Haustür.

„Kaisy, holst du bitte schon mal einen vierten Teller und Besteck“, weist sie an, und ich gehe widerwillig in Richtung Küche.

Während ich die Besteckschublade öffne, sehe ich wie Luces hinter meiner Mum ins Wohnzimmer schlendert.

„Du bist dann wohl Chiara“, sagt er, als er am Tisch angekommen ist.

Schnell komme ich aus der Küche, um meine Familie nicht alleine mit ihm zu lassen.

„Und du bist dann wohl der Grund, weshalb Kaisy in den letzten Ferien nicht nach Hause gekommen ist“, erwidert meine Schwester mit zweideutigem Tonfall.

„Chiara“, sage ich in mahnendem Ton und stelle das Gedeck für Luces auf den freien Platz neben mir.

„Was hast du gesagt, Chiara?“, fragt meine Mum, die anscheinend nicht ganz zugehört hat.

„Nichts hat sie gesagt“, werfe ich schnell ein, bevor Chiara antworten kann.

„Gehst du denn in dieselbe Klasse wie Kaisy?“, fragt meine Mum neugierig, während ich Luces eine mikrige Portion Suppe gebe. Ich will dieses Familienessen so schnell wie möglich beenden, und das geht nur, wenn er schnell fertig ist; zum einen will ich unbedingt wissen, warum Luces hier ist, und zum anderen will ich Luces nicht so lange meiner Mum aussetzen.

„Nein, ich bin einen Jahrgang über ihr“, erwidert Luces mit weicher Stimme, und ich zische ihm zu:

„Übertreib’s nicht. Iss einfach.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Wir Kayser-Frauen haben eben lieber reifere Männer“, sagt meine Mum beschwingt, und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. So ein peinlicher Kommentar kann echt nur von ihr kommen ...

Ich hefte meine Augen auf meinen Teller, um Luces Blick auszuweichen.

Wir alle schweigen kurz, doch als ich Mums musternde Blicke nicht mehr ertrage, sage schließlich: „Mum, Luces und ich sind kein Paar. Er ist nur ein Schulfreund.“