Ondragon 1: Menschenhunger - Anette Strohmeyer - E-Book

Ondragon 1: Menschenhunger E-Book

Anette Strohmeyer

0,0

Beschreibung

Eigentlich wollte Paul Ondragon in der berühmten Klinik von Dr. Arthur ganz diskret nur seine außergewöhnliche Phobie behandeln lassen. Doch spätestens beim Fund eines unbekannten Toten in den Wäldern Minnesotas wird ihm klar, dass an dem abgelegenen Zufluchtsort der Schönen und Reichen Hollywoods etwas ganz und gar nicht stimmt. Ondragon stellt Nachforschungen an und stößt dabei auf ein grauenhaftes Geheimnis: Ein indianisches Waldmonster – den Wendigo! Der erste Fall von Paul Ondragon "Menschenhunger" erscheint als eBook-Originalausgabe. Ein spannender Mystery-Thriller von Anette Strohmeyer ("Monster 1983")

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 608

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ondragon: Menschenhunger

Anette Strohmeyer

Originalausgabe

»Band 1«

IV. Auflage © 2012-2014

ISBN 978-3-942261-30-2

Cover-Gestaltung: bürosüd, München

© 2012 Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung, der Vertonung als Hörbuch oder -spiel, oder der Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, Video oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile, sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

Danksagung

von Anette Strohmeyer

Allem voran möchte ich meinem Mann Daniel dafür danken, dass er mein schärfster Kritiker ist und mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Desweiteren gilt mein Dank meinen Freunden Sabine und Andreas Sommer, die sich sämtliche Rohentwürfe zu Gemüte geführt haben und immer mit guten Ratschlägen aufwarten konnten, und natürlich allen anderen Testlesern, deren Geduld ich hoffentlich nicht zu sehr strapaziert habe. Danke sage ich auch der Familie Reese/Temmen für ihre „Rundum-Beratung“ und Laurence Dietz für die Übersetzungen ins Französische.

Und last but not least danke ich Ivar Leon Menger von der Psychothriller GmbH für sein Vertrauen und seine Begeisterung.

Prolog

1835, einige Meilen südlich des Lake Kabetogama, „Raue Wasser“, an der Grenze zu Kanada unter britischer Verwaltung

Alan Parker zügelte sein Pferd und gab seinen zwei Begleitern hinter sich ein Zeichen. Der alte Fallensteller lauschte in den verschneiten Wald hinein. Wenige Schritte vor ihm lag die Lichtung, auf der die Walcotts ihr Farmland bewirtschafteten. Das Blockhaus der Farmersfamilie lag genau auf der Hälfte des Weges, den sie zwischen ihren Jagdgründen, in denen sie ihre Fallen aufstellten, und dem Handelsposten Fort Frances zurücklegten. Jedes Mal kamen sie hier vorbei und machten bei den Walcotts Rast oder übernachteten in der Scheune.

Es wurde bereits dunkel und die Sicht trübte sich. Das Blockhaus wirkte wie ein gedrungener schwarzer Klotz, der wie aus dem Nichts auf die schneebedeckte Fläche hinabgefallen zu sein schien. Licht flackerte einladend in den Fenstern, und Rauch stieg aus dem Kamin auf. Alles sah aus wie immer.

Aber irgendetwas stimmte trotzdem nicht.

Parker runzelte die Stirn und suchte nach einer Erklärung. Eine Krähe ließ in der Ferne ihren rauen Ruf erklingen. Eines der Pferde schnaubte.

Schließlich wusste er es.

„Kein Hund!“, sagte im selben Moment Two-Elk in seinem Rücken.

Parker nickte und zog seine Flinte aus dem Futteral am Sattel. Der Hund der Walcotts, eine krude Mischung aus verschiedenen Rassen, bellte für gewöhnlich, wenn sich jemand der Farm näherte. Heute war es unheimlich ruhig.

Konnte gut sein, dass die Walcotts keinen Hund mehr hatten, dachte Parker, wollte aber sicher gehen. Er spannte den Hahn seiner Flinte. Hier in den Wäldern weitab von jeglicher Zivilisation musste man mit allem rechnen.

Er trieb sein Pferd an, und im Schritt trat es auf die Lichtung. Noch immer rührte sich nichts, im Haus blieb alles ruhig.

Parkers Unbehagen wuchs. Er hob die Flinte. Two-Elk und Lacroix ließen die Packpferde mit den Pelzen zurück und scherten hinter ihm aus.

„Walcott?“, rief Parker.

Zwei Krähen flogen vom Dachfirst in den lichtlosen Himmel auf, doch Parker wandte seinen Blick nicht von der verschlossenen Holztür ab.

„John? Eleanor?“, rief er erneut.

Immer noch keine Antwort.

Die hereinfallende Nacht tauchte das Blockhaus und den Stall in blaue Schatten. Parker bemerkte, dass es wieder zu schneien begann. Lautlos tanzten die Flocken im Lichtschimmer vor den Fenstern.

Mit einem Blick verständigte er sich mit Two-Elk und glitt aus dem Sattel. Die Flinte im Anschlag näherte er sich vorsichtig der Tür, vor der ein Wirrwarr aus Spuren zu erkennen war. Parker studierte sie und lehnte sich dann seitlich gegen die Außenwand des Hauses. Seine Stirn zog sich in tiefe Falten. Zwischen den menschlichen Schuhabdrücken befand sich eine Spur, die er nicht einordnen konnte. So, als sei jemand barfuß durch den Schnee gegangen.

Jemand ohne Zehen.

Parker verfolgte die Spur mit seinen Augen. Sie kam als blaues Band geradewegs aus dem dunklen Wald. Schweiß brach ihm unter seiner Lederkleidung aus, und er schob sich seinen Hut in den Nacken. Er konnte nicht sagen warum, aber die seltsame Fährte löste eine dunkle Angst bei ihm aus. Unwillkürlich umklammerten seine Finger den Lauf seiner Flinte fester.

Etwas war zu diesem Haus gegangen.

Etwas aus den Wäldern.

Womöglich war es noch drinnen. Dann hatte es sie bestimmt kommen gehört.

Parker spürte, dass seine Begleiter ungeduldig wurden. Er nickte ihnen erneut zu, holte noch einmal tief Luft und warf sich schließlich mit Schwung gegen die Tür. Mit einem lauten Knall flog sie auf und schlug im Innern gegen die Wand. Schnell sprang Parker zurück in die Deckung der Hauswand. Er sah, wie Two-Elk und Lacroix von ihren Pferden aus auf die helle Öffnung zielten. Licht zerschnitt die Dunkelheit und beleuchtete den zertrampelten Schnee vor der Türschwelle. Ein beißend süßlicher Geruch drang aus dem Innern des Hauses und weckte in Parker scheußliche Erinnerungen. Kaum wagte er zu atmen. Wie oft hatten sich in entlegenen Blockhäusern entsetzliche Dinge abgespielt?

‚Jetzt beweg endlich deinen hageren Arsch, alter Mann!’, mahnte er sich selbst.

Entschlossen stieß er sich von der Wand ab, drehte sich in den Eingang und ging gleichzeitig in die Knie. Über die Flinte zielend blickte er in das Innere des Blockhauses. Das Bild, das sich ihm bot, übertraf alles, was er bisher gesehen hatte.

Parker musste schlucken.

Übelkeit überwältigte ihn, als hinter ihm ein Schuss fiel.

1. Kapitel

2009, Nord-Minnesota, St. Louis County, State Forest Road

Der Motor des Ford Shelby Mustang gab ein sattes Brüllen von sich, als er das Gaspedal durchdrücke. Zufrieden stellte Paul Eckbert Ondragon fest, dass hinter ihm eine große Staubwolke von der trockenen Schotterstraße aufstieg. Geschickt wich er einem Schlagloch aus und lenkte das Auto wieder auf die Mitte der Straße, die sich durch die schier endlosen Wälder schlängelte. Seit er vor einer dreiviertel Stunde von der 53 auf die schmale Forest Route abgebogen war, war ihm niemand mehr entgegengekommen. Nicht einmal ein Holzlaster. Das faszinierte Ondragon immer wieder. Welch abgelegene Gegenden es in den USA doch gab. Hier, kurz vor der Grenze zu Kanada gab es nichts als Wald. Wald und Seen. Er fragte sich, was für Menschen das waren, die hier in den weit verstreuten Siedlungen hausten. Gottesfürchtige und hart arbeitende Bürger Amerikas? Seine Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Grinsen. Wohl eher Hillbillies!

Er wich einem weiteren Schlagloch aus. Heißes Gummi rutschte über dunklen Basaltschotter, und der unkrautüberwucherte Seitenstreifen kam gefährlich nahe. Ondragon lenkte gegen und fing das schlingernde Heck des Mustangs wieder ein. Sein Cowboystiefel trat weiter unbeirrt auf das Gaspedal. Er ließ eine Kaugummiblase platzen und drehte die Musik lauter. Hotel California von den Eagles dröhnte durch das offene Fenster in den dichten Wald und hallte von den hohen Nadelbäumen wieder zurück über das Tal.

Nach zwei weiteren Meilen machte die Straße einen Knick, das Ufer eines Sees kam in Sicht. Auf der Wasseroberfläche brach sich das Licht der Sonne wie auf zerknitterter Alufolie.

‚Hier muss es irgendwo sein’, dachte Ondragon und hielt Ausschau. Die Anfahrtsskizze lag auf dem Beifahrersitz.

Abrupt wechselte sein Fuß vom Gas auf die Bremse, und das Auto kam schlitternd zum Stehen. Der Mustang protestierte mit einem Schwall Abgasen, die nach vorne schwappten.

Eine weitere Kaugummiblase platzte, und Ondragon legte den Rückwärtsgang ein. Er fuhr hundert Meter zurück und hielt vor einem Schild.

Cedar Creek Lodge, 8 Miles sagte es in einer Schrift aus roter Farbe, die wie getrocknetes Blut aussah. Aber wo war die Abzweigung? Ondragon blickte in den Rückspiegel. Keine Menschenseele war zu sehen. Nur noch der Rest der Staubwolke, die sich allmählich auflöste. Er schaltete die Musik aus und fand sich augenblicklich in einer vollkommen anderen Welt wieder: Vögel zwitscherten und Insekten summten. Irgendwo plätscherte ein Bachlauf.

Sonst nichts.

Kein Autolärm, keine Hochhäuser, keine Leuchtreklame, kein Starbucks. Es war eine Welt, die dem Kosmos, in dem er lebte, so fern war wie ein fremder Planet. Nur dass hier keine grünen Männchen hausten, sondern Hirsche und Hillbillies.

„Kommt fast dasselbe bei raus“, dachte Ondragon laut und fuhr wieder an. „Die Abzweigung kommt bestimmt noch.“

Er behielt Recht. Nach dreihundert Meter sah er sie. Holpernd bog der Mustang auf die Straße ein, die in einem noch schlechteren Zustand war als die vorherige. Ondragon fluchte und lenkte seinen schmucken Oldtimer, der genauso wenig in diese Gegend passte wie der dunkelgraue Anzug, den er trug, um die Schlaglöcher herum. So würde es eine Ewigkeit dauern, bis er die Lodge erreichte.

„Ich hätte doch den Shuttleservice in Anspruch nehmen sollen.“ Sehnsüchtig wünschte er sich ein kühles Bud, fischte sich stattdessen eine lauwarme Wasserflasche vom Rücksitz und trank sie mit drei großen Zügen leer.

„Kein Vergleich!“, stieß er noch immer durstig aus und wollte die Flasche schon aus dem Fenster werfen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Diese Flasche kam aus einer anderen Welt. Sie war ein Ufo. Sie hatte hier nichts verloren.

Plötzlich kreuzte etwas seinen Weg - etwas Großes, Graues. Erschrocken trat Ondragon auf die Bremse und verschluckte dabei seinen Kaugummi. Als der Mustang endlich stand, drehte Ondragon sich um und sah nach hinten auf die Straße.

Da war nichts, nur aufgewirbelter Staub. Stirnrunzelnd blickte er wieder nach vorn. Er hatte doch eindeutig etwas gesehen. Und es war viel zu groß gewesen, um einfach so zu verschwinden. Wo war es hin? Ein Knacken drang an sein Ohr, und Ondragon wandte den Kopf. Aufmerksam suchte er das undurchdringliche Gestrüpp zu seiner Linken ab. Dort drüben zwischen den Sträuchern und den silbrigen Stämmen der Pinien bewegte sich etwas. Oder war es nur der Wind, der durch das Geäst strich und die Schatten tanzen ließ? Ondragon schnalzte mit der Zunge. Jedenfalls war es jetzt fort. Was immer es auch gewesen sein mochte.

„Scheißwald!“

Er gab wieder Gas. Wahrscheinlich war es ein Elch gewesen. Hoffentlich war er bald da. Sonst würde er es sich doch noch anders überlegen.

Eine halbe Stunde später erreichte er endlich den Parkplatz vor der Lodge. Er parkte den Mustang neben vier Offroadern, einem staubigen Pickup mit der Aufschrift Cedar Creek Lodge und einem roten Prius ein. Verdammte Ökoschüsseln! Sie machten ihm immer ein schlechtes Gewissen.

Mit einem missbilligenden Blick auf den Toyota zog Ondragon den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus. Es war bereits gegen Abend, und der Parklatz war in violette Schatten getaucht. Der Wald atmete abendliche Kühle aus. Nur auf den Dächern der Gebäude und den Spitzen der Douglasien glomm noch das rötlichgoldene Licht der untergehenden Sonne. Allerdings würde es noch mindestens vier bis fünf Stunden dauern, bis sie tatsächlich verschwunden wäre. Die Tage in diesen Breiten waren im Sommer lang und im Winter verdammt kurz. Ganz anders als in Kalifornien, wo die Tage immer schön gleich waren. Ondragon öffnete den Kofferraum und nahm zwei große Reisetaschen heraus, dabei fiel sein Blick auf den länglichen Metallkoffer. Ihn würde er vorerst im Auto lassen. Vielleicht würde er ihn gar nicht brauchen. Er schlug die Kofferraumklappe zu und fuhr zusammen. Ein junger Kerl stand neben dem Mustang und piff durch die Zähne. Er hatte einen Dreitagebart und einen leichten Silberblick.

„Wow, ein 67er Shelby GT 500 Fastback! Solch ein Zuckerstück bekommt man hier nicht oft zu sehen. Wie viel macht er denn so?“

„Zweihundert Meilen die Stunde!“

Wieder ein Pfiff. „Darf ich?“

Ondragon nickte. Silberblick fuhr andächtig über die mattschwarze Oberfläche. Eine Sonderanfertigung aus L.A. wie auch das Interieur. Ondragon kannte die Typen von West Coast Customs persönlich.

Der Kerl ging einmal um das Auto herum und öffnete seinen Mund zu einem breiten Grinsen.

„Eine heiße Lady. Wirklich!“

„Danke.“

Silberblick kam wieder bei ihm an.

„Sie sind sicher Mr. On Drägn. Darf ich Ihre Taschen nehmen?“

„Das heißt Ondragon!“ Er hasste es, wenn man seinen Namen falsch aussprach. „On-dra-gon. Betonung auf der ersten Silbe. Das ist kein amerikanischer Name.“

„Echt? Trotzdem cool.“ Silberblick zog sich die rote Baseballkappe mit dem verwaschenen Chicago Bulls Logo zurecht. Wenigstens hatte er Geschmack bei der Wahl seines Basketballteams bewiesen.

„Und wer sind Sie?“, fragte Ondragon.

„Oh, ‘tschuldigung, wie unhöflich von mir. Ich bin Peter Parker.“

„Wollen Sie mich verarschen, Mann!“ Ondragon wurde langsam ungehalten. Was war das für eine Lodge, die sich solche Angestellte leistete? Vielleicht sollte er sein Vorhaben doch noch einmal überdenken, bevor er sein Geld hier investierte.

„Äh, wieso?“ Silberblick schob sich verlegen die Ärmel seines karierten Hemdes hoch. Jetzt sah er so aus, als wolle er dem Holzfällerriesen Paul Bunyan Konkurrenz machen!

„Schon mal was von Spiderman gehört?“ Ondragon tippe sich mit seinem schmalen, langen Zeigefinger an die Stirn.

Der silbrige Blick seines Gegenübers blieb leer, nahm dann aber doch einen Ausdruck des Begreifens an. „Ach, Sie meinen den Typen, der sich in Spiderman verwandelt. Ja, der heißt genauso wie ich!“ Ein halbdebiles Grinsen folgte.

„Nicht zu fassen. Ihre Eltern waren wohl Fans?“

„Keine Ahnung. Mein Urgroßvater hieß so. Gab es damals schon Spiderman?“ Er kratzte sich unter seiner Baseballkappe am Kopf. „Egal. Nennen Sie mich einfach Pete. Das ist mir sowieso viel lieber. Darf ich jetzt Ihre Taschen hinauf zum Empfang tragen?“

Ondragon zögerte kurz, überließ Pete dann aber das Gepäck.

„Bitte folgen Sie mir, Mr. On Drägn.“

Ondragon rollte mit den Augen und folgte dem seltsamen Faktotum zu der Lodge hinauf. Mal sehen, welch merkwürdige Gestalten sich noch hier herumtrieben.

Die Lodge lag etwas oberhalb des Parkplatzes auf einer gut getrimmten Wiese, die hier in der Wildnis so unpassend wirkte wie ein Jäger im Seidenkimono. Der große Blockhauskomplex bestand aus einem dreistöckigen Mittelbau mit sechseckigem Grundriss und einem holzschindelgedeckten Dach, das wie die Spitze eines Kristalls aussah. Von diesem zentralen „Turm“ aus knickten zwei flachere Wohnflügel nach hinten ab. Dahinter tat sich freies Gelände auf.

Die Cedar Creek Lodge war zwar nicht so luxuriös wie die berühmte Cirque Lodge in Utah, dafür aber auch nicht von Paparazzi belagert. Für den Großteil der Skandalfotografen lag die Lodge einfach zu tief in den Wäldern. Deshalb galt: Je abgelegener der Ort, desto geschützter war man vor den Kameraaugen dieser Meute und der klatschhungrigen Welt. Sein Aufenthalt hier würde ihn viel Geld kosten, dachte Ondragon, aber es war auch eine letzte Chance. Und er hoffte, dass es das wert war. Immerhin besaß Dr. Arthur, der Leiter der Klinik, einen ausgezeichneten Ruf.

Mit einem Sprung nahm er die oberste Stufe zum Eingangsportal und schritt durch die Tür, die Pete ihm bemüht galant aufhielt. Sie betraten einen kleinen Empfangsbereich. Aufmerksam blickte Ondragon sich um. Im gedämpften Licht stand eine lederne Sofagarnitur vor einem Kamin, über dem ein riesiges Elchgeweih hing. Auf einem aus skurril verdrehten Wurzeln zusammengezimmerten Tisch warteten einige Hochglanzmagazine darauf, von entspannten Händen durchgeblättert zu werden, und auf dem Holzfußboden lag ein dicker, grüngemusterter Teppich, der wohl das Pendant zum Rasen draußen bilden sollte. Pendleton-Wolldecken auf den Sofas und elektrische Windlichter an Schmiedehaken an den Wänden machten den Eindruck von einer gemütlichen Jagdhütte in den Bergen vollkommen. Genau, was Ondragon sich erhofft hatte. Behagliches Ambiente mit einer Prise Wildnis. Er wandte sich dem Empfangstresen zu, der geradeaus neben einer weiteren Glastür eingelassen war und den Rest des Gebäudes vor dem Zutritt unbefugter Gäste abschirmte. Eine junge, blonde Frau, die aussah wie aus dem Prospekt, erschien dahinter und lächelte ihn an.

„Willkommen in der Cedar Creek Lodge, Mr. Ondragon.Ich bin Sheila.“

Wenigstens sprach sie seinen Namen korrekt aus. Wahrscheinlich war sie über all seine Eigenheiten gründlich gebrieft worden. Es ging aufwärts mit dem Personal! Wohlwollend lächelte Ondragon zurück.

„Wenn Sie bitte hier unterschreiben möchten.“ Sie tippte mit einem passend zum Teppich grünlackiertem Fingernagel auf ein Formular. „Dann kann ich Ihnen Ihre Zimmerschlüssel aushändigen. Außerdem ist es notwendig, dass Sie mir Ihren Autoschlüssel überlassen.“

Ondragon hielt mitten in seiner Unterschrift inne. „Meine Autoschlüssel?“ Auf Sheilas Gesicht erschien ein Lächeln, und er sah, dass sie einen künstlichen Brillanten auf ihrem Eckzahn hatte. „Es ist Teil des Programms. Sie sollen sich ganz darauf einlassen.“

„…und nicht mittendrin abhauen?“, ergänzte er säuerlich.

„Nun, ja. Wir haben hier einige schwierige Fälle und ...“

„... ich bin solch ein schwieriger Fall?“

Sheila sah ihn an. „Das wird Dr. Arthur beurteilen.“

Ondragon biss sich auf die Zunge. Er würde sich zusammenreißen müssen, wenn er das hier durchziehen wollte. Aber er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand sagte, was er zu tun hatte. „Schon verstanden. Aber bewahren Sie den Schlüssel gut auf. Wenn mein Baby nur den Hauch eines Kratzers abbekommt, dann mache ich Sie dafür verantwortlich!“ Sein Finger stach ihr entgegen.

„Der Autoschlüssel kommt in unseren Tresor.“ Mit ihrem hübschen Kinn machte Sheila eine Bewegung in Richtung des Büros hinter sich. „Ich versichere Ihnen, dass sich niemand Ihrem Auto auch nur nähern wird.“

Ondragon warf einen Blick auf Pete, der schräg lächelte.

„Nun gut. Hier, bitte“, sagte er zähneknirschend. Doch bevor er den Autoschlüssel über den Tresen schob, entfernte er den Anhänger. „Mein Talisman“, sagte er und steckte ihn schnell zurück in seine Hosentasche. Er fing Sheilas belustigten Blick auf und ärgerte sich erneut. Er wusste, dass ein pink emailliertes Herz mit einem Bären darauf nicht gerade imagefördernd war, aber dieses verdammte Ding hatte ihm schließlich einmal das Leben gerettet!

Sheila nickte und nahm den Schlüssel des Mustangs in Verwahrung. „Hatten Sie eine gute Anreise?“

„Wie man’s nimmt. Schlechte Straßen und Viehzeugs, das einem vor’s Auto springt.“

„Ja, in den Wäldern hier rings herum wimmelt es nur so von wilden Tieren. Elche, Hirsche, Bären und so weiter. Aber keine Angst, die sind ungefährlich.“

„Sehe ich aus, als hätte ich Angst?“, fragte Ondragon barsch.

Sheila blinzelte indigniert und betrachtete skeptisch seinen schicken Anzug. „Da wäre noch etwas. Dr. Arthur legt Wert auf eine störungsfreie Atmosphäre in der Lodge. Seine Gäste sollen sich uneingeschränkt entspannen können. Dazu ist es Voraussetzung, dass Sie mir auch Ihr Handy aushändigen, sofern Sie eines mitgebracht haben.“

Ondragon hob überrascht die Augenbrauen, aber insgeheim hatte er eine solche Maßnahme von Seiten der Klinik geahnt. Mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck griff er in die Innentasche seines Jacketts, zog ein Blackberry heraus und schob es über den Tresen. Sheila sah ihn unverwandt an.

„Das zweite bitte auch!“, sagte sie im besten Drillsergeant Ton und mit ausgestreckter Hand.

Mist! Ondragon fischte das iPhone aus seiner Hosentasche.

„Und ich darf während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal draufsehen?“

„So ist es.“ Ihre Augen verrieten eindeutig Befriedigung, auch wenn sie versuchte ernst zu bleiben. Nur widerstrebend überließ er ihr den Sieg und legte das Mobiltelefon in ihre Hand. Die grünen Fingernägel schlossen sich darum wie die Blatthälften einer fleischfressenden Pflanze um eine Fliege.

„Danke, Mr. Ondragon! Haben Sie einen Computer dabei? Ein Netbook oder Ähnliches? Internet ist nämlich auch tabu.“

„Nein, ich habe keinen. Ich arbeite ausschließlich über mein iPhone, wenn ich unterwegs bin.“ Ondragon warf ihr einen grimmigen Blick zu.

„Gut, dann wird Pete Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen. Dr. Arthur empfängt Sie morgen früh um zehn Uhr in seinem Büro im zweiten Stock. Sie sind bereits bei ihm angemeldet. Um sieben Uhr gibt es Abendessen im Lakeview Salon im hinteren Gebäudeteil. Wenn Sie Fragen haben, dann wenden Sie sich an mich oder Pete. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.“

Ondragon sparte sich seinen bissigen Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, und zwinkerte Sheila stattdessen kumpelhaft zu.

„Na dann, bis später“, sagte er und drehte sich zu dem Kofferjungen um. Mit beschwingtem Schritt ging er davon. Unauffällig strich er dabei, eine Hand in der Hosentasche, über sein drittes Handy.

Während er Pete die Treppe hinauf in den dritten Stock folgte, musterte er den Hillbilly von hinten. Er mochte so um die fünfundzwanzig sein und hatte die Figur einer Vogelscheuche. Die ausgeleierte Jeans schlabberte um seine Beine, als wären sie aus biegsamem Bambus. Ondragon fragte sich, ob er noch andere Aufgaben hatte, als das Gepäck der Gäste zu tragen.

„Woher kommen Sie denn, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Pete und drehte sich im Gehen zu ihm um.

„Aus L.A.“

„Da kommen viele unserer Gäste her.California-Home of fruits and nuts!“Pete kicherte und klang dabei wie eine schnatternde Ente. Ondragon bekam die Assoziation von Duffy Duck und Elmer Fudd, dem Jäger, nicht mehr aus dem Kopf.

Oben angekommen wandte Pete sich nach links und stakste in seinen ausgelatschten Jagdstiefeln einen langen, mit Teppich ausgelegten Flur entlang, der von geschmackvollen Sitzgruppen aufgelockert wurde. Auch hier bestanden die Wände aus geschälten Baumstämmen, die allerdings in regelmäßigen Abständen von weinroten Türen unterbrochen wurden. Hier und da hingen einige Bilder. Im Vorbeigehen betrachtete Ondragon ein teuer gerahmtes Ölbild, das Indianer zeigte, die sich als Wolf getarnt im Schnee an eine Gruppe Kavallerie-Soldaten heranschlichen. Ein anderes hatte eine wildromantische Blockhütte im Wald als Motiv.

Eine der Türen öffnete sich, und ein Mann in einem peinlichen Designer-Freizeitanzug trat heraus auf den Flur.

„Hey, Mr. Shamgood, wie geht’s?“, grüßte Pete ihn im Vorbeigehen und tippte an den Schirm seiner Baseballkappe.

„Danke, scheint, mein Tag wird immer besser!“ Mr. Shamgood ließ anzüglich die Augenbrauen tanzen und sah dabei Ondragon von unten bis oben an.

„Na, dann ...“ Pete schlurfte weiter, doch Ondragon konnte deutlich spüren, wie Mr. Shamgood ihm interessiert nachsah. Er meinte sogar ein leises Pfeifen zu hören. Ärgerlich biss er die Zähne zusammen.

„So, Mr. On Drägn, da wären wir. Das ist Ihr Zimmer, Nummer 6.“ Pete öffnete die Tür, trat ein und stellte die Taschen auf eine große Holztruhe am Fußende des Bettes. Ondragons Blick fiel sofort auf den Balkon und die grandiose Aussicht.

„Wow!“, sagte er, öffnete die Balkontür und ging hinaus.

„Nicht schlecht, was? Das ist der Little Moose Lake.“ Pete trat neben ihn und zeigte auf den klaren Bergsee, aus dem rundgeschliffene Felseninseln mit Kiefernbewuchs ragten. Schilf und mächtige Weißkiefern säumten die Ufer.

„Der See hat die Form einer Gurke und ist zweieinhalb Meilen lang, und manchmal kommen tatsächliche Elche, um hier zu fressen. Meist in der Dämmerung. Außerdem kann man prima angeln. Wenn Sie Ausrüstung dafür brauchen - die Cedar Creek Lodge hat alles da, was das Anglerherz begehrt. Wenden Sie sich an mich oder Frank, das ist der Gärtner.“

Ondragon hasste Angeln. Reine Zeitverschwendung, wenn man den Fisch im Supermarkt nebenan kaufen konnte oder noch besser, gleich fertig zubereitet im Restaurant.

„Das dort drüben ist übrigens der Mount Witiko.“ Pete wies mit dem Daumen auf eine bizarre Felsformation.

„Witiko“, wiederholte Ondragon und blickte auf den beinahe schwarzen, in zwei Spitzen gespaltenen Gipfel, der sich zwischen zwei flacheren Bergkuppen aus dem undurchdringlichen Grün des Waldes erhob. Möglicherweise vulkanischen Ursprungs, dachte er.

„Ist’n indianischer Name, von den Ojibway. Und der Berg ist einer ihrer heiligen Orte. Sie halten dort Rituale ab und so’n Zeugs. Falls es Sie interessiert, in der Bibliothek der Lodge finden Sie alle möglichen Karten und Bücher über die Wälder und die Indianer.“

Ein unerwartetes Kribbeln jagte über Ondragons Rücken. Bibliothek! Wenn du wüsstest, Bürschchen!

Pete plapperte munter weiter. „Die Geschichte dieser Gegend ist Dr. Arthurs Hobby. Is‘ nich‘ mein Ding, aber ich guck mir manchmal die gruseligen Bilder in den Büchern an. Speziell die vom Bergmonster.“ Der Kofferjunge gluckste und rückte seine Baseballkappe zurecht. Schien eine Angewohnheit von ihm zu sein. „So, ich muss dann mal wieder nach unten, Sheila wartet auf mich. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, Mr. On Drägn.“

Pete ging zur Tür.

„Ach ja, bevor ich’s vergesse!“ Er wandte sich noch einmal um. „Auf dem Nachttisch liegen die Golden Rules. Dr. Arthur will, dass jeder Gast sie liest und sich natürlich auch daran hält.“ Der Hillbilly grinste und verschwand.

Eine Weile stand Ondragon noch auf dem Balkon und betrachtete den Mount Witiko, der sich schwarz auf der glatten Wasseroberfläche des Sees spiegelte. Dann ging er wieder hinein, zog sein mit rotem Satin gefüttertes Jackett aus und sah sich in dem Zimmer um, das für die nächsten Wochen sein Domizil sein sollte. Das breite Bett war aus entrindeten Holzstämmen gezimmert, genauso wie der Tisch mit den zwei Stühlen. In der Ecke am Panoramafenster stand ein schwerer Ledersessel mit einem kleinen, runden Beistelltisch aus dunklem Nussholz und einem elektrischen Windlicht darauf. In der anderen Ecke neben der Tür stand ein wahrer Koloss von einem Schrank: Antikbeize und handgeschmiedete Angeln. Ondragon drehte den großen Schlüssel im Schloss und öffnete ihn. Mehrere Ablagefächer, eine Kleiderstange und ein Tresor mit Eingabetasten. Kein Fernseher! Ondragon wusste noch nicht, wie er das finden sollte. Er schloss den Schrank wieder und wandte sich um. Über dem Bett hing ein hellblauer Wandteppich im Stil der Westküstenindianer mit einem weißen Raben darauf. Er trug den Mond in seinem Schnabel. Alles wirkte rustikal, gleichzeitig aber auch edel und lud zum Wohlfühlen ein. Mal sehen, wie lange er es hier aushielt.

Ondragon fragte sich, wie viele „Gäste“ sich außer dem offensichtlich stockschwulen Mr. Shamgood hier wohl noch aufhielten. Er beschloss, sich bei Sheila danach zu erkundigen. Schließlich wollte er wissen, mit wem er es zu tun hatte, wenn er sein privates Problem hier behandeln ließ.

Er warf einen kritischen Blick in das großzügige Bad. Es war hübsch in Hellblau und Braun gefliest mit Holzablagen und glänzenden Messinghaken. Eine beindruckende Emailbadewanne auf Löwenfüßen kauerte unter dem Fenster wie ein weißes Untier. Ondragon sah die dicken, weichen Stapel frischer Handtücher und freute sich schon jetzt auf eine heiße Dusche nach den Abendessen. Er ging zurück ins Zimmer und setzte sich auf das Bett. Sein Blick fiel in den Spiegel, der ihm gegenüber hing.

Für Außenstehende wirkte sein Gesicht braungebrannt und vital, und seine grünen Augen leuchteten angriffslustig unter den breiten, dunklen Brauen hervor, deren Wirkung er sehr genau kannte, wenn er sie spielen ließ. Aber er sah auch deutlich die müde Blässe hinter dem kalifornischen Teint und die dunklen Ringe unter seinen Augen. Seine Sorgenfalten auf der Stirn wurden immer tiefer. Kritisch blieb sein Blick an seiner Nase hängen. Die meisten Frauen fanden sie attraktiv, doch für ihn war sie viel zu spitz. Er sah damit aus wie ein altkluger Vogel. Doch die Nase verschärfte seine entschlossene und energische Ausstrahlung, die er in seinem Job benötigte, und deshalb hatte er sich mit ihr arrangiert. Seine Schultern und Arme unter dem taillierten, auberginefarbenen Hemd waren muskulös vom vielen Training, das er sich zur Entspannung gönnte. Krav Maga und Kendo. Aber auch manchmal eine Runde Streetball in Venice auf der Standpromenade - dem härtesten Basketballcourt der Welt.

Alles in allem wirkte er wie ein sympathischer Kerl Anfang Vierzig, erfolgreicher Unternehmer mit kleinen Spleens. Ganz normal eben. Was aber die Wenigsten wussten, und was er auch immer sorgsam zu verbergen suchte, war sein messerscharfer Intellekt, der ihn von normalen Menschen deutlich abgrenzte; besonders seine zwanghafte Besessenheit für analytische Gedankenspielchen. Die Zentrifuge nannte er es selbst, und er konnte nichts dagegen tun, wenn sie erst einmal lief. Egal, was er betrachtete, er musste es augenblicklich in seine molekularen Einzelteile zerlegen, musste die wahre Struktur dahinter erkennen, den geheimen Antrieb. Maschinen, Menschen, Politiker ... Probleme. Es war eine regelrechte Sucht, eine dunkle Wissenschaft, die nur schwer zu beherrschen war. Aber deswegen war er nicht hierher gekommen.

„Nein, Paul Eckbert, wir sind hier, um ehrlich zueinander zu sein“, sagte er laut. „Du siehst ganz schön beschissen aus, mein Lieber. Wenn ich dich nicht besser kennen würde, würde ich sagen, du hättest dringend Urlaub nötig. Urlaub von dir selbst.“ Er bleckte die weißen Zähne und streckte sich die Zunge raus. „Scheißkerl!“

Er spürte das in die Lodge geschmuggelte iPhone in seiner Hosentasche vibrieren. Das Display zeigte die Nummer seiner Assistentin an.

„Ja, Charlize, was gibt’s?“

„Oh, du hast Empfang!“

„Das wundert mich auch in dieser Einöde.“

„Paul, ich mache es kurz, wir haben eine Anfrage aus Japan hereinbekommen.“ Obwohl ihre Stimme einmal ins All und zurück geschossen wurde, vernahm er deutlich den tiefen, sinnlichen Klang. Eine plötzliche, beinahe schwermütige Sehnsucht überkam ihn.

„Yakuza?“, fragte er.

„Nein.“

„Dann lass Dietmar ran.“

„Der ist gerade in Dubai und unabkömmlich. Sheikh Al-Mazoum fordert seine volle Aufmerksamkeit.“

„Ach, Charlize, dann denk dir was aus. Ich kann jedenfalls nicht. Du weißt doch ...“ Tatsächlich war seine Assistentin die Einzige, die den Grund für seinen Aufenthalt in der Cedar Creek Lodge kannte. Und Ondragon fragte sich noch immer, ob es klug gewesen war, sie einzuweihen. Charlize war integer, keine Frage, und sie würde sich eher einen Finger abhacken, als Firmengeheimnisse auszuplaudern. Aber was dachte sie jetzt wohl von ihm? Wenn sie seinen Tick vorher nur für einen Spleen gehalten hatte, dann musste sie doch jetzt denken, er wäre völlig plemplem.

„Ist gut, Chef, ich kümmere mich darum, mein Japanisch ist sowieso besser als deins.“

Ondragon musste grinsen. Charlize Tanaka war wirklich ein Glücksgriff gewesen. Seit fünf Jahren assistierte ihm die zweiunddreißigjährige Brasilianerin mit japanischer Abstammung und war aus der Firma nicht mehr wegzudenken. Sie war Spitzenklasse im Recherchieren und eignete sich hervorragend für pikante Spezialaufträge, die nur eine Frau erledigen konnte. Sie war eine Femme fatale im fatalsten Sinne. Und Ondragon musste sich in ihrer Gegenwart ständig an seine eigene oberste Regel erinnern: Keinen Sex mit Angestellten.

„Wie ist es denn da so in der Einöde, Chef?“

„Bisher ... öde. Halte mich auf dem Laufenden, Charlize.Sayonara!“

„Sayonara, Chef.“

Ondragon legte das Handy in die Nachttischschublade und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen, schwarzen Haare.

Es war paradox. Er verdiente sein Geld damit, anderer Leute Probleme zu lösen; äußerst diffizile Angelegenheiten, die häufig ungewöhnliche Maßnahmen erforderten. Er selbst war noch nie zimperlich gewesen, und seine brutale Genauigkeit und schonungslose, direkte Art hatten ihm bereits in den ersten Jahren seiner Tätigkeit einen unauslöschlichen Namen in der Welt dies- und jenseits der Legalität verschafft. Er fand immer eine Lösung, die seine Kunden zufrieden stellte. Probleme - das waren seine Leidenschaft, seine Magie. Ondragon stieß ein trockenes Lachen aus. „Nur mein eigenes Problem, das bekomme ich nicht in den Griff!“ Er streckte seinem Spiegelbild mit einem sarkastischen Grinsen eine Hand hin. „Gestatten, Ondragon Consulting, ich löse Ihre Probleme, schnell, zuverlässig und sauber, aber fragen Sie nicht nach meinen eigenen!“ Er seufzte, nahm sich das Halfter mit der Sig Sauer ab und legte es zu dem Telefon in den Nachttisch. Ein Mann wie er hatte nicht nur Freunde.

Sein Blick fiel auf einen Stapel mit losen Papieren, der von einer Banderole zusammengehalten wurde. Golden Rules stand auf dem obersten Blatt - offenbar eine spezielle Ausfertigung eigens für ihn. Er schaute auf seine Uhr am Handgelenk. Noch zwanzig Minuten bis zum Abendessen. Er entfernte die Banderole, legte das Deckblatt beiseite und begann zu lesen.

2. Kapitel

1835, Kabetogama, die Farm der Walcotts

„Das waren bestimmt die verdammten Rothäute!“

„Red’ nicht so einen Blödsinn, Hancock!“

„Aber wer soll das denn sonst getan haben? Sehen Sie sich diese abscheuliche Sauerei doch einmal an, Lieutenant. Jesus, Maria und Joseph! Sogar die Kinder haben sie nicht verschont!“

„Das sehe ich!“ Mit finsterem Blick stapfte Lieutenant Stafford durch den Schnee vor der Tür des Blockhauses, das den Walcotts gehörte, während sein Sergeant im Innern die Lage begutachtete. Beide hielten sich ein Tuch vor die Nase, da der widerliche Gestank aus der Hütte mittlerweile das ganze Gelände verpestete.

Alan Parker und seine beiden Begleiter warteten etwas abseits bei ihren Pferden. Sie hatten die Soldaten vom nahegelegenen Fort Frances in einem atemlosen Zweitagesritt hierher geführt. Mittlerweile hatte es Neuschnee gegeben. Einen Fuß hoch lag er auf der Lichtung, dem Dach der Blockhütte und bog die Zweige der Weißkiefern ringsherum gefährlich nach unten. Selbstverständlich war auch von den Spuren nichts mehr zu sehen.

Nasskalt schnitt den Fallenstellern die Luft in die Lungen, und sie zogen sich die Pelzkrägen ihrer dicken Mäntel enger um den Hals. Ihr Atem stieg als kleine, weiße Wölkchen auf. Es war Ende März und es würde noch dauern, bis der Frühling käme.

Ein weiterer Fluch drang aus dem Haus.

Der Lieutenant kam zu ihnen herüber. Seinen Säbel und die goldene Offiziersplakette trug er für jedermann offen sichtbar über dem akkurat zugeknöpften Feldmantel aus grauer Wolle. Sein Blick war ernst und das Gesicht unter dem schwarzen Offiziershut blass. Der Colonel von Fort Frances hatte ihn abgestellt, den Fall zu untersuchen und gegebenenfalls erste Schritte zur Aufklärung der Morde in die Wege zu leiten. Der Lieutenant erweckte den Anschein, ein sehr gewissenhafter Mann zu sein, wenn auch seine Haltung etwas zu arrogant wirkte für die Wildnis, fand Parker.

„Nun, Mr. Parker?“ Auch sein Akzent war übertrieben aristokratisch. „Erzählen Sie mir doch noch einmal, was geschehen ist und was Sie gesehen haben. Vielleicht fällt Ihnen, jetzt da wir hier vor Ort sind, noch etwas ein.“ Er zückte erneut sein Notizbuch und leckte die Spitze des Bleistiftes an. Seine Zunge war schon ganz schwarz.

Parker berichtete ihm zum wiederholten Male, dass sie auf dem Weg von ihren Jagdgründen zur Handelsstation gewesen waren und hier eine Rast hatten einlegen wollen. Die Walcotts waren gute Freunde, und umso schockierender war es für sie gewesen, die Farmersfamilie derart fürchterlich zugerichtet vorzufinden.

In Parkers Kehle bildete sich ein salziger Knoten. Er war ein hartgesottener Kerl, lebte seit seinem zwölften Lebensjahr draußen in den Wäldern, aber was mit den Walcotts geschehen war, hatte selbst ihn verängstigt. Er versuchte den Knoten mitsamt den schlimmen Erinnerungen herunterzuschlucken. Es gelang ihm nicht. Frisch blühten die Bilder vor seinem geistigen Auge auf, als seien sie gerade erst passiert:

Er hatte die Tür zu der Blockhütte geöffnet und den schlimmsten Alptraum befreit, der auf dieser Erde wandelt. Der zottelige Schatten stand in der Türöffnung. Stehen war eigentlich nicht ganz richtig, hocken war der bessere Ausdruck dafür, denn der Schatten war riesig und hätte gar nicht aufrecht unter dem Türsturz hindurchgepasst. Er wirkte wie eine gewaltige, behaarte Heuschrecke mit zusammengefalteten Beinen, bereit zum Sprung.

Noch bevor Parker das Ding genauer betrachten konnte, schnellte es auf ihn los. Augenblicklich hüllten ihn graue Fellzotteln und ein bestialischer Gestank ein und drohten ihn zu ersticken. Er spürte einen knochigen Körper mit schmerzhafter Wucht gegen seine Brust prallen und wurde auf den Rücken geschleudert. Ein scharfer Stich durchzuckte seine Schulter und raubte ihm beinahe den Verstand. Unfähig sich zu rühren, blieb er liegen. Der Tod blickte ihn an.

Das kam ihm heute bei nüchternem Tageslicht betrachtet albern vor, aber genauso hatte er es empfunden. Er war bereit gewesen, zu sterben.

Dann war ein Schuss gefallen.

Das Biest, was immer es auch war, hatte mit einem zischenden Stöhnen von ihm abgelassen und war mit riesigen unnatürlichen Sätzen im nächtlichen Wald verschwunden. Parker war liegen geblieben und hatte benommen in den dunklen, sternenlosen Himmel gestarrt, während ihm die Schneeflocken kühl auf sein Gesicht fielen.

„Und was, glauben Sie, ist es gewesen, dieses … Ding? Ein Wolf oder ein Bär?“, fragte Lieutenant Stafford mitten in Parkers Gedanken hinein. Die Nase des Lieutenants war rot von der Kälte und in seinem blonden Backenbart hingen kleine Eiskristalle.

Der alte Fallensteller wischte sich mit dem Handschuh über die müden Augen. „Wenn ich ehrlich bin, …ich weiß es nicht. Es hatte mit nichts Ähnlichkeit, was ich je gesehen habe.“

„Vielleicht war’s ‘nen Werwolf“, schlug Sergeant Hancock belustigt vor. „Einige der Siedler in der Gegend behaupten, es gäbe hier einen!“ Hancock grinste, aber der Lieutenant verzog keine Miene. Man konnte deutlich sehen, dass er für solchen Humbug nichts übrig hatte.

Eine Pause trat ein.

„Kein Werwolf“, sagte schließlich Two-Elk mit dunkler Stimme in das Schweigen hinein. „Werwolf ein weißer Geist. Dies hier Geist der Brüder vom Rat der drei Feuer. Wendigo - mächtiger Geist, böser Geist! Immer hungrig! Immer essen!“

„Sicher, der Wendigo!“, rief der Lieutenant mit einem sarkastischen Lachen aus und tippte sich mit dem Bleistift an die Stirn. „Den hatte ich ganz vergessen. Auch so eine Sagengestalt. Mal sehen, wer es noch gewesen sein könnte?“ Er zählte mit dem Bleistift seine Finger ab. „Ein Sasquatch, ein Oger, die gemeinen Harpyien oder Vampire. Ja, es waren bestimmt Vampire.“ Er stieß gereizt Luft aus. „Wendigo, Werwolf, das ist doch alles Quatsch! Solche Wesen gibt es nicht. Das sind bloß Schauermärchen.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher, Lieutenant. In diesen Wäldern gibt es Orte, an denen kein Mensch je gewesen ist, und Dinge, die wir nicht verstehen. Die Indianer ...“

„Ich sage, es waren die Indianer!“, platzte der Sergeant erneut dazwischen und erntete einen finsteren Blick von Two-Elk. Doch er ignorierte den gedrungenen Chippewa-Krieger und redete ungeniert weiter. „Das liegt doch auf der Hand, wenn man in die Hütte sieht. Zugegeben, es erfordert einen ganzen Mann, dabei einen klaren Blick zu behalten, aber nur diese verdammten Rothäute sind in der Lage, ein grausames Gemetzel wie dieses anzurichten. Das sind Tiere auf zwei Beinen! Rote Bestien! Wir müssen sie dafür bestrafen!“

„Nun machen Sie mal halblang, Sergeant! Wir sind hier, um die Sache zu untersuchen und nicht, um voreilige Schlüsse zu ziehen.“

Während der ungehobelte Hancock weiter unmissverständlich gegen die Indianer hetzte, konnte Alan Parker nicht verhindern, dass ein weiterer Splitter seiner Erinnerung sich tief in seine Gedanken bohrte: Das Innere der Hütte - grell und unauslöschbar hatte es sich in die Windungen seines gemarterten Hirns eingebrannt.

Als er sich von dem Angriff des unheimlichen Wesens erholt und Two-Elk ihm auf die Beine geholfen hatte, war er zusammen mit seinen Begleitern in das Blockhaus geeilt. Der Gestank, der ihnen entgegenschlug, war entsetzlich und irgendwie viehisch - eine Mischung aus frisch entnommenen Eingeweiden, Wildkatzenurin und Verwesung. Die Szene, die sich ihnen bot, war jedoch noch viel entsetzlicher!

Im ganzen Wohnraum waren Körperteile und blutige Klumpen von Organen und Fleisch verteilt. Wie grausige Girlanden hing silbrig schimmerndes Gedärm über Tisch und Stühle verteilt. Knochen waren aus den bläulich glänzenden Gelenken gerissen worden und Haut von den Muskeln. Bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Rümpfe stapelten sich in einer Ecke, und aus der anderen starrten ihnen anklagend die skalpierten Schädel der vierköpfigen Familie mit ihren verwüsteten Gesichtern entgegen. Das Schlimmste aber war, dass das Ding begonnen hatte, die Leichen zu fressen. Eindeutig erkannte Parker die ausgefransten Bissspuren in dem weichen Gewebe der verstümmelten Gliedmaßen und an den weißlichen Knochen, die aussahen, als hätte sich ein Hund daran gütlich getan.

Lacroix hatte sich draußen in den Schnee übergeben, während Two-Elk neben Parker weiter auf das Blutbad starrte und unverständliche, indianische Beschwörungsformeln vor sich hinmurmelte. Schnell nahm er etwas aus einem kleinen Beutelchen und klebte es mit Spucke gegen die Türfüllung.

Danach hatten sie die Tür zum Blockhaus verriegelt, damit keine wilden Tiere die Leichen noch weiter schänden konnten, und diesen besudelten Ort schleunigst verlassen. Wie eine kopflose Flucht war ihr Ritt zum Fort gewesen, gehetzt vom schrecklichen Anblick der hingeschlachteten Familie und dem Wissen, dass da draußen im Wald etwas unbegreiflich Böses lauerte. Etwas, das direkt aus den verfaulten Tiefen der Verdammnis hinaufgestiegen war.

„Jetzt hab ich’s! Es war eine Rothaut in einem Bärenfell“, wetterte der Sergeant noch immer mit ungebrochenem Hass und holte Parker zurück in die Gegenwart. „Der Abschaum hat sich verkleidet. Parker, Sie sagen doch selbst, dass Sie es nicht genau gesehen haben.“

Der alte Fallensteller blickte von dem grobschlächtigen Soldaten auf seine beiden Begleiter und dann zum Lieutenant, dessen wässrig blaue Augen ihn erwartungsvoll anschauten.

Parker zuckte mit den Schultern. „Wenn es ein Mensch in Verkleidung war, ein Mann also, dann ein verdammt großer, mindestens neun Fuß. Das heißt, viel größer als der Widerrist eines Elches!“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist doch unwahrscheinlich! Solch einen großen Menschen gibt es nicht.“ Und kein Mensch hinterlässt solche Bissspuren!Auch Tiere nicht! Unbewusst griff er sich an seine Schulter, und ein kalter Schauder packte ihn. Nein, er wusste es besser. Er musste sich nur die Wunde ansehen. Das Problem war nur, dass der Lieutenant ihm nicht glauben würde, wenn er ihm verriet, was er dachte.

„Ich habe auf das Mistvieh geschossen“, meldete sich nun auch Lacroix zu Wort. Unbehagen und Erschöpfung standen dem frankokanadischen Trapper in sein ohnehin schon verwittertes Gesicht geschrieben. Und Parker wusste, dass sein treuer Freund jetzt mit Sicherheit lieber in einer warmen Spelunke der Handelsstation gesessen und den drallen Mädchen beim Tanzen zugeschaut hätte, als hier an diesen gottverfluchten Ort zurückzukehren.

„Ich habe es getroffen“, fuhr Lacroix fort und strich sich über den pechschwarzen Schnurrbart. „Certainement. Da bin ich mir sicher. Aber es hat ihm nicht viel ausgemacht und geblutet hat es auch nicht. Mit drei Sprüngen ist es dort drüben im Wald verschwunden. Wenn ihr mich fragt, sah es aus wie ein riesiger bis auf die Knochen abgemagerter Wolf auf langen Stelzenbeinen.“ Lacroix sah den skeptischen Blick des Lieutenants, verzog das Gesicht und spuckte einen braunen Faden Kautabakssaft in den Schnee. Parker wusste genau, was sein Freund dachte. Der feine Pinkel von einem Lieutenant dachte wohl, sie hätten zu viel Gin gesoffen und fabulierten sich jetzt einen zusammen. Aber so war es nicht. Sie waren stocknüchtern! Leider.

„Mais, wie auch immer ...“ Lacroix zuckte mit den Schultern. „Es war schon dunkel, und genau konnte ich es nicht erkennen. Auf jeden Fall hat es merkwürdige Fußabdrücke hinterlassen.“ Jetzt ging er in die Hocke und zeichnete die zehenlose Fährte nach, die auch Parker aufgefallen war und ihn in jene unerklärliche Angst versetzt hatte. Der Lieutenant nahm sie mit sorgfältigen Strichen seines Bleistiftes in sein Notizbuch auf.

„Wenn es keine Rothaut war und auch kein Werwolf, dann muss es wohl doch ein Tier gewesen sein, oder etwa nicht?“ Breitbeinig stand Sergeant Hancock da, die Daumen in die Schärpe gehakt. „Wenn Sie mich fragen, Lieutenant, dann haben diese drei Ginsäufer da einen über den Durst getrunken und …“

„Mund halten, Hancock!“ Der Lieutenant schnalzte missbilligend mit der Zunge und klappte sein Buch zu. Eine steile Falte erschien zwischen seinen Brauen. Er wandte sich an Parker. „Ich bin wie der Colonel und der Gouverneur, der sich zufällig gerade im Fort aufhält, sehr an einer vernünftigen und lückenlosen Aufklärung dieses unappetitlichen Zwischenfalls interessiert. Das heißt, ich ziehe ohne Vorbehalt alle Eventualitäten in Betracht. Leider verbieten es mein aufgeklärter Verstand und mein christlicher Glaube, an derartigen Unfug wie Werwölfe oder den Wendigo zu glauben. Das sind Märchen, einfältiges Geschwätz von noch einfältigeren Menschen, die zu tief in den Sumpf der Gottlosigkeit dieser Wälder geraten sind. Aber was soll man auch anderes erwarten? Sodom und Gomorra! Wer mit schmutzigen Indianerhuren herumbuhlt und stinkende Bastarde in die Welt setzt, anstatt brave, gottesfürchtige Frauen Britanniens zu ehelichen, und sich an Stelle ehrlicher Arbeit von der Gier nach Gold verleiten lässt und bis zu den Ellenbogen im Dreck wühlt, der sollte sich nicht wundern, wenn Gott kommt und ihn straft. Was für ein verkommenes Land!“

Jetzt platzte Parker der Kragen. „Wollen Sie etwa behaupten, die Walcotts wären keine gottesfürchtigen Menschen gewesen? Diese Familie hat hart gearbeitet, sich jeden Tag die Hände in dieser verfluchten Erde wundgescharrt, um ihr das Wenige abzuringen, was sie zum Überleben benötigten. Und sie haben nie an Gott gezweifelt. Die Walcotts waren ehrliche und aufrichtige Leute. Einfach, ja, aber deshalb haben sie es noch lange nicht verdient, bei lebendigem Leib zerfetzt und gefressen zu werden, und erst recht nicht, von Ihnen verunglimpft zu werden! Außerdem haben Sie, Lieutenant, nicht die leiseste Ahnung davon, was es heißt, hier in diesen Wäldern zu leben, die Sie so verkommen nennen. Immerhin haben die reichen Schnösel in Ihrem fernen Heimatlande es uns zu verdanken, dass sie sich ihre schicken Hüte nicht aus Rattenfellen machen müssen!“

„Alan, calme-toi, beruhige dich!“ Lacroix fasste ihn am Arm.

„Ich will mich aber nicht beruhigen! Leute wie unser Lieutenant hier kommen in die Wildnis und meinen, die Weisheit mit ihren verdammten Silberlöffeln gefressen zu haben. Dabei können sie einen Bären nicht von einem Biber unterscheiden. Sie glauben nicht einmal das, was sie sehen! Wenn ich oder einer meiner Freunde hier sagen, dass das, was dieses scheußliche Massaker angerichtet hat, weder Mensch noch Tier war, dann können Sie es getrost glauben! Denn ich bin hier aufgewachsen und werde hier auch begraben, während Sie wieder in Ihr feines, zivilisiertes England zurückfahren. Ich scheiße auf Sie und Ihre selbstgerechte Gottesfürchtigkeit!“ Parker spuckte aus und wandte sich an seine Freunde. „Kommt, die Gegenwart dieses Herren kann ich nicht länger ertragen. Viel Glück mit Ihren Ermittlungen, Lieutenant. Wenn Sie gestatten, wollen wir jetzt der Familie Walcott den letzten Dienst erweisen und sie begraben.“ Parker ging an dem irritiert dreinblickenden Offizier vorbei zur Scheune. Lacroix und Two-Elk folgten ihm.

„Meinst du, das war schlau, den Lieutenant so zu beschimpfen?“, fragte der Frankokanadier, als sie außer Hörweite waren.

Parker griff sich mürrisch eine Hacke, die an der Scheunenwand lehnte. „Ob schlau oder nicht. Der Kerl will einfach nicht zuhören. Wir haben alles gesagt, was es zu sagen gibt. Es ist nun an ihm, sich einen verdammten Reim daraus zu machen. Ich für meinen Teil will diese Gegend so schnell wie möglich verlassen!“ Bevor das zurückkommt, was da draußen auf uns wartet. Parker sprach es nicht aus, weil er fürchtete, das Unheil dadurch heraufzubeschwören. Er ging ein paar Schritte von der Scheune auf den Wald zu und begann zu hacken, zuerst den Schnee beiseite, dann die gefrorene Erde. Seine Freunde halfen ihm schweigend.

Während sie arbeiteten und ihnen endlich warm wurde, spürte Parker den brennenden Schmerz in der Schulter. Er richtete sich auf und stöhnte. Two-Elk und Lacroix sahen ihn besorgt an.

„Es geht schon. Die Wunde hat sich wohl’n bisschen entzündet. Nichts Schlimmes“, log er und rang sich ein Lächeln ab. In Wirklichkeit aber fühlte er erneut jene namenlose Angst nach ihm greifen. Sie schien wie ein kalter Hauch direkt aus dem Wald zu kommen. Parker konnte sich nicht daran erinnern, jemals Angst vor dem Wald gehabt zu haben. Er presste eine Faust auf die Schulter. Der Biss der Kreatur pulsierte mit jedem Herzschlag, brannte merkwürdig kalt, als würde sich ein scharf geschliffener Eiszapfen in sein Fleisch bohren. Parker sah Two-Elk in die schwarzen Augen und konnte dessen Gedanken förmlich lesen. Sein Volk kannte die Sage seit Anbeginn der Zeit. Auch er wusste, welch fürchterlichem und machtvollem Wesen sie in die Quere gekommen waren.

Wendigo.

Wie eine Schar giftiger Maden fraß sich die Angst durch Parkers Kopf und breitete sich kalt flüsternd in seinen Adern aus.

3. Kapitel

2009, MN, St. Louis County, Moose Lake, Cedar Creek Lodge

Klick.

Ondragon schaute von dem winzigen Notizblock auf seinem Knie zum großen Panoramafenster seines Zimmers auf und ließ die Mine seines Kugelschreibers klicken. Es war 7.20 Uhr morgens. Draußen war beinahe überirdisch schönes Wetter. Die Sonne schmolz den Nebel auf dem See dahin und ließ die Tautropfen an den Ästen der Bäume glitzern.

Klick.

Noch zehn Minuten bis zum Frühstück. Ondragon sah wieder auf den Notizblock.

Klick.

Die Zentrifuge lief bereits auf Hochtouren. Was er bisher im Vorfeld seiner Reise über seinen Aufenthaltsort zusammengetragen hatte, war noch nicht genug.

Die Cedar Creek Lodge inmitten der einsamen Wälder im Norden Minnesotas, nur eine Autostunde von der kanadischen Grenze entfernt, war zwar ein hochmodernes Therapiezentrum, bot ihren Gästen aber zusätzlich sowohl den Komfort eines Luxushotels als auch die zuverlässige medizinische Betreuung eines privaten Krankenhauses. Von den anderen Top-Adressen unterschied sie sich allerdings dadurch, dass sie keine Suchtpatienten aufnahm. Um die „Bagatellfälle“ sollten sich offensichtlich andere Einrichtungen kümmern. Ondragon war dies nur recht. Die normalen Verrückten reichten ihm schon, da brauchte er nicht noch Alkis und Drogis um sich herum.

Auf der großzügigen Anlage der Cedar Creek Lodge konnten bis zu zwanzig Patienten in geschmackvoll eingerichteten Zimmern untergebracht werden, wobei natürlich auch Sonderwünsche berücksichtigt wurden. Ein Sternekoch sorgte für das kulinarische Wohl und ein echter Chefkellner für das Ambiente eines Edelrestaurants. Es ging doch nichts über gutes Essen. Im Erdgeschoss des Westflügels fand der anspruchsvolle Gast eine Lounge, einen Spabereich mit Yacuzzi, Sauna und Fitnessraum, und im Ostflügel das Restaurant mit der Küche vor. Neben dem medizinischen Programm konnten die Gäste in der idyllischen Natur wandern gehen, picknicken, mit dem Kanu fahren, angeln, bogenschießen oder Tennis spielen und auf den wunderbar weichen Waldpfaden joggen, es gab sogar Bearwatching und einen geführten Pferdetreck; die Lodge besaß fünf Pferde mit dazugehörigem Reitlehrer. Der Aufenthalt sollte in jeder Hinsicht so angenehm wie möglich gestaltet werden und in guter Erinnerung bleiben.

Das wollen wir doch mal sehen, dachte Ondragon, zumindest wird es hier an Ruhe nicht mangeln.

Klick. Die Kugelschreibermine verschwand im Stift.

Leiter dieser Klinik war Dr. Arthur, jenseits der Fünfzig, gebürtiger Brite und anerkannter Spezialist für sämtliche Erscheinungsformen von Phobien und Angstzuständen. Darüber hinaus betrieb er als eine Art Hobby umfassende Forschungen zum Kannibalismus.

Klick.

Strange.

Die Idee für eine Spezialklinik draußen in unberührter Natur weitab von jeglichen störenden Zivilisationseinflüssen hatte Dr. Arthur schon während seines Studiums am University College in London. Nach seinen zwei Dissertationen in Psychologie und Medizin, die er in Rekordzeit mit summa cum laude abschloss, bekam er aufgrund seiner hervorragenden Leistungen eine Postdoc-Stelle an der Mayo Medical School in Rochester, Minnesota, eine der renommiertesten medizinischen Forschungseinrichtungen in den USA. Dort begann er als jüngstes Nachwuchstalent in Sachen Psychologie seine detaillierten Arbeiten an Patienten mit sozialen Phobien, für die er 1995 mit dem Award for Research von der American Psychiatric Association ausgezeichnet wurde.

Klick.

Eine steile Kariere. Der Mann hatte entweder kein Privatleben oder war ein Intelligenzmonster. Auf jeden Fall fand Dr. Arthur geneigte Investoren, die sein Klinik-Projekt unterstützten. Als geeignetes Grundstück entdeckte er schließlich den Moose Lake im Kabetogama State Forest, und siehe da, nachdem die Cedar Creek Lodge im Sommer 2000 in Betrieb genommen wurde, hatte sie bereits zwei Jahre später ihre Baukosten wieder eingebracht, was die privaten Investoren natürlich mehr als zufriedenstellte. In Windeseile hatte sich die CC Lodge, wie sie in Szenekreisen genannt wurde, zu einem wahren Magneten für Stars und Sternchen aus Politik, Wirtschaft und dem Filmbusiness entwickelt. Ein Hotspot für psychosengeplagte Millionäre.

Klick.

Die Therapie in der CC Lodge war nicht billig, aber der Erfolg gab Dr. Arthurs ungewöhnlichem Konzept recht, denn die Rückfallquote der Patienten, die sich in der abgelegenen Klinik behandeln ließen, war wesentlich niedriger als bei vergleichbaren Einrichtungen. Die Lodge war rund ums Jahr ausgebucht, die Warteliste lang, und Dr. Arthur kam nur selten dazu, seine Klinik zu verlassen.

Klick.

Soviel zu der Lodge an sich. Nun zum Personal. Ondragon hatte versucht, auch dieses einer gründlichen Durchleuchtung zu unterziehen. Leider war er dabei schnell auf steinigen Grund gestoßen. Tiefergehende Informationen zu den Angestellten hatte er nur noch über die beiden weiteren Psychotherapeuten, die Dr. Arthur in der Lodge beschäftigte, aus dem harten Fels der analogen und digitalen Datenbanken herausschürfen können. Beide besaßen natürlich einen ausgezeichneten Ruf. Dr. Pollux war eine Autorität im Bereich Depressionen und Todessehnsucht, und Dr. Zeo Expertin für Persönlichkeitsstörungen.

Beide Assistenten lebten neben dem medizinischen Pflegepersonal, das zum größten Teil in dem großen Wohnhaus außer Sichtweite der Lodge wohnte, ganzjährig auf dem Gelände der Lodge. Doch während der Leiter der Klinik im „Turm“ des Hauptgebäudes seine Residenz bezog, bewohnte jeder der Assistenten eine eigene kleine Blockhütte, die linkerhand des Parkplatzes unter großen Weißkiefern lagen. Ondragon setzte den Kuli auf das Papier des Notizblockes und ergänzte mit penibler Handschrift: Dr. Pollux, Reto, 49, Schweizer Staatsbürger, und Dr. Zeo, Lucy-Ang, 46, Amerikanerin mit chinesischer Abstammung. Er schrieb in Deutsch, der Sprache seines Vaters.

Klick.

Fehlten nur noch nähere Informationen über die Angestellten und die aktuellen „Insassen“. Doch Ondragon bezweifelte, dass er diese Auskünfte auf legalem Wege bekommen würde. Mit Sheila hatte er es sich dummerweise schon am ersten Tag verdorben. Sie würde ihm nicht einmal den Namen des Hundes von Frank, dem Gärtner, verraten.

Klick.

Also musste er zu anderen Mitteln greifen. Das war an und für sich kein großes Problem. Klick.

In das Büro an der Rezeption der Lodge einzubrechen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen, stellte eine der leichteren Übungen dar. Wahrscheinlich würde es ihm sogar gelingen, den Tresor zu knacken, in dem die Autoschlüssel lagen. Er grinste.

Klick.

Falls ihm danach war, stand einer Spritztour nach Orr mit dem Mustang nichts im Wege, auch wenn die Golden Rules der Lodge das ausdrücklich untersagten. Aber Ondragon hatte noch nie viel von Verboten gehalten.

Klick, klick.

Orr war der nächstgelegene Ort und 36 Meilen entfernt - mit einem geländetauglichen Auto in etwa einer Stunde zu erreichen. Das selbsternannte Angler- und Outdoorparadies am Pelican Lake war in Wirklichkeit ein kleines, heruntergekommenes Holzfällernest mit 250 Einwohnern, wohin sich höchstens im Sommer einige Wander- und Kanufreaks verirrten. Neben viel unberührter Natur gab es dort zwei Ferienlodges, zwei General Stores, eine SPUR-Tankstelle, eine Autowerkstatt, einen Bahnübergang und immerhin eine Grundschule. Wow!

Klick.

Er klappte den Notizblock zu, der gerade mal so groß wie eine Kreditkarte war und einem Miniringblock mit flexiblen Plastikdeckeln ähnelte. Wenn er seinen Zweck erfüllt hatte, würde er ihn verbrennen. Ondragon erhob sich von seinem zerwühlten Bett und steckte sich den Block in die Tasche seiner grauen Anzughose. Dazu trug er ein maßgeschneidertes, roséfarbenes Hemd ohne Krawatte und schlichte, braune Lederschuhe. Seine Cowboystiefel blieben im Schrank, sie gehörten zum Mustang. Außerdem wollte er das Publikum dieser Einrichtung erst einer weiteren genauen Betrachtung unterziehen, bevor er sich für ein legereres Outfit entschied.

Er ging zum Schrank holte das passende Jackett heraus und warf es sich über die Schulter. Nebenbei überprüfte er mit gewohnter Routine, ob der Tresor, in dem er alle persönlichen Gegenstände und seine Waffe deponierte, auch sicher verschlossen war. Das Zimmermädchen sollte schließlich nur das zu sehen bekommen, was er vorgab zu sein: Ein Geschäftsmann. Dass er Geld hatte, brauchte er nicht zu verbergen, das war ohnehin selbstverständlich. Unter einem Einkommen von einer Million Dollar im Jahr brauchte man es in der CC Lodge gar nicht erst zu versuchen.

Ondragon warf noch einen letzten Blick in den Spiegel, strich sich das Haar aus der Stirn und verließ sein Zimmer. Er drehte den Schlüssel zweimal im Schloss um und ließ ihn dann in der Hosentasche verschwinden, wo er sich klimpernd zu seinem Talisman gesellte.

Das Frühstück wurde im Restaurant im Erdgeschoss serviert. Wie in einem guten Hotel konnte man vom Buffet wählen oder dem Kellner seine Wünsche mitteilen, die dann in der Küche frisch zubereitet wurden. Damit sich die Lodge gänzlich auf ihre Gäste einstellen konnte, wurden im Voraus die Gewohnheiten abgefragt, so dass niemand während seines Aufenthaltes auf einen Wunsch verzichten musste, sei er auch noch so ausgefallen. Alles wurde natürlich streng vertraulich behandelt. Das gefiel Ondragon, der oft in Hotels der gehobenen Klasse zu Hause war und die Vorzüge von exzellentem Service zu schätzen wusste.

Schon beim Abendessen am Vortag hatte ihn die Professionalität des Restaurantpersonals beeindruckt. Ganz im Gegenteil zu den Tischmanieren mancher Gäste. Wieder einmal hatte sich offenbart, dass Menschen mit Schotter und Statussymbolen nicht gleichzeitig auch eine gute Erziehung besaßen. Ondragon hatte diese zwar auch eher zwangsweise erfahren, war seinem Vater, zu dem er sonst ein sehr gespaltenes Verhältnis hegte, aber wenigstens dafür dankbar, dass er zu jeder Zeit auf tadelloses Benehmen beharrt hatte. Wenn auch verdammt oft auf schmerzhafte Weise mit dem Rohrstock. Der alte Bastard!

Ondragon wandte sich dem in vornehmem Schwarz gekleideten Chefkellner zu, der mit einem freundlichen Lächeln grüßte und ihn zu seinem Tisch geleitete. Es war derselbe Tisch wie am Abend zuvor. Er stand in einer gemütlichen Ecke neben zwei großen Zierpflanzen und bot die perfekte Sicht über das ganze Restaurant inklusive der Gäste. Das war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen und Ondragon vermutete, dass der Tisch extra für ihn an diese Stelle gerückt worden war.

„Guten Morgen, Mr. Ondragon. Was hätten Sie gerne zu trinken?“

Erfreut über die richtige Aussprache erwiderte Ondragon: „Guten Morgen, Carlos. Einen dreifachen Espresso mit Rohrzucker, schön heiß, bitte. Dazu einen frisch gepressten Orangensaft.“

Der Chefkellner nickte höflich. „Wie darf ich Ihnen Ihren Porridge zubereiten lassen?“

„Ungesüßt mit viel Milch und einem Schuss Sahne, auf gute schwedische Art.“ Ondragon lächelte, während der Kellner sich entfernte, um seine Bestellung weiterzugeben. Er war in Schweden geboren und mit der unvermeidlichen Havregröt großgezogen worden. Das Zeug sah zwar wenig appetitlich aus, machte aber zuverlässig satt. Außerdem hielt er nicht viel davon, sich gleich zu früher Stunde den Bauch vollzuschlagen, das lähmte die grauen Zellen und machte obendrein noch fett. Er aß zwar gerne und gut, aber die kontrollierte Nahrungsaufnahme stand dabei immer im Vordergrund.

Der Espresso und der Orangensaft kamen. Ondragon tat einen gehäuften Löffel braunen Rohrzucker in die dampfende, schwarze Flüssigkeit und bevor er den ersten Schluck nahm, sog er das verführerische Aroma ein.

Espresso: Kaffee in seiner konzentriertesten Form war sein geheimer Treibstoff, der statt Blut durch seine Adern floss. Ohne Kaffee war er ein sehr unausgeglichener Mensch. Und schlechter Kaffee war eine Katastrophe. Allem voran der amerikanische Kaffee. Grauenvoll! Nur die Espresso-Shots bei Starbucks konnte man trinken, ohne gleich blind zu werden.

„Bitte sehr, Ihr Porridge.“ Der Kellner stellte die Schüssel mit dem grauen Brei vor ihm auf das Tischset. Ondragon dankte ihm und zückte den Löffel. Er probierte und nickte dem Kellner zufrieden zu. Porridge und Espresso waren nach seinem Geschmack. Mit einer dezenten Verbeugung zog der Kellner sich zurück.

Während Ondragon sein Frühstück aß, beobachtete er unauffällig die anderen Gäste. Es war halb acht, und längst saßen nicht alle anderen Patienten zu dieser frühen Stunde schon beim Frühstück. Das hatte Ondragon vermutet, schließlich war nicht jeder ein Frühaufsteher wie er. Außerdem hatte er die Uhrzeit bewusst gewählt, so hatte er die gesamte Frühstückszeit im Blick und würde die meisten Gäste zu Gesicht bekommen. Seine Hand tastete nach dem Notizblock. Er würde penibel festhalten, welche Gestalten sich hier aufhielten, und vielleicht sogar herausbekommen, warum sie hier waren. Im Gegenzug würde er nichts von sich selbst preisgeben. So war es immer, und das war auch besser so.

Sein Blick scannte routinemäßig die Tische ab, an denen jeweils höchstens drei Personen saßen. Die meisten Patienten nahmen ihr Frühstück allerdings alleine ein, ein paar davon kannte er bereits vom Vorabend. Ondragon zählte insgesamt neun der insgesamt zwanzig Gäste. Einige von ihnen vertilgten mehr oder weniger appetitlich ihr Essen, das vom zartgerösteten Toast mit Salatblättern garniert bis hin zum fetttriefenden Hamburger reichte, und die anderen nippten an Tee- oder Kaffeetassen und blätterte in Magazinen und Zeitungen. Keiner las ein Buch. Ondragons Hand verkrampfte sich unwillkürlich um den Notizblock in seiner Hosentasche. Er dache an seinen Termin mit Dr. Arthur um zehn Uhr. Konnte der Mann sein Problem beheben? Unbewusst konzentrierte er sich wieder auf die Gäste und nutzte seine gut trainierte Menschenkenntnis. Um nicht aufzufallen, machte er sich vorerst Notizen im Geiste. Später wollte er sie in den Notizblock eintragen und mit den Daten abgleichen, die er sich heute Nacht an der Rezeption besorgen würde; voraussichtlich ohne die Erlaubnis der kratzbürstigen Sheila. Er begann seine Beobachtung an einem der zwei doppelt besetzten Tische direkt vor der großen Fensterfront, durch die man einen herrlichen Blick auf den See hatte. Dort saßen drei flachbrüstige, avantgardistisch aufgetakelte Teenager mit freudlosen Gesichtern. Geziert stocherten sie in ihrem Rührei herum, das sie mehr zermatschten als aßen. Ondragon tippte auf Models. An dem Nebentisch saß eine stark übergewichtige und überschminkte Dame Anfang sechzig zusammen mit einem noch älteren Herren mit Glatze und goldener Anstecknadel am Revers seines karierten Jacketts - eine alternde Filmdiva und ein republikanischer Politiker. Beide Milieus hatten bekanntermaßen eine Vorliebe für das jeweils andere.

Am ersten Einzeltisch direkt neben dem Empfangspult des Chefkellners saß ein südländisch aussehender Typ mit glänzender Elvistolle. Er trug ein schwarzes Hemd von Ed Hardy mit abgerissenen Ärmeln, eine enge Jeans und war geschätzte dreißig Jahre alt. Wahrscheinlich irgend so eine Kunstfigur aus der Musikbranche. Einen Tisch weiter hockte in grauem Hemd und orangefarbenem Pollunder aus Kaschmir ein Mann wie ein Angelhaken; dürre Gliedmaßen und ein nichtsagendes Gesicht mit randloser Brille. Sein schütteres, dunkelbraun gefärbtes Haar war streng zur Seite gekämmt. Eigentlich sah er aus wie der klassische Jurastudent, doch sein Alter widersprach diesem Klischee. Er war mindestens um die vierzig und trug zusätzlich noch einen schweren Siegelring an der linken Hand. Ondragon stufte ihn schließlich in die überflüssigste und nutzloseste aller Berufsgruppen ein: Die der Makler.

Am dritten Tisch wenige Schritte neben dem Makler aß ein junger Mann aus einer Schale ebenfalls Porridge. Er sah aus wie das Elitekind schlechthin. Blondes, leicht gewelltes Haar, das ihm trendy ins Gesicht hing, und graue Augen, gerahmt von auffällig blonden Wimpern. Sein Teint war blass und seine Statur schlaksig. Er trug ein mintgrünes Poloshirt von Ralph Lauren mit hochgeschlagenem Kragen, dazu eine modische, weiße Jeans und Segeltuchschuhe mit Gummisohle. Auf seinem Kopf saß eine Ray Ban-Sonnenbrille wie das Krönchen einer Schönheitsprinzessin. Ein Preppy wie aus dem Modekatalog. Im Grunde genommen war Ondragon mit diesen Spießerklamotten groß geworden, zwischen Schuluniformen und Barbour