Operation Pandora - Heinz Eigenbrodt - E-Book

Operation Pandora E-Book

Heinz Eigenbrodt

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Beschreibung

Am Morgen nach ihrer feierlichen Verabschiedung in den vorzeitigen Ruhestand, steigen Kapitän Magnus Pricken und sein sprechender Papagei Cora im Hamburger Freihafen in ein Taxi, das sie zum Bahnhof Altona bringt, von wo sie in einem Intercity-Zug aus ihrem geliebten Seemannsleben rauschen. Am Abend steigen sie in Wiekenbüttel aus dem Linienbus, um bei Marthe, der Schwester des Kapitäns, ihren Lebensabend zu verbringen. Das heißt, erst einmal nur probeweise, weil sie nach ihrem abenteuerlichen Seefahrerleben gewisse Vorbehalte gegenüber einer vermeintlich gähnenden Leere bäuerlichen Landlebens hegen. Das ändert sich, als sie, schon in Sichtweite ihres Zielortes Kiebitzberge, von einem unsichtbaren Aggressor mittels einer subtil ausgetüftelten Methode angegriffen werden, was darauf schließen lässt, dass der Angreifer nicht von dieser Welt ist. Eine zur Hilfe herbeigeeilte Elfe rettet den Kapitän aus der tödlichen Umklammerung des außerterrestrischen Monsters. Von Marthe mit offenen Armen empfangen, werden die beiden Globetrotter von der urigen Dorfgemeinschaft akzeptiert und in diverse, das Dorf betreffende Geheimnisse eingeweiht. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Eine Turbulenz der vierten Dimension löst in der Region eine Zeitebenenverschiebung aus, die eine längst vergangene Epoche sporadisch mit der Gegenwart kollidieren lässt, was dazu führt, dass unter einer Brücke im Wiekenbruch Stimmen von Unsichtbaren aus dem 8. Jahrhundert vernehmbar werden. Die unsichtbaren Fremden ersuchen um Hilfe und versuchen ihr Anliegen auf Althochdeutsch verständlich zu machen. Das Resultat einer simultanen Übersetzung der uralten, ausgestorbenen Sprache durch einen Chatbot, bleibt jedoch rätselhaft. Die einzige brauchbare Andeutung weist auf ein Zeit-Portal hin, das in einem Tumulus verborgen ist, und unter ganz bestimmten Voraussetzungen einen Zugang in die mehr als 1200 Jahre zurückliegende Zeitebene ermöglicht. Von Hilfsbereitschaft, aber auch Neugier und Lust auf Abenteuer getrieben, findet sich eine Gruppe Entschlossener, die unter Kapitän Prickens Führung, dem kryptischen Hilferuf in die Vergangenheit folgt. Sie bemerken nicht die verdeckt agierenden Ermittler einer dubiosen Gesellschaft. Dank der Unterstützung ortsansässiger Elfen, befreundeter Ratten und Marthes runenkundiger Enkelkinder überwinden aber am Ende die Gefährten um Kapitän Pricken alle Hindernisse und öffnen das buntbewegte Kaleidoskop dieser spannenden Geschichte mit verblüffendem Ausgang.

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Seitenzahl: 1057

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Gesamtwerk Operation Pandora einschließlich aller Illustrationen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engeren Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Geräten.

Geographische Karten: Anke Jokl

Umschlaggestaltung: Volker Eigenbrodt

Satz, Layout: Arnold Hohmann

Meiner lieben Frau Ilsa-Maria

und unseren Kindern Volker, Silke und Anke

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erstes Kapitel

ARACHNAXX EXCUBITOR

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

HIC ITUR AD ASTRA 1

Achtes Kapitel

HIC ITUR AD ASTRA 2

Epilog

Prolog

Jasper streunte im letzten Tageslicht des von Sonne und sommerlicher Hitze verwöhnten Junitages scheinbar ziellos durch das nördlich von Kiebitzberge gelegene Griesetal. Die hügelige Heidelandschaft war aus dem Endmoränengeschiebe eines mächtigen Gletschers hervorgegangen, der hier gegen Ende der letzten großen Eiszeit seine gewaltigen Eismassen der damals einsetzenden Klimaerwärmung zum Opfer dargebracht hatte. Die langgestreckte Senke, die das weitläufige Gebiet etwa mittig in Ost-Westrichtung durchläuft, wird von sandigen, bis zu sechzig Fuß hohen Hügeln eingefasst, auf deren wasser- und nährstoffarmen Böden Besenheide und Säulenwacholder von jeher ein entbehrungsreiches Dasein fristen.

Jasper, ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, war mal wieder unrasiert und fern seiner Herde, die er als Schäfer zu hüten hatte. Als er auf einmal aus geringer Entfernung Stimmen vernahm, hob er erschrocken den Kopf und lauschte angestrengt. Der Blick seiner hellgrauen Augen war ohne erkennbare Regung – der bohrende Blick eines Raubvogels.

Egal, wer die Leute waren, die im Dämmerlicht der vorrückenden Abend stunde aus der tiefer gelegenen Talsenke zu ihm heraufstiegen – er wollte unter gar keinen Umständen hier gesehen werden - von niemandem. Dafür gab es gute Gründe. Er wusste, dass seine Anwesenheit an diesem Ort in den umliegenden Dörfern lästige Fragen aufwerfen würde.

Daher trat er, als die Stimmen lauter klangen, mit wenigen schnellen Schritten vom Weg in das kniehoch ragende Heidekraut und verbarg sich in den tief ansetzenden Zweigen eines der zahlreichen säulenschlanken, bis zu fünf Meter hohen baumartigen Wacholdergewächse, die auf den sandigen Erhebungen dieser eigentümlichen Heidelandschaft in kleinen Gruppen eng beieinander standen. Die anbrechende Nacht hatte bereits ihre Konturen auflösenden Schatten in die nadelbewehrten Zweige der Koniferen gewebt, in deren Tarnung Jasper jetzt nahezu unsichtbar verharrte.

Im Halblicht, das der aufgehende Vollmond dem sterbenden Abendrot im Westen bereits abgerungen hatte, erkannte Jasper eine der beiden Gestalten an ihrem fuchsroten Haarschopf – Rufus Hermke aus Kiebitzberge. Den anderen kannte er nicht, er vermutete aber, dass es einer der vielen Sommergäste war, die in den umliegenden Dörfern Quartier nahmen und sich gelegentlich von Rufus durch die hiesige Flora und Fauna führen ließen, um sich seltene Pflanzen und Tiere zeigen zu lassen, die im Griesetal und in den angrenzenden unwegsamen Heiden und Mooren eine letzte Zuflucht gefunden hatten.

Als die beiden dicht an seinem Versteck vorübergingen, drückte sich Jasper noch tiefer in die nachtdunklen Schatten des Wacholders und lauschte.

»Und…?«, hörte er Rufus fragen, »hat Ihnen der Totenkopf gefallen?«

»Ja, ganz fantastisch!«, antwortete der andere begeistert. »Ich bin tief beeindruckt! Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll – so ein schönes Exemplar!«

Als die beiden sich schon ein gutes Stück entfernt hatten, hörte Jasper Rufus‘ Begleiter noch sagen, dass er gestern einen Mönch im nächtlichen Wald singen gehört habe.

Jasper glaubte erst, sich verhört zu haben, doch dann huschte ein verstehendes Lächeln über sein Gesicht, ihm war plötzlich klar, dass der Fremde mit Mönch umgangssprachlich die Mönchsgrasmücke gemeint haben musste, einen Singvogel, der nach etlichen Jahren der Abwesenheit in der Heide wieder heimisch geworden war.

Dass die beiden einen Totenkopf gesehen haben wollten, wunderte ihn jedoch sehr; diesen größten aller Nachtschmetterlinge hatte selbst er auf seinen ausgedehnten Streifzügen durch Wald und Heide schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, weder nachts noch am Tage.

Er sann noch darüber nach, als er sein Gesicht auf einmal reaktionsschnell zur Seite wegdrehte und reflexartig die Augen zukniff; er hatte ein schwirrendes Geräusch vernommen und etwas aus den Augenwinkeln pfeilschnell auf sich zurasen sehen, etwas, was sein Gesicht nur um Haaresbreite verfehlt hatte.

Als er aus dem Schatten der Sträucher in das jetzt helle Mondlicht trat, sah er zu seiner Überraschung neben sich an der stacheligen Nadeldecke des Wacholders einen stattlich großen Nachtschwärmer hangeln und aufgeregt mit den Flügeln schlagen.

Er beugte sich vor und betrachtete den Schwärmer, dessen Flügelspannweite an die dreizehn Zentimeter maß. Als er auf dem Rücken des riesigen Insekts eine Thoraxzeichnung bemerkte, die bei genauerem Hinsehen einen kleinen hellen Totenkopf mit darunter gekreuzten Knochen darstellte, schlug sein Herz vor Freude, er hatte einen seltenen Acherontia atropos gefunden – einen Totenkopfschwärmer.

Nachdem er das beeindruckend schöne und so seltsam gezeichnete Insekt eine Weile interessiert betrachtet und sich dann vorsichtig abgewandt hatte, hörte er hinter sich einen laut zirpenden Pfeifton, so wie ihn Totenkopfschwärmer in höchster Erregung oder Todesangst hervorbringen können. Als er davon aufgeschreckt den Kopf wandte, sah er, dass der große Schwärmer von etwas gepackt worden war und plötzlich zappelnd in die dunkle Nadeldecke des Wacholders gezogen wurde.

Jasper machte unwillkürlich einen Schritt nach vorn und griff entschlossen mit beiden Händen in die stacheligen Zweige, die er mit einem Ruck auseinanderbog. Als er in das Innere des Strauches blickte, starrten ihn die acht roten Augen einer faustgroßen weißen Spinne an, die den sich windenden Schwärmer mit ihren Maulzangen gepackt hatte und unerbittlich festhielt. Jasper stöhnte erschrocken auf, als er sich schlagartig besann, dass er selbst noch vor wenigen Augenblicken in diesem Strauch gestanden hatte, genau dort, von wo ihn jetzt diese große bleiche, allem Anschein nach giftige Spinne anstarrte.

Oder war es ein Skorpion?, hatte er sich später gefragt, doch auch da konnte er sich nicht mehr recht erinnern; er wusste nur noch, dass es ein ihm völlig unbekanntes spinnenartiges Tier war, dessen Rumpf und Beine so eigenartig bleich schimmerten, wie von milchigem Glas, das von innen heraus zu phosphoreszieren schien.

Besonders die beiden größeren Knopfaugen, auf der Stirnplatte des seltsamen Tieres, schienen ihn geradezu hasserfüllt anzustarren.

Als der Totenkopfschwärmer in den Fängen der Spinne fühlte, dass sie ihn auszusaugen begann, stieß er in höchster Todesnot wieder dieses zirpende Angstpfeifen aus, sein verzweifelter Versuch, sich durch heftigen Flügelschlag zu befreien, scheiterte am festen Biss der Spinne.

Jasper hatte sich, von Mitleid und Neugier getrieben, instinktiv vorgebeugt, wich aber erschrocken zurück, als die Spinne ein warnendes Geräusch ausstieß, das so erschreckend wild und unmissverständlich aggressiv klang, dass ihn schauderte. Erbleichend wandte er sich ab und lief, um sein eigenes Leben fürchtend, in panischer Angst davon.

Erstes Kapitel

»Wann sind wir denn endlich da, Käpt’n?«, maulte der Papagei. »Ich bin nämlich müde, und Hunger habe ich auch.«

»Ach, Cora«, antwortete der Kapitän geduldig, »halte noch ein bisschen durch, ja? Es kann nun nicht mehr weit sein.«

Kapitän Magnus Pricken, auf dessen Schulter der mittelgroße grüne Papagei mit dem roten Köpfchen hockte, war ein hochgewachsener, kräftiger Mann in den sprichwörtlich besten Jahren. Silbernes Haupthaar und ein weißstoppeliger Dreitagebart rahmten sein wettergebräuntes Gesicht, dessen ebenmäßige Züge und die prägnant hohe Stirn ihm das Aussehen eines unrasierten, etwa sechzigjährigen Hans Albers zu besten Hamburger und Babelsberger Zeiten verliehen. Unter buschigen Brauen blickte ein Paar eisblauer Augen freundlich und unternehmungslustig in die Welt.

Auf dem Kopf trug er die weiße Schirmmütze eines Marineoffiziers, die er sich lässig auf den Hinterkopf geschoben hatte. Die nachtblaue Uniform mit den goldenen Ärmelstreifen, Knöpfen und Tressen saß ihm wie auf den Leib geschneidert; sie unterstrich die natürliche Autorität, die von der äußerlichen Erscheinung des stattlichen alten Herrn ausging und wies ihn zudem als Kapitän der Handelsmarine aus.

Er hielt sich ein wenig schief, der lederne Handkoffer in seiner Linken glich das Gewicht des prall gefüllten Seesacks in seiner Rechten nur unzureichend aus. Bis nach Wiekenbüttel waren er und sein Papagei mit dem Linienbus gekommen, den Rest ihrer Reise nach Kiebitzberge mussten sie, mangels einer weiterführenden Bus- oder Bahnverbindung, zu Fuß zurücklegen. Hier draußen ein Taxi aufzutreiben, hatten sie sich vergeblich bemüht.

Als sie auf der Landstraße nach Kiebitzberge die letzten Häuser von Wiekenbüttel hinter sich gelassen hatten, öffnete sich ihnen einladend eine Birkenallee, in deren kühlen Schatten sie dankbar Zuflucht vor dem grellen Sonnenlicht und der noch anhaltenden Hitze des sich neigenden Sommertages fanden. Ein sanfter Abendwind ging wie eine zarte Berührung durch das Laub der Bäume; die Sonne warf bereits lange Schatten.

Sie waren erst wenige Meter unter dem Schutz der Bäume gegangen, als der Kapitän plötzlich seinen Schritt verhielt und mit angespannter Miene wie gebannt an dem Spalier der nach Norden führenden Birkenallee entlang spähte – so als habe dort etwas seine Aufmerksamkeit erregt.

Der Papagei auf seiner Schulter, der verwundert seinem Blick gefolgt war, sah aber nichts als die weißen, schwarz gemusterten Birkenstämme, die auf beiden Seiten der Straße ihre prächtigen Kronen wie eine gigantische grüne Girlande bis zum fernen Horizont trugen.

»Was stierste denn so gebannt?«, fragte der Vogel daher neugierig und drängelte: »Was ist denn da?«

Der Kapitän bedeutete seinem Papagei mit einer Handbewegung zu schweigen und starrte in die grüne Tiefe der tunnelartigen Allee, dann ließ er seine Blicke wie suchend über den Horizont schweifen. Nach einer Weile raunte er: »Aber das ist doch ganz unmöglich.«

»Was ist unmöglich?«

»Irgendwo da hinten ist etwas, Cora – ich weiß aber nicht, was.«

»Ach, hör doch auf!«, fuhr ihn sein Papagei an. »Ich weiß ja, dass du Telepath bist, Käpt’n, und dass du Vorahnungen und sogar das Zweite Gesicht hast – aber übertreibst du nicht manchmal ’n bisschen?«

Doch der Kapitän schüttelte nur unwillig den Kopf, weil er sich sicher war, dass das unbestimmte Signal, das er da eben, wenn auch nur undeutlich wahrgenommen hatte, mit alldem, auch mit seinem Zweiten Gesicht, nichts zu tun haben konnte. Gerade das Zweite Gesicht, diese außergewöhnliche Begabung, die bei ihm angeboren war, meldete sich stets mit ganz spezifischen Symptomen an, um ihn für einen begrenzten Zeitraum in einen rätselhaften, ja ganz und gar unbegreiflichen Zustand zu versetzen, in dem es ihm faktisch möglich war, sich substanziell an einen beliebigen Ort in der Vergangenheit zu begeben – oder ihn gar einen wenn auch flüchtigen Blick in die Zukunft werfen zu lassen.

Als Cora aber keine Ruhe gab und ihn mit weiteren Fragen bombardierte, hob er abermals die Hand und brachte sie mit einem energischen »Psst!« zum Schweigen. Nachdem er eine Weile konzentriert in die Ferne gestarrt und gelauscht hatte, sagte er: »Da draußen ist etwas, was ich mir beim besten Willen nicht erklären kann, Cora. Ich weiß nicht einmal, ob es ein Leuchten oder ein Geräusch war, das ich gerade wahrgenommen habe.«

Der Papagei auf seiner Schulter sah ihn skeptisch von der Seite an. »Aber du musst doch wissen, ob du etwas gesehen oder gehört hast.«

»Normalerweise ja, Cora, aber was ich da eben…«, er stockte und schüttelte abermals, diesmal wie an sich selbst zweifelnd, den Kopf. »Es klingt vielleicht verrückt, aber ich glaube, das war nicht von dieser Welt.«

»Nicht von dieser Welt?«, fragte Cora erschrocken. »Was soll das denn heißen?«

Der Kapitän zuckte ratlos mit den Achseln. »Ich weiß auch nicht recht – aber es war wie eine Warnung.«

»Eine Warnung? Wovor denn eine Warnung?«

»Nun löchere mich doch nicht mit solchen Fragen, Cora!«, antwortete der Kapitän gereizt. »Ich weiß es doch auch nicht!«

»Aber du hast es doch…«

»Ja und nein!«, fuhr er ihr ins Wort, und um weitere Fragen erst gar nicht aufkommen zu lassen, sagte er: »Vielleicht habe ich mich ja auch geirrt!«

Nach ein paar langen Minuten, in denen sie noch einmal gründlich die Birkenallee und den Horizont mit den Augen abgesucht hatten, nahmen sie ihren Weg wieder auf. Der merkwürdige Vorfall hatte jedoch ihre Sinne geschärft, sie suchten fortan die nähere und weitere Umgebung mit aufmerksamen Blicken ab, konnten aber nichts Außergewöhnliches mehr entdecken.

Noch einmal zuckten sie vor Schreck zusammen, als vor ihren Füßen plötzlich ein Schwarm Stieglitze aufflog und mit schwirrendem Flügelschlag das Weite suchte.

Als sie ein Stück gegangen waren und sich ein wenig beruhigt hatten, sagte der Kapitän: »Wenn Marthes Wegbeschreibung stimmt, muss gleich eine Brücke kommen, von dort sind es noch knapp zwei Kilometer bis Kiebitzberge.« »Ich kann aber jetzt schon nicht mehr«, nörgelte der Papagei, »und Durst habe ich auch.«

Manchmal ist Cora wie ein kleines Kind!, dachte der Kapitän ärgerlich, doch dann spähte er wieder unbeirrt suchend nach vorn und deutete mit einer Kopfbewegung auf eine klobige Betonbrücke älterer Bauart, die in einiger Entfernung vor ihnen einen schmalen Fluss überspannte. »Na bitte, das muss die Brücke sein«, sagte er und hielt mit ausholenden Schritten darauf zu.

Die hässliche Stahlkonstruktion, die sich bogenförmig über die klotzige Betonbrücke von einem Ufer zum anderen wölbte, machte selbst von weitem einen maroden Eindruck; an zahlreichen Stellen hatte sich Rost durch den grauen Anstrich gefressen und mit unansehnlich roten Flecken übersät.

»Ganz schön hässlich«, sagte der Kapitän nach längerem Hinsehen missbilligend, doch Cora hatte gar nicht hingehört.

»Sag mal, weiß deine Schwester überhaupt, dass du einen Papagei mitbringst?«

»Na klar, sie freut sich schon auf dich.«

»Hat sie das wirklich gesagt?«

»Na ja – nicht wörtlich, aber das geht schon in Ordnung.«

»Du hast es ihr also gar nicht gesagt, stimmt ’s?«

»Muss ich wohl vergessen haben, tut mir leid, Cora. Aber das geht – wie ich schon sagte – in Ordnung.«

»Und was ist, wenn sie Papageien nicht mag?«

»Marthe mag Tiere.«

»Meinst du?«

»Ja, das meine ich!«, fuhr sie der Kapitän aufgebracht an. »Was soll eigentlich die ganze Fragerei? Soll das ein Verhör sein?«

»Und warum hast du ihr dann nicht gesagt, dass du deinen Papagei mitbringst? «

»Was hätte ich ihr denn sagen sollen?«, platzte der Kapitän jetzt ungehalten heraus. »Dass ich einen Papagei mitbringe, der frech und vorlaut ist? Der sich nicht zu benehmen weiß? Der sich bevorzugt vulgärer Worte bedient und für sein Leben gern flucht?«

»Ach, so siehst du mich!«, entrüstete sich Cora. »Das ist ja interessant! Dann schämst du dich also für mich!«

»Cora, lass das bitte, ja? Du weißt doch selber am besten, wie du bist.«

»Und ob ich das weiß!«, blaffte der Papagei empört zurück. »Ich bin zutiefst enttäuscht, jawohl, zutiefst enttäuscht! Mein bester Freund…«

Cora brach ab und schwieg, als habe es ihr vor lauter Empörung die Sprache verschlagen.

Auf der Landstraße kam ihnen ein mürrisch blickender alter Mann entgegen, der eine Kuh an einem Strick mit sich führte. Der Kapitän grüßte freundlich und fragte, ob dies der richtige Weg nach Kiebitzberge sei.

Der Fremde blieb zwar stehen, antwortete aber nicht, sondern blickte sein Gegenüber von oben bis unten aus unsteten Augen misstrauisch an. Der Papagei auf der Schulter des Kapitäns irritierte ihn sichtlich, und die Uniform mit dem glänzenden Lametta schien ihm auch nicht zu gefallen.

Der Kapitän wiederholte seine Frage.

Einen Augenblick lang sah es aus, als wolle der Fremde ohne zu antworten weitergehen, doch dann schüttelte er unwillig den Kopf und sagte gedehnt: »Kiebitzberge? – Das gibt ’s hier nicht.«

»Aber das da«, sagte der Kapitän verdutzt und wies mit dem Daumen über die Schulter auf das Dorf, in dem sie vorhin aus dem Bus gestiegen waren, »das ist doch Wiekenbüttel, oder?«

»Ja.«

»Na, dann muss jenseits der Brücke doch Kiebitzberge…«

»Jenseits der Brücke liegt Texas«, unterbrach ihn der Fremde unfreundlich, fast schon feindselig. »Da wimmelt es nur so von Verrückten! Überlegen Sie sich gut, ob Sie da wirklich hin wollen.«

Er gab seiner Kuh einen Klaps und ging, ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen, grußlos in Richtung Wiekenbüttel davon.

»Texas? Verrückte? Aber das ist doch…!« Dem Kapitän war vor Überraschung und Ärger der Satz im Halse stecken geblieben. Dabei hätte er dem unfreundlichen Herrn gern noch ein paar passende Worte gesagt, ja, ihn fragen wollen, warum er Fremden gegenüber eine so unverhohlen ablehnende Haltung einnehme. Doch jetzt war es zu spät, der Mann war schon zu weit entfernt, und ihm wie ein Gassenjunge hinterherzurufen, verkniff sich der Kapitän.

»Ach, lass dich doch von dem Penner nicht verarschen, Käpt’n«, versuchte Cora zu trösten. »Von diesen rotzfrechen Landratten kannste doch gar nichts anderes erwarten.«

»Achte auf deine Wortwahl, Cora!«, mahnte der Kapitän, der es nicht mochte, wenn sich sein Papagei der Vulgärsprache bediente. »Ich möchte diese Kraftausdrücke von dir nicht mehr hören, verstanden?«

»Ja, ja, ist ja schon gut!«

Sie gingen weiter, und nach einer Weile sagte der Kapitän versöhnlich: »Aber du hast ja recht, Cora, das war schon ein merkwürdiger Kerl. Texas – so ’n Quatsch!«

»Sag ich doch.«

Als die beiden die Brücke erreicht hatten, setzte der Kapitän das schwere Gepäck ab, trat an das rechte Brückengeländer und blickte staunend in die Runde, und nachdem er die Schönheit der im abendlichen Sonnenschein liegenden Flusslandschaft in sich aufgenommen hatte, sagte er schwärmerisch: »Sieh dich hier nur mal richtig um, Cora, ist das nicht wunderschön?«

»Was meinst du denn?«, fragte der Papagei, wegen der vorangegangenen Zurechtweisung noch leicht verschnupft. »Du meinst doch wohl nicht diese lausige, überaus langweilige Agrarsteppe, die mich hier angähnt, oder?«

Der Kapitän winkte ab, er wollte sich die gute Stimmung von seinem missgelaunten Papagei nicht verderben lassen. Auf einmal war ihm, als sei heute ein besonderer Tag.

»Sag mal, Cora, heute ist doch der einundzwanzigste Juni, oder?« Er blickte interessiert auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr. »Ja, genau, heute ist ja Sommeranfang!«

»Ja und?«, fragte der Papagei teilnahmslos. »Ist das von irgendeiner Bedeutung? «

»Na klar!«, antwortete der Kapitän eindringlich. »Das bedeutet unter anderem, dass heute der längste Tag des ganzen Jahres ist.«

»Ach ja?«, tat Cora überrascht. »Und ich Dussel dachte immer, die Tage seien alle gleich lang. Vierundzwanzig Stunden oder so.«

»Ja, ja, du Schlauberger«, beeilte sich der Kapitän richtigzustellen, »mit längstem Tag meine ich natürlich die Zeit vom morgendlichen Aufgang der Sonne bis zu ihrem abendlichen Untergang. Tu jetzt nicht so, als wüsstest du das nicht!«

»Ach so!«, sagte der Papagei gelangweilt. »Na, wenn schon! Für mich ist so‘n längster Tag ein Tag wie jeder andere auch.«

»Eben nicht, Cora, an einem solchen Tag geschehen manchmal die seltsamsten Dinge.«

»So wie die Warnung vorhin in der Birkenallee?«, stichelte der Papagei.

»Ja, zum Beispiel.«

»Oder meinst du den alten Knacker, der seine Kuh spazieren führt?«

»Ach was!« Der Kapitän winkte abermals ab, er war nach wie vor fest entschlossen, sich seine gute Laune nicht verderben zu lassen – schon gar nicht an einem besonderen Tag wie diesem.

Er wandte sich ab und ließ seine Augen über den Fluss schweifen, der sich wie eine mächtige goldgleißende Schlange durch die Wiekenbütteler Flusswiesen auf die Brücke zu wand. Über alldem wölbte sich an diesem prächtigen Sommerabend ein wolkenloser, wie poliertes Messing glänzender Himmel, der die Landschaft in ein eigenartig gelbes, geheimnisvoll anmutendes Licht tauchte. Aus den blühenden Wiesen strömte der würzige Atem der Feldblumen und Gräser, und die Blüten der alten Linde an der Brücke dufteten süß und betörend. Das andauernde, tausendstimmige Zirpen der Grillen und Heupferdchen klang wie ein eintönig an- und abschwellendes helles Rauschen, das von überall her zu kommen schien.

Wie das Zusammenfließen unzähliger leiser Töne zu einem geheimnisvollen Geflüster der Natur, dachte der Kapitän in einer Anwandlung von Poesie, doch dann gähnte er, die horizontweite Geräuschkulisse wirkte seltsam beruhigend, ja dermaßen einschläfernd, dass ihm vor lauter Müdigkeit für einen Augenblick die Augen zufielen.

Er horchte auf, von weither drang ein kaum vernehmbares Poltern wie ferner Kanonendonner in die sommerliche Idylle; tief über dem nordwestlichen Horizont stand eine mächtige Gewitterwand und drohte mit schwarzen Wolken, die, bis zum Bersten mit Elektrizität geladen, das tödliche Feuer der Blitze in sich trugen.

Ein Schwarm Krähen flog gemächlich über den Fluss zu seinem Schlafbaum im nahen Schattenwald. Das ferne Gewittergrollen schien die Vögel nicht zu stören, sie waren müde und hungrig. Die ohnehin mühsame Futtersuche war heute besonders kärglich ausgefallen, und der sich neigende heiße Sommertag hatte scheinbar kein Ende nehmen wollen. Als sie aber den Kapitän und seinen Papagei auf der Brücke entdeckten, wurden sie auf einmal wieder munter, drehten bei und setzten sich neugierig in die hohen Pappeln am Flussufer, um besser gaffen zu können.

Das goldene Glitzern an der Kapitänsuniform hatte es ihnen offenbar angetan und sie wie magisch angezogen – ja, und der seltsame grüne Vogel mit dem roten Köpfchen, der auf der Schulter des Alten hockte. Einen Papagei hatten die Krähen offenbar noch nie gesehen.

Der Kapitän musterte die schwarzen Vögel und wunderte sich, dass sie sich so nahe heranwagten. Küsten- und Seevögel verhalten sich irgendwie anders, dachte er und überlegte, worin diese Andersartigkeit wohl bestehen mochte, er kam aber nicht darauf.

»Guck dir die schwarzen Biester an, Käpt’n!«, hörte er Cora sagen. »Pass auf, denen fallen gleich vor lauter Neugier die Augen aus dem Kopf.«

Der Kapitän klatschte in die Hände, um die zudringlichen Gaffer zu verscheuchen, doch die zuckten nur kurz zusammen, rührten sich aber nicht von der Stelle.

»Das kannste vergessen, Käpt’n«, konstatierte Cora, »so wirst du die nicht los.«

»Dann sollen sie eben gucken«, brummte der Kapitän resigniert. Er setzte sich mit dem Rücken an das Brückengeländer, schloss erschöpft die Augen und gähnte herzhaft. »Lass uns mal fünf Minuten ausruhen, Cora, komm, setz dich einen Augenblick her zu mir.«

Auf einmal hörten sie von irgendwo Kinderstimmen und blickten sich suchend um. Da aber weit und breit niemand zu sehen war, nahmen sie an, dass die Kinder, deren Stimmen sie eben vernommen hatten, sich unter der Brücke aufhielten. Jetzt hörten sie dort ein Klatschen und das Geräusch von spritzendem Wasser, so, als schlüge jemand mit einem etwas dickeren Stock oder Ast auf die Wasseroberfläche des Flusses; gleich darauf schallten wieder die lachenden Stimmen von mindestens zwei Kindern zu ihnen herauf.

Der Kapitän und Cora konnten zwar nicht verstehen, was da gesprochen wurde, sie nahmen aber an, dass es sich dabei um den hiesigen plattdeutschen Dialekt handelte. Mit der Absicht, noch einmal nach dem Weg zu fragen, beugte sich der Kapitän über das Brückengeländer und rief nach unten: »Hallo, ist da jemand?«

Sofort brach das Stimmengewirr ab. Unter der Brücke herrschte auf einmal eine bedrückende Grabesstille, die durch das leise Dauerzirpen des Wiesenvölkchens scheinbar noch vertieft wurde. Der Kapitän und der Papagei sahen sich erstaunt an.

Der Kapitän versuchte es noch einmal: »Ist es noch weit bis Kiebitzberge?« Aber auch darauf erhielten sie keine Antwort.

»Sieh doch mal nach, was da unten los ist, Cora, da muss doch jemand sein. Frag mal, warum man hier Fremden auf eine freundliche Frage nicht eine ebenso freundliche Auskunft gibt.«

»Ay ay, Käpt’n!«, rief der Papagei, hopste von der Schulter des Alten und flog – wohl um möglichst viel Eindruck zu schinden – absichtlich laut flatternd und krächzend unter die Brücke.

Unmittelbar darauf schallte von dort ein angstvoll ausgestoßener Schreckensruf herauf: »O Leidazzunga – einlih urougi fleugenti widarwurtigo!«, und eine zweite Stimme rief wie zu Tode erschrocken: »Irbarmida! Helfa! Helfa!« Der Kapitän stand vor Schreck wie erstarrt. Als er sich dann über das Brückengeländer beugte, um angestrengt nach unten zu horchen, hörte er das Fußgetrappel mehrerer Personen näherkommen. Er stutzte, als das Geräusch in sein Blickfeld kam, wo er die Verursacher hätte sehen müssen, doch die blieben seltsamerweise unsichtbar. Das gestaltlose Fußgetrappel setzte sich die Böschung hinauf fort. Oben angekommen, bewegte es sich – einem Luftzug gleich – dicht an ihm vorbei, und entfernte sich hastig über die Brücke in Richtung Kiebitzberge.

»Hoppla!«, rief der Kapitän und schüttelte erstaunt den Kopf. »Was war das denn?«

Unmittelbar darauf tauchte Cora wie gehetzt auf der anderen Seite der Brücke wieder auf und kam mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen zurückgeflogen, setzte sich, am ganzen Leibe zitternd, auf das Brückengeländer und flüsterte: »Haste die gesehen, Käpt’n?«

»Wen soll ich gesehen haben?«

»Na, die Kinder, die Jugendlichen oder wer auch immer das war!« Cora, der ganz unbehaglich zumute war, blickte sich ängstlich um. »Ja sind die denn nicht hier heraufgelaufen?«

»Na ja – ich weiß nicht recht«, sagte der Kapitän zögerlich, »außer mir war ja hier niemand, obwohl ich einen Moment lang das Gefühl hatte, als husche etwas an mir vorbei.«

Sie fuhren beide erschrocken herum, als die Krähen plötzlich mit klatschendem Flügelschlag und lautem Getöse aufflogen und wie in Panik das Weite suchten, als sei ein Habicht zwischen sie gefahren.

»Wer war denn da unten, Cora? Du musst doch jemanden gesehen haben!«

»Hab ich aber nicht!« Cora wusste offenbar nicht, was sie von der ganzen Angelegenheit halten sollte. »Ich flog runter, und als ich unter der Brücke war, spürte ich gleich – wie soll ich sagen? – so ’n kalten Hauch, sah aber niemanden. Dann hörte ich diese erschrockenen Ausrufe und Füße trappeln, so, als liefen mehrere Leute fluchtartig davon. – Ehrlich, Käpt’n, da waren welche, aber entweder waren die schon weg, oder…«

»Oder was?«

Cora flatterte dem Kapitän auf die Schulter, schaute sich noch einmal unbehaglich nach allen Seiten um und flüsterte ihm dann leise ins Ohr: »Oder die waren unsichtbar.«

»Ach, Cora«, sagte der Kapitän nachsichtig lächelnd, »das kann doch wohl nicht sein, du spinnst mal wieder.«

Seine eigene Wahrnehmung bedenkend, schien aber auch ihm plötzlich die ganze Geschichte nicht mehr recht geheuer, und warum sollte Cora spinnen? Nein, dazu kannte er sie zu gut, er wusste, dass sie nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war, doch jetzt saß sie ganz bange auf seiner Schulter und klapperte vor Angst mit dem Schnabel.

»Weißt du noch, was da gerufen wurde, Cora? Hast du das verstanden?«

»Nein, nicht so richtig, aber das klang so wie ›O Leidazzunga – urougi… äh… fleugenti‹…oder so ähnlich, und dann rief noch ein anderer: ›Irbarmida! Helfa! Helfa!‹ – Ich glaube, die meinten mich.«

»Gut, Cora, das habe ich nämlich im Wesentlichen auch verstanden, aber was mag das bedeuten? Was sind das überhaupt für Worte? «

»Käpt’n, mir ist ganz unheimlich zumute.«

»Na, nun beruhige dich mal wieder, Cora! Da haben uns ein paar Dorflümmel zur Begrüßung einen Streich gespielt, und dir rutscht gleich das Herz in die Hose, das heißt, ins Bürzelgefieder – ’ne Hose haste ja nicht.«

»Nee, Käpt’n, das ist nicht mehr witzig!« Cora wollte sich offenbar nicht darauf einlassen, die Sache herunterzuspielen oder gar ins Lächerliche zu ziehen. »Hast du denn gar nicht mitgekriegt, wie erschrocken das alles klang? Das war kein Spaß, Käpt’n, das klang richtig entsetzt!«

»Ja, ja, das hab ich wohl bemerkt, aber – na ja, dann weiß ich auch nicht.« Der Kapitän kratzte sich am Kopf, was er immer tat, wenn er mit seinem Latein am Ende war. »Lass uns mal in Ruhe überlegen.«

Man konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf ratterte, und nach einer Weile hob er den Finger an die Nase, ein sicheres Zeichen dafür, dass er die Lösung hatte.

»So, Cora, jetzt komm mal mit.« Er ging ein paar Schritte zurück und stieg die Uferböschung hinab, um unter die Brücke zu gelangen.

»Bist du verrückt? Geh da weg!«, zeterte Cora ganz erschrocken. »Was machst du denn da?«

»Na ja, ich will doch mal sehen, ob wir da unten nicht Kabel und Lautsprecher finden, denn eines ist doch klar: entweder waren diese Burschen da unten, aber dann hättest du sie sehen müssen, oder sie haben uns mit Hilfe von Mikrophon, Kabel und Lautsprechern aus einem entfernten Versteck heraus zum Besten gehalten. Wahrscheinlich beobachten sie uns jetzt und lachen sich tot.«

»Wie dem auch sei, Käpt’n, aber mich kriegen da keine zehn Pferde mehr runter!« Cora war nicht zu bewegen, dem Kapitän unter die Brücke zu folgen.

Als der nach ein paar Minuten wieder auftauchte, verriet schon sein enttäuschtes Mienenspiel, dass er da unten nichts von Belang gefunden hatte. »Pustekuchen, Cora, da sind nicht mal Spuren im Uferschlamm.«

»Ja und? Soll mich das etwa beruhigen?«

»Ich will damit nur sagen, dass da unten seit Wochen oder gar Monaten niemand mehr war.«

Jetzt schauten sich beide ratlos an, und jeder versuchte im Gesicht des Anderen zu lesen. Nach einer Weile sagte der Kapitän: »Weißt du was, Cora? Wir vergessen die ganze Angelegenheit am besten und tun so, als habe sie gar nicht stattgefunden.«

»Mich gruselts bis in die Federkiele, und du willst das alles vergessen? – Nee, Käpt’n, tut mir leid, aber das kann und will ich auch nicht!«

»Nun sei doch mal vernünftig, Cora. Wie oft haben wir da draußen in der weiten Welt, auf See oder in fremden Ländern die merkwürdigsten Dinge erlebt, auf die wir uns auch nicht immer einen Reim haben machen können.«

»Na ja, schon, aber…«

»Kein Aber, Cora, man kann schließlich nicht alle Ungereimtheiten, die sich auf dieser wundersamen Welt ereignen, verstehen oder auch nur halbwegs begreifen. Es ist manchmal besser, die ganze Sache kopfschüttelnd auf sich beruhen zu lassen, als sich pausenlos das Gehirn zu zermartern, um dann letzten Endes doch nicht hinter die Dinge zu kommen. So wollen wir es um unserer Seelen Frieden auch in Zukunft und ganz besonders in diesem neuerlichen Fall halten. – Ist das für dich okay?«

»Hast ja recht, Käpt’n«, schien Cora auf einmal damit einverstanden zu sein. War es auch nur eine Verdrängung, so hatten sie so doch erst mal den Kopf wieder frei, um sich auf ihre derzeitige Situation konzentrieren zu können – ihren erst kürzlich erfolgten schmerzlichen Eintritt in den Altersruhestand und die bevorstehende Ankunft in ihrem neuen Zuhause Kiebitzberge.

Vor ein paar Tagen hatte es für den Kapitän und seinen Papagei im Hamburger Bürogebäude ihrer Reederei eine Abschiedsfeier gegeben, zu der ihre Schiffsmannschaft samt Offizieren und diverse Damen und Herren aus der Verwaltung der Reederei geladen waren. Ein Streichquartett hatte ein feierliches Adagio von Franz Schubert gespielt, und ihr alter Boss hatte eine kleine Rede gehalten, in der er mit freundlichen und bewegten Worten für die langjährige gute Zusammenarbeit gedankt hatte. Danach wurde zu einem opulenten Büfett mit anschließendem Umtrunk gebeten – das war’s.

Gestern noch an Bord, hatten sie heute Morgen abgemustert und waren von ihrer Mannschaft mit einem zünftigen Seemannslied endgültig verabschiedet worden. Den Seekameraden zum Abschied winkend, waren sie dann in ein Taxi gestiegen, das sie vom Freihafen zum Ohlsdorfer Friedhof gebracht hatte, wo der Kapitän einen fiktiven Gedankenaustausch mit seinen verstorbenen Eltern hatte.

Nach so langer Zeit wieder am Grab der Eltern zu stehen, hatte ihn wider Erwarten mehr aufgewühlt, als er zuvor für möglich gehalten hatte. Es war zwar lachhaft, wie er fand, aber irgendwo in den Tiefen seiner Seele hatte sich hartnäckig ein Rest von Schuldgefühlen erhalten, weil er sich damals dem Wunsch der Eltern, ihre Apotheke zu übernehmen und weiterzuführen, nicht gebeugt hatte und stattdessen bei Nacht und Nebel abgehauen war, um die Seefahrt zu seinem Beruf zu machen. Seit damals hatte das wie eine unsichtbare Mauer zwischen ihm und seinem Vater gestanden, und obwohl die Mutter es stets gebetsmühlenartig geleugnet hatte, oder gerade deswegen, wusste er, dass ihm der Vater das nie so ganz verziehen hatte.

Solchermaßen trübe Gedanken im Herzen bewegend, hatte er mit seinem Papagei in Hamburg-Altona den Zug bestiegen, mit dem sie nach mehrmaligem Umsteigen in verschiedenen Kleinstädten am späten Nachmittag auf dem Bahnhof von Celle angekommen waren. Von dort waren sie in einem klapprigen Überlandbus, der in vielen kleinen Dörfern Halt gemacht hatte, eine geschlagene Stunde lang durch dunkle Wälder, einsame Moore und abgelegene, scheinbar unbewohnte Heidelandschaften nach Wiekenbüttel weitergereist, wo sie vor gut einer halben Stunde angekommen waren.

Mit den Worten »Also, vergessen wir’s erst mal!« bekräftigte der Kapitän den gefassten Entschluss, das absonderliche Erlebnis mit den unsichtbaren Kindern erst einmal hintanzustellen. Er trat nach rechts an das Brückengeländer, wo er sich bemühte, in meditativer Versenkung einen entrückten Seelenzustand zu erlangen, um für einen Augenblick abschalten und Kraft für neue Aktivitäten schöpfen zu können. Als sich der angestrebte Zustand nicht einstellen wollte, versuchte er geradezu zwanghaft, an nichts mehr zu denken, was ihm nach einer Weile auch halbwegs gelang. Bald sah er verträumt den Schwalben nach, die an diesem heißen Juniabend über der Flusslandschaft im Tiefflug nach Insekten jagten. Sein Blick wanderte entspannt über den Fluss zum jenseitigen Ufer, wo er sich über den Schilfgürtel hob und weiter über Wiesen und Viehweiden bis zum östlichen Horizont flog, um sich an einem fernen Waldrand festzumachen, der dort den Horizont begrenzte.

So stand er minutenlang regungslos und in sich gekehrt da; von irgendwo trug der Abendwind das leise Blöken einer weit entfernten Schafherde herüber. Der Kapitän gähnte, das monotone Dauerzirpen der Grillen und Heupferdchen hatte ihn schläfrig gemacht.

»Es ist beinah wie in guten alten Zeiten, Cora«, wandte er sich dann wehmütig und mit einem Anflug von Ironie in der Stimme an seinen Papagei. »Wir stehen wieder auf einer Brücke, haben Wasser unter den Füßen und blicken in die weite Ferne.«

»Ach, Papperlapapp!«, fuhr ihn Cora aufbrausend an, auch sie schien den mysteriösen Zwischenfall mit den unsichtbaren Kindern bereits erfolgreich verdrängt zu haben. »Ich glaube, ich höre nicht recht! Nichts ist wie in guten alten Zeiten, Amigo! – Sag mal, redet so ein Kapitän, der auf den Brücken der stolzesten Schiffe jahrzehntelang über alle sieben Meere geschippert ist? Es ist doch wohl ein Unterschied, hier wie doof auf dieser blöden, verrosteten Stahlkonstruktion zu stehen oder auf der Kommandobrücke eines schmucken Ozeanriesen die Befehlsgewalt zu haben. Du solltest dich schämen, solche Vergleiche anzustellen!«

»Aber Cora, nun reg dich doch nicht gleich wieder so auf. Ich meine es doch auch gar nicht so, wie ich es sage. Aber die schönen Zeiten auf See sind endgültig vorbei, und ich bin genauso traurig darüber wie du. Wir müssen uns aber jetzt in unser Schicksal fügen und dürfen den Kopf nicht hängen lassen.«

»Den Kopf nicht hängen lassen!«, äffte der Papagei despektierlich nach. »Was soll ich denn sonst hängen lassen? Den Hintern vielleicht? Du hast mir noch immer nicht verraten, was wir hier bei diesen verdammt langweiligen Landratten überhaupt zu suchen haben! Heiliger Strohsack, verflixt und zugenäht!«

»Cora, wie oft habe ich dir gesagt, dass du dir das unselige Fluchen abgewöhnen sollst? Du bist hier nicht auf See! An Land, besonders hier im Binnenland, gilt das als äußerst unschicklich.«

»Ja, ja! Halleluja!«, konterte der Papagei scheinheilig und verdrehte entnervt die Augen zum Himmel. »Quatsch mit Soße, Käpt’n, du kannst das ja halten wie du willst, aber ich bleibe den Sitten der christlichen Seefahrt treu, und herzhaftes Fluchen gehört nun mal dazu. Ich werde mich doch nicht verbiegen, nur weil ich mal zu Besuch bei diesen bescheuerten Landratten bin!«

Ach du meine Güte!, dachte der Kapitän, jetzt geht das wieder los! Er hatte nach allem, was er heute schon über sich hatte ergehen lassen müssen, weder die Lust noch die Kraft für dergleichen Auseinandersetzungen mit seinem Papagei. Er übte sich daher in Geduld, auch weil er wusste, dass Cora unter der neuen Situation noch mehr litt als er selbst.

»Cora«, wandte er sich eindringlich an seinen Papagei, »wir sind nicht nur zu Besuch bei den bescheuerten Landratten, sondern…! Verdammter Mist, jetzt falle auch ich wieder in diesen Ton zurück, dabei hatte ich mir den so schön abgewöhnt. Aber bei dem Umgang, den ich mit dir pflege, gelingt mir das wohl nicht so bald. Also, noch einmal zum Mitschreiben: wir sind nicht bloß zu Besuch in Kiebitzberge. Wir sind hier, weil wir aus Altersgründen in den Ruhestand versetzt worden sind und daher auch kein Schiff mehr haben, das uns über die weiten Meere trägt. In unserer Kajüte sitzt jetzt ein anderer, und wir müssen froh sein, dass wir hier an Land ein Dach für uns und unseren Seesack gefunden haben. Ich habe dir das schon mehrmals ausführlich erklärt, aber du scheinst es noch immer nicht kapiert zu haben, so als wolltest du es gar nicht begreifen.«

»Nein, das will ich auch nicht! – Wir haben uns doch dieses schöne Seemannsheim ›Zum letzten Hafen‹ hinterm Elbdeich angesehen, und du hast gesagt, dass wir uns ’ne kleine Jolle kaufen und auf der Nordsee herumschippern wollen. Nach Helgoland, hast du gesagt, und mal nach England rüber.«

»Ja, ja, das wollte ich ja auch, aber im Seemannsheim wollten sie keine Haustiere aufnehmen.«

»Was denn für Haustiere?«

»Na, Papageien, zum Beispiel.«

»Ach so«, sagte Cora kleinlaut und blickte den Kapitän traurig an. »Das wusste ich ja gar nicht. Warum hast du mir das denn nicht gesagt?«

»Weil es doch nichts geändert hätte, und ich dich damit nicht behelligen wollte«, antwortete der Kapitän etwas schroffer als beabsichtigt. »Ja, und dann habe ich meiner Schwester Marthe zugesagt, die mich auch in ihrem letzten Brief noch einmal inständig darum gebeten hatte, unseren Lebensabend doch bei ihr in Kiebitzberge zu verbringen – wo Haustiere ausdrücklich erwünscht sind. Bist du nun zufrieden?«

»Aber Käpt’n«, Cora schien die neuen Verhältnisse offenbar nicht akzeptieren zu wollen, »du wirst mir doch nicht weismachen wollen, dass uns der große Ozean unwiederbringlich an Land gespült hat und es für uns kein Zurück mehr gibt! Mast- und Schotbruch und heiliger Klabautermann, wir können doch nicht im Ernst in diesem beknackten Nest den Rest unserer Tage verleben und verrotten! Pest und Malaria, Käpt’n, kneif mich mal, damit ich aus diesem absurden Albtraum erwache!«

»Cora, wenn sich herausstellen sollte, dass wir es hier partout nicht aushalten, dann können wir jederzeit zurück an die Küste«, versuchte der Kapitän seinen Papagei zu beruhigen. »Aber warte doch erstmal ab, vielleicht ist Kiebitzberge ja gar nicht so schlimm, wie du befürchtest.«

»Ja, ja, du mit deinem Optimismus! Du glaubst ja noch an den Weihnachtsmann! Ich hau‘ jedenfalls jetzt ab, sieh zu, wie du ohne mich fertig wirst!«, kreischte Cora und flog wütend und enttäuscht in Richtung Kiebitzberge davon.

Der Kapitän sah ihr traurig hinterher, er wusste allerdings, dass sie an der nächsten Straßenkreuzung auf ihn warten würde. Er war schon im Begriff ihr nachzugehen, doch dann wollte er plötzlich, er wusste nicht einmal warum, einen letzten Blick über die Wiesen und Weiden schweifen lassen und tat das auch.

Wieder drang das leise Blöken von Schafen an sein Ohr, und als er seine Augen suchend geschärft hatte, erspähte er vor dem in östlicher Ferne gelegenen Wald eine große Schafherde, die er in der natürlichen Tarnung der sie umgebenden hohen Gräser und niedrigen Sträucher sicher nicht wahrgenommen hätte, wären ihm nicht die beiden großen Hunde ins Auge gefallen, die unaufhörlich die Herde umkreisten und zusammenhielten. Der eine schwarz wie die Nacht, der andere weiß wie Schnee, hoben sie sich deutlich vor dem erdfarbenen Hintergrund ab.

Der Kapitän wunderte sich noch, dass er nirgends einen Schäfer entdecken konnte, als er plötzlich erschrocken den Kopf hob – wie ein Tier, das Gefahr wittert.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er wieder dieses undefinierbare Signal empfangen, das ihn schon vorhin in der Birkenallee so besorgt hatte aufmerken lassen. Zudem hatte er auf einmal das unbestimmte, aber im höchsten Grade beängstigende Gefühl, beobachtet zu werden. Gleichzeitig gewahrte er das unruhige Flackern von grünem Licht, das aus dem fernen Wald zu kommen schien, vor dem die Schafherde graste.

Angespannt spähte er zu dem dunklen Schattenstrich des Waldes hinüber, der in einer Entfernung von etwa einer Seemeile die östlich gelegene Wiesenlandschaft begrenzte und nach Süden hin bis an das Ufer des Flusses reichte.

Er stutzte verwundert, als auf einmal von dort, wo eben noch dieses unruhige Flackern zu sehen war, ein offenbar mehrere Meter dicker, extrem heller und unnatürlich grüner Lichtkegel aus den Kronen des Waldes senkrecht in den von goldener Abendsonne durchfluteten Himmel strahlte. Wie ein warnendes oder gar bedrohliches Fanal bewegte sich die riesige, weithin sichtbare Lichterscheinung ein paar Sekunden lang wie tastend hin und her, und erlosch dann schlagartig.

Wie ein mehrere Tausend Watt heller Schiffsscheinwerfer, dachte der Kapitän, der ähnliches schon bei Schlachtschiffen auf hoher See beobachtet hatte. Möglicherweise befindet sich da im Wald eine militärische Anlage, vielleicht eine Flugabwehrstellung oder Ähnliches.

Doch dann stockte ihm plötzlich der Atem. Wo am Himmel eben noch dieser mysteriöse Lichtstrahl zu sehen war, prangte jetzt, wie von Zauberhand hingehext, eine noch größere Lichterscheinung in Gestalt eines gigantischen Radnetzes, die sein gesamtes Blickfeld einnahm.

Das sieht ja aus wie ein riesiges Spinnennetz!, schoss es ihm durch den Kopf, als er mit bangem Blick das überdimensionale, ja monumentale Radnetz betrachtete, das unverkennbar das Aussehen der im kleinen Maßstab bewährten Fangvorrichtung hatte, mit der Kreuzspinnen ihre Beute zu fangen pflegten.

Als er, von unbändigem Erstaunen übermannt, den Kopf in den Nacken bog, um das ganze Ausmaß der grün leuchtenden Erscheinung optisch erfassen zu können, begann das mysteriöse Blendwerk bereits, von seinem Scheitelpunkt nach unten hin, langsam zu verblassen.

Während die feurigen Linien auf seiner Netzhaut noch nachglühten, stand er vor Schreck wie gelähmt. Ein paar Atemzüge lang fragte er sich besorgt, ob er sich in einen Albtraum verirrt oder einfach nur Halluzinationen habe. Sein Verstand wehrte sich noch gegen die Akzeptanz dieser befremdlichen, ganz und gar unnatürlichen Erscheinung, als er plötzlich erschrocken zusammenzuckte und von einem Augenblick zum anderen schmerzhaft geblendet, und wie zur Salzsäule erstarrt, in einem Meer aus gleißendem Licht stand – es dauerte ein paar Sekunden bis er realisiert hatte, dass der mysteriöse Lichtstrahl aus dem Wald ihn wie ein gewaltiger Blitz getroffen hatte.

Einem Schutzreflex folgend hatte er noch seine Arme hochreißen und die Lider schlagartig schließen können, doch offenbar zu spät, denn der überaus grelle Lichtschein war ihm mit feurigem Schmerz in die Augen gefahren. Unter seinen Handballen, die er sich auf die brennenden Augenhöhlen presste, rannen heiße Tränen die Wangen hinab.

O Gott!, dachte er erschrocken, hoffentlich bin ich jetzt nicht blind!

Auf der Innenseite seiner geschlossenen Lider gewahrte er grün leuchtende Schriftzeichen. Er kniff die Augen noch fester zusammen und versuchte, die tanzenden und sich langsam verflüchtigenden Buchstaben zu entziffern.

ARACHNAXX EXCUBITOR

Was, um Gottes willen, bedeutet das?, fragte er sich erschrocken, doch dann war ihm, als kenne er diese Worte – als habe er sie irgendwo schon einmal gehört oder gelesen; er dachte aber nicht länger darüber nach, der Schmerz in seinen Augenhöhlen ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Als der stetig anwachsende Schmerz die Grenze menschlicher Leidensfähigkeit zu überschreiten begann, umfing ihn eine barmherzige Ohnmacht.

Als er wieder zu sich kam, wusste er nicht einmal, wie lange er weggetreten war, doch nahm er dankbar zur Kenntnis, dass die Schmerzen auf ein erträgliches Maß abgeklungen waren. Noch immer stand er in blendender Helligkeit, hatte aber den Eindruck, als sei die Strahlung jetzt weniger intensiv als zuvor. Die leuchtenden Buchstaben auf seiner Netzhaut waren verblasst, doch jetzt stellte sich wieder dieses unbehagliche Gefühl ein, beobachtet zu werden – ja mehr noch, ohne recht zu begreifen wie ihm geschah, spürte er, dass er nicht mehr allein auf der Brücke war. Er fühlte sich von etwas Drohendem, ja unsäglich Zornigem umgeben und angeblickt – schlagartig wurde ihm bewusst, dass er sich in Lebensgefahr befand.

»Wer bist du?«, hörte er seine eigene Stimme wie die eines anderen aus seiner Brust hervordringen. »Was willst du?«

Ohne eine Antwort erhalten zu haben, spürte er mit Entsetzen, dass dieses unsichtbare zornige Etwas ihn plötzlich wie mit Tentakeln umfangen hielt und sich gegen seinen Willen in seine geheimsten Gedanken drängte. Deutlich fühlte er die Übermacht dieser fremden gestaltlosen Präsenz – und dass sie ihm keine Möglichkeit einer Gegenwehr ließ.

So plötzlich wie es ihn getroffen hatte, erlosch das grelle Licht, das mächtige zornige Etwas entließ ihn aus der Umklammerung. Er hielt sich mit beiden Händen den schmerzenden Kopf und fragte sich, ob das eben tatsächlich eine Attacke war, die ausschließlich ihm gegolten hatte, oder ob da möglicherweise nur die Soldaten einer militärischen Anlage leichtfertig mit ihrem Gerät hantiert hatten und er, durch das grelle Licht schmerzhaft geblendet, ein Opfer seiner überreagierenden Nerven geworden war.

Aber diese fremdartigen, im höchsten Maße unheimlichen Worte ARACHN-AXX EXCUBITOR, die ihm das grelle Licht wie ein Menetekel auf die Netzhaut gebrannt hatte, und das ohnmächtige Gefühl, von einem namenlosen, amorphen Etwas – er wusste nicht, wie er das anders hätte beschreiben sollen – regelrecht ausgekundschaftet worden zu sein, beunruhigten ihn aufs Äußerste. Er fühlte sich benutzt, angefasst – ja regelrecht verhört; er schüttelte sich vor innerlichem Unbehagen.

Nachdem seine malträtierten Augen ihre Sehkraft zurückgewonnen hatten, spähte er vergeblich noch ein paar Minuten angestrengt zum Waldrand, in der Hoffnung, dort irgendetwas zu entdecken, das seine aufgewühlten Gefühle hätte beruhigen können.

Doch dann beschloss er, erst einmal Cora nachzugehen, um mit ihr dieses unheimliche Erlebnis zu besprechen. Vielleicht hatte Cora ja von ihrem derzeitigen Standort aus etwas gesehen, was zur Aufklärung dieser bedrückenden Begebenheit beitragen könnte. Diesen extrem hellen Lichtstrahl und das himmelweit leuchtende Spinnennetz musste sie doch gesehen haben!

Noch unter dem Eindruck des Ungeheuerlichen, wollte er gerade aufbrechen, als er stutzte. Das knisternde Geräusch von Libellenflügeln hatte ihn aufhorchen und über das Brückengeländer hinabblicken lassen.

Über dem gemächlich strömenden Wasser des Flusses jagten zwei große, fingerlange Königslibellen nach Beute. Die schlanken Körper der Raubinsekten schimmerten metallisch blau und grün, und ihre hauchdünnen, gläsernen Flügel schlugen hörbar knisternd aneinander, wenn sie überraschend plötzlich in wendigem Manöver ihre Flugbahn änderten, um nach fliegenden Insekten zu stoßen, die sie noch im Flug töteten und fraßen.

Der ewige Kreislauf der Natur, dachte der Kapitän seltsam berührt, fressen und gefressen werden. Das Wissen um diese unumstößliche Grundsätzlichkeit des Lebens war ihm nicht neu, aber er war sich dessen noch nie so bewusst gewesen, wie in diesem Augenblick. Alles Lebendige hat dem großen Rausch des Lebens früher oder später unabwendbar mit der Hingabe der eigenen Existenz seinen Tribut zu zahlen.

Er blickte verwundert auf und fragte sich, was ihn auf dieser Brücke noch zurückhielt, warum er hier wie gebannt verharrte und sich philosophischen Betrachtungen hingab, anstatt schreiend das Weite zu suchen. Hatte er nicht soeben an diesem Ort des Schreckens den Hauch des Todes verspürt? Was in Gottes Namen musste denn noch geschehen?

Keine Panik, Kapitän Pricken! – Offenbar bist du noch bei klarem Verstand! Hast alles im Griff!, versuchte er diesbezüglich aufwallende Zweifel zu unterdrücken, doch als er auf einmal wie unter Zwang an das Brückengeländer trat und sich darüberbeugte, war er sich auch dieses vagen Gefühls nicht mehr sicher.

Sich noch weiter vorbeugend, bemerkte er auf einmal, dass da unten, über dem in der Abendsonne blitzenden Wasser, noch unzählige andere Libellen jagten – Teufelsnadeln, rote Nymphen, blaue Wasserjungfern – die er vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Auch sie schossen geheimnisvoll funkelnd in pfeilschnellem Flug zwischen den Ufern hin und her und stießen im Uferschilf über Weidenröschen und Wasserhanf nach Fliegen, Mücken und Schmetterlingen.

Die Augen des Kapitäns vermochten den akrobatischen Flugmanövern der bunten Libellen kaum noch zu folgen, das Hin und Her verwirrte ihn, und als sein Blick Halt suchend zum nahen Ufer schweifte, wo er an der rosaroten Blütendolde einer langstieligen Schwanenblume hängen blieb, erschrak er abermals. In den halbkugelförmig angeordneten rosa Blütenkelchen der großen Schwanenblume – keine fünf oder sechs Meter von ihm entfernt – saß eine daumengroße Mädchengestalt von feenhaftem Aussehen, mit schulterlangen, sacht im Wind wehenden weißblonden Haaren. Als sie sah, dass er sie entdeckt hatte, erhob sie sich halb aus den Blütenblättern und bedachte ihn mit einem bohrenden Blick aus ihren bernsteingelb leuchtenden Augen.

»Kneif mich mal, Cora«, flüsterte der Kapitän, doch dann fiel ihm ein, dass sein Papagei ja schon vorausgeflogen war. Er stand allein und starrte angespannt zu dem rätselhaften Wesen hinüber, auf dessen Rücken er zu seiner großen Verwunderung auf einmal ein Paar getupfter Libellenflügel bemerkte.

»Eine Elfe!«, flüsterte er erschaudernd.

Diese Brücke musste einer jener besonderen, ja, magischen Orte sein, von denen er nur wusste, dass es sie gab. In seinem langen Leben hatte es mehr als ein Dutzend Hinweise auf solche Stätten gegeben, von denen er allerdings bisher keine zu sehen bekommen hatte. Doch jetzt stand er offenbar an einem dieser geisterhaften Orte einer Elfe gegenüber.

Ganz wirr und schwindelig im Kopf rieb er sich die Augen, die er aber augenblicklich wieder aufriss, als er von dem kleinen Wesen mit einer angenehm hellen, wenn auch unerwartet lauten Stimme angesprochen wurde: »Hadilladi! Hadirzladich wadillkadimmadin, Fradimdadir!«

»Wi – wie bitte?«, stotterte er vor Schreck.

»Adich hadibadi dadir adibadin gadiradidadi dadis Ladibadin gadiradittadit – adibadir nadimm dadich adin Adicht, adich badin nadicht adimmadir zadir Stadilladi.«

»Ich…fasse…es nicht!«, stammelte er völlig verwirrt und schloss in einem Anflug von Erschöpfung für einen kurzen Moment die Augen. Als er wieder hinsah, war die Elfe, oder das, was er dafür gehalten hatte, fort.

Klarer Fall von Sinnestäuschung!, besann er sich und atmete erst einmal tief durch. War wohl doch alles ein bisschen viel auf einmal. Erst die Versetzung in den Ruhestand, auch wenn die nicht ganz plötzlich gekommen war, dann die heutige beschwerliche Reise, ein neues Zuhause – zudem ist es heiß, und ich bin durstig und müde. Kein Wunder, wenn man nach alldem auf einmal Halluzinationen hat, Stimmen hört, sich plötzlich von einem Lichtstrahl angegriffen fühlt und zu guter Letzt auch noch meint, eine Elfe gesehen zu haben. Ja, ich brauche unbedingt ein paar Tage Ruhe und Erholung.

Noch einmal rieb er sich gründlich die Augen, massierte auch seine Schläfen ausführlich, weil er glaubte, durch eine bessere Durchblutung mehr Klarheit im Kopf schaffen zu können. Aber dann suchten seine Augen noch einmal die Schwanenblume, auf deren Blütendolde die vermeintliche Elfe gesessen hatte. Doch da saß jetzt eine große blaue Königslibelle und verspeiste genüsslich einen bunten Schmetterling.

Konnte er sich denn so getäuscht haben? Er schüttelte verwundert den Kopf und fuhr erschrocken zusammen, als Cora unvermutet auf seiner Schulter landete und ihm ins Ohr krächzte: »Hinter der nächsten Straßenbiegung kann man schon dein Kiebitzberge sehen!«

»Mein was?«

»Dei-ne neu-e Hei-mat, See-mann!«, skandierte Cora, übermütig jede Silbe einzeln betonend, als sei er schwer von Begriff. Als sie aber bemerkte, dass er einen offensichtlich verwirrten Eindruck machte, fragte sie besorgt: »Sag mal, ist was? Du guckst so bedeppert aus der Wäsche!«

Der Kapitän zog kurz in Betracht, Cora von der Elfe und den Lichterscheinungen erst gar nichts zu sagen, weil er sich nicht auch noch ihrem Spott aussetzen wollte. Doch dann entschied er sich anders und sagte rundheraus: »Cora, ich glaubte eben einen Moment lang, eine Elfe gesehen zu haben.«

»Käpt’n – Käpt’n«, antwortete Cora amüsiert, »man kann dich aber auch keinen Augenblick allein lassen.«

»Das heißt«, fuhr er jedoch unbeirrt fort, »wenn ich es mir recht überlege, frage ich mich – und das wohl zu recht – ob ein Trugbild in der Lage ist, zu sprechen?«

»Nun sag bloß noch, diese Dingsda, diese Elfe habe mit dir diskutiert!«

»Ja, nein, nicht diskutiert, aber sie hat zu mir gesprochen. Ich habe zwar nichts verstanden, doch ihre ersten Worte klangen wie ein Gruß, sie sagte nämlich: ›Hadilladi! Hadirzladich wadillkadimmadin, Fradimdadir!‹«

»Na schön, sie hat dich begrüßt«, schien Cora ihn und seine Worte noch immer nicht ernst nehmen zu wollen. »Und was hat dir die Dame noch so geflüstert?«

»Cora, jetzt hör aber mal auf, dich über mich lustig zu machen, ja?«

»Also gut«, lenkte sie ein, »hat sie noch was gesagt?«

»Ja, als Letztes gab sie etwas von sich, das wie eine Warnung klang. – Was zum Kuckuck war das noch mal?«

»Ich war nicht dabei, Käpt’n«, sagte Cora teilnahmslos und gähnte gelangweilt. Doch der Kapitän hatte gar nicht hingehört – auf einmal klangen ihm auch die letzten Worte der Elfe wieder deutlich im Ohr.

»Ich hab’s, Cora, aber versuch doch mal, dir die Worte zu merken, ja? Ich meine, falls ich sie wieder vergesse. Sie fragte nämlich…nein, sie sagte: ›Adich hadibadi dadir adibadin dadis Ladibadin gadiradittadit‹, machte eine kleine Pause und fügte dann hinzu ›Adibadir nadimm dadich adin Adicht, adich badin nadicht adimmadir zadir Stadilladi.‹ «

»Und was soll das heißen?« Cora war jetzt doch interessiert, der Klang der fremden Worte hatte sie offenbar beeindruckt.

»Ja, wenn ich das wüsste«, antwortete der Kapitän verdrießlich, doch dann blickte er Cora zuversichtlich an und sagte: »Aber das kriegen wir noch raus, Cora, verlass dich drauf.«

»Das klingt aber nicht sehr überzeugend, Käpt’n.«

»Doch, Cora, das kriegen wir hin, ich hab da schon so ’ne Vermutung.«

»Na, da bin ich aber gespannt, Käpt’n«, blieb Cora skeptisch. »Wir haben ja noch nicht mal das verstanden, was vorhin diese unsichtbaren Kinder gesagt haben, dabei klang das viel vertrauter.«

»Richtig, das, was die Elfe sagte, klang ganz anders – viel fremder. Das sind ganz sicher zwei völlig verschiedene Sprachen, die nur wenig, wahrscheinlich gar nichts miteinander gemein haben. Sie könnten allerdings auf geheimnisvolle Weise dennoch…verstehst du, was ich meine?«

»Nee!«

Der Kapitän winkte ab. Obwohl ihm der aggressive Lichtstrahl als auch das himmelweit leuchtende Spinnennetz deutlich mehr auf der Seele brannten, als das Erlebnis mit der Elfe, wollte er Cora beides doch erst einmal verschweigen, weil er sich plötzlich nicht mehr sicher war, ob er diese mehr als merkwürdigen Erscheinungen tatsächlich gesehen und gefühlt oder sich infolge körperlicher und nervlicher Überanstrengung nur eingebildet habe.

Möglicherweise war das alles doch ein bisschen zuviel für mich alten Knacker, sagte er sich besorgt. Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste. Ja, vielleicht brauche ich mal eine ordentliche Dosis Vitamine und Mineralien.

Jedenfalls wollte er sich das alles erst einmal allein und in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen, bevor er mit jemandem darüber sprechen würde.

Er wunderte sich allerdings doch ein wenig über sich selbst, dass er das mit dem ominösen Lichtstahl und diesem himmelweit leuchtenden Spinnennetz so gar nicht recht glauben konnte oder wollte, stattdessen sogar eine durch Vitamin- und Mineralienmangel hervorgerufene Geistesverwirrung in Betracht zog, während er auf einmal alles, was mit der Elfe zu tun hatte, ohne jeglichen Vorbehalt als real ansah. Das alles bedenkend, beschloss er, in absehbarer Zeit einen Arzt aufzusuchen, um sich da oben mal richtig durchchecken zu lassen.

Da er aber, trotz aller Bedenken und widerstrebender Gefühle, es immerhin für möglich hielt, dass Cora den grünen Lichtstrahl oder das weithin sichtbare Spinnenradnetz auch gesehen haben könnte, fragte er: »Sag mal, Cora, ist dir, als du irgendwo dahinten warst, etwas Besonderes aufgefallen?«

»Was soll mir denn da aufgefallen sein?«

»Ich meine, hast du da von irgendwo einen hellen Lichtstrahl oder sonst was gesehen?«

»Armer Käpt’n«, antwortete Cora amüsiert. »Ich glaube, es war heute doch alles ’n bisschen zu viel für dich.«

Der Kapitän sah sie enttäuscht an, doch dann legte er seine Stirn in Falten und überlegte, nach einer Weile sagte er: »Cora, ich habe für das, was hier vor sich geht, keine rechte Erklärung, aber je länger ich darüber nachdenke, um so mehr hege ich den Verdacht, dass diese Kinderstimmen, die Elfe und…«, die Lichterscheinungen erst einmal ausblendend, fuhr er fort, »ja, dass das alles in geheimnisvoller Weise irgendwie zusammenhängt, und dass über dieser Brücke – wie soll ich sagen? – ein großes Geheimnis liegt. Ich will wissen, um was es hier geht, ich werde dieses Geheimnis lüften – komme, was da wolle! Den Schlüssel zu diesem Geheimnis müssen wir in diesen beiden Sprachen suchen, denke ich, und deshalb müssen wir erst einmal diese linguistischen Nüsse knacken.«

»Was müssen wir knacken?«

Der Kapitän verdrehte ungeduldig die Augen nach oben. »Wir müssen diese beiden Sprachen lernen, Cora, oder jemanden finden, der sie schon kann – der sie uns übersetzen kann.«

»Aber, Käpt’n«, wandte Cora ein, »ich glaube nicht, dass gerade diese beiden Sprachen in Intensivkursen an einer Abendschule angeboten werden.«

»Kann ja sein, aber das wird sich herausstellen«, sagte der Kapitän und fuhr entschlossen fort: »Ich will dieses Geheimnis lüften, und ich bin mir sicher, dass wir das zusammen auch schaffen.«

»Da bin ich aber, wie gesagt, na ja, gespannt, Käpt’n.« Cora war alles andere als überzeugt und machte auch keinen Hehl daraus.

»Verlass dich drauf, Cora!«, ließ sich der Kapitän aber nicht entmutigen und bekräftigte damit noch einmal seinen festen Willen, hinter das Geheimnis dieser Brücke zu kommen.

Auf einmal hob er den Kopf und lauschte – aus der Ferne klang wieder leises Gewittergrollen herüber.

Ein Gewitter hat uns gerade noch gefehlt!, dachte er beunruhigt. Doch Cora, die das Grollen auch gehört hatte, winkte ab. »Ich höre das schon ’ne ganze Weile, Käpt’n – ich glaube nicht, dass es nach hier herüberzieht, das verdrückt sich vielmehr nach Westen.«

»So wie es aussieht, eher nicht«, erwiderte der Kapitän. »Lass uns lieber von hier verschwinden, ehe es zu spät ist.«

Er nahm eilig ihr Gepäck auf, und nachdem Cora auf seiner Schulter Platz genommen hatte, marschierte er mit großen Schritten auf der Landstraße in Richtung Kiebitzberge davon. Als sie an die Stelle kamen, wo die Straße hinter einem Birkenwäldchen einen scharfen Knick nach links macht, konnten sie schon die schilfgrauen Reetdächer des Dorfes zwischen hohen Eichen sehen; über den Kronen der mächtigen Bäume war der Himmel rabenschwarz und drohte mit dunklen, schwefelgelb geränderten Gewitterwolken.

Das Donnergrollen klang nun schon deutlich lauter; das heraufziehende Unwetter zog nicht nach Westen ab, sondern kroch von jenseits des Dorfes langsam näher. Als der Kapitän den langgezogenen Ruf eines Raubvogels vernahm, wandte er sich himmelwärts spähend um. In geringer Entfernung von vielleicht zweihundert Metern kreisten zwei Bussarde, die sich wie verkohlte Papierfetzen, die über einem Feuer tanzen, in den hier noch wolkenlosen Himmel schraubten.

DIE Raubvögel waren auf der Jagd nach Beute. Mit Augen, die selbst aus größter Höhe noch die kleinste Bewegung am Boden erfassten, beobachteten sie die Wiesen und Felder, die unter ihnen im Fahrtwind dahinflogen. Den uniformierten älteren Herrn und seinen Papagei hatten sie längst entdeckt. Einen so seltsam bunten Vogel, wie den auf der Schulter des Alten, hatten auch sie offenbar noch nie gesehen.

Doch dann hatten sie noch etwas anderes bemerkt, etwas, das ihre Aufmerksamkeit noch mehr erregte, als der alte Seemann und sein bunter Vogel.

Auf Sievers’ Bullenweide bewegte sich etwas. Aber was mochte das sein? Von hier oben sah es so aus, als wehte dort unten der Wind Herbstblätter vor sich her. Da das aber jetzt im Frühsommer ein Ding der Unmöglichkeit war, weil es erstens noch kein Herbstlaub gab, und zweitens sich in der momentan herrschenden Windstille kein Lüftchen regte, musste es für das seltsame Treiben da unten eine andere Erklärung geben. Sich darüber Klarheit zu verschaffen, legten die Bussarde die Flügel an und stürzten der Erde entgegen, um ihren Fall etwa sechzig Fuß über dem Erdboden abzufangen und in lautlosem Gleitflug zur Bullenweide zu fliegen, wo sie die merkwürdige Erscheinung zuletzt gesehen hatten.

Jetzt konnten sie deutlich sehen, was es mit der Merkwürdigkeit auf sich hatte. Was von hoch oben wie vom Wind getriebenes Herbstlaub ausgesehen hatte, entpuppte sich als eine beträchtliche Anzahl fast katzengroßer Tiere, die in losem Verband eilig nach Westen in Richtung Kiebitzberge rannten. Es war ein Trupp Wanderratten, der sich da zielstrebig dem Dorfrand näherte – an die einhundert Exemplare der Spezies Rattus norvegicus.

Die Ratten hatten die beiden Bussarde längst bemerkt und da sie wussten, dass auch sie auf der Speisekarte großer Raubvögel standen, hatten sie ihre Laufrichtung geändert und strebten nun in Richtung der schützenden Sträucher, die hier die Bullenweide heckenartig begrenzten. Als sie die Sträucher erreicht hatten, waren sie in deren Schatten allen Blicken von oben entzogen und für die Raubvögel nicht mehr erreichbar.

Die Bussarde hatten aber gar nicht die Absicht gehabt, die Ratten anzugreifen; sie wussten aus Erfahrung, dass Wanderratten keine leichte Beute sind, sondern eine Spezies, die sich heftig wehrt, wenn sie bedroht oder gar angegriffen wird. Im Gegensatz zu den meisten anderen Tierarten, halfen sich Wanderratten zudem gegenseitig, sodass ein Angreifer es immer mit mehreren zu tun bekam und so leicht selbst zur Beute werden konnte.

Ohne die Ratten attackiert zu haben, flogen die Bussarde eilig und auf kürzestem Weg zu ihrem Horst im Schattenwald zurück. Jenseits von Kiebitzberge zuckten die ersten grellen Blitze am schwarzen Himmel, der Donner klang schon recht bedrohlich.

DIE Ratten hatten die Bussarde davonfliegen sehen und waren dann im Schutze der Sträucher in Gänsemarschformation eilig weitergezogen. Das Grollen des aufziehenden Gewitters hatte ihren Lauf noch beschleunigt. Als sie das Ende der Strauchreihe erreicht hatten, lag der Dorfrand von Kiebitzberge nur einen Steinwurf entfernt vor ihnen. Sie vergewisserten sich noch einmal, dass ihnen im Moment keine Gefahr aus der Luft drohte und rannten dann, wieder in losem Verband, also neben- und hintereinander, über das freie Feld auf Kiebitzberge zu.