Oliver Hell 'Todesstille' - Michael Wagner - E-Book

Oliver Hell 'Todesstille' E-Book

Michael Wagner

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Beschreibung

Der erste Band einer Trilogie: Oliver Hell findet zu Beginn des Romans einen toten Vogel auf seiner Terrasse. Doch kann er sich dem nicht lange widmen. Hell und sein Team – darunter auch Sebastian Klauk – jagen einen Mörder, der es auf junge erfolgreiche Frauen abgesehen hat. Er tarnt die Morde als Selbstmorde, lähmt seine Opfer mit Phenobarbital, damit sie ihren Tod mit wachen Sinnen erleben können. Die Presse nennt den Mörder bald den 'Siegsteig-Killer', weil er seine Opfer auf dem beliebten Wanderweg entlang des Flusses Sieg sucht. Bei einem der Morde wird er von Klauks Cousine Irina Lanau beobachtet. Sie fällt dem Killer in die Hände. Der Mörder erfährt, das Klauk Kriminalbeamter ist und droht damit, die junge Frau zu töten, wenn Klauk ihn nicht über die Ermittlungen auf dem Laufenden hält. Klauk geht darauf ein. Und lässt sich auf ein gefährliches Spiel ein. Kann er seine Cousine retten?

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Seitenzahl: 667

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Ähnliche


Oliver Hell

Todesstille

Von

Michael Wagner

Roman

Ungekürzte Ausgabe

1.Auflage

Im Januar 2015

Copyright © 2015 Michael Wagner

Textur by Ruth West.

Frame by Freepik.

Michael Wagner

Auf dem Beuel 10, 53773 Hennef

[email protected]

All rights reserved.

»Verschwende Deine Zeit nicht mit Erklärungen. Die Menschen hören nur, was sie hören wollen.«

Paulo Coelho

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Nachwort

Prolog

Der Mann hatte jetzt alles erledigt. Zufrieden hockte er neben einem dicken Baumstamm und schaute auf den Wanderweg unter ihm. Das dichte Blätterdach schützte ihn vor dem einsetzenden Regen. Die ersten Tropfen erreichten dennoch bereits den Boden, daher zog er sich die Kapuze seines grünen Anoraks tief ins Gesicht.

Er achtete sorgsam darauf, niemandem aufzufallen. Westlich von Bonn befand er sich in einem der beliebtesten Wandergebiete des Rheinlands, dem ‚Natursteig Sieg‘. Jetzt duckte er sich, denn eine Joggerin lief ungefähr zehn Meter an ihm vorbei. Sie bemerkte seine Anwesenheit nicht. Ein zufriedenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Der Mann warf noch einen letzten Blick auf sein Versteck, diese Stelle hatte er sorgfältig ausgesucht. Keiner würde ihn per Zufall hier finden. Unter den Blättern lag das verborgen, was er später benutzen würde. Später, wenn er jagen ging.

Kapitel 1

Donnerstag, 29.8.2013

Als Oliver Hell an diesem Morgen auf die Terrasse trat, fand er einen kleinen Vogel auf seiner Fußmatte. Der Vogel war tot.

»Na, du kleiner Pieper. Hast du es nicht geschafft?«, fragte er und beugte sich herunter. Es schien eine kleine Meise zu sein, man sah ganz deutlich, dass sie Opfer einer Katze geworden war. Hell stand auf, stellte seine Kaffeetasse auf den Gartentisch, ging zurück und fasste den kleinen Vogel an den Schwanzfedern, hob ihn hoch.

Einige Ameisen krabbelten auf dem Kopf des Tieres, vor allem um die Augen drängten sie sich. Hell schüttelte sich und beeilte sich, den Vogel in die Biotonne zu bringen. Schnell öffnete er den Deckel der Tonne und ließ den Vogel auf den Grasabschnitt fallen, den er am Vorabend dort hineingekippt hatte.

»Mach‘s gut, Pieper«, sagte er, ließ den Deckel zufallen und verfluchte die Katzen des Nachbarn, die auch immer auf seinem Grundstück herumliefen. Letzte Woche hatte eines der Viecher sogar auf seiner Fußmatte sein großes Geschäft verrichtet. Hell hatte die Matte hochgehoben, war an die Hecke getreten, die das Grundstück zum katzenfreundlichen Nachbarn trennte, und hatte die Katzenkacke in hohem Bogen darüber geschleudert.

Wieder kam ihm der Gedanke an einen Hund in den Kopf. Ein Hund auf dem Grundstück würde die Katzen fernhalten. Doch ein Hund kam bei seinen Arbeitszeiten nicht in Frage. Dafür war er viel zu selten daheim. Ein Hund würde vor lauter Einsamkeit jämmerlich eingehen. Das konnte er keinem Tier antun. So gerne, wie er einen Hund als Freund hätte.

*

Kortrijk, Belgien

Der Tag hätte kaum besser anfangen können. Swantje van Gelder hatte an diesem Morgen spontan an einem Gewinnspiel des lokalen Radiosenders teilgenommen. Man musste sich dort registrieren lassen, und wenn man ganz viel Glück hatte, rief jemand vom Sender an, um dem Gewinner des Tages die frohe Botschaft zu verkünden. Sie hatte mehrmals versucht, sich registrieren zu lassen, doch es klappte erst beim vierten Versuch. Schade um das Geld, hatte sie noch gedacht, denn jedes Mal flossen fünfzig Cent in die Kasse des Telefonanbieters.

Eigentlich ist es völliger Schwachsinn, hatte sie gedacht, dann aber doch noch ein letztes Mal angerufen. Und es hatte geklappt, sie konnte mit klopfendem Herzen ihren Namen und ihre Telefonnummer hinterlassen.

Sie hatte seit ein paar Tagen Urlaub und noch kein richtiges Ziel im Auge. Eine Flugreise kam für sie nicht in Frage, weil das Geld fehlte. Daher war die ausgelobte Reise in die Partnerschaft der belgischen Stadt Kortrijk sehr verlockend: ein verlängertes Wochenende in Bonn mit allem, was dazugehörte. Die Reise, das Hotel, Sightseeing und ein umfangreiches Sportangebot waren inklusive.

Nervös trat sie auf den Balkon ihrer Wohnung und betrachtete das Geschehen auf der Straße. Im Baum gegenüber war das Gurren einiger Tauben zu hören, auf der Straße strömten die Menschen zum Marktplatz oder kamen mit Einkaufstüten von dort wieder zurück. Eine Nachbarin grüßte von unten und Swantje winkte ihr freundlich zu. Sie sah ihr hinterher, wie sie im Hauseingang verschwand, kurz drauf hörte sie die Haustür zuschlagen.

Sie ging zurück ins Wohnzimmer, sah auf dem Tisch die ausgebreitete Tageszeitung liegen. Im Hausflur hörte sie die Schritte der Nachbarin verhallen. Sie nahm die Zeitung, um sie zusammenzufallen, als das Telefon klingelte. Im Hintergrund lief immer noch leise das Radio. Um Viertel vor zehn würde der Gewinner des Tages gezogen. Es war genau Viertel vor. Das verriet ihr ein Blick auf die große Uhr über dem Sofa. Das Anrufs-Jingle im Radio schrillte.

Ungläubig schaute sie das Telefon an. Sollte das wirklich der Radiosender sein?

Was wartest du? Los, sonst rufen sie einen anderen an!

Sie stürzte auf die Kommode zu, auf dem das Telefon stand, und riss das Mobilteil von der Ladeschale.

»Van Gelder«, meldete sie sich mit unsicherer Stimme.

»Hallo, hier ist Ihr Lokalradio, mein Name ist Gerit van Hoogendam. Sie haben sich heute Morgen für unser Gewinnspiel registriert, um die Reise nach Bonn zu gewinnen?«

»Ja, das habe ich«, sagte Swantje van Gelder ungläubig, doch es klang bereits ein wenig Freude mit.

»Swantje, herzlichen Glückwunsch, Sie dürfen die Koffer packen, Sie haben gewonnen, es geht am Wochenende auf nach Bonn!«, wiederholte die Radiomoderatorin.

Swantje konnte ihr Glück nicht fassen. Dem wilden Freudenschrei folgte ein ausgelassener Tanz um den Wohnzimmertisch.

»Ehrlich? Kein Scheiß? Ich habe noch nie etwas gewonnen, vielen Dank«, rief sie freudig ins Telefon.

»Nein, alles echt. Swantje, Sie haben gewonnen. Bonn wartet auf Sie. Bleiben Sie bitte am Telefon, wir müssen noch alles mit Ihnen besprechen.«

»Ja, sicher! Wow! Ich habe Urlaub und noch kein Ziel … und jetzt gewinne ich eine Reise nach Bonn … ich glaube es nicht!«

Sie konnte es nicht fassen. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie etwas gewonnen.

»Ja, aber sicher.« Erst jetzt realisierte sie, dass es tatsächlich ihre Stimme war, die dort im Radio zu hören war. Jetzt erklang wieder Musik, doch am Telefon hatte sie immer noch die Stimme der Moderatorin, die ihr freundlich zuredete, denn sie ließ immer wieder einen Freudenschrei los.

Als alles besprochen war, stand Swantje van Gelder in der Mitte ihres Wohnzimmers, freute sich wie ein kleines Kind. Am liebsten hätte sie alle umarmt. Die Nachbarn, die Menschen auf der Straße, selbst die gurrenden Tauben im Baum.

Hätte sie zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, dass sie eine Reise in den Tod gewonnen hatte, wäre sie bestimmt weniger glücklich gewesen.

*

Sankt Augustin

Nelli Rogosky hatte an diesem Tag das Gefühl, einen gebrauchten Tag erwischt zu haben. Dabei hatte dieser Tag noch gar nicht richtig begonnen. Sie wünschte sich das Wochenende herbei, doch leider war erst Donnerstag. Schon um sechs Uhr hatte sie sich an diesem Morgen auf den Weg gemacht, um früh genug im Büro zu sein. Punkt sieben Uhr hatte sie ihren Türschlüssel an den Codekarten-Leser im Eingangsbereich ihres Unternehmens gehalten. Der Schlüssel zu ihrer Bürotür enthielt einen Chip, der auch ihre Arbeitszeit speicherte.

Sie hatte es so eben noch geschafft, pünktlich zu sein. Grund dafür war mal wieder ein Stau auf der A565, der seit Anfang der Woche fast jeden Morgen auftrat. Doch an diesem Morgen hatte es auf der Autobahn einen Unfall gegeben, daher hechelte sie gerade eben noch rechtzeitig in die Lobby. Der Dame an der Rezeption konnte sie noch eben einen Gruß zurufen, dann spurtete sie auf den Aufzug zu und drückte mehrfach gehetzt auf den Knopf, der den Lift herbeiholen sollte.

Kaum öffneten sich im zweiten Stock die Türen des Aufzugs, als sie auch schon losrannte. Ihr Chef hasste es, wenn er morgens keinen frischen Kaffee auf seinem Tisch stehen hatte, wenn er das Büro betrat. Was sich wie ein typisches Klischee anhörte, war leider traurige Realität. Rastlos rannte sie über den Flur, sah mit einem Blick auf die Tür auf der rechten Seite, dass ihr Chef noch nicht in seinem Büro saß. Er hätte die Bürotür seiner Vorzimmerdame offenstehen lassen. Seine Vorzimmerdame war Nelli Rogosky, denn ihre Kollegin hatte ab heute Urlaub.

Im Vorbeigehen schaltete sie die Drucker ein, die der bescheuerte Wachmann wieder ausgeschaltet hatte. Wieder einmal hatte er das gelbe Post It abgerissen, das sie über den Einschaltknopf des großen Kopierers geklebt hatte. Noch den leisen Fluch auf den Lippen, schloss sie die Tür auf und warf ihre Handtasche achtlos auf ihren Bürostuhl.

Allzu rastlos und fürchterlich unruhig, über den möglichen Verlauf des heutigen Tages, wanderte sie zwischen dem Büro ihres Chefs und ihrem Vorzimmer hin und her. Nicht einmal das monotone Brummeln der Kaffeemaschine konnte sie beruhigen. Die Furcht, die ihre Kollegin ihr eingeflüstert hatte, brannte in ihrer Seele. Ihr Chef galt in der Behörde als der schlimmste Widerling, den man sich vorstellen konnte. Er selbst kannte seinen Ruf nur zu gut. Doch stand er kurz vor seiner Pensionierung, daher sah er es nicht ein, etwas daran zu ändern. Mit diesem Ruf würde er in Pension gehen. Ein gewisser Stolz begleitete ihn dabei.

Eine Kollegin steckte ihren Kopf durch den Türspalt.

»Ist er noch nicht da?«, zischte sie leise.

»Nein, noch nicht. Gottseidank, ich hatte schon wieder Stau auf der 565. So ein Blödmann ist in die Leitplanke rein«, antwortete sie und goss den Kaffee in die Frischhaltekanne. Als sie sich wieder zu ihrer Kollegin umdrehte, war diese verschwunden. Stattdessen stand ihr Chef in der Tür. Sie zuckte zusammen und ließ beinahe die Kanne fallen. Der Mann schaute sie an, dann wanderte sein Blick auf die Kanne in ihrer Hand.

Ohne ein Wort des Grußes raunte er ihr zu: »Hat Ihnen die werte Kollegin Adalbert nicht geflüstert, dass ich keinen Kaffee aus der Thermoskanne trinke? In fünf Minuten habe ich einen frischen Kaffee auf meinen Schreibtisch, verstanden?«, sagte er und ließ sie stehen.

Fantastisch, dachte sie und beeilte sich, einen neuen Filter in die Kaffeemaschine zu falten.

*

Bonn

Auf dem Weg ins Präsidium kaufte Hell sich noch ein paar Brötchen, von denen er eins schon auf der Fahrt aß. Als er den Dienstwagen in der Tiefgarage abstellte, streifte er die Krümel von der Hose und holte sein Sakko von der Rücksitzbank. Im Vorbeigehen bemerkte er, dass er dem Mercedes eine Wäsche spendieren sollte, und plante das für den Nachmittag ein. Für den heutigen Tag war nichts Besonderes geplant. Das Einzige, mit dem er heute endlich beginnen musste, war die Beurteilung seines Teams zu schreiben. Nach seinem Urlaub hatte er diese Anweisung auf seinem Schreibtisch vorgefunden. Mit Widerwillen hatte er sie durchgelesen, dann mit einer unwirschen Handbewegung vor sich auf den Tisch geworfen.

Was soll der Scheiß, hatte er vor sich hingemurmelt. Dann überflog er die anderen Schriftstücke und begab sich mit einem Anflug von Spott um den Mund auf den Weg zu Brigitta Hansens Büro. Sie hatte diese Leistungsbeurteilung angeordnet. Er war gespannt darauf zu erfahren, warum sie diesen Mist ausgerechnet jetzt anordnete.

Doch so weit kam er an seinem ersten Tag nach dem Urlaub in Dänemark überhaupt nicht. Auf dem Weg stolperte er förmlich über Staatsanwalt Überthür.

»Na, wenn das nicht unser Held ist«, sagte er und streckte ihm mit freundlichem Blick die Hand entgegen.

Hell wunderte sich einen Moment lang, wie Überthür an die Informationen gekommen war. In seinem Urlaub in Dänemark hatte er auf eigene Faust ermittelt, zwei Morde aufgeklärt und war von der dänischen Presse als Held gefeiert worden. Wie schnell sich die Nachrichten darüber auch in Deutschland verbreitet hatten, konnte er nicht wissen. Später am Tag hielt ihm Wendt mit einem Lächeln die Zeitung mit den vier Buchstaben hin. Dort konnte er sein Konterfei bewundern, zusammen mit einem typischen Bericht. Mürrisch warf er die Zeitung in den Papierkorb, aus dem Wendt sie wieder herausholte.

»Das rahme ich mir ein, Chef. Sie haben sicher nichts dagegen«, hatte er mit einem Augenzwinkern gesagt, »nur für den Fall, dass Sie noch einmal etwas über Alleingänge zu sagen haben!«

In dem Moment, als er Überthür nicht mehr aus dem Weg gehen konnte, hatte er von dem noch keinen Schimmer.

»Alles halb so wild«, antwortete er höflich und schlug ein. Überthür konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Haben Sie die Anweisung zur Mitarbeiterbeurteilung schon gefunden?«, fragte der Staatsanwalt.

Um nicht direkt wieder unangenehm aufzufallen, antwortete Hell artig und bestätigte, dass er die Unterlagen bereits in Arbeit habe. Überthür quittierte das mit einem erstaunten Blick und deutete mit einem Lächeln an, dass aus Hell vielleicht ja doch noch ein ordentlicher Beamter werden könnte.

Hell sparte sich auch hier einen Kommentar, dachte sich nur seinen Teil. Sie verabschiedeten sich und Überthür ging weiter. Hell setzte seinen Weg zum Büro der Oberstaatsanwältin fort.

Es war gegen halb neun, als er an ihre Tür klopfte.

In Brigitta Hansens Büro hatte es in der Zeit einige Veränderungen gegeben. Hell bemerkte es sofort, sie saß hinter einem anderen Schreibtisch, der weniger wuchtig erschien, als sein Vorgänger. Auch die Stühle waren neu. Er bemerkte, dass sie viel bequemer waren als die Alten, die noch aus der Anfangszeit des Präsidiums stammten.

»Sie haben sich neu eingerichtet«, sagte Hell, nachdem er Brigitta Hansen die Hand gegeben hatte und sich setzte.

»Ja, so dann und wann tut eine Veränderung gut«, sagte sie lächelnd und Hell hatte den Eindruck, dass sie damit eine perfekte Überleitung zu dem geschaffen hatte, was sie ihm mitteilen wollte.

»Dem kann ich nur zustimmen«, antwortete Hell und wartete. Auch die Oberstaatsanwältin kam ihm verändert vor, doch er konnte nicht direkt sagen, woran er das festmachen sollte. Sie machte einen frischeren Eindruck auf ihn.

»Haben Sie sich gut erholt in Dänemark?«

»Danke, ich kann nicht klagen.«

»Ihre Heldentaten sind ja bis hierher vorgedrungen«, sagte sie.

»Es wird maßlos übertrieben.«

»Ach ja, die dänischen Kollegen sind voll des Lobes über Sie.«

Hell überlegte einen Moment lang, ob Hansen tatsächlich mit Kommissar Pedersen telefoniert haben konnte. Innerhalb von wenigen Sekunden kam er zu der Überzeugung, dass er das seiner Vorgesetzten durchaus zutrauen konnte.

»Ja, wenn Sie das sagen, wird es stimmen«, antwortete er nur und strich ein wenig verlegen über die Stuhllehne. Das Leder fühlte sich gut an.

Der Blick der Oberstaatsanwältin wurde härter. Das Geplänkel hatte ein Ende, das spürte Hell sofort.

Sie beugte sich ein wenig nach vorne, faltete die Hände auf dem Tisch.

»Kommissar Hell, wir sind alt genug, um nicht um den heißen Brei herumzureden. Es geht um Ihr Burn-out. Sie müssen sich der Begutachtung einer Psychologin unterziehen.«

»Ich fühle mich hervorragend«, entgegnete er, doch er wusste genau, dass er einer solchen Begutachtung nicht aus dem Weg gehen konnte. Man gab keinem vermeintlich angeschlagenen Kriminalen eine Waffe in die Hand und man ließ ihn auch auf keinen Fall ein Team leiten.

Also hat Franziskas Heimlichkeit überhaupt keinen Sinn gemacht, dachte er. Seine Partnerin, Doktor Franziska Leck, hatte ihm während des gemeinsamen Urlaubs in Dänemark eröffnet, dass Oberstaatsanwältin Hansen sie gebeten hatte, ein psychologisches Gutachten über ihn zu erstellen. Scheinbar hatte die Polizeipsychologin darin aber ein Gefälligkeitsgutachten gesehen und angeordnet, dass Hell sich zu einer neuen Untersuchung einzufinden hatte.

Es hatteeine ernste Verstimmung in ihrer Partnerschaft gegeben, nachdem Franziska ihm diese Heimlichkeit gestanden hatte. Die Erste überhaupt. In den unbeschwerten Tagen vor diesem Geständnis hatten die beiden sogar darüber nachgedacht, zusammenzuziehen. Davon war jetzt keine Rede mehr. Weder er noch Franziska wagten es, das Thema anzusprechen.

Hell überlegte kurz, ob er sich offenbaren sollte und Brigitta Hansen verraten, dass er über ihre kleine Verschwörung Bescheid wusste, doch tat er es nicht.

»Sie machen auf mich auch einen guten und entspannten Eindruck, Kommissar. Also, sehen wir das Ganze doch positiv: wenn die Polizeipsychologin es ebenso sieht, haben wir diese lästige Angelegenheit schnell abgehakt!«, sagte sie und klang dabei selbst wie eine Psychologin.

»Wenn Sie das so anordnen, Chefin, dann machen wir es so.«

Was blieb ihn anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Er fühlte sich seit den Ereignissen in Dänemark besser als jemals zuvor. Den Grund dafür konnte er nicht nennen, dennoch war es so.

»Ich freue mich, dass Sie das so locker sehen, Hell.«

»Schwamm drüber, das ist schon in Ordnung. Aber was mich wirklich aufregt: Wer hat diese Leistungsbeurteilung angeordnet?«

Jetzt kam er zum Grund seines Besuches. Hansen lehnte sich spontan in ihrem Sessel zurück und zog die Augenbrauen hoch. Man konnte ihr deutlich ansehen, dass dieses Thema ihr kein Vergnügen bereitete.

»Warum?«

»Weil ich alle meine Leute schätze und keine Beurteilung schreiben möchte, ganz einfach.«

»Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als diesem Wunsch nachzukommen«, antwortete sie und Hell meinte für einen Augenblick etwas in ihren Augen zu sehen, was ihm nicht gefiel.

»Ist es ihr Wunsch?«

»Nein, ist es nicht. Ich habe auch nur die Order erhalten, ihnen den Auftrag zu erteilen.«

Hell begriff sofort, dass diese Anweisung eine Bugwelle des neuen Polizeipräsidenten war, der in Kürze sein Amt in Bonn aufnehmen würde. Auch Hansen musste sich fügen, wollte sie in ihrem Amt bleiben. Mit Überthür hatte sie einen Karrieristen unter sich, der keine Skrupel haben würde, über Leichen zu gehen.

»Im Ernst? Dann wollen wir schauen, dass Sie noch lange etwas von ihren neuen Möbeln haben, Frau Oberstaatsanwältin!«, sagte Hell und machte Anstalten, aufzustehen. Hansen hob die Hand und gebot ihm Einhalt.

»Bleiben Sie sitzen, Hell. Was ich Ihnen jetzt anvertraue, bleibt in diesem Raum«, sagte sie und ihr Ton bekam eine Vertraulichkeit, die Hell bislang nicht kannte.

Der Kommissar atmete tief durch, lehnte sich erneut in dem Ledersessel zurück und nickte ihr gespannt zu.

Hansen stand auf und ging zu der ebenfalls neuen Anrichte. Sie öffnete die Tür und er sah, dass in dem Fach einige Flaschen standen. Über die Schulter hinweg blickte sie zu Hell.

»Wollen Sie etwas trinken? Es könnte länger dauern.«

*

Der Hyundai Geländewagen rollte auf das Tor zu und Nelli Rogosky sah, das die Straße auf beiden Seiten frei war. Sie gab Vollgas und bog nach rechts ab. Vorbei an einer kleinen Gärtnerei fuhr sie bis zur nächsten Ampel, an der sie ebenfalls rechts abbiegen musste. Die B56 war um diese Zeit noch nicht so stark befahren, wie sie es eine halbe Stunde später sein würde. Daher konnte sie auch dort zügig vorankommen.

In ihrem Kopf spielten sich erneut einige Szenen des Tages ab. Ihr Vorgesetzter Friedhelm Müller hatte keine Chance ausgelassen, ihr zu zeigen, für wie unfähig er sie hielt. Sie hasste diesen Mann und nach dem heutigen Tag manifestierte sich wieder der Plan, die Abteilung zu wechseln oder sogar zu kündigen. Sie hatte schon ihre Fühler ausgestreckt, denn einige Abteilungen würden im kommenden Jahr nach Berlin verlegt. Dort sah sie ihre Chance. Friedhelm Müller würde dann schon pensioniert sein, aber auch derjenige, der ihn beerben würde, war kein Mann nach Nellis Geschmack. Sie hielt ihn für einen netten Kollegen, aber als Chef mochte sie ihn sich nicht vorstellen.

Sie fuhr weiter auf der B56, durchquerte Siegburg und näherte sich schneller als erwartet ihrem Ziel. Im Kofferraum des Geländewagens lag ihr Mountainbike. Ein fuschneues Radon-Bike, das sie sich vor zwei Wochen gekauft hatte.

Sie würde sich auf dem ‚Natursteig Sieg‘ den Frust des heutigen Tages aus den Beinen und vor allem aus dem Kopf fahren. Sie hatte die erste Etappe des beliebten Wander- und Fahrradweges gewählt, weil dort der ‚Natursteig Sieg‘ begann. Die Wanderwege dort waren meistens breit, es gab dort aber auch einige mittelschwere Anstiege. Sie fuhr zwar schon seit Jahren Mountainbike, aber mit dem neuen Radon war sie noch nicht ganz vertraut. Daher war dieser Teil des beinahe zweihundert Kilometer langen Wegesystems ideal zum Kennenlernen.

Gegen halb sechs erreichte sie den Parkplatz unterhalb des Hotel und Restaurant ‚Siegblick‘.

*

Die Gedanken kreisten um das Gespräch mit Brigitta Hansen. Oliver Hell saß in seinem Büro und starrte auf die Kaffeetasse, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Er strich mit dem Daumen über den Henkel. Neben sich lag das erste Bewertungsschreiben. Er hatte lange überlegt, mit wem er beginnen sollte. Christina Meinhold hatte er ganz nach hinten gelegt, da sie sich immer noch in ihrer Ausbildung zur Profilerin befand. Blieben noch Wendt, Klauk und Rosin übrig. Nach langem Überlegen hatte er sich für Sebastian Klauk entschieden, um sofort mit einem wachsenden Unbehagen festzustellen, dass er überhaupt nichts über seinen jungen Kollegen wusste. Die ersten Fragen befassten sich mit der Persönlichkeit. Klauk war ein netter umgänglicher Kollege, dem manchmal ein wenig Biss fehlte. Er war ein hervorragender Kriminalist mit einem sicheren Gespür. Doch fehlte ihm etwas, was Hell aber nicht wirklich störte. Klauk fehlte der Ehrgeiz. Er hatte sich für Wendt als seinen Stellvertreter entschieden, obwohl Klauk und Wendt die gleiche Dienstzeit vorzuweisen hatte. Doch Wendt besaß im Gegensatz zu seinem Kollegen Biss. Klauk nicht, er war eher nachdenklich. Das konnte Hell ihm vorwerfen, aber konnte er das auch so in der Bewertung schreiben? Was würde diejenigen, die seine Beurteilung lasen, daraus konstruieren?

Eigentlich sträubte sich alles in ihm, diese Bewertungen zu erstellen. Er hatte sein Team zusammengestellt und stand auch zu jedem seiner Leute. Er konnte sich auf jeden Einzelnen verlassen und vertraute jedem bedingungslos sein Leben an. In den letzten Jahren hatten sie genug brenzliche Situationen erlebt, daher konnte er diese Aussage treffen. So etwas sollte die Grundlage jeder Bewertung sein.

Unwirsch legte er den Bogen beiseite, nahm den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse und stellte sie auf der Anrichte ab. Was blieb, war die Unzufriedenheit über seine Aufgabe und das Gefühl, Sebastian Klauk besser kennenlernen zu müssen.

Er sah auf die Armbanduhr, es war halb sechs. Auf dem Gang vor dem Besprechungsraum standen ein paar Kollegen und unterhielten sich. Hell konnte sie durch die Glasscheiben beobachten. Sie verabschiedeten sich und gingen in verschiedene Richtungen davon. Einer hob die Hand zum Gruß, als er Hell in seinem Büro sitzen sah. Hell grüßte zurück.

Das Team war schon seit einer Stunde daheim. Sie hatten ihre liegengebliebene Büroarbeit erledigt und pünktlich Feierabend gemacht, was in ihrem Job wirklich selten vorkam.

Hell nahm seine Jacke und machte sich auf den Weg zum Aufzug.

*

Nelli Rogosky erreichte den Parkplatz zwischen Siegburg-Kaldauen und Siegburg-Stallberg. Auf der anderen Straßenseite ging es endlich in den Wald hinein. Seitdem sie am Hotel und Restaurant ‚Siegblick‘ losgefahren war, hatte sie sich hauptsächlich auf der Straße fortbewegt, dann den Hufwald durchquert. Kurz bedauerte sie, nicht sofort zu diesem Parkplatz gefahren zu sein. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass er oft überfüllt war, daher hatte sie den größeren Parkplatz vor dem Hotel gewählt. Außerdem war ihre Muskulatur dann bereits warm, wenn sie auf der anderen Seite der Straße in den Wald fuhr. Sie wartete, bis es der Verkehr zuließ, klickte ihren linken Schuh in das Pedal und trat in die Pedale. Bald hatte sie weichen Waldboden unter den dicken Reifen des Mountainbikes. Alles war noch recht neu, sie wusste nicht, wie sich das Bike in Kurven verhielt, sie kannte den Wirkungsgrad der Bremsen nicht und sie hatte auch keine Ahnung, wie sich die Reifen auf verschiedenem Terrain verhielten. Sie hatte ihre Lieblingsreifen aufgezogen. Auf den Flanken der Reifen stand weiß auf schwarz ‚Rubber Queen‘. Entgegen der Meinung vieler ihrer Mountainbike-Kollegen schwörte sie nicht auf ‚Fat Albert‘ oder einen anderen MTB-Reifen des Herstellers Schwalbe. Sie hatte immer gute Erfahrungen mit der ‚Gummi-Königin‘ gemacht.

Bis sie den Bereich hinter den Wohnhäusern verlassen hatte, indem man immer mit freilaufenden Hunden oder meckernden Spaziergängern rechnen musste, fuhr sie noch mit verhaltener Geschwindigkeit. Doch vor der ersten Steigung wechselte sie auf das mittlere Kettenblatt und schaltete zwei Gänge hoch. Die Reifen gruben sich in den trockenen Wandboden und das Mountainbike schoss voran. Sie liebte es, sich eine Steigung hinaufzutanken. Sie spürte die Kraft in ihren Oberschenkeln und sie bemerkte, wie gut diese Kaufentscheidung gewesen war. Sie hatte mehr ausgegeben, als sie es eigentlich wollte, doch das Bike schien jeden Euro mehr wert zu sein. Die Schaltung arbeitete präzise, auch bergauf. Sie freute sich bereits auf eine sehr spezielle Stelle. Links neben dem Wanderweg lag eine von den Bikern schon arg ausgefahrene Wanne, die circa zehn Meter oberhalb des Weges begann und sich circa drei Meter unterhalb des Wegeniveaus absenkte. Wenn man von oben herunterfuhr und die Senke erreichte, hatte man auf der anderen Seite das Gefühl, man führe eine steile Wand hinauf. Trat man nicht genug in die Pedale, rollte man rückwärts wieder hinunter und es war sehr gut möglich, dass man stürzte. Mit ihrem alten Bike hatte sie es immer geschafft. Sicher würde sich auch das ‚Radon‘ hier gut schlagen.

Sie schaltete herunter, ging aus dem Sattel und fuhr in einem Zug bis zu der Stelle, an der die Wanne links unter dem Weg lag. Sie klickte den rechten Fuß aus dem Pedal und hielt an. Sie schob die Lippen zu einer spitzen Schnute zusammen und in ihren Augen konnte man die Vorfreude sehen.

Sie musste einige Meter weiter oben nach links abbiegen, um zu der Stelle zu kommen. Die Wanne lag in der Abendsonne und der sandige Boden schien beinahe zu glühen. Sie fuhr weiter und folgte dem kleinen Pfad, bis sie oberhalb der Wanne angekommen war. Die Bremsen packten. Sie empfand es nicht als leichtsinnig, was sie jetzt tat. Jeder andere hätte mit einem noch unbekannten Bike keine solche Herausforderung angenommen. Doch genau das reizte sie. Sie löste die Bremsen, bis sie an der Kante der Wanne spürte, dass der Vorderreifen die richtige Position hatte. Löste sie jetzt die Bremsen vollständig, würde sie bergab schießen. Sie klickte ihren Radschuh ein, hielt die Balance und ließ beide Bremsen los. Mit einem Schrei raste sie bergab. Die breiten Reifen hielten perfekt die Spur. Alles ging so schnell, das Ganze dauerte keine fünf Sekunden. Nach drei Sekunden türmte sich schon die Wand auf der Gegenseite vor ihr auf, sie nutzte den Schwung aus und lenkte das Bike rechts an den Wurzeln vorbei, die im Laufe der Zeit freigelegt worden waren. Sie trat zweimal kräftig in die Pedale und stand schon oben. Die Bremsen packten zu und Nelli stieß erneut einen lauten Schrei aus, diesmal aus Begeisterung über ihr neues Fahrrad.

Sie freute sich sehr über ihre Entscheidung. Ihre Kolleginnen äußerten Unverständnis, als sie den Preis für das Fahrrad erfuhren. Sie entgegnete ihnen, dass sie lieber so viel Geld für ein Fahrrad ausgeben würde, als für eine Tasche von Dolce&Gabana.

Nach einem Schluck aus der Trinkflasche machte sie sich wieder auf den Weg. Kurz hinter der kleinen Steigung, in der die Senke lag, veränderte sich der Weg. Er wurde schmaler und Sträucher und Brennnessel wuchsen in den Fahrweg. Sie musste ein wenig kurven, um denen aus dem Weg zu gehen. Erneut ging es eine kleine Steigung hinauf, Nelli schaltete zurück, fuhr aber im Sitzen weiter. Sie liebte diesen Teil des Weges, weil es hier urwüchsiger und weniger durch den Menschen gestaltet war. Sie fuhr weiter, bis sie an einer Stelle ankam, wo sich auf der Talseite der Wald lichtete. Der freie Blick ins Tal wurde aber durch hier neu angepflanzte Bäume schon wieder behindert. Bald würde sie an einer Stelle vorbeikommen, an der eine Bank stand. Vor nicht allzu langer Zeit hatte man von dort einen herrlichen Blick ins Siegtal gehabt. Jetzt blickte man ins frische Grün.

Die Bank stand in einer Kurve, links davon ging ein schmaler Waldweg ab. Mit vollem Tempo kam sie den Weg entlang und sah im letzten Moment das weiß-blaue Absperrband, das zwischen einem Baumstumpf und einem Baum quer über den Weg gespannt war. Ein Pfeil wies in Richtung des links liegenden Waldweges. Nelli erkannte, dass auf dem Absperrband das Logo des Natursteigs zu sehen war. Waldarbeiter sperrten damit die Wege ab, um Spaziergänger und Sportler bei Baumfällarbeiten nicht zu gefährden.

Nelli war nicht traurig über diese Sperrung, kannte sie doch die Strecke und wusste, dass der Umweg über den Waldweg nur einen kleinen Zeitverlust bedeutete. Einige hundert Meter weiter führte er zurück auf den Hauptweg. Genau genommen bedeutete dieser Weg sogar mehr Fahrspaß, denn er führte über eine Wurzelstrecke und es brauchte fahrerisches Können, um hier entlang zu kommen. Der gesperrte Weg war im Vergleich eigentlich langweilig, er wurde nach einigen Metern wieder breiter. Sie überlegte nicht lange, wendete geschickt das Bike und schaltete zwei Gänge zurück. Gekonnt lenkte sie das Bike über die Wurzeln und vorbei an großen, aus dem Boden ragenden Steinen. Auf dem Waldboden dazwischen konnte sie frische Mountainbike-Spuren ausmachen. Sofort erwachte der Ehrgeiz in ihr. Vielleicht konnte sie die Sportler noch einholen. Das Bike lief traumhaft und sie hatte gute Beine für eine kleine Jagd. Links von ihr stand ein grünes Schild, das auf eine Wild-Ruhe-Zone aufmerksam machte. Heute musste sich das Wild in Acht nehmen, Nelli war unterwegs. Sie beachtete das Schild nicht weiter, schaltete stattdessen sogar noch hoch, denn der Weg wurde für ein kurzes Stück breiter. Hier konnte man beschleunigen, um für den angrenzenden schmalen Single-Trail genug Geschwindigkeit zu haben. Geschickt sprang sie über eine quer zum Weg verlaufende Wurzel. Daher bemerkte sie das Stahlseil, das über den Weg gespannt war, viel zu spät. Das Seil traf das Fahrrad genau oberhalb der Federgabel, sie wurde hochgeschleudert, die Schuhe lösten sich aus den Klickpedalen, das Bike bäumte sich auf und sie flog in hohem Bogen über den Lenker. Hart schlug sie mit dem Rücken auf einem Stein auf und schrie vor Schmerz auf. Benommen blieb sie liegen. Langsam sammelte sie ihre Gedanken.

So eine Scheiße, hoffentlich ist dem Fahrrad nichts passiert!

Welches Arschloch spannt denn hier einen Draht über die Fahrbahn?

Das waren ihre unmittelbarsten Gedanken, als der Schmerz nachließ und sie versuchte sich aufzurappeln.

Das Nächste, was sie sah, war eine weiße Gestalt, die auf sie zustürzte und dann spürte sie einen Stich in ihrem Oberarm.

*

Kortrijk, Belgien

Der Taxifahrer half ihr dabei, ihren Trolly aus dem Kofferraum zu wuchten. Swantje van Gelder hatte in diesem Moment die altbekannte Ahnung, viel zu viel eingepackt zu haben. Einen großen Teil des Gepäcks machte ihre Sportbekleidung aus. Die Radiomoderatorin hatte ihr versprochen, dass man am Rhein und an den Nebenflüssen wie Sieg und Ahr wunderbar biken und joggen konnte. Dementsprechend hatte sie Sportsachen für alle Eventualitäten eingepackt. Der Mann verabschiedete sich von ihr und sie zog den Trolly hinter sich her; die Türen des Bahnhofes öffneten sich automatisch. Noch hatte sie genug Zeit, der Zug in Richtung Deutschland fuhr erst in einer halben Stunde ab. Das euphorische Gefühl, das sie direkt nach dem Anruf des Radiosenders gehabt hatte, war einer inneren Freude gewichen. Diese Tage in Deutschland würden doch noch etwas Abwechslung in ihren bisher so ereignislosen Urlaub bringen. Unschlüssig sah sie sich auf dem Bahnsteig um, bis sie eine Bank fand, auf der sie die Wartezeit verbringen wollte. Sie holte ihren eBook-Reader aus der Vortasche des Trollys und begann zu lesen.

*

Der Mann starrte sie an. Mehr nicht. Er schien auf etwas zu warten. Ein paar Sekunden vergingen, ohne dass etwas geschah. Nelli Rogosky spürte, dass das unbeschwerte Leben, das sie bisher geführt hatte, in eine bedrohliche Schieflage geriet. Egal, ob sie nun Stress auf der Arbeit hatte oder nicht. Der Blick des Mannes, der über ihr kauerte, lag auf ihr, absolut mitleidlos. Eher mit einem Interesse, als betrachte er eingehend ein Versuchstier. Bisher hatte sie nicht gewagt, sich zu bewegen. Als sie sich aufrichten wollte, gehorchten ihre Muskeln nicht mehr.

Panik überfiel sie, sie wollte schreien, doch auch ihre Stimme versagte.

Über das Gesicht des Mannes huschte ein fieses Grinsen. Er hielt die Spritze hoch und Nelli konnte sehen, wie er zu lachen anfing.

»Nein, Mädchen, damit ist es vorbei.«

Diese Tatsache schien dem Mann großen Spaß zu bereiten.

Was meinte er damit?

Was hatte er ihr gespritzt?

Was hatte er vor?

Wieso wurde sie nicht bewusstlos?

Ihre Muskeln waren wie gelähmt, doch ihr Verstand funktionierte tadellos.

Sie sah, wie der Mann aufstand und fortging. Wohin ging er? Sie konnte ihren Kopf nicht bewegen, auch die Muskeln der Augen verweigerten langsam ihren Dienst.

Oh bitte lieber Gott, lass doch jemanden vorbeikommen!

Dieser Mann würde ihr irgendetwas Fürchterliches antun. Das wurde ihr schmerzlich bewusst. Sie war in der Gewalt eines Psychopathen, der sie mit irgendeinem Dreckszeug gefügig gemacht hatte. Eine Vergewaltigung schien noch das geringste Übel zu sein.

Sekunden später konnte sie nur noch in den Himmel starren und sah die wogende Bewegung der Baumwipfel im Abendwind. Wie friedlich. Wenn jetzt jemand vorbeikam, hatte sie eine Chance zu überleben. Sonst?

Diese absolute Hilflosigkeit machte sie wütend. So wütend, dass sie weinen wollte. Doch auch das ging nicht mehr.

Minutenlang lag sie so da. Der Mann blieb verschwunden. Sollte er gegangen sein? Würde das Martyrium vorzeitig beendet? Der Gedanke, dass womöglich jemand auf dem Wanderweg aufgetaucht war und der Mann sich hatte verstecken müssen, nährte ihre Hoffnung, das hier zu überleben.

Doch dann hörte sie Schritte und das Gesicht des Mannes tauchte wieder über ihr auf. Er vergewisserte sich, ob sein Opfer noch lebte.

Er hatte irgendeinen Gegenstand mit sich geführt, doch Nelli konnte nicht erkennen, um was es sich handelte. Erst als er sie rüde an beiden Armen hochzog und sie sich wie einen Sack über die Schulter wuchtete, erkannte sie das grobe Seil, dass er kurz neben ihr ablegte. Ihr Blick fiel auf ein Detail. Sie wollte schreien. Sie wollte toben. Sie konnte nicht.

Das Ende des Seils wies eine Schlinge und einige Wicklungen auf, so wie man sie von einem Henkersknoten her kannte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.

Würde sie jetzt sterben?

Auf diese Art?

Was hatte der Mann davon?

Der Kerl trug sie bis zu einem Baum, ließ sie dort zu Boden gleiten und sie konnte nur hören, aber nicht sehen, was nun geschah. Eine Minute verstrich. Dann hörte sie erneut die Schritte im Laub näher kommen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich jetzt befand. Noch in der Nähe des Weges? Die Chance, dass ihr jetzt noch jemand zu Hilfe kommen könnte, war astronomisch klein. Er kam zurück und kauerte sich neben sie. Er schien nicht sehr groß zu sein, aber muskulös. Und trotzdem hatte er alle Macht der Welt.

»Willst Du noch etwas sagen? Ach ja, du kannst ja nicht. Soll ich etwas für dich sagen? Bist du religiös? Glaubst du an Gott? Alle glauben ja an irgendetwas. Also wirst auch du an irgendein höheres Wesen glauben, stimmt’s?«

Er murmelte irgendetwas vor sich hin und verschwand erneut.

Wieder blieb sie minutenlang liegen. Wie lange hielt bloß die Wirkung dieses Scheißzeugs an? Sie versuchte in ihren Gliedmaßen ein Gefühl zu entdecken, vergebens.

Eine weitere Minute verstrich, bis er wieder neben ihr auftauchte, sie über seine Schulter warf und einige Meter mit ihr ging. Ihre Arme baumelten wie Pendel gegen seinen Bauch. Mit der rechten Hand packte er ihr Haar und riss den Kopf hoch. Doch fühlte sie keinen Schmerz dabei. Er ließ sie von der Schulter gleiten, hielt sie von hinten umfasst und stützte ihr Kinn mit der linken Hand ab.

»Hier wird alles enden. Schaue es dir genau an, Mädchen!«

Sie wollte die Augen vor der Wahrheit verschließen, doch sie konnte es nicht. Ihr starrer Blick fiel auf einen Baum, an dem ein dicker Ast gelehnt war, an dem mit grobem Seil einige stabile Äste als Treppenstufen befestigt waren. Das Ganze stellte eine Art primitive Leiter dar. Von einem Ast des Baumes hing ein Seil mit einem Henkersknoten herab.

Hier würde sie sterben! Und es sollte wie ein Selbstmord aussehen.

Sie hörte, wie der Mann schwer durch die Nase ausatmete, als er sie sich erneut auf der Schulter zurechtlegte und begann, die Leiter hinaufzuklettern. Eine fürchterliche Spannung baute sich in ihr auf, das Herz schien zu zerspringen. Wieder griff er ihr rüde ins Haar. Sie spürte nicht, wie sich das Seil um ihren Hals legte, sie spürte nicht, wie er es langsam zuzog.

»So soll es sein«, sagte er.

Was sie empfand, war der plötzliche freie Fall und der Ruck, der ihr das Rückgrat brach.

*

Bonn

»Wo ich bin, herrscht das Chaos, aber ich kann ja nicht überall sein«, sprach Jan Phillip Wendt in sein Mobiltelefon.

»Wann kannst du denn die Chaosbewältigung für heute einleiten?«, fragte Julia Deutsch und Wendt konnte an ihrem Tonfall erkennen, dass sie lächelte. Wendt lenkte seinen Mazda MX5 um die Kurve an der Oxford-Straße und stand sofort im Stau Richtung Kennedy-Brücke.

»Gib mir zwanzig Minuten, dann bin ich zur Stelle«, antwortete er und fragte sich angesichts des Staus, ob das nicht zu optimistisch war.

»Ich freue mich, der Wein steht schon kalt.«

Nachdem er das übliche schmatzende Kussgeräusch aus dem Lautsprecher vernommen hatte, legte er das Handy auf den Beifahrersitz. Die Fahrspur verengte sich und er reihte sich hinter einem anderen Cabrio ein. Die Fahrerin lächelte ihm zu, das konnte er in ihrem Rückspiegel sehen und Wendt lächelte zurück. Seit ein paar Wochen war aus einem notorischen Single ein braver Mann geworden. Aber gegen einen kleinen Augenflirt im Cabrio zum Feierabend würde auch Julia nichts sagen.

Er hing seinen Gedanken nach und dachte an die gefährliche Situation in Asbach, bei der sie sich kennengelernt hatten. Damals hatte er die unliebsame Aufgabe übernommen, einen Verdächtigen zu observieren. Dort war ihm die hübsche Joggerin aufgefallen. Und jetzt waren die Anwältin und er schon seit Wochen ein glückliches Paar.

Verträumt schaute er auf den Rhein hinunter und sah das Restaurant-Schiff, die China-Dschunke, am Beueler Ufer liegen. Radfahrer bahnten sich ihren Weg auf dem neugestalteten Radweg.

Mitten in die friedliche Stille auf der Brücke klingelte das Handy und machte sämtliche romantischen Pläne für den heutigen Abend zunichte. Wendt starrte ungläubig auf das Display, auf dem der Name seines Chefs zu lesen stand.

‚Hell ruft an‘ bedeutete um diese Uhrzeit nichts Gutes.

»Ja, Chef, was gibt’s? Sie spielen hoffentlich nicht den Rendezvous-Killer«, meldete er sich noch hoffnungsvoll.

»Sorry Wendt, genau das. Wir haben eine Tote im Kaldauer Wald bei Siegburg.«

»Was ist mit Klauk und Rosin?«

»Sind auch unterwegs.«

Damit war die Chance vorbei, sich aus der Nummer herauszustehlen. Wenn Hell das ganze Team zusammentrommelte, hatte er einen guten Grund.

»Die GPS-Daten schickt dir Sebi aufs Handy«, sagte Hell noch und beendete das Gespräch.

Na wenigstens stimmt die grobe Richtung, dachte Wendt. Julia Deutsch hatte ihre Kanzlei in Siegburg, obwohl sie in Asbach wohnte. Dann würden sie eben nach der Tatortbesichtigung in den Westerwald fahren, dachte er noch, in dem Wissen, dass es meist die ganze Nacht dauerte, bis er dann im Bett lag.

Das musste er ihr jetzt nur noch verkaufen. Mit hochgezogenen Augenbrauen wählte er ihre Nummer.

*

Siegburg

In der stillen Nebenstraße in Siegburg-Kaldauen wirkte die massive Polizeipräsenz wie ein Eingriff in den häuslichen Frieden. Oliver Hell stand am oberen Ende der Hirschbergstraße und wartete auf die Ankunft seines restlichen Teams. Lea Rosin stand einige Meter neben ihm und befragte einen Jogger, der aus einem der angrenzenden Häuser gekommen war. Klauk und Wendt würden sicher bald ankommen. Er wettete mit sich selbst, dass Klauk noch vor Wendt eintreffen würde.

Er sollte recht behalten, denn in diesem Moment sah er Klauks Golf hinter einem der Fahrzeuge der KTU anhalten. Der Schlacks stieg aus und reckte sich erst einmal. Als er Hell am Waldrand erkannte, hob er kurz die Hand. In der Straße standen einige Bewohner auf ihren Treppenabsätzen oder man sah sie hinter den Fenstern. Alle fragten sich, was um Himmels willen passiert war.

Lea Rosin trat neben Hell. »Der Mann hat gesagt, dass hier im Wald viele Sportler unterwegs sind. Jogger, Mountainbiker und Nordic-Walker. Er kann es von seinem Fenster aus beobachten. Auch gibt es hier sehr viele Wanderer, weil hier der ‚Natursteig Sieg‘ beginnt. Eigentlich beginnt er weiter unten im Ort, meinte er, aber viele würden von dem Parkplatz an der Hauptstraße starten. Daher sei hier immer etwas los«, berichtete sie.

»Danke dir Lea«, sagte Hell und strecke Klauk die Hand hin, um ihn zu begrüßen; der Kollege schlug ein.

»Wissen wir schon etwas?«

»Nein, eine Joggerin hat eine Tote im Wald gefunden. Sie hat sofort die Polizei angerufen und einen Notarzt. Der konnte aber nur den Tod der Frau feststellen. Sie soll sich erhängt haben.«

»Selbstmord? Warum sind wir dann hier?«, fragte Klauk und zog die Schultern hoch. Er hatte an diesem Abend selber eine Verabredung zum Sport mit seiner Cousine Irina Lanau gehabt. Diese Verabredung hatte er nun absagen müssen, was ihm extrem peinlich war, denn es war schon die zweite Absage in dieser Woche. Aber seine Cousine reagierte sehr verständnisvoll und sagte ihm, er solle sich keine Gedanken deswegen machen, es wäre sein Beruf. Irina war seine Lieblings-Cousine. Nein, eigentlich war sie ihm der liebste Mensch in seiner ganzen Verwandtschaft.

Klauk sah die Straße herunter, vorbei an den Polizeiwagen und den zwei Fahrzeugen der KTU.

»Wir sind doch immer die Vorhut«, antwortete Hell und beschloss, nicht mehr auf Wendt zu warten, »lasst uns gehen, Wendt kann nachkommen.«

»Ich kann auf ihn warten«, bot sich Rosin an.

»Nein, er kann sich durchfragen oder uns anrufen«, antwortete Hell mürrisch und ging los. Rosin wechselte einen fragenden Blick mit Klauk, der aber nur mit den Augenbrauen zuckte.

*

Als Doktor Stephanie Beisiegel am späten Nachmittag die Nachricht vom Fund der Toten im Kaldauer Wald erhielt, bat sie ihren Kollegen Plasshöhler, die Untersuchung zu leiten. Sie argumentierte, dass es sich aller Voraussicht nach dabei um eine Selbsttötung handelte. Als Grund schob sie einen privaten Termin vor, verschwieg ihm allerdings, dass sie nicht auf Oliver Hell treffen wollte.

Seitdem sie wieder aus Dänemark zurückgekehrt war, hatte sie jeden Kontakt zu ihrem Freund Hell vermieden. Ihr war klar, dass es über kurz oder lang zu einer Aussprache zwischen ihnen kommen musste, doch noch scheute sie den Kontakt.

Ihre Freundin Sarah, die in Dänemark in die Gewalt von Entführern geraten war, ging es wieder besser, doch war sie bisher noch nicht an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Das erlebte Trauma war zu belastend gewesen und sie scheute die Anwesenheit vieler Menschen. Der behandelnde Psychologe wagte keine Prognose abzugeben. Stephanie Beisiegel gab vor allem Hell die Schuld daran. Hätte er sich nicht in die Ermittlungen eingemischt, wäre auch Sarah nicht entführt worden. Noch in Dänemark hatte sie ihm angedroht, die Zusammenarbeit mit ihm einzustellen, sollte er sich nicht zurückhalten. Hell hatte sich natürlich nicht herausgehalten, Sarah wurde entführt und Hell von der dänischen Presse gefeiert wie ein Popstar, nachdem er die Zusammenhänge aufgedeckt hatte.

Hell wunderte sich daher auch nicht wirklich, dass er Dr. Plasshöhler an der Fundstelle der Toten antraf. Der Stellvertreter Beisiegels war ein akribischer Arbeiter, der von ihr meist viel zu schlecht behandelt wurde.

Als sie schon beinahe an einer Bank in einer Kurve angekommen waren, an der ein Beamter ihnen den Weg nach links wies, schloss von hinten Wendt im Laufschritt zu ihnen auf.

»Sorry, der Verkehr«, murmelte er als Entschuldigung und pustete durch, »ganz schön steil hier hinauf.«

»Wenn man langsam geht, geht’s Herr Doktor«, scherzte Klauk und Wendt knuffte ihm freundschaftlich in die Seite.

Sie gingen den Waldweg hinauf, den ihnen der Polizist angewiesen hatte, vorbei an den Mitarbeitern der KTU, die Mountainbike-Spuren auf dem sandigen Boden sicherten. Hell erkannte keinen der üblichen Mitarbeiter der KTU. Er wusste, dass der Leiter, Tim Wrobel, seinen Jahresurlaub auf Elba verbrachte, oder besser an Bord einer Segeljacht in den Gewässern vor der Insel. Aber auch Seib und Kirsch schienen nicht an diesem Fundort zu sein. Das Tageslicht Ende August reichte nicht mehr aus, daher hatten die Mitarbeiter der KTU Stromgeneratoren aufgestellt, deren lautes Brummen den Kommissaren den Weg zur Fundstelle der Toten wies.

Das Opfer lag auf einer hellen Plane, die von der KTU bereitgestellt worden war. Darüber war ein Zelt der KTU aufgestellt. Doktor Plasshöhler kniete neben der Toten, die ein knallenges Bike-Suit trug. Lea Rosin fiel sofort die athletische Figur der Toten auf.

Jemand hatte ihren Blick aufgefangen und näherte sich.

»Das sind Muskeln, was?«, sagte Heike Böhm und Oliver Hell freute sich, eine vertraute Stimme zu hören. Er begrüßte die junge Tatortermittlerin.

»Was meinen Sie, Frau Böhm?«

Heike Böhm stutzte, galten ihre Worte doch eigentlich Lea Rosin.

»Die Tote ist in einem guten Trainingszustand«, erklärte Rosin an ihrer Stelle und Heike Böhm beeilte sich zu nicken.

»Genau. Das Bike-Suit, das sie trägt, scheint neu zu sein, das Fahrrad ebenfalls.«

»Wo ist das Fahrrad der Frau?«, fragte Wendt, der in seiner Freizeit ebenfalls oft mit dem Mountainbike fuhr.

»Das Bike haben wir weiter hinten im Wald gefunden. Ein Kollege untersucht es gerade.« Sie zeigte in die Richtung, in die Wendt sich sofort aufmachte.

»Das schaue ich mir an«, sagte er lächelnd.

»Wer hat die Frau gefunden?«

»Eine Joggerin, die ist aber mittlerweile auf Anraten des Notarztes auf dem Weg ins Siegburger Krankenhaus. Sie hat einen Schock erlitten«, antwortete Böhm.

»Haben Sie bisher irgendwelche Spuren gefunden, die gegen eine Selbsttötung sprechen?«, fragte Klauk und Böhm schüttelte den Kopf.

Hell drehte sich um und ging zu Dr. Plasshöhler herüber, der noch etwas in sein Diktiergerät sprach. Er schaltete seine Taschenlampe aus und begrüßte Hell.

»Was können Sie sagen, Herr Doktor?«, fragte Hell und kniete sich neben die Tote. Die blauumränderten Strangulationsmarken am Hals waren noch gut zu sehen. Sie sah hübsch und gepflegt aus, die Fingernägel waren perfekt manikürt.

»Das Übliche, bevor ich die junge Frau nicht eingehend untersucht habe, kann ich nur vermuten. Wir wissen übrigens nicht, um wen es sich handelt. Sie hat keine Ausweispapiere bei sich, was aber bei Sportlern nichts Ungewöhnliches ist.«

Hell nickte, er selbst trug beim Sport auch nie Papiere bei sich.

»Diese Verletzungen, rühren die von einem Sturz her?«, fragte er und forderte den Doktor auf, ihm die Taschenlampe zu reichen. Dann leuchtete er den rechten Arm der Toten ab.

»Sehr wahrscheinlich, aber Genaueres sage ich Ihnen in der Gerichtsmedizin.«

Hell trat unter dem weißen Zelt hervor, was über der Toten aufgebaut war und schaute in Richtung des Lichtkegels, den einer der lichtstarken Strahler auf einen der Bäume warf. Von einem Ast baumelte noch der Rest des Seils herab, dessen anderes Ende am Baum befestigt war. Vor dem Baum stand eine Art Leiter, aus groben Ästen zusammengezimmert.

»Wer hat die Tote vor dort oben herunterholt?«

»Ja, das war wohl ein übereifriger Rettungssanitäter, der meinte, er könnte hier noch Wiederbelebungsmaßnahmen durchführen«, antwortete der Doktor mit einem Schulterzucken.

»Also hat mal wieder einer aus lauter Übereifer Spuren vernichtet!«

Er stieß laut den Atem aus und ging zu Lea Rosin herüber, die mit Klauk zusammen den Baum und die Leiter in Augenschein nahm.

»Was denken Sie, Chef? Wer fährt mit seinem flammneuen Mountainbike an einem Donnerstagnachmittag in den Wald und erhängt sich spontan an einem Seil, was einladend an einem Baum baumelt?«

»Wenn du mich so fragst: niemand. Aber die junge Frau dort spricht eine andere Sprache«, antwortete Hell und zeigte auf die Tote unter dem Zelt.

»Mal ganz im Ernst, diese Leiter hier kann sie unmöglich mit sich herumgetragen haben. Die KTU hat keinen Rucksack gefunden und für einen Bike-Rucksack wäre dieses Monstrum dort sowieso zu groß«, sagte Klauk.

»Sie scheint es geplant zu haben«, sagte Hell und betrachtete den Strick, der am Baum befestigt worden war.

»Seht ihr das? Der ist mit einem Knoten befestigt. Segelt einer von euch? Wie nennt man den Knoten, weiß das einer?«

Rosin und Klauk schüttelten den Kopf.

»Hallo, kennt einer von den hier Anwesenden den Namen dieses Knotens hier?«, rief Hell laut und die Mitarbeiter der KTU kamen herbei und betrachteten ihn. Einer nach dem anderen schüttelte den Kopf und ging zurück an seine Arbeit.

Hell zückte sein Handy und fotografierte den Knoten. Er murmelte etwas vor sich hin und steckte das Handy dann wieder ein, nachdem er eine Nachricht eingetippt hatte.

Er nahm die provisorische Leiter in Augenschein. Auch hier hatte jemand mit Knoten gearbeitet.

»Wir müssen herausfinden, ob die Tote sich mit solcherlei Knoten auskannte«, sagte er, »aber wir müssen zuerst einmal ihre Identität klären. Sebi, gibt es schon etwas Passendes in der Vermisstendatei?«

»Ich kümmere mich.«

Hell rief wieder einen der KTU’ler herbei.

»Bitte diese Leiter hier gesondert untersuchen. Wenn die Frau das selbst zusammengezimmert hat, muss man ihre DNA daran finden.«

Es war Heike Böhm, die sich darum kümmern wollte. Das gab sie Hell mit einem Nicken zu verstehen.

Wendt kam zurück, er drückte die Luft zwischen den Zähnen hervor.

»Das Bike hat schätzungsweise 2000,- Euro gekostet. Die Komponenten sind vom Feinsten, die Bremsen, die Hinterradschwinge und die Federgabel sind nicht von der Stange. Es kann sein, dass es sogar noch teurer war. So ein Bike kann ich mir nicht leisten«, sagte er und stieß noch einmal Luft zwischen den Schneidezähnen hervor.

»Lea meinte, es sei fast neu. Stimmt das?«, fragte ihn Hell.

»Der Kilometerzähler steht auf 22 Kilometer, die Reifen haben noch ihre Nöppchen an der Flanke, die Bremsen sind fuschneu. Das war sicher die erste Fahrt mit diesem Bike.«

»Wer kauft sich erst ein sündhaft teures Bike und hängt sich dann an einem Baum auf?«, fragte Hell in die Runde der Kollegen.

»Niemand«, antwortete Klauk schnell.

»Vielleicht jemand, der einen heftigen Schicksalsschlag nicht verwunden hat«, gab Lea Rosin zu bedenken.

»Das sind alles Mutmaßungen. Wir müssen die Tote identifizieren, dann erst können wir mit der Ermittlung beginnen. Sebi, hast Du schon etwas?«

Klauk schüttelte den Kopf. »Bei den Kollegen ist keine Frauals vermisst gemeldet, auf die die Beschreibung passt.«

Hell schob die Lippen zusammen. Diese Ungewissheit störte ihn.

»Was sagte dieser Jogger eben, Lea? Die meisten würden von einem Parkplatz an der Hauptstraße aus losfahren? Die Kollegen sollen diesen Parkplatz überprüfen und auch diesen Wanderweg weiter verfolgen.«

Der Wind frischte auf und die Baumkronen begannen sich zu bewegen.

»Lasst uns nach Hause fahren, der Tag war lang. Wenn sich etwas ergeben sollte, dann hört ihr von mir. Also plant einen alkoholfreien Abend ein. Macht’s gut«, sagte Hell und machte sich auf den Weg.

Die Kollegen sahen ihm hinterher, bis er außer Sichtweite war.

»Findet ihr nicht auch, dass er irgendwie verändert ist? Ich meine, seitdem er aus dem Urlaub zurückgekehrt ist. Wisst ihr, was ich meine?«, fragte Rosin und schaute fragend in die Runde.

»Wie? Verändert?«, fragte Wendt.

»Er ist irgendwie … anders«, sagte Lea Rosin, der aber die passenden Worte fehlten, um die Veränderung an ihrem Chef zu beschreiben.

»Ich finde, er ist einfach gut erholt. Vorher hatte er mit dem Burn-out zu kämpfen, das scheint Geschichte zu sein. Wir sollten uns freuen, dass er wieder der Alte ist«, antwortete Wendt und sah auf seine Armbanduhr, »sorry, Mädels, ich habe noch ein Date. Vielleicht geht ihr auch noch ein Bier trinken!«

Er kniff den Kollegen ein Auge zu und machte sich auf den Weg.

»Der Spinner, der ist auch komplett durchgeknallt, seitdem er seine Julia hat«, sagte Lea Rosin und machte eine abfällige Handbewegung.

»Neidisch?«, fragte Klauk grinsend.

»Auf Julia? Gott bewahre! Mit dem käme ich überhaupt nicht klar, mit diesem Macho.«

»Na gottseidank.«

»Was?«

»Nur so«, antwortete Klauk und sah, wie die Tote in einen Metallsarg gelegt wurde. Rosin folgte seinem Blick und fasste ihn sanft an die Schulter.

»Das Leben ist manchmal fürchterlich schnell vorbei«, sagte er und schämte sich für seine flapsigen Bemerkungen, die er kurz zuvor noch losgelassen hatte.

»Darf ich dich auf einen nichtalkoholischen Drink einladen?«, fragte Rosin und Klauk meinte, seinen Ohren nicht zu trauen. Er schob seine Augenbrauen zusammen.

»Du brauchst dir nichts einzubilden, ich möchte jetzt nur nicht alleine nach Hause fahren. Chrissie ist auch nicht daheim und ich habe keine Lust in meiner Bude Frust zu schieben.«

»Na, wenn das so ist, gerne!«, antwortete Klauk und beeilte sich, Rosin vor sich herzuschieben. Er hatte keine Lust, den Trägern zu folgen, die gerade den Metallsarg mit der toten Bikerin anhoben.

*

Der Zug aus Belgien lief planmäßig im Bonner Hauptbahnhof ein. Swantje van Gelder zog den Trolly auf den Bahnsteig und sah sich um. Man hatte ihr versprochen, sie von dort abzuholen. Sie reckte den Kopf und hielt Ausschau. Es waren nicht allzu viele Reisende, die hier ausstiegen. Die wenigen Fahrgäste kannten sich aus und der Bahnsteig leerte sich schnell. In der Tat stand in einigen Metern Entfernung ein Mann, der ein Pappschild in der Hand hielt. Neugierig ging sie auf den Mann zu und erkannte sofort ihren Namen, der auf dem DIN-A4 Papier geschrieben stand. Zwar hatte man sich bei ihrem Familiennamen verschrieben, dort stand ‚von Gelder‘ zu lesen. Doch das kümmerte sie recht wenig und sie gab sich zu erkennen. Der Mann, der eine dunkle Fahreruniform trug, strahlte sie an und griff sofort nach dem Griff ihres Trollys. Swantje ließ ihn gerne gewähren. Dann erkundigte er sich höflich, ob sie eine angenehme Reise gehabt hatte. Alles war bestens gewesen und das bestätigte sie ihm.

Die Fahrt mit dem hoteleigenen Shuttle ging in die Bonner Innenstadt und endete vor dem ‚Hotel Hilton‘ nahe der Kennedybrücke. Trotz der Konkurrenz durch das ‚Hotel Maritim‘ und das ‚Kameha Grand Bonn‘ hatte der Name ‚Hilton‘ immer noch einen guten Klang. Swantje van Gelder jedenfalls konnte mit dem Namen mehr anfangen und hatte natürlich auch ihr Quartier schon auf ihrem Tablet gegoogelt, nachdem sie erfahren hatte, in welchem Hotel sie wohnen würde. Sie konnte bisher nur alles bewundern, die Zugfahrt erster Klasse, das bequeme Shuttle; und als ihr der Page die Tür geöffnete hatte, und sie den Ausblick auf den Rhein der erste mal sah, freute sie sich wie ein kleines Kind. Sie sah die Brücke über den Rhein, sah die Schiffe und all die Menschen, die sich darauf befanden. Der Page stellte die Koffer vor dem Bett ab und verweilte einen Moment daneben. Swantje riss sich vom Fenster los, drückte ihm einen Fünfeuroschein in die Hand in dem Wissen, das das eigentlich eine viel zu fürstliche Entlohnung gewesen war. Doch das war ihr egal, sie hatte eine Reise gewonnen und da konnte man schon mal die paar Euro verkraften. Schließlich beinhaltete der Gewinn auch noch eine recht gut gefüllte Reisekasse. Mit Spannung erwartete sie jetzt das Abendessen, das in Diner-Form serviert werden würde. Extra für diesen Anlass hatte sie sich noch ein langes Abendkleid gekauft. Sie öffnete den großen Trolly und holte das Kleid als Erstes hervor. Kritisch begutachtete sie es und kam zu der Überzeugung, dass es vor dem ersten Einsatz nicht noch aufgebügelt werden musste. Sie hängte den Bügel mitsamt der Schutzhülle an den Schrank und trat erneut ans Fenster. Es war jetzt halb sieben und die Sonne wanderte langsam in Richtung Horizont. Das Diner war für halb acht angesetzt. Kurzentschlossen nahm sie die Codekarte, die der Page auf dem kleinen Beistelltisch abgelegt hatte, und kramte ihr Handy aus der Umhängetasche. Dann verließ sie das Zimmer, nahm den Fahrstuhl, durchquerte die noble Eingangshalle und fragte die Frau an der Rezeption nach dem schnellsten Weg zum Fluss. Lächelnd antwortete die Dame mit sicheren Worten, die sie sicher schon tausend anderen Gästen gegenüber verwendet hatte. Vor dem Hotel wandte sich nach rechts, um ein paar Selfies von sich am Rhein zu machen. Ihre Freundinnen würden platzen vor Neid, wenn sie diese bei Facebook sehen würden.

*

Kapitel 2

Freitag, 30.08.2013

Noch am Donnerstagabend erhielt Hell die Antwort von Tim Wrobel, zusammen mit einem Foto. »Zimmermannsknoten«, war der knappe Text der App, die ihm der Chef der KTU geschickt hatte. Er verglich sein Foto auf dem Handy mit dem aus der App. Sie waren identisch.

Die Kollegen hatten am Abend noch ein Auto auf dem Parkplatz unterhalb des Hotel und Restaurant ‚Siegblick‘ aufgefunden und eine eilig durchgeführte Halterabfragung hatte ergeben, dass es sich um das Fahrzeug der Toten handelte. Ihr Name war Nelli Rogosky und sie wohnte in Bonn-Tannenbusch. Ein Team der KTU würde am Morgen ihre Wohnung untersuchen.

Das Fahrzeug wurde noch in der Nacht vom Abschleppfahrzeug der KTU abgeholt. Sofort begannen die Kollegen mit der Untersuchung.

Sie saßen im Besprechungsraum. Vor ihnen auf dem Tisch standen dampfende Kaffeetassen. Anwesend waren Lea Rosin, Sebastian Klauk und auch Jan-Phillip Wendt, der sogar als Erster an diesem Freitagmorgen im Büro aufgetaucht war.

Hell stand vor der Glaswand und resümierte. Die junge Frau war tot. Doch die Umstände ihres Todes waren mehr als fragwürdig. Sie hatte sich im Wald mit einem Henkersstrick erhängt. Da alle Anwesenden auch am Fundort gewesen waren, ersparte er sich weitere Details. Gerade als er mit der Erklärung über den speziellen Knoten geendet hatte, betrat Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen den Raum und hatte natürlich den unvermeidlichen Überthür im Schlepp. Nach ein paar Blicken und noch recht müden Begrüßungsfloskeln setzten sie sich an den Tisch.

»Schon am frühen Morgen vollzählig«, flachste Überthür und erntete dafür nur mitleidige Blicke, was ihn dazu veranlasste, sich zu erklären, »ich meine, am frühen Morgen schon die große Besetzung. Was können wir denn bis jetzt sagen? Handelt es sich um eine Selbsttötung?«

»Das können wir noch nicht sagen«, antwortete Hell wahrheitsgemäß.

»Was können Sie denn sagen, Hell?«, fragte Hansen und strich sich eine Strähne aus der Stirn.

»Die Tote heißt Nelli Rogosky, ist … war siebenundzwanzig Jahre alt und sie schien eine engagierte Sportlerin zu sein. Und jetzt ist sie tot. Die Umstände ihres Todes werfen Fragen auf. Bis wir die Obduktionsergebnisse von Dr. Plasshöhler vorliegen haben, die eventuell etwas anderes besagen, müssen wir von einem Suizid ausgehen.«

»Und was sagen die anderen?«, fragte Überthür.

»Das Fahrrad der Toten war sündhaft teuer, ihre Sportkleidung ebenso und alles erscheint fuschneu. Die KTU untersucht gerade ihre Wohnung, wir werden ebenfalls gleich dorthin fahren, wenn wir hier die Aufgaben verteilt haben«, antwortete Wendt für seine Kollegen.

»Interessant scheint die Tatsache zu sein, dass verschiedene Knoten benutzt wurden.«

Hell stand auf und nahm die Fotos von der Glaswand und reichte sie Brigitta Hansen.

»Was sind das für Knoten?«

»Ich habe Tim Wrobel ein Foto geschickt. Er meint, der Knoten, mit dem das Seil am Baum befestigt wurde, sei ein Zimmermannsknoten. Die anderen, die bei der Leiterkonstruktion benutzt wurden, sind noch nicht bekannt. Die KTU ist aber dran.«

Brigitta Hansen nickte und reichte die Fotos weiter an ihren Kollegen.

»Warum belästigen Sie einen Kollegen im Urlaub?«, fragte Karl-Heinz Überthür mürrisch.

»Weil Tim Wrobel ein begeisterter Segler ist und ich mir sicher war, dass er den Knoten sofort erkennen würde.«

»Ich bin auch ein passionierter Segler«, antwortete Überthür beinahe vorwurfsvoll.

»Ach ja?«, fragte Hell, dem ziemlich egal war, mit welchen sportlichen Aktivitäten dieser Mann seine Freizeit verbrachte. Überthür warf ihm einen kritischen Blick zu, doch Hell beachtete ihn nicht.

»Woher hatte sie diese provisorische Leiter? Auf ihrem Fahrrad mitgebracht?« Hansen betrachtete den sich eventuell anbahnenden Streit mit Missbilligung.

»Das können wir nicht beantworten. Diese Leiter ist in der KTU, ebenso wie alles andere, was mit diesem mysteriösen Todesfall zu tun hat«, antwortete Hell.

»Gibt es Angehörige, die informiert werden müssen? Sie sollten nicht aus der Presse davon erfahren«, sagte Überthür.

»Solange es offiziell als Suizid gilt, wird die Presse nichts berichten. Die Eltern wohnen hier in Bonn. Ob sie einen Freund hatte, wissen wir noch nicht«, antwortete Lea Rosin.

»Wir müssen auch ihren Arbeitgeber informieren. Kennen wir den schon? Vielleicht hatte sie auch Urlaub.«

»Die KTU hat in ihrem SUV Kleidungsstücke gefunden. Sie scheint sich nach der Arbeit umgezogen zu haben und eine Zutrittskarte, wie man sie für einen Kartenleser benutzt, befand sich ebenfalls unter ihren persönlichen Dingen. Wir werden später dorthin fahren.«

»Sehr gut, dann halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Hansen und stand auf.

»Sicher, Sie erhalten einen detaillierten Bericht, sobald es etwas zu berichten gibt.«

Überthür stand ebenfalls auf und warf Hell einen feindseligen Blick zu. Der letzte Satz zielte auf den Staatsanwalt ab, mit dem Hell schon eine unselige Diskussion über das termingerechte Abgeben von Ermittlungsberichten geführt hatte. Er hatte deswegen sogar eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Hell angestrengt. Hansen hatte das gerade noch abbiegen können und Überthür hatte sich eine mächtige Standpauke seiner Vorgesetzten anhören müssen.

Kurz drauf fiel die Glastür ins Schloss und die beiden Staatsanwälte gingen hinter der Glaswand entlang, die den Besprechungsraum vom Flur trennte. Hansen blieb stehen, schien dem Kollegen etwas Unangenehmes zu sagen und dieser antwortete gestikulierend. Ihre Worte drangen nicht mehr bis in den Besprechungsraum.

»Er kann es nicht lassen«, sagte Wendt und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Platz, auf dem zuvor noch Überthür gesessen hatte.

»Lassen wir ihm seine Spielchen«, sagte Hell augenzwinkernd und befestigte die Fotos wieder an der Glaswand. Dann verteilte er die Aufgaben für den Vormittag. Klauk und Wendt würden sich um die Ergebnisse der KTU und um den Arbeitgeber kümmern, er selbst würde zusammen mit Rosin die Eltern aufsuchen. Gegen halb zwölf setzte er ein neues Meeting an.

*