Ondragon 3: Nullpunkt - Anette Strohmeyer - E-Book

Ondragon 3: Nullpunkt E-Book

Anette Strohmeyer

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Beschreibung

Das Wrack eines verschollenen Nazi-Flugzeugs wird vor der Küste Brasiliens entdeckt. Eine Sensation. Doch noch sensationeller ist das, was sich in dem Flugzeug befunden haben soll: eine geheime Technologie des Erfinders Nikola Tesla, mit der die Nazis den Krieg gewinnen wollten. Doch die Fracht ist nicht an Bord. Wo ist sie geblieben? Paul Ondragon bekommt vom BND den Auftrag, das Logbuch des Flugzeugs zu stehlen, denn es enthält Informationen über den Verbleib jener ominösen Fracht. Mit seiner Assistentin Charlize fliegt er nach Brasilien und beginnt die Operation "Pandora". Doch er merkt nicht, dass ihn jemand beobachtet, jemand, der das gleiche Ziel hat wie er: das geheimnisvolle Logbuch.

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Ondragon: Nullpunkt

Anette Strohmeyer

Originalausgabe

»Band 3«

I. Auflage © 2014

ISBN 978-3-942261-67-8

Lektorat: Hendrik Buchna

Cover-Gestaltung: bürosüd, München

© 2014 Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung, der Vertonung als Hörbuch oder -spiel, oder der Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, Video oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile, sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

Prolog

18. Juli 1899Colorado Springskurz nach 11 Uhr morgens

Philemon Ailey stieg aus dem Zug, streckte seinen gepeinigten Rücken und wandte das Gesicht dem klaren Sommerhimmel entgegen. Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Was für eine Reise! Fünf Tage und Nächte auf einer holperigen Bahnstrecke in einem Waggon zweiter Klasse. Zweitausend Kilometer, harter Sitz, harte Sitznachbarn! Irgendwelche religiösen Fanatiker auf dem Weg nach Westen, Salt Lake City. Ihm tat nicht nur sein Gesäß weh, sondern auch sein Nacken vom ewigen Wackeln und Ruckeln des Zuges. Philemon holte sein Taschentuch hervor und schnaubte leise hinein. Seine Nase war gereizt vom rußigen Qualm der Lokomotive, denn kurz vor Colorado Springs waren sie durch mehrere Tunnel gefahren.

Er steckte das Taschentuch wieder weg und hob den Koffer auf. Zuerst einmal wollte er ins Hotel. Dort würde er in aller Ruhe auspacken und sich irgendwo in einer Kneipe ein kühles Bier gönnen, falls es so etwas hier in diesem Nest überhaupt gab. Philemon ließ seinen Blick über den verlassenen Bahnsteig gleiten. Im Westen war eine Ansammlung von Holzhäusern zu sehen, dahinter erhob sich ein majestätischer Gipfel aus den Rocky Mountains. Der berühmte Pikes Peak. Und im Osten öffnete sich der Blick auf den vornehmen Teil von Colorado Springs mit seinen viktorianischen Steinhäusern.

Philemon nahm seinen Koffer, ließ das Bahnhofsgebäude hinter sich und ging durch einen kleinen Park auf eine Baustelle zu, auf der es geschäftig zuging. Er sprach einen der Arbeiter an und fragte nach dem Weg.

„Das Alta Vista Hotel?“, rief der Bauarbeiter und wischte sich über die Stirn. „Biegen Sie da vorne an der Cascade nach links ab, es liegt nur einen Häuserblock entfernt.“

„Was bauen Sie hier?“, wollte Philemon wissen.

„Das neue Antlers Hotel. Das alte ist letztes Jahr abgebrannt.“

„Aha, vielen Dank.“ Philemon tippte sich an den Hut und ging in die ihm beschriebene Richtung. Die breite Cascade Avenue war wie alle anderen Straßen eine staubige Piste, gesäumt von Eichen und Wohnhäusern. Es sah aus, als hätte man einen Straßenzug aus Queens mitten in die Prärie gestellt und den Rest vergessen. Neugierig beobachtete er die Passanten. Ein Einspänner rumpelte an ihm vorbei.

„Kutsche, Sir?“, rief der Chauffeur ihm zu.

Philemon winkte dankend ab. Er wollte das Geld sparen und den kurzen Weg zu Fuß laufen.

Wenige Minuten später stand er vor dem dreigeschossigen Backsteingebäude des Alta Vista Hotels. In der kleinen und gemütlich eingerichteten Eingangshalle nahm er seinen Hut ab und trat an die Rezeption.

„Guten Tag, ich bin Philemon Ailey aus New York City.“

Der Herr hinter dem Empfangstresen trug eine schwarze Livree. Unter seinem sorgfältig gezwirbelten Schnurrbart erschien ein unverbindliches Lächeln.

„Ah, Sie werden bereits erwartet, Sir. Wenn Sie bitte hier unterschreiben möchten.“ Der Concierge reichte Philemon ein Formular und er signierte es.

„Aufrichtigen Dank, Mr. Ailey. Gestatten Sie, dass ich frage, wie viel Gepäck Sie dabeihaben?“

„Nur diesen Koffer hier.“

Der Concierge hob die Brauen „Ah, jaja soso. Nun denn, der Page wird das Gepäck auf Ihr Zimmer bringen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Colorado Springs!“ Er verneigte sich und grinste dabei leicht spöttisch.

Irritiert ließ Philemon sich auf sein Zimmer geleiten. Es lag im ersten Stock mit Blick auf die Straße. Das war nicht gerade „Alta Vista“, dachte er, zur anderen Seite hin hätte er eine prima Aussicht auf den Pikes Peak gehabt. Es erwies sich wohl als richtig, was er in New York über den Mann gehört hatte, der in Kürze sein neuer Arbeitgeber sein sollte. Die billigen Zimmer für das Personal, während der feine Herr persönlich in den besten Gemächern residierte. Aber er wollte sich nicht schon jetzt darüber beschweren. Schließlich hatte sein neuer Dienstherr einen vorauseilenden Ruf von Weltrang, und es war eine Ehre, für ihn arbeiten zu dürfen.

„Was ist das für ein Koffer?“, fragte Philemon den Pagen und zeigte auf ein riesiges Ungetüm von einem Kasten, der mitten in seinem Zimmer stand.

„Oh, verzeihen Sie, Sir. Der gehört dem Gast, der vor Ihnen hier gewohnt hat. Wir haben den Auftrag, ihm das Gepäck hinterherzuschicken. Es ist wohl vergessen worden, den Koffer abzuholen. Ich werde unverzüglich veranlassen, dass man ihn aus dem Zimmer schafft.“

„Gut.“ Philemon drückte dem Pagen ein paar Cent in die Hand und schloss die Tür. Nachdem er seine nicht besonders umfangreiche Garderobe in den Schrank gehängt und seine Schreib- und Studienutensilien in eine kleine Ledertasche verfrachtet hatte, machte er Probeliegen auf dem Bett. Die Matratze war etwas durchgelegen, aber er würde hier ruhig schlafen können. Philemon sah auf die silberne Taschenuhr seines Vaters und sprang federnd aus dem Bett. Es war Mittag, höchste Zeit, etwas zu essen. Am Waschtisch machte er sich ein wenig frisch und kämmte sein Haar ordentlich. Dann setzte er den Hut auf und begab sich nach unten in die Lobby, wo er den Concierge nach einem guten, aber günstigen Restaurant fragte.

„Nun, da empfehle ich Ihnen das Benson‘s neben dem Elk Hotel. Es befindet sich auf der Pikes Peak Avenue. Gehen Sie einfach zu der großen Baustelle und dann nach links. Die Pike Peaks Avenue ist unsere schönste Straße hier im Ort.“

Na, das will ja was heißen, dachte Philemon, der im fabelhaften New York aufgewachsen war, dessen stählerner Herzschlag in einem unermüdlichen Rhythmus schlug, Tag und Nacht. Das beschauliche Colorado Springs war für ihn gleichbedeutend mit tiefster Provinz … auch wenn der Kurort sich überraschend zivilisiert präsentierte.

Mit einem Liedchen auf den Lippen schlenderte er los. Die Sonne wärmte seine Glieder und die frische Bergluft war eine Wohltat für seine Lungen. Langsam vergaß er die Strapazen der Zugfahrt und ein Lächeln huschte über sein Gesicht – immerhin das hatte Colorado Springs schon geschafft: Er fühlte sich besser. Das Klima in dem Kurort am Fuße der Rockies schien wirklich außergewöhnlich förderlich für das körperliche Wohlbefinden zu sein.

Auf der Pikes Peak Avenue hatte Philemon keine Mühe, das Benson‘s zu finden, und kehrte ein. Der Speiseraum, in dem etwa ein Dutzend Tische standen, wurde vom hereinflutenden Sonnenlicht erhellt. Das Restaurant war gut gefüllt, aber Philemon entdeckte noch einen Platz am hinteren Ende des Tresens. Er studierte die Karte, die mit fettigen Fingerabdrücken übersät war, und bestellte beim Wirt ein Lammstew und dazu ein Bier.

„Hier gibt’s keinen Alkohol, Sir! Ist verboten, Mr. Palmer will eine saubere und sichere Stadt!“, sagte der Wirt. Mit seinem dichten, schwarzen Vollbart und dem weißen Hemd mit hohem Kragen sah er aus, als käme er direkt von der Kanzel.

„Wer ist Mr. Palmer?“, fragte Philemon.

„Der Gründer dieser Stadt und Präsident der Denver and Rio Grande Railroad Company.“

„Aha“, entgegnete Philemon einsilbig. Die Aussicht, mehrere Monate oder noch länger hier an diesem freudlosen Ort ohne Alkohol ausharren zu müssen, war nicht sonderlich erheiternd. Nicht, dass er in den New Yorker Tavernen viel trank, aber was war das Leben ohne ein erfrischendes Bier? „Und was können Sie mir stattdessen empfehlen?“

„Rootbeer, Soda, Coca-Cola, Kaffee oder Tee?“

„Ich nehme Coca-Cola, danke.“ Wenn es schon kein Bier gab, dann wollte er sich wenigstens auf andere Weise erfrischen. Coca-Cola war ihm zwar zu süß, aber dieses neumodische Getränk löschte wenigstens den Durst. Während er auf sein Essen wartete, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Das Etablissement war schmuddelig, hatte eine vergilbte Holztäfelung und Stockflecken an der Decke. Die ausnahmslos männlichen Mittagsgäste aßen hastig oder unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Bläuliche Rauchschwaden stiegen von den Tischen empor, an denen man sich eine Zigarre zur Verdauung angezündet hatte. Wenigstens Rauchen war hier erlaubt.

Sein Lammeintopf wurde gebracht, und Philemon begann zu essen. Schmeckte nicht schlecht. Auch die Coca-Cola war einigermaßen kühl und prickelte angenehm auf der Zunge. Er stieß einen zufriedenen Seufzer aus, was den blonden Kerl, der neben ihm am Tresen saß, dazu veranlasste, sich zu ihm umzudrehen.

„Ich habe vorhin mitbekommen, dass Sie nicht von hier sind, Sir“, sagte er.

„Ich bin aus New York City“, erwiderte Philemon.

„Sind Sie ein Kurgast?“

„Nein, ich werde hier arbeiten.“

„Ah. Ein neuer und rechtschaffender Bürger dieser aufstrebenden Stadt!“ Der Kerl beugte sich vor, so dass Philemon seinen muffigen Körpergeruch wahrnehmen konnte, und flüsterte verschwörerisch: „Wenn Sie mal ordentlich einen wegzischen wollen, dann müssen Sie nach Colorado City oder Manitou Springs fahren, dort gibt es alles, was das Männerherz begehrt.“ „He, Joe!“, polterte der Wirt dazwischen. „Mach mir meine Kunden nicht abspenstig!“

„Wenn es hier doch aber so furztrocken zugeht wie zwischen den Beinen einer Nonne, dann muss man den armen Leuten doch sagen, wo sie ein wenig Spaß finden können!“ Der Blonde lachte lauthals und seine Tresennachbarn stimmten mit ein. Säuerlich verzog der Wirt den Mund.

„Vielen Dank für die Information“, entgegnete Philemon leicht pikiert und zog seine Geldbörse hervor.

„Nichts für ungut, Kumpel.“ Die Hand des Blonden krachte auf seine Schulter. „Aber so ist das hier eben. Nur so nebenbei, wie werden Sie Ihr Einkommen hier in Colorado Springs bestreiten, wenn man fragen darf?“

Philemon hatte wenig Lust zu antworten, der Kerl ging ihm auf die Nerven, aber alle, die das Gespräch mitgehört hatten, sahen ihn erwartungsvoll an.

„Nun, ich bin Elektroingenieur und werde für einen gewissen Dr. T–“

Ein entferntes Donnergrollen wischte den Männern das Grinsen aus den Gesichtern. Die Gespräche verstummten jäh und düsteres Schweigen sank auf die Tische nieder. Jemand fluchte verhalten, ein anderer bekreuzigte sich.

„Was war das? Ein Gewitter?“, fragte Philemon in die Stille hinein. Er wunderte sich, denn draußen schien die Sonne noch durch die schmierigen Fensterscheiben hinein.

Der Wirt schüttelte langsam den Kopf. „Kein Gewitter“, sagte er mit finsterer Miene. „Sehen Sie.“ Er öffnete den Wasserhahn an der Rückwand hinter der Theke und braunes Wasser kam herausgesprudelt. Philemon wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, und beobachtete, wie der Wirt einen Löffel in die Nähe des Wasserstrahls hielt. Ein bläulicher Blitz sprang auf das Metall über und ein leises Knistern ertönte.

Erschrocken riss Philemon die Augen auf. „Beim Heiligen Joseph … Was war das?“

Es donnerte erneut und auf dem Regal an der Rückseite der Bar klapperten die Gläser.

„Das kommt von diesen unseligen Versuchen, die dieser Geisteskranke draußen in der Prärie durchführt!“, wetterte der Wirt und ballte eine Hand zur Faust. „Dieser Blitzemacher, der von sich glaubt, er könne Gott spielen! Seit er hier ist, spielt die Welt verrückt!“

„Stimmt“, bestätigte der Blonde. „Alles begann mit diesem ominösen Laboratorium!“

Philemon schwante nichts Gutes, aber er ließ die Männer weiterreden.

„Seit dieser verrückte Professor seine gefährlichen Experimente macht, ist man hier seines Lebens nicht mehr sicher. Manchmal bekommen die Pferde durch die Erde einen Stromschlag und gehen mit ihren Kutschen durch, oder man selbst sprüht unter den Sohlen Funken, wenn man die Straße überquert. Kinder bekommen einen Schlag, wenn sie an den Hydranten mit dem Wasser spielen, was ihnen buchstäblich die Haare zu Berge stehen lässt! Genau so, wie Sie es eben mit dem Wasserhahn erlebt haben. Und mein Schwager sagt, dass bei ihm die ganze Nacht die Lampe brennt, obwohl er sie ausgeschaltet hat. Er bekommt kein Auge zu! Von dem Gedonner und Gezische ganz zu schweigen, das der verrückte Doktor verursacht!“

„Ja, und der alte Benjamin Foley sagt, er habe in der Nähe des Laboratoriums seltsame Lichter beobachtet“, warf ein anderer Mann neben dem Blonden ein. „Elmsfeuer. Das Gras hätte in einem unheimlichen Blau geleuchtet und glühende Bälle seien daraus aufgestiegen. Jetzt traut er sich nicht mehr, seine Ziegen dort auf die Weide zu bringen, aus Angst, dass der Spuk auf sie übergeht!“

„Das ist noch gar nichts!“, ereiferte sich der Wirt erneut. „Ich habe gehört, dass vor zwei Wochen einer der Assistenten im Labor von einem Blitz getroffen wurde und auf der Stelle seinen Verstand verloren hat.“

„Quatsch, er wurde gegrillt wie eine Forelle überm Feuer. Pulverisiert wurde er. Zu Staub ist er zerfallen!“

„Wo hast du das denn her, Joe?“, fragte der Wirt ungläubig.

„Na, vom alten Ben. Der hat’s selbst miterlebt!“

Philemon spürte Unbehagen in seinem Bauch rumoren. Die Stimmung der Männer war gereizt und feindselig. Er würde es also besser für sich behalten, für wen er ab morgen arbeitete. Schließlich wusste er, dass das, was hier nach einem Ammenmärchen klang, die verhängnisvolle Wahrheit sein konnte, zumindest das mit den Blitzen und dem Elmsfeuer. Das mit dem gegrillten Mann war ihm allerdings neu. Eine dunkle Ahnung manifestierte sich in seinem Hinterkopf. Er war hierhergeschickt worden, um einen Assistenten zu ersetzen, der angeblich wegen einer dringenden Angelegenheit hatte abreisen müssen. Er schluckte. War mit dem Kerl womöglich etwas ganz anderes passiert?

Während die Männer hitzig über die seltsamen Vorfälle in der Stadt diskutierten, schob Philemon einen Dollarschein über den Tresen. Der Wirt gab ihm das Wechselgeld raus und nickte zum Abschied. Mit weichen Knien verließ Philemon das Restaurant und winkte sich ein Pferdetaxi herbei. Er musste sich zusammenreißen, nicht zu stottern, als er dem Chauffeur sagte, wo er hinwollte.

„Was? Nein, da fahr‘ ich nicht hin! Da geht mir mein Gaul durch. Ich will mir nicht den Hals brechen. Ich kann Sie bis zum Stadtrand bringen, aber nicht weiter!“

Philemon nickte und stieg in die Kabine. Aus einem unerfindlichen Grund verspürte er plötzlich erdrückende Furcht und er fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, hierherzukommen.

Am Stadtrand ließ der Chauffeur ihn aussteigen und suchte, nachdem er bezahlt worden war, samt Kutsche schnell das Weite. Philemon sah lange der Staubwolke hinterher, ganz so, als wage er nicht, sich dem Unausweichlichen zu stellen. Aber schließlich überwand er seine Unsicherheit und blickte hinaus in die Prärie. Dort sah er einen gedrungenen, scheunenartigen Bau. Eine Reihe Telegraphenmasten führte darauf zu und auf dem Dach ragte ein merkwürdiges Holzgerüst mit einer Art Antenne in den Himmel. Sie trug eine Kugel an der Spitze.

Philemon fiel auf, dass es nicht mehr gedonnert hatte, seit er am Stadtrand abgesetzt worden war. Er nahm all seinen Mut zusammen und marschierte an den Masten entlang auf das Holzgebäude zu. Wenig später stand er vor dem gespannten Stacheldraht, der das Grundstück des Laboratoriums von der Prärie abgrenzte, und hörte nun doch etwas aus dem Gebäude dringen. Ein statisches Knistern und Zischen. Unwillkürlich stellten sich die Haare auf seinen Unterarmen auf, und nachdem er das Schild am Stacheldrahtzaun gelesen hatte, war er kurz davor umzukehren, in den Zug zu steigen und nach Hause zu fahren.

„KEEP OUT – GREAT DANGER!“, stand dort in roten Lettern geschrieben und darunter: „Abandon hope all ye who enter here!–Lasst, die ihr eintretet,alle Hoffnung fahren!“ Das war doch aus Dantes Göttlicher Komödie. Ein Teil der Inschrift auf dem Höllentor!

Ein Kribbeln wie von tausend Termiten erfasste Philemons Körper und er erschauerte. Es war, als ginge eine unsichtbare Kraft von dem Holzgebäude aus, die ihn mit Gewalt in ihren Bann zog. Wie ein gigantischer Magnet, der alles Eisen ansaugte, um es auf ewig in seinem pulsierenden Griff zu halten. Philemon war viel über den sonderbaren Mann zu Ohren gekommen, dem dieses Haus gehörte. Er hatte alle seine Artikel und Publikationen gelesen, doch jetzt, da er hier stand, besaßen die Gerüchte mit einem Mal eine viel eindringlichere Intensität als vorher. Es hieß, dass hinter dieser Tür ein Besessener arbeitete, ein Mann, der niemals schlief. Er sei ein Genie, eine übersinnliche Menschenmaschine mit einem Gehirn von kosmischer Größe, ein Magier der Blitze, ein selbstvergessener Eigenbrötler mit einzigartigen, übermenschlichen Fähigkeiten.

Ein Mann, der nicht von dieser Welt war.

All diese Dinge gingen Philemon durch den Kopf, während er ein Tor im Stacheldrahtzaun suchte, aber keines fand. Offensichtlich waren Besucher hier nicht vorgesehen. Kurzerhand stieg er über den Draht, ging bis zu der massiven Holztür und hob seinen Arm. Nach einem kurzen Zögern klopfte er an. Erst zaghaft, dann immer heftiger, um das unheimliche Getöse im Innern zu übertönen.

Unvermittelt verstummten die Geräusche und kurz darauf wurde die Tür aufgerissen. Schwärze gähnte ihm entgegen. Dann erschien wie ein Mond am Nachthimmel das blasse Gesicht eines Mannes im Türrahmen.

„Wer stört?“, fragte er unwirsch. Sein dunkler Scheitel berührte beinahe den Türsturz, so groß war er, und Philemon musste den Kopf in den Nacken legen, um in die tiefliegenden, metallisch glänzenden Augen zu blicken. Er riss sich seinen Hut vom Kopf und verneigte sich hastig.

„Gestatten, Philemon Ailey aus New York City, Sir!“ Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und nervös bearbeiteten seine Hände die Krempe seines Hutes. „Sind Sie Dr. Tesla?“

Die bleichen Züge seines Gegenübers erhellten sich. Erfreut flogen die schwarzen Brauen in die Höhe und ein sanftes Lächeln erschien unter dem Schnurrbart.

„Ah, fabelhaft! Da ist er ja, unser neuer Assistent!“, rief der berühmte Wissenschaftler aus, doch ganz zu Philemons Verwunderung behielt er seine behandschuhte Hand bei sich, anstatt sie ihm zur Begrüßung entgegenzustrecken, wie es die Höflichkeit geboten hätte. Dafür nickte er ihm knapp zu und sagte: „Willkommen, mein Junge. So treten Sie doch ein in mein bescheidenes Reich.“

Philemon versuchte ein Lächeln, aber es missglückte, als er sah, wie es im Innern des Laboratoriums bläulich aufflackerte. Ein lauter Knall folgte.

Der Heilige Joseph steh mir bei, dachte er ängstlich und folgte Dr. Tesla in das düstere Gebäude.

1. Kapitel

16. Mai 2011New York City12.35 Uhr

„Das hat deine Schwester prima gemacht!“, sagte Ondragon und drückte dem jungen Mann in Pagenuniform ein Bündel Scheine in die Hand. „Richte ihr aus, dass ich gerne mit ihr zusammengearbeitet habe.“

„Mache ich, Mr. O.“ Der junge Mann lächelte mokant. „Wir stehen jederzeit wieder für Sie zur Verfügung.“

Ondragon nickte, doch für ihn war klar, dass er dem Typen und seiner Schwester niemals wieder begegnen würde. Sie hatten ihren Job erledigt und waren somit „verbraucht“. Er arbeitete nie zweimal mit Externen zusammen. Reine Vorsichtsmaßnahme.

Der junge Mann steckte das Geld in die Innentasche seiner Uniform, verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und verließ das Zimmer.

Als die Tür ins Schloss fiel, breitete sich ein Lächeln auf Ondragons Gesicht aus. Wie wunderbar reibungslos dieser Auftrag doch verlaufen war. Seine Klienten würden zufrieden sein und das Opfer ruiniert.

Ach, wie er seinen Job liebte!

Er wandte sich um und blickte in das Hotelzimmer. Ein Queensize-Bett, eine Minibar, ein Tisch, ein Stuhl und ein laufender Fernseher, der auf stumm geschaltet war. News-Channel. Man musste schließlich immer informiert sein. Auf dem Bildschirm moderierte eine dunkelhäutige Sprecherin in einem auberginefarbenen Kostüm gerade die neuesten Nachrichten der Stunde. Noch während Ondragon die exzellente Kleiderauswahl bewunderte, wurde das Bild eines älteren Herrn über ihrer rechten Schulter eingeblendet. Darunter der Name.

Es war sein Opfer, das gerade in Handschellen abgeführt wurde.

Das Grinsen auf Ondragons Gesicht wurde breiter. Das Schöne an diesem Auftrag war, dass er live verfolgen konnte, wie erfolgreich er war. Die Affäre war eingeschlagen wie eine Bombe! „Europäischer Spitzenpolitiker versucht, Zimmermädchen in New Yorker Hotel zu vergewaltigen!“ Traumhafte Schlagzeilen und ein traumhaftes Ergebnis seiner Arbeit. Er hatte den Kerl nach allen Regeln der Kunst diskreditiert, und das kurz vor den Wahlen in dessen Land. Zack, und weg war er von der politischen Bühne! Hätte der Typ seine Freunde und Feinde besser im Blick gehabt, wäre ihm das nicht passiert. Aber diese Art von Hybris hatte erfolgreiche Menschen schon immer in den Abgrund gerissen. Es war einigermaßen seltsam, dass jene, die sich in den obersten Wasserschichten des Haifischbeckens tummelten, irgendwann vergaßen, dass dort auch noch andere Raubtiere schwammen. Und wenn man es darauf anlegte, fand man immer etwas, das die anderen Haie dazu brachte, Witterung aufzunehmen. Eine winzig kleine Wunde genügte, und man wurde von ihnen zerfleischt! Zu dumm, dass unser grauhaariger Anwärter auf den Berlusconi-Award einen Hang zu ausschweifenden Sexparties gehabt hatte – nicht gerade ein Vorzeige-Hobby. Seine Partei dürfte mächtig sauer auf ihn sein. Aber wenn Ondragon ehrlich war, so war dieser Job auch nur zweitklassig gewesen. Eher ein Standard-Problem als die Magnum-Kategorie. Aber egal, seine wenigen Mitarbeiter waren momentan in andere Projekte eingebunden, so dass er den Fall hatte übernehmen müssen, als kleine Fingerübung sozusagen.

Auf dem Fernsehbildschirm wurde die Nachrichtensprecherin ausgeblendet und ein Beitrag über Fukushima folgte. Ondragon sah die Aufnahmen des havarierten Atommeilers und sein Lächeln verschwand. Der Text unter dem Bild lautete „melt-down“. Verdammte Sauerei, dachte er und ein Funken Sorge loderte in ihm auf. Er hatte Bekannte in Tokio. Was würde aus ihnen werden? Was würde aus der verseuchten Zone werden? Das wusste niemand so genau, auch jetzt, zwei Monate nach der Atom-Katastrophe nicht.

Er wollte den Fernseher abschalten, doch der nächste Beitrag erregte seine Aufmerksamkeit. Schnell stellte er die Lautstärke an.

„… wurde der Flugschreiber geborgen, der zweifelsfrei zu der vor zwei Jahren abgestürzten Air-France-Maschine gehört. Die BEA teilte heute mit, dass die Daten der Black Box erfolgreich ausgelesen werden konnten und sich Experten der Untersuchungsbehörde für Flugunfälle mit der Auswertung befassen. Noch immer ist die Ursache des Absturzes vom Airbus 330 vor der brasilianischen Küste unklar, bei dem 228 Passagiere ums Leben kamen …“

Ondragon starrte auf das Bild im Fernseher. Etwas daran passte nicht zum Gesamteindruck, das sagte ihm sein unfehlbares Gespür für solche Dinge. Es war einer seiner Ticks, ständig nach Fehlern im Muster zu suchen.

Er setzte sich auf das Bett und fixierte den Bildschirm. Darauf wurde das geborstene Rumpfteil eines Flugzeuges mit den Buchstaben ANCE gezeigt, es hing an einem Schiffskran. Dahinter ragten einige verrostete olivgrüne Trümmerteile auf, die sich ebenfalls auf dem Deck des Bergungsschiffes befanden. Aber war da nicht ein Kleckser Schwarz auf der olivgrünen Fläche? Ondragon runzelte die Stirn. Und warum rostiges Olivgrün, wenn die Wrackteile der Air-France-Maschine weiß lackiert waren?

Da hatte er den Fehler im Muster! Die olivgrünen Teile passten nicht zu den Airbus-Trümmern. Aber was hatten sie auf dem Schiff verloren?

Als Ondragon sich näher zum Fernseher beugte, verschwand das Bild und die hübsche Nachrichtensprecherin erschien wieder.

„Und nun zum Wetter“, sagte sie mit einem professionellen Lächeln.

„So ein Mist.“ Ondragon schaltete das Gerät ab. Er holte sein iPhone aus der Hosentasche und wollte die Nummer seiner Assistentin wählen, doch das Telefon kam ihm zuvor und begann zu klingeln. Es war eine unterdrückte Nummer, was ihn nicht sonderlich wunderte, denn er hatte oft mit Leuten zu tun, die ihren Kontakt geheimhielten. Er selbst tat das schließlich auch.

Mit einem forschen „Ja?“ nahm er den Anruf entgegen.

„Guten Tag, spreche ich mit Mr. Ondragon?“ Die Stimme am anderen Ende klang dünn und irgendwie weit entfernt. Und sie sprach Deutsch mit einem schwachen süddeutschen Akzent. Ondragon presste das Telefon fester ans Ohr. „Ja, und wer sind Sie?“, fragte er auf Deutsch zurück.

„Oh, Verzeihung. Ich heiße Alexander Kubicki und ich arbeite für den Bundesnachrichtendienst. Ich rufe Sie an, weil es in gewissen Kreisen heißt, dass Sie ganz spezielle Aufträge entgegennehmen.“

„Das stimmt, aber woher haben Sie meine Nummer?“

„Nun, es ist so, dass wir eine Akte über Sie führen, und darin stehen Ihre Kontaktdaten.“

„Eine Akte? Über mich?“, fragte Ondragon verstimmt. Hektisch sprang seine Zentrifuge an. Warum hatte der BND eine verdammte Akte über ihn?!

„Genau, über Sie! Sie sind doch Paul Eckbert Ondragon, oder nicht? Sohn von Siegfried Ondragon, Botschafter a. D.?“

„Was wollen Sie?“

Schweigen folgte, und Ondragon hätte beinahe aufgelegt, da sprach der Mann weiter.

„Wir wollen Sie engagieren.“

„Der deutsche Geheimdienst?“ Ondragon stieß ein belustigtes Lachen aus. „Um was geht es denn?“

„Das können wir Ihnen nur verraten, wenn Sie sich zur absoluten Verschwiegenheit verpflichten.“

„Verschwiegenheit gehört zu meinem Berufsethos, das müsste eigentlich auch in Ihrer Akte stehen!“

Der Mann am anderen Ende schien unbeeindruckt von seinem Sarkasmus‘. „Ich schicke Ihnen gleich eine Internetadresse zu“, sagte er im sachlichen Tonfall. „Dort registrieren Sie sich mit dem Decknamen ‚Schäferhund17‘ und loggen sich unter einem selbstgewählten Passwort ein. Sie werden umgehend freigeschaltet. Sie können unbesorgt sein, die Seite ist absolut sicher.“

Nicht vor Rudee, dachte Ondragon spöttisch und lauschte weiter den Anweisungen des BND-Mannes.

„Auf der Seite finden Sie ein Bulletin Board mit der Beschreibung Ihres Auftrages. Lesen Sie es sich gut durch und schicken Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden eine SMS mit J oder N an die Nummer, die auf der Seite unter dem Menüpunkt ‚Kontakt‘ zu finden ist. Haben Sie das so weit verstanden?“

„Aber selbstverständlich!“, antwortete Ondragon in gespreiztem Hochdeutsch. „Und was passiert, wenn ich mit N antworte?“ Er wusste schon jetzt, dass er das vermutlich nicht tun würde. Allein schon wegen der verdammten Akte!

„Überlegen Sie es sich gut. Denn das Honorar könnte äußerst interessant für Sie sein.“

„Ach, ja?“

„Ja, in der Tat“, wiederholte der Agent hochnäsig. „Noch Fragen?“

„Warum wollen Sie ausgerechnet mich für diesen Auftrag? Haben Sie keine eigenen Leute dafür?“

Wieder Schweigen am anderen Ende – oder war es ein Zögern?

„Nun, Herr Ondragon, Sie haben die Kontakte, für die wir Wochen, wenn nicht gar Monate brauchen würden, um sie aufzubauen. Diese Zeit haben wir aber nicht. Wir sind gezwungen, unverzüglich zu handeln!“

„Und das können Sie alles in meiner Akte lesen?“

„So ist es.“

Ondragon überlegte. Was die Deutschen wohl noch so alles über ihn und seine Kontakte wussten? Ihm war alles andere als wohl bei diesem Gedanken.

„Ich erwarte Ihre Antwort in vierundzwanzig Stunden, Mr. O!“

Ondragon wollte noch etwas erwidern, denn der Typ gebärdete sich reichlich arrogant, doch Kubicki hatte schon aufgelegt. Im selben Moment piepte das Handy. Es war die SMS mit der Internetadresse. Ondragon gab „www.deutsche-hunderassen.de“ in den Browser ein und eine unverfänglich aussehende Seite mit Hundebildern baute sich auf. Gegen seinen Willen musste Ondragon grinsen. Typisch deutsch! Aber wie er aus eigener Erfahrung wusste, war die beste Tarnung immer noch das Klischee.

Wie vorgeschrieben registrierte er sich für das Login im Forum. Immerhin hatten sie ihm den Namen Schäferhund zugeteilt und nicht Rauhaardackel oder Zwergpudel, dachte er und klickte auf den Anmelde-Button. Es dauerte einen Augenblick, dann erschien die inoffizielle Seite und anstelle netter Hundeschnauzen zeigte sie ein nüchtern gestaltetes Menü. Ondragon öffnete den Punkt „Bulletin Board“ und fand schnell den ihm zugeteilten Auftrag. Er überflog ihn, dachte nach und las ihn erneut. Diesmal gründlicher.

Dann sah er auf.

„Wollen die mich verarschen?“, stieß er laut aus. „Was für ein Auftrag ist das denn?“

Kopfschüttelnd starrte er auf das Handydisplay. Das war doch ein schlechter Scherz. Der BND wollte ihn damit beauftragen, ein Buch zu beschaffen? Ein gottverdammtes BUCH? Gereizt stieß Ondragon Luft aus. Ausgerechnet er! Stand denn nichts über seine Phobie in dieser beschissenen Akte? Irgendwie mutete das sonderbar an. Auch wenn Ondragon seine Phobie mit allen Mitteln vor der Welt zu verbergen versuchte, konnte er sich nicht vorstellen, dass der BND seine Dokumente derart unsauber führte. Das wäre wie die NSA ohne Internetanschluss. Eine andere Idee kam ihm. Vielleicht war das mit der Akte auch nur ein Bluff, um ihn zu ködern.

Nun gut, dachte er, gehen wir mal vom schlimmsten Fall aus, nämlich, dass es diese Akte gibt! Was könnten die mir bieten, damit ich tatsächlich anbeiße? Er klickte den Button an, auf dem „Zahlungsart“ stand. Eine Ziffer angegeben in US-Dollar erschien. Ondragon pfiff leise durch die Zähne. Das war in der Tat ein hübsches Sümmchen. Aber das Geld war es nicht, was ihn in den Bann zog. Auch nicht die voraussichtliche Anzahlung, die gewiss ihren Reiz besaß. Nein, es war der Satz, der darunter stand.

„Bei erfolgreicher und termingerechter Abwicklung der Operation wird dem Beauftragten Einblick in die Akte ‚Ondragon/Gemini‘ gewährt!“

„Die Akte ‚Ondragon/Gemini‘?“, wiederholte er nachdenklich. Gemini war Lateinisch und bedeutete Zwilling. Spielte das etwa auf seinen Zwillingsbruder Per Gustav an? Hatte der BND Informationen über ihn und seinen Tod, die er nicht besaß? Denkbar war es. Ondragons Neugier war geweckt, er spürte, wie die Zentrifuge in seinem Kopf schneller lief. Er könnte Rudee darauf ansetzen. Vielleicht fand sein thailändischer Cyber-Pirat eine Datei mit diesem Aktenzeichen im BND-Archiv. Oder er könnte den Auftrag einfach annehmen. Das mit dem Buch würde er schon hinbekommen. Schließlich hatte er vor zwei Jahren eine im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Therapie gegen seine Phobie hinter sich gebracht.

Er schloss die Internetseite und ging in sein Telefonverzeichnis. Er würde die Sache überprüfen … und in vierundzwanzig Stunden eine Entscheidung treffen. Aber vorher musste er seinen Flug nach L.A. buchen.

2. Kapitel

16. Mai 2011Fortaleza, Brasilien13.59 Uhr

„Ich erwarte Ihre Antwort in vierundzwanzig Stunden, Mr. O!“

Aufmerksam belauschte Clandestin von seinem Versteck aus das Telefongespräch des deutschen Geheimdienstmannes. Zum Glück beherrschte er Deutsch und konnte den Kerl gut verstehen. Er sah, wie der Agent das Gespräch beendete und erneut wählte.

„Ich denke, er hat angebissen!“, sagte er leise und nickte. „Ja. Warten wir es ab. Servus.“ Der Agent legte auf, steckte das Handy weg und ließ seinen Blick durch die Halle schweifen.

Schnell schob sich Clandestin tiefer in den Schutz der Wrackteile, die hier im bewachten Teil des Hafengeländes lagerten.

Der Agent stand eine Weile mit den Händen in den Hosentaschen da. Dann hörte Clandestin, wie er ein zufriedenes Grunzen von sich gab und in Richtung Ausgang ging. Wenig später fiel die schwere Metalltür ins Schloss. Erleichtert stieß Clandestin Luft aus. Er war allein und hatte die Information, die er brauchte. Der deutsche Geheimdienst jagte demselben Schatz hinterher wie er. Und wenn dieser Mr. O der war, für den Clandestin ihn hielt, dann konnte er sich von jetzt an bequem zurücklehnen und ihn die Drecksarbeit für sich erledigen lassen. Mr. O würde den Schatz besorgen und ihm direkt vor die Nase stellen. Und dann würde er zugreifen!

Mit diebischer Vorfreude rieb Clandestin sich die Hände. Dank dieser neuen Figur auf dem Schachbrett würde es ihm gelingen, seinen Auftrag sauber und vermutlich mit viel weniger Aufwand auszuführen als gedacht. Er sah sich noch einmal prüfend um und lief dann geduckt von einem Wrackteil zum nächsten. Die Flugzeugtrümmer waren fein säuberlich sortiert worden. Links lagen die verbogenen Überreste der Air-France-Maschine und rechts die olivfarbenen Teile des anderen Flugzeuges, die das Bergungsteam an derselben Absturzstelle aus dem Meer gefischt hatten. Es war ebenso sehr ein Zufall, dass dieses Flugzeug wieder aufgetaucht war, wie es kein Zufall war, dass es den größten Schatz an Bord gehabt hatte, dessen die Menschheit je habhaft gewesen war.

Clandestin hockte sich hinter ein geborstenes Kabinenteil der Air France und schaute hinüber zu dem mehrere Meter hohen, olivfarbenen Heck. Es schien noch intakt zu sein, abgesehen davon, dass es durch den Aufprall auf das Wasser komplett vom Rumpf der Maschine abgetrennt worden war. Die Kräfte mussten gewaltig gewesen sein, denn das Leichtmetall an der Bruchkante war aufgerissen wie Papier. Clandestins Blick glitt über das zerschrammte Symbol auf der Außenhaut, und ein Schauer bemächtigte sich seines halbnackten Körpers, denn er trug lediglich Badeshorts. Dort auf dem Leitwerk prangte ein verwittertes deutsches Balkenkreuz und gleich dahinter noch ein weiteres, ihm wohlbekanntes Abzeichen. Ein schwarzes Hakenkreuz. Clandestin fühlte Bedauern für einen der Männer, die damals mit an Bord der Maschine gewesen waren. Er war mit den anderen in den Tod gestürzt. Ein schreckliches Schicksal, das er nicht verdient hatte.

Clandestin riss sich von dem Anblick los und kroch bäuchlings unter das Kabinenteil der Air France. Hier war eine unauffällige Luke im rauen Betonboden eingelassen – sein geheimer Ein- und Ausgang zu dieser Halle. Er öffnete die Luke, deren Scharniere er zuvor geölt hatte, schlüpfte durch den schmalen Spalt, durch den nur Kinder und sehr dünne Menschen passten, und ließ sich in den Schacht hinab. Danach schloss er die Luke, schaltete seine kleine wasserdichte Taschenlampe ein und tappte durch den niedrigen Kanal, in dem es nach Fisch und Seetang stank. Doch das störte Clandestin wenig, für ihn war das der Geruch der großen weiten Welt. Dort, wo er herkam, gab es nämlich kaum Gerüche.

Nach einigen hundert Metern erreichte er das kreisrunde, hell erleuchtete Ende der Röhre. Vorsichtig steckte er seinen Kopf ins Freie und blinzelte ins Sonnenlicht. Der Kanal endete außerhalb des großen Hafenbeckens, über dem kreischend die Möwen kreisten. Man musste nur in das ölige Wasser steigen und konnte wenige Meter weiter an einer rostigen Sprossenleiter hinauf auf die Mole klettern.

Kurz darauf suchte Clandestin zwischen alten Netzen und Ölfässern nach seiner Kleidung, die er vorher dort abgelegt hatte, und zog sie an. Im Geiste machte er sich schon Notizen für sein weiteres Vorgehen. Doch bevor das Spektakel stattfinden würde, wollte er sich erst einmal einen erfrischenden Caipirinha in einer Boteco an der Strandpromenade gönnen. Anschließend würde er Nachforschungen über diesen Mr. O anstellen. Wäre doch gelacht, wenn er nichts über ihn in Erfahrung bringen könnte.

Im Schutze der windschiefen Wellblechhütten verließ Clandestin das Hafengelände, auf dem sich die Halle mit den Trümmerteilen der Air-France-Maschine befand, und tauchte wenig später ganz entspannt in den belebten Straßen der brasilianischen Touristenmetropole unter.

3. Kapitel

17. Mai 2011Los Angeles7.30 Uhr

Der Sekundenzeiger seiner Armbanduhr sprang auf die Zwölf, als Ondragon die Tür zu seinem Büro öffnete, das sich gut getarnt im obersten Stockwerk eines Bankgebäudes in Westhollywood befand.

„Pünktlich wie die Schweizer Bahn“, begrüßte ihn seine Assistentin. „Und Glückwunsch!“

Ondragon hielt irritiert inne, doch dann fiel es ihm ein: Der Zimmermädchen-Auftrag. „Danke, Charlize. Und entschuldige, ich bin mit meinen Gedanken schon ganz woanders.“

„Ein neuer Auftrag?“

„Könnte sein. Er befindet sich noch in der Überprüfungsphase.“ Er stellte seinen Aktenkoffer ab, der zu seiner Tarnung als Bankangestellter gehörte, und setzte sich schwungvoll auf den Stuhl an seinem Schreibtisch. Wie immer hatte Charlize den Rechner bereits hochgefahren und er konnte unverzüglich mit der Arbeit beginnen. Ihm blieben noch zweieinhalb Stunden, bis das Ultimatum des BND auslief. Auf dem Flug von New York nach L.A. hatte er keine Möglichkeit gehabt, Nachforschungen anzustellen, und musste das nun nachholen. Hastig tippe er auf der Tastatur herum und schreckte aus seinen Gedanken hoch, als das Telefon klingelte.

„Mann, Rudee, was ist los?“, maulte er den Teilnehmer am anderen Ende an. „Warum meldest du dich jetzt erst?“

„Koh tot khrap, Paul. Sorry, aber ich hatte kleines Problem mit Polizei in Bangkok“, entgegnete Rudee.

Ondragon wurde sich seiner Unhöflichkeit gegenüber dem Thai bewusst und fragte besorgt: „Oh, ist es schlimm? Brauchst du Hilfe?“

„Nee, nix nötig. Ich habe geklärt.“ Rudee schob ein Kichern hinterher, das zwar lustig klang, aber hinter seiner unbeschwerten Fassade die Wahrheit über das Wort „geklärt“ erkennen ließ. Und in diesem Falle hatte „geklärt“ nichts mit klären zu tun, sondern eher mit Klärgrube. Sei’s drum. Ondragon kannte Rudee seit über dreißig Jahren. Auch der kleine und nach außen hin zurückhaltende Thai wusste, wie man sich lästige Schmeißfliegen vom Leib hielt und wo man sie zur Not auch entsorgte. Egal ob sie eine Polizeiuniform trugen oder nicht.

„Was gibt es denn? Du zehnmal angerufen?“, fragte seine Geheimwaffe in Sachen Cyberspace.

Ondragon erzählte seinem Freund von dem Auftrag und dem Angebot des BND, dass er als Gage Einblick in seine Akte erhalten könne.

„Und du jetzt wollen, dass ich dort kleinen Besuch abstatte?“

„Ja, es wäre äußerst wichtig für mich, wenn du die Akte fändest. Und das möglichst schnell. Schaffst du das in zwei Stunden?“

Rudee seufzte. „No, Sir. Das nicht machbar. Dafür ich mindestens eine Woche brauchen. Seeeehr gefährlicher Job.“

Das hatte Ondragon befürchtet. Die Systeme von Geheimdiensten kamen einem virtuellen Hochsicherheitstrakt gleich und es wäre eine komplizierte Angelegenheit, dort einzudringen. Meist erforderte so etwas mehrere Umwege und eine penible Vorbereitung. Ondragon überlegte kurz und traf eine Entscheidung.

„Versuch es trotzdem, ja?“, sagte er zu Rudee. „Ist egal, ob es länger dauert. Ich muss diese Akte haben! Schon allein, um sie mit dem zu vergleichen, was mir der BND nach Erledigung des Auftrags auftischen wird.“

„Alles klar!“, entgegnete der Thai und verabschiedete sich.

Ondragon legte auf und bemerkte erst jetzt die volle Kaffeetasse, die vor ihm stand. Er nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Leider war der Kaffee kalt wie die Füße von Ötzi.

„Willst du einen neuen?“, fragte Charlize, die sein Mienenspiel von ihrem Tisch aus beobachtet hatte.

„Im Moment nicht, danke.“

„Okey-dokey.“

Ondragon warf seiner japanisch-brasilianischen Assistentin einen forschenden Blick zu. „Ach, Charlize?“

„Ja?“ Sie schaute erneut von ihrem Papierkram auf.

„Es ist so: Wenn ich diesen Auftrag annehme, bräuchte ich deine Hilfe. Ohne dich geht es nicht.“

„Bin dabei!“

„Aber du weißt doch gar nicht, worum es geht.“

„Ist mir egal, Hauptsache, ich komme mal wieder raus aus diesem Kaff!“

Ondragon blickte auf seinen Bildschirm. Dort war die Karte des Einsatzortes zu sehen. „Es geht nach Brasilien“, sagte er, und mit einem Mal war ihm klar, wen der BND mit „seinen Kontakten“ gemeint hatte. Charlize.

„Hab ich mir gedacht“, entgegnete sie trocken und tackerte zwei Bogen Papier zusammen. „Geht es um die Air-France-Maschine?“

Ondragon hob verdutzt die Augenbrauen. Manchmal war sie ihm unheimlich. Als ob sie seine Gedanken lesen konnte. „Warst du schon mal in Fortaleza?“

„Wenn du das Fortaleza im Bundesstaat Ceará meinst, eine Hochburg mit knapp 2,5 Millionen Einwohnern und der höchsten Mordrate Brasiliens – jepp, dann war ich schon mal dort. Hab da mal Urlaub gemacht.“ Sie sah ihn mit ihren schmalen, asiatischen Augen an.

Das war doch ihr Samuraiblick!, dachte Ondragon. Täuschte er sich oder war seine hübsche Charlize heute leicht gereizt? „Ist was?“, fragte er sie und wappnete sich. Charlize konnte eine zarte Lotusblüte sein, an manchen Tagen aber auch ein garstiger Wüstenkaktus … mit Widerhaken!

Seine Assistentin legte den Kopf schief und schürzte die Lippen. Ihr Samuraiblick rollte an die Decke, als müsse sie überlegen.

Lotus oder Kaktus?, dachte Ondragon.

Plötzlich zuckte es in ihrem Gesicht und ein Zeigefinger schnellte vor.

Lotus, Kaktus?

Lotus, Kaktus?

„Du bakayaro hast meinen Geburtstag vergessen! Ich hatte dich sogar zu der Party eingeladen, aber der feine Herr ist einfach nicht gekommen! Muss ich dich jetzt auch noch an deine Privattermine erinnern? Kuso! Ich bin doch nicht deine Sekretärin!“

Also Kaktus!

Ergeben senkte Ondragon den Kopf und ließ den halb japanischen, halb englischen Wortschwall über sich ergehen. Dass er eine wirklich gute Ausrede hatte, würde sie nicht interessieren. Er hätte sich mit dem Präsidenten treffen oder bei einem Einsatz in Afghanistan sein können, für Charlize gab es keine Ausrede dafür, nicht zu ihrer Party zu erscheinen. Da war sie stur und es gab nur eins: Kopf einziehen und warten, bis das Gewitter vorbei war.

„Es tut mir leid“, entgegnete er schließlich. Und das tat es ihm wirklich. Er wäre gerne zu ihrer Party gegangen. Sie hatte stattgefunden, bevor er für seinen Auftrag nach New York geflogen war. Leider hatte er an jenem Tag unerwarteten Besuch bekommen. In Form von zwei 9mm-Projektilen, die im abendlichen Verkehr auf der La Brea Avenue durch die Seitenscheibe seines Autos geschlagen waren. Nein, es war nicht der Mustang gewesen, und, ja, zum Glück hatten die Kugeln ihn verfehlt. Dafür hatten sie seinen Dienstwagen getroffen, einen unauffälligen Dodge Magnum. Aber offensichtlich nicht unauffällig genug. Jedenfalls konnte sich Ondragon einen derart dreisten Anschlag auf sein Leben nicht gefallen lassen. Dies war seine Stadt und er musste sie sauberhalten! Schließlich wollte er in aller Ruhe am Strand joggen oder in einem Restaurant essengehen, ohne ständig auf der Hut sein zu müssen. Also hatte er sich an den Auspuff des Mistkerls gehängt und ihn verfolgt. Nach einer nervenaufreibenden Jagd über den Highway 101 bis nach Thousand Oaks hatte er ihn endlich eingeholt. Es war bereits stockdunkel gewesen, als es auf einer schmalen Straße in den Bergen – rechts der Abgrund und links die Felswand – zum Showdown gekommen war, wie man so schön sagte. Mit seinen 340 PS hatte Ondragon den feindlichen Wagen gerammt und ihn sauber über den Abgrund geschickt. Im Licht seiner Scheinwerfer hatte er anschließend beobachten können, wie sich das Fahrzeug mehrmals überschlagen hatte, bevor es mit einem satten Krachen am Fuß der Klippe explodiert war. Wer auch immer dieser Dilettant gewesen war, der würde jedenfalls keinen Fuß mehr in sein Revier setzen! Leider war sein Dodge bei der Aktion arg demoliert worden und Ondragon hatte sich darum kümmern müssen, sämtliche Spuren zu beseitigen. Danach hatte er wenig Lust verspürt, noch auf Charlizes Party zu gehen. Verständlicherweise, wie er fand.

„Ich hoffe, du kannst mir noch einmal verzeihen?“ Mit reumütiger Miene sah er zu Charlize hinüber. „Als Entschädigung lade ich dich in das neue Restaurant am L.A. LIVE ein, diese Sushibar. Hat gute Kritiken bekommen.“

Der Samuraiblick seiner Assistentin wurde um eine Nuance milder. Gleich hatte er sie. Er stand auf und ging zu ihrem Tisch. „Und anschließend gehen wir noch in die Lounge im Ritz Carlton.“

„Das Restaurant und die Bar kannst du vergessen!“, entgegnete Charlize. „Ich weiß da was viel Besseres.“

„Und das wäre?“

„Der Mustang – für zwei Wochen!“

Ondragon blinzelte überrascht. Eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, dass er bei ihr nicht so billig davonkam.

„Und wo ist überhaupt dein Dodge?“, fragte sie. „Ich hab dich heute damit gar nicht den Doheny Drive herunterkommen sehen. Hast du ein neues Auto?“

Ondragon winkte ab. „Ach, ich hatte mal Lust auf einen Neuen.“ Nach der Säuberungsaktion hatte er auch den Dodge verschwinden lassen und sich kurzerhand einen neuen Wagen gegönnt. Diesmal etwas wirklich Unauffälliges, beinahe schon Biederes. Einen silbernen Audi 4 RS Avant. Das Ding passte überhaupt nicht zu ihm, aber wenn‘s half, dass er damit sicherer auf seinen Straßen unterwegs war …

„Willst du nicht lieber mit dem Audi fahren?“, bot er an.

Charlize stieß abfällig Luft aus. „Sorry, Chef, aber bei dem Auto schläft selbst Oma ein.“

„Also der Mustang.“

„Hai, sō desu.“

„Nun gut. Deal?“ Er hielt Charlize die offene Hand hin.

„Deal!“ Sie schlug ein, und der Kaktus wurde wieder zur scheu lächelnden Lotusblume. „Und was hat es jetzt mit dieser Akte vom BND auf sich?“

Ondragon seufzte. „Das erzähle ich dir später.“ Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor zehn. Höchste Zeit, dem BND-Typen die SMS zu schicken. Nervös öffnete er die Anwendung „Neue Mitteilungen“ auf seinem Handy. Er arbeitete äußerst ungern für Geheimdienste, und wenn, dann nur unter besonderer Vorsicht. Dieser Job allerdings enthielt eine ungewöhnliche Komponente, die ihm keine Ruhe ließ. Die Akte „Ondragon/Gemini“. Er wusste, dass er fast alles tun würde, um da einen Blick reinwerfen zu können. Vorher brauchte er jedoch Gewissheit darüber, ob die Akte auch tatsächlich existierte. Er tippte ein J in die SMS und schickte sie ab.

Beinahe im selben Moment klingelte das Telefon. Er ging dran.

„Willkommen bei der Operation ‚Pandora‘, Herr Ondragon“, begrüßte ihn Kubicki ohne Umschweife. „Wann können Sie loslegen?“

Die hatten es aber wirklich eilig, dachte Ondragon und antwortete: „Sofort, wenn Sie wollen!“

„Bestens. Für ein kurzes Briefing treffen Sie unseren Kontaktmann in Brasilien. Sein Deckname ist Dobermann12. Sie werden sich über das Bulletin Board verabreden.“

„Ach, ich dachte, Sie würden mein Kontaktmann sein.“

„Nein, das bin ich nicht.“

„Und wie viele Ihrer Leute werden zu meiner Unterstützung vor Ort sein?“, fragte Ondragon.

„Zu Ihrer Unterstützung?“ Kubicki stieß ein trockenes Lachen aus. „Sie werden alleine arbeiten, so wie Sie es sonst auch tun. Unser Team wird im Hintergrund bleiben und nur im Notfall eingreifen.“

Das war ja mal interessant. Davon hatte Kubicki vorher nichts erwähnt, dachte Ondragon. Ohne seinen Spott zu verbergen, entgegnete er: „Schon klar. So was nennt man dann wohl Ressourcen schonen. Aber das ist Ihre Sache. Bevor ich bei Ihnen einsteige, hätte ich gerne einen Beweis, dass Sie mich mit der Akte ‚Gemini‘ nicht hinters Licht führen.“

„Ihre Akte? Nun, ich kann Ihnen das Dokument leider nicht zeigen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass da zum Beispiel drinsteht, dass Ihre Kontakte nach Brasilien eher durch Ihre Assistentin Charlize Tanaka bestehen als über Sie selbst. Also gilt unser Interesse vornehmlich ihrer Assistentin. Da Frau Tanaka jedoch ausschließlich für Sie arbeitet, führt leider kein Weg an Ihnen vorbei, Herr Ondragon. Sie spielen bei dieser Operation eine eher zweitrangige Rolle. Die eines Handlangers, wenn Sie es so wollen. Zudem ist uns bekannt, dass Sie ein ernstes Problem mit dem zu beschaffenden Objekt an sich haben. Ich meine damit Ihre Bücherphobie, die Sie trotz einer Therapie bei einem fragwürdigen Therapeuten bis heute nicht überwunden haben. Meinen Glückwunsch übrigens, dass Sie diesen Scharlatan der Psychiatrie festgenagelt haben, auch wenn das wohl eher zufällig geschehen ist. Ich vermute mal, Sie waren damals nicht Gast in dieser Einrichtung, um sich die Bären Minnesotas in freier Wildbahn anzuschauen.“ Kubicki lachte leise. Es klang bösartig und hinterhältig. „Reicht Ihnen das als Beweis, mein Bester?“

Und ob das reichte! Der Kerl wusste eindeutig zu viel von ihm! Wütend biss sich Ondragon auf die Lippe. Außerdem kratzte es mächtig an seinem Ego, dass der BND mehr an Charlize interessiert zu sein schien als an ihm. Aber er würde diesem Typen schon noch beibringen, mit wem er es zu tun hatte. „Ich hoffe, meine Akte liegt bei Ihnen nicht als Klolektüre aus“, sagte er. „Das heißt im Klartext: Ich erwarte, dass Sie diese Informationen vertraulich behandeln.“

„Selbstverständlich!“, entgegnete Kubicki. „Ich weiß, Sie müssen auf Ihre Reputation achten und so weiter.“

„Na, Sie brauchen sich um Ihre Reputation ja nicht mehr zu scheren, die ist ja längst versaut!“

„Spielen Sie damit auf etwas Bestimmtes an, Herr Ondragon?“

Amüsiert stieß Ondragon Luft aus. „Muss ich Ihnen wirklich erzählen, was die Welt vom deutschen Geheimdienst hält?“

„Hören Sie“, würgte der BND-Agent diesen unerquicklichen Disput ab, „sind Sie jetzt mit von der Partie oder nicht?“

„Natürlich! Ohne mich geht es ja schließlich nicht.“

„Gut, dann finden Sie sich übermorgen um zwölf Uhr am LAX ein. Dort liegt ein Flugticket für Sie und Ihre Assistentin bereit. Schalter zwei von American Airlines. Ist das genug Zeit für Sie, um sich vorzubereiten?“

Der abfällige Ton des BND-Schnösels ging Ondragon langsam mächtig auf die Nerven. Schade, dass er ihm in Brasilien nicht persönlich begegnen würde. Er hatte große Lust, ihm ordentlich eine zu verpassen, so als kleinen Gruß vom Handlanger. „Ein Tag ist mehr als ausreichend!“, entgegnete er kühl.

„Schön. Alles Weitere besprechen Sie mit dem Kontaktmann. Viel Erfolg!“

„Sie mich auch, kusogaki!“ Ondragon sah, wie Charlize erschrocken aufblickte. Er ließ das Handy sinken. „Schade, schon aufgelegt.“

Seine Assistentin kicherte und wandte sie sich wieder dem Computer zu. „Und, muss ich meinen Koffer packen?“, fragte sie, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

„Du und Koffer?“, witzelte Ondragon. Charlize war bekannt dafür, dass sie ganz frauenuntypisch stets nur mit leichtem Gepäck reiste.

Sie warf den Kugelschreiber hin und sah ihn vorwurfsvoll an. „Was ist? Erzählst du mir jetzt, worum es geht?“

Ondragon ließ sich auf der Tischkante nieder und begann das wiederzugeben, was er im Bulletin Board über den Auftrag gelesen hatte. „Du hattest recht. Es geht tatsächlich um die Air-France-Maschine. Indirekt zumindest, denn dort, wo die Wrackteile vom Airbus auf dem Grund des Meeres geortet wurden, fand man auch Teile eines anderen, lange verschollenes Flugzeug. Eine deutsche Maschine aus dem Zweiten Weltkrieg, die bei einem Fluchtversuch hochrangiger Nazi-Offiziere zu Kriegsende offenbar an derselben Stelle abgestürzt ist. Das Flugzeug selbst ist für den deutschen Geheimdienst nicht weiter interessant. Aber im weitgehend unbeschädigten Cockpit der Maschine ist eine wasserdichte Kiste gefunden worden. Und um den Inhalt dieser Kiste geht es. Wir sollen das Ding beschaffen.“

„Und was ist da drin?“

„Nicht viel, aber es scheint wichtig für die Deutschen zu sein, wenn sie unter einem derartigen Zeitdruck stehen. In der Kiste soll sich eine Medaille aus Gold befinden und ein Logbuch.“

„Ein Logbuch?“, fragte Charlize entgeistert. „Ein BUCH?! Und den Auftrag hast du angenommen? Wohl eine Konfrontationstherapie, was?“ Sie kicherte.

„Wir sollen denen zum Glück die ganze Kiste bringen, da muss ich ja nicht reingucken, oder?“ Ondragon warf Charlize einen gereizten Blick zu. Sie verstand ihn und hörte auf zu lachen.

„Momentan befindet sich die Kiste in einem provisorischen, aber gut gesicherten Labor in Fortaleza“, setzte er seine Ausführungen fort. „Dort werden die sensiblen Fundstücke der Air-France-Maschine untersucht. Dazu gehören auch die Leichen, oder besser gesagt, was davon noch übrig ist. Die brasilianischen Behörden wollen die Kiste untersuchen, bevor sie sie an Deutschland ausliefern. Der BND stuft den Inhalt allerdings als so brisant ein, dass er die Kiste unverzüglich in seinem Besitz wissen will. Dabei geht es hauptsächlich um das, was in dem Logbuch steht. Das darf auf keinen Fall an die Öffentlichkeit geraten.“

„Aha. Und was wird meine Aufgabe bei dieser Operation sein?“

„Du wirst in das Labor eingeschleust!“

Ein breites Lächeln erschien auf Charlizes bezauberndem Gesicht.

Gut, dachte Ondragon, also war sie einverstanden.

4. Kapitel

19. Mai 2011Fortaleza, Brasilien22.11 Uhr

Draußen vor dem Flughafengebäude in Fortaleza schlug ihnen schwüle, tropische Luft entgegen.

„Ah, cheiro da patria – der Duft der Heimat!“, säuselte Charlize und sog genussvoll Luft durch die Nase ein.

Ondragon schmunzelte. Seine Assistentin war in Brasilien aufgewachsen, genauer gesagt in São Paulo, wo es die größte japanische Gemeinde außerhalb Japans gab. Ihr Vater war 1939 mit seinen Eltern von Tokio nach Brasilien gekommen und hatte später eine Einheimische geheiratet. Charlize war also ein Halbblut, eine nipo-brasileira, und ihr richtiger Name lautete eigentlich Sayo-Li. „Charlize“ war jedoch einfacher auszusprechen. Sie hatte noch einen älteren Bruder, Keisuke „Kay“ Tanaka.

Es war Ondragon jedoch am liebsten, wenn seine Assistentin Japanisch sprach, denn seine Portugiesisch-Kenntnisse ließen sehr zu wünschen übrig. Immerhin verstand er ein paar Brocken.

Sie winkten ein Taxi herbei und ließen sich in den Stadtteil Mucuripe fahren, wo sich ihre Hotels befanden. Während die Lichter der nächtlichen Stadt am Seitenfenster vorbeizogen, dachte Ondragon darüber nach, unter welchen Umständen er Charlize kennengelernt hatte und wie es dazu gekommen war, dass diese bezaubernde und talentierte junge Frau seitdem für ihn arbeitete. Schon damals hatte Charlize sich als wahres Verkleidungstalent entpuppt, und es war ihr doch tatsächlich gelungen, ihn reinzulegen. Ondragon schmunzelte bei dieser Erinnerung. Danach hatte er gar nicht anders gekonnt, als sie zu überreden, bei ihm als Assistentin einzusteigen.

Sie erreichten das Gran Marquise Hotel an der Avenida Beira-Mar und Ondragon stieg aus. Er holte seine Reisetasche aus dem Kofferraum, gab Charlize mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er sie später anrufen würde, und schlug die Tür zu. Seine Assistentin würde unter einer falschen brasilianischen Identität in einem anderen Hotel absteigen. Für ihre Tarnung war es notwendig, dass sie etwas schlichter residierte. Außerdem war es immer gut, zwei Operationsbasen zu haben.

Durch den zur Straße hin gelegenen Haupteingang betrat Ondragon das Hotel – einen mehrstöckigen Block mit terrakottafarbener Fliesenfassade und verspiegelten Fenstern, die in den Sechzigern vielleicht mal modern gewesen waren. In der weitläufigen Lobby mit einer Wand aus monströsen Natursteinmosaiken und mehreren Sitzgruppen klimperte verhalten ein Piano. Ein paar Gäste hielten sich an der abseits gelegenen Bar auf und schienen in caipirinhafröhlicher Stimmung zu sein. Ondragon nahm sie unter die Lupe und sortierte sie in die Kategorie „betuchte Touristen auf der Suche nach billigem Vergnügen“ ein. Nichts, was ihm in die Quere kommen könnte.

Nachdem er an der Rezeption eingecheckt und sämtliche Überwachungskameras auf dem Weg zu seinem Zimmer im vierten Stock gezählt hatte, war er froh, endlich die Tür hinter sich schließen und allein sein zu können. Er stellte die Tasche aufs Bett, holte alle Dinge heraus, die ihn nicht wie einen gewöhnlichen Hotelgast aussehen ließen, und verfrachtete sie in den Zimmersafe. Darunter war ein zweiter Satz Reisedokumente von Charlize (die wiederum seinen hatte – nur für alle Fälle), ein kleines aber lichtstarkes Fernglas, ein Paar dünne Lederhandschuhe, Pfefferspray, welches auch für Profis sehr nützlich sein konnte, sein Notizblock, ein handlicher Alukoffer mit Zahlenschloss, der seine kleine Spionageausrüstung enthielt, und ein verborgenes Klappmesser mit zwölf Zentimeter Klingenlänge. Natürlich nur zur Selbstverteidigung, denn Schusswaffen bekam man ja leider nicht durch den Zoll. Wie bei vielen Einsätzen in Ländern, in denen er kein geheimes Depot besaß, war Ondragon darauf angewiesen, die schweren Geschütze von seinen Kontaktleuten zu erhalten oder sie sich auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen, was allerdings erheblich mehr Vorarbeit erforderte. Er hoffte, dass der BND ihm wenigstens eine Handfeuerwaffe zur Verfügung stellen würde, wenn er schon kein weiteres Personal bekam. Zur Not taten es aber auch das Pfefferspray und das Messer. In seiner Zeit als Mailman bei DeForce Deliveries war er in Krav Maga ausgebildet worden und wusste wie man Klingen aller Art effektiv einsetzte. Und effektiv bedeutete in diesem Falle tödlich.

Er verschloss den Safe mit einer vierstelligen Kombination und kramte seine Kleidung aus der Tasche, die er am nächsten Tag brauchen würde. Anschließend ging er unter die Dusche. Nach der kurzen Erfrischung trocknete er sich ab, stellte die Klimaanlage auf die zweite Stufe und nahm sein Telefon zur Hand. Charlize meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

„Hast du schon eingecheckt?“, fragte er.

„Hai. Bin gerade auf dem Zimmer angekommen. Sieht okay aus. Der Blick aus dem Fenster ist perfekt. Man kann den Hafen sehen. Und wenn ich in deine Richtung schaue, das Dach deines Hotels.“

„Gut. Dann warten wir ab, was morgen bei dem Treffen herauskommt.“

„In Ordnung, schlaf schön, Chef.“

„Du auch!“ Ondragon legte auf, ging im Internet auf die Seite mit dem verborgenen Bulletin Board und hinterließ dort eine Nachricht für Dobermann12. Dann schaltete er sein Handy aus und legte sich auf die kühlen Laken.

Am nächsten Morgen saß er um 7.30 Uhr ausgeruht beim Frühstück und wartete auf seinen speziell für ihn zubereiteten Porridge, dabei nippte er an einem dreifachen Espresso und blätterte in den spärlichen Notizen, die er sich bisher gemacht hatte. Die Operation würde gestützt vom BND laufen, Charlize wäre dabei sein verlängerter Arm, während er im Verborgenen bleiben und auf seinen Einsatz warten würde. Das war ungewohnt für ihn, da er stets selbst der aktive Part war. Er wusste aber auch, dass er Charlize absolut vertrauen konnte. Sie mussten nur noch die Feinheiten mit dem Kontaktmann besprechen.

Der Porridge kam und Ondragon verschlang sein minimalistisches Morgenmahl mit großem Appetit. Im Anschluss gönnte er sich noch eine Schale frischer Obststücke und machte sich bereit, in einer stillen Ecke des Hotels das Bulletin Board zu öffnen. Tatsächlich gab es dort eine Nachricht von Dobermann12:

Treffpunkt Boteco „Veraneio“ an der Praia de Meireles gegenüber vom Hotel Beira Mar, 12.00. Ich finde Sie!

Erst um zwölf Uhr, das war gut, dachte Ondragon, so hatte er ausreichend Zeit, um noch einige Besorgungen zu machen und das Gelände zu sondieren. Er schickte Charlize eine Mail, damit sie wusste, wo sie in einer Stunde zu ihm stoßen sollte, und machte sich mit einem Taxi auf den Weg zum Mercado Central.

Dort angekommen, setzte er seine Sonnenbrille auf und suchte unauffällig die Umgebung ab. Er schien allein zu sein, aber das würde ein späterer Aufklärungsgang noch bestätigen müssen. Zunächst aber steuerte er auf den modernen, halbmondförmigen Bau des Einkaufszentrums zu, der direkt neben der Kathedrale von Fortaleza errichtet worden war – Tempel zweier unterschiedlicher Religionen.

Der Shopping-Komplex war vollgestopft mit kleinen Läden, die über vier Etagen alles boten, was den Pauschaltouristen glücklich machte. Als erstes besorgte sich Ondragon zwei Stadtpläne, wobei er sich immer wieder vergewisserte, dass er nicht verfolgt wurde. So früh morgens war nicht viel los und es fiel ihm leicht, die einzelnen Leute zu begutachten. Keiner erschien ihm verdächtig. Also setzte er seine Shoppingtour fort, kaufte ein paar grellbunte T-Shirts, einen Cowboyhut aus Stroh, eine Baseballkappe, Flipflops, einen kleinen Rucksack und Strandshorts. Ondragon hasste Shorts, denn unter ihnen konnte man nur schwer Waffen verbergen, aber lange Hosen fielen in diesem Ferienparadies einfach zu sehr auf.

Nachdem er alles für seinen Einsatz besorgt hatte, ging er auf eine Herrentoilette und zog sich um. Seine restlichen Klamotten steckte er in den Rucksack. Im Spiegel begutachtete er sein Outfit und setzte sich den peinlichen Strohhut auf. Da er die kalifornische Sonne gewöhnt war, brauchte er sich um seinen Teint keine Sorgen zu machen. Er sah aus, als sei er schon ein paar Wochen hier. Frisch umgestylt verließ er die Toilette und begab sich in ein Café in der untersten Etage der Shoppingmall. Dort setzte er sich an einen Tisch mit Blick auf das große Atrium, das sich allmählich mit Menschen zu füllen begann.

Um 10.30 erschien Charlize und ließ sich mit einem Lächeln und vielen Einkaufstüten neben ihm nieder. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und bestellte beim Kellner einen cafe com leite. Für ihre gemeinsamen Aktivitäten auf offener Straße hatten sie eine Tarnung als verlobtes Pärchen ausgemacht, auch wenn sie abends getrennte Wege gehen würden. Das war eine kleine Schwachstelle, aber für Charlizes zweite Identität, die sie demnächst vom BND erhalten würde, war sicherer, wenn sie ein Einzelappartement bezog.

Verstohlen betrachtete Ondragon seine Assistentin. Sie trug ein luftiges, grünes Beachkleid mit einem weißen Bikini darunter. Ihre Haut glänzte vom Sonnenöl und ein verführerischer Duft nach Strand und Sonne ging von ihr aus. Charlize hatte ihre Verkleidung mal wieder voll im Griff. Er grinste in sich hinein und trank von seinem frisch gepressten Orangensaft.

„Hast du alles bekommen?“, fragte er.

„Natürlich, Honey“, antwortete sie mit einem starken brasilianischen Akzent, den sie sonst nicht zu sprechen pflegte.

„Was ist mit der Software?“ Software war das Codewort für Kontakte, die vor Ort hergestellt werden mussten.

„Schon geschehen, ich hab mich um alles gekümmert. Sem weiß Bescheid.“ Sie gab ihm einen handbeschriebenen Zettel, auf dem die Mail-Adresse von diesem Sem stand. Ondragon wusste, dass Charlize gute Kontakte zur brasilianischen Unterwelt besaß, aber um wen genau es sich dabei handelte, war ihm nicht bekannt. Das war eine von Charlizes Bedingungen gewesen, als sie damals begonnen hatte, für ihn zu arbeiten. Fragen über ihre Vergangenheit waren absolut tabu!

Sie legte eine Hand auf die seine und sagte mit säuselnder Stimme: „Du kannst dich auf mich verlassen, Schatz!“

Ondragon warf ihr einen warnenden Blick zu. „Übertreib es nicht, sonst zeigt dir dein amerikanischer Gringo-Verlobter mal, worauf er im Urlaub noch so steht. Bussi Bussi ist es schon mal nicht!“

Schmollend schaute Charlize ihn über die Sonnenbrille hinweg an. Ihr Kaffee kam und brachte sie davon ab, sich in den Kaktus zu verwandeln.

„Und wie lautet unser Programm für heute?“, erkundigte sie sich.

„Mit dem Taxi starten wir von hier aus eine kleine Erkundungstour zum Hafen, wo sich die Hallen mit den Wrackteilen der Air-France-Maschine und das Labor befinden, und anschließend fahren wir durch unser Viertel. Während wir unterwegs sind, werden wir Japanisch sprechen, damit der Fahrer nicht mithören kann. Um zwölf Uhr treffen wir uns mit dem Kontaktmann in einer Strandbar. Du wirst an meiner Seite bleiben, schließlich wirst du die Operation durchführen. Danach bereiten wir uns auf den Einsatz vor.“

Sie tranken ihre Getränke aus, bezahlten und riefen sich am Haupteingang der Mall ein Taxi herbei. Ondragon war froh über die Klimaanlage in dem Wagen, denn draußen herrschte bereits drückende Hitze. Weit weniger erfreut war er über die nervtötende Forro-Musik, die aus dem Radio schepperte. Er bat Charlize, dem Fahrer auszurichten, er solle die Musik leiser stellen, was dieser dann auch widerwillig tat. Der Lärmpegel sank auf ein erträgliches Maß unterhalb einer Flugzeugturbine, und erleichtert atmete Ondragon auf. Sie gaben den Fahrer, der sich sichtlich über den Eingriff in sein Hörvergnügen ärgerte, Instruktionen und fuhren los.

Das Hafenareal von Fortaleza war lächerlich klein und es dauerte nicht lange, die paar Straßenzüge, die mit Buchstaben gekennzeichnet waren, zu durchkreuzen. Das eigentliche Gelände mit den Docks, Hallen und Silos war durch eine Betonmauer vom öffentlichen Bereich abgeschottet und besaß nur drei Einfahrten. Vor dem Haupteingang ließ Ondragon das Taxi etwas langsamer fahren.

„Ziemlich heruntergekommen“, sagte er auf Japanisch. „Außerdem sieht es nicht sonderlich stark bewacht aus.“

„Node sore wa – So ist es“, entgegnete Charlize und schoss heimlich ein paar Fotos mit ihrem Smartphone. „Wahrscheinlich gehen sie davon aus, dass sich nur wenige Journalisten für den Flugzeugschrott interessieren.“

Als sie das westliche Ende erreichten, bemerkte Ondragon eine Pipeline, die über die Mauer auf das Hafenareal führte. „Hier gäbe es schon mal eine gute Möglichkeit, bei Nacht hineinzugelangen und Pandora hinauszuschmuggeln. Außerdem steht uns noch der Wasserweg zur Verfügung. Schau mal, dort drüben. Siehst du das zum Teil eingestürzte Gebäude, das fast an die Mauer grenzt? Das ist ein gutes Versteck. Von dort aus werde ich die Operation überwachen.“

Charlize nickte.