Orchidee & Wespe - Caoilinn Hughes - E-Book

Orchidee & Wespe E-Book

Caoilinn Hughes

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Beschreibung

Wer wie Gael Foess schon mit elf Jahren einen schwunghaften Handel mit Läuseeiern betreibt und seinen Freundinnen Jungfrauenkapseln aufschwatzt, ist mindestens so einfallsreich wie geschäftstüchtig. Gael ist ein Adrenalin-Junkie, ehrgeizig, hochintelligent, so groß- wie kaltschnäuzig – und wild entschlossen, ein Leben ganz zu ihren eigenen Bedingungen zu führen. Ihre Eltern hat sie früh schon als untauglich befunden, sie und ihren labilen, künstlerisch begabten Bruder Guthrie angemessen großzuziehen. Als Gaels Vater, ein Banker, Frau und Kinder während der Finanzkrise 2008 verlässt, droht die Familie unter die Räder zu kommen. Ihre Mutter, einst eine gefeierte Dirigentin, verliert ihren Lebensmut und ihre Position. Guthrie steht mit siebzehn plötzlich ohne Schulabschluss, aber mit Zwillingen da. Dass sie ein Opfer irgendwelcher Umstände werden sollen, damit will Gael sich nicht abfinden. Sie verlässt Dublin, lernt in der koksgeschwängerten Finanzwelt Londons ein paar wichtige Lektionen und landet schließlich in New York. Im Gepäck fünf Bilder ihres Bruders und eine bestechende, wenn auch nicht ganz legale Geschäftsidee …

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Caoilinn Hughes

Orchidee & Wespe

Roman

Aus dem Englischen von Sarah Hickey und Hans-Christian Oeser

Steidl

»Immerzu verspürte ich (wie wohl so manches ehrgeizige Mädchen) ein Pochen von innen, dem kein Locken von außen antwortete.«

— Anna J. Cooper (1892)

»Und wie manchen Dingen vermöchten wir nicht auf die Spur zu kommen, wenn nicht Feigheit und Unbesonnenheit die Früchte der Studien wieder vernichtete?«

— Mary Wollstonecraft Shelley (1818)

Das Meer ist in unseren Augen nicht weniger schön, weil wir wissen, dass die Schiffe bisweilen in seiner Flut versinken.

— Simone Weil (1942)

Für Paul

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

1. Das Mittelmäßigkeitsprinzip

2. Reuig ist das Kind

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

3. Das Mittelmäßigkeitsprinzip

4. Die Pforten von Horn und Elfenbein

Kapitel I

Kapitel II

5. Wie man den Preis für Optionen bestimmt

6. Die Kunst der Integration

7. Opportunität, Kosten

Kapitel I

Kapitel II

8. Nicht-Nullsumme

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

9. Sinkende Erträge

Kapitel I

Kapitel II

Impressum

1

Das Mittelmäßigkeitsprinzip

April 2002

Es ist unser Recht, Jungfrauen zu sein, sooft wir wollen, sagte Gael zu den Mädchen, die sie umstanden wie Blütenblätter ein Pollenpaket.

»Stellt es euch einfach vor«, sagte sie. »Louise. Fatima. Deirdre Concannon.« Ihre Namen sprach sie wie Anschuldigungen aus. Sie steckte jeder von ihnen die Spitze ihres Zeigefingers in den Mund, und die Wangen der Mädchen machten plop plop plop. »Bei mir hab ich’s schon mit genau diesem Finger gemacht«, sagte sie. Die Mädchen zuckten zusammen und wischten sich mit dem Saum ihrer Trägerkleider die Geschmacksknospen ab. »Auf die Fliesen im Bad ist Blut getropft, aber es war nicht viel, und es hat nicht so wehgetan, wie … wie wenn ihr euch ohne Eis Löcher in die Ohrläppchen stechen würdet«, schloss sie unheilvoll. »Und jetzt muss ich mir keinen Kopf mehr darum machen, so wie all die anderen Idiotinnen. Ihr solltet es heute Abend alle tun. Wir reden morgen darüber, und ich werde wissen, ob ihr’s getan habt oder nicht.«

Von ihrem Atem, unmerklich wie der von Shakespeares Julia, zitterten die feinen Härchen in ihren Ohren. Feierlich räumte sie ein: »Manche von euch werden die Kapseln ihr ganzes Leben lang brauchen. Bis hin zu eurer Hochzeitsnacht, weil ihr Muslimas oder so richtig echte Christinnen seid. Wisch dir den Rotz ab, Miriam. Das ist die harte Wirklichkeit. Und es hilft den Leuten. Die Jungs werden denken, dass sie euch etwas nehmen, wenn die Kapsel zerbricht. Ihr aber werdet es besser wissen«, sagte sie. »Ihr werdet wissen, dass es da nichts zu nehmen gab.«

Gael war elf. Es war ihr letztes Trimester in der Grundschule. Vielleicht war das der Grund, weshalb ihr Vorschlag nach hinten losging. Die Mädchen bereiteten sich darauf vor, zu einer anderen reichen, vernichtend schönen Anführerin überzulaufen. Doch Gael störte sich nicht daran. Sie brauchte keine Gefolgschaft mehr. Es wäre einfacher, wenn sie von alleine verschwänden, als wenn sie mit ihnen Schluss machen müsste.

»So richtig echte Christen wie dein Bruder?«, erwiderte Deirdre. »Ist der nicht Messdiener?«

Gael verdrehte so melodramatisch die Augen, dass sie hinter den Augenhöhlen Kopfschmerzen davon bekam. »Der hat kein Jungfernhäutchen, Deirdre, also ist er offensichtlich irrelevant.«

Deirdres und Louises Heiterkeit nahm noch zu, weil Miriams Tränen zusammen mit der Grundierung, die sie zuvor in der Apotheke an der Bushaltestelle ausprobiert hatte, eine terrakottafarbene Paste bildeten. Was die Jungfernkapseln denn kosten würden, wollte Becca wissen. Welchen Preis würde Gael dafür verlangen?

»Ist doch egal«, sagte Gael. »Was tut das schon zur Sache? Taschengeld halt. Alle werden sie haben wollen. Hunderte, wenn nicht Millionen von Leuten, Rebecca. Also entscheidet euch.« Sie forderte ihr unverbindliches Wesen heraus und schaute von einem vorgebeugt dastehenden Mädchen zum anderen. »Also, wie sieht’s aus? Seid ihr dabei?« Sie sprach zu ihren schuppigen Scheiteln. Neuerdings lohnte es sich kaum noch, Zeit mit ihnen zu verbringen. Selbst beim Sport wollten sie nicht ins Schwitzen geraten. Ohne sie zu berühren, schnellte Gaels rußschwarzer Schopf nach vorne, und sie stieß sie von sich wie eine jähe Windbö, die Loses von Festem scheidet. Dumme Mädchen, dachte sie, als auch schon die Pausenglocke schrillte und sie zu ihren Klassenzimmern trotteten. Zurück zum Einmaleins: den üblichen langsamen, bescheuerten Rechenoperationen.

Sie drehte der Tafel den Rücken zu, entnahm ihrer Tasche ein Fläschchen Tipp-Ex und begann, sich die Nägel korrekturweiß zu lackieren. Es roch wie in Guthries Schlafzimmer. Beißend. Konzentriert. Mit Farbe besudelte Papiertaschentücher, wenn er seine Pinsel reinigte. Absolution. Ihr kleiner Bruder: der Ministrant. Beim neunten Fingernagel angekommen, hob sie der Dünste wegen den Kopf und sah, wie Deirdre Concannon in den Raum marschiert kam, zusammen mit der Beratungslehrerin, die, einen Klecks Thunfisch-Mayonnaise im Winkel ihres gespitzten Mundes, auf Gaels Tisch zuging, ihr ein Mobiltelefon hinhielt und sie höflichst aufforderte, ihren verderbten Einfluss anderswo auszuleben. Die Nummer, die Gael wählte, war ihr bekannt. Was jetzt auf sie zukam, allerdings nicht, denn Mum war auf Reisen.

Vor mehreren Stunden hatte Jarleth einen Wagen geschickt, um sie abholen und zu seiner Arbeitsstelle bringen zu lassen. Seine Sekretärin hatte Gael am Telefon über die Marke des Autos und den Namen der Fahrerin informiert. (Beide Mercedes.) Bis dahin hatte es keine Strafen gegeben, außer einmal einen Nachmittag lang im Gefängnis eines fensterlosen Sitzungsraumes in seinem Bürogebäude eingesperrt zu sein.

Auch Guthrie, der auf dieselbe Schule ging, allerdings zwei Jahrgänge unter seiner Schwester, war ermutigt worden, nach Hause zu gehen, als seine Klasse das Gebet nach dem Mittagessen in perfektem Unisono mit den Worten beschlossen hatte: »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen, Hymen.« Gael wartete bereits am Schultor, als Guthrie, sein Ranzen-Kruzifix über den Schulhof schleifend, vollkommen verstört und verwirrt zu ihr kam.

Seine blauen Augen waren rotgerändert wie die einer Möwe, als er seine Hausaufgaben beendet hatte – im künstlichen Licht des irischen Hauptsitzes von Barclays, Nr. 2 Park Place in Dublins Innenstadt, um die Ecke (und doch Welten entfernt) von der National Concert Hall, wo sie ihrer Mutter oft dabei zusahen, wie sie ihrem Orchester reichere Erträge entlockte.

Guthrie sprach leise in sein Schreibheft. »Das machst du immer, wenn Mum weg ist.«

»Ich hab doch gesagt, dass es mir leid tut.«

»Tut’s dir aber nicht.« Für einen Zehnjährigen gab er ein überzeugend weltmüdes Geräusch von sich.

Ihre Mutter war Chefdirigentin des National Symphony Orchestra – einem der beiden Berufsorchester Dublins –, mit dem sie mehrere hundert Konzerte im Jahr gab, zusätzlich zu den Gastdirigaten, bei denen sie in einer Woche acht Aufführungen zu bewältigen hatte, Interviews gab, Benefizveranstaltungen, Sitzungen, Aufnahmen, Reisen … und von denen sie meist völlig geschafft nach Hause kam.

Gael suchte ihr schwarzes Haar nach gespaltenen Spitzen ab. Geistesabwesend sagte sie: »Ich konnte ja nicht ahnen, dass diese Heulsusen bei meinem Vorschlag alle durchdrehen.«

Guthries feines beiges Haar berührte den polierten Kieferntisch. Er hatte den Kopf auf den Arm gelegt und schrieb mit der linken Hand irische Sätze aus seinem Schulbuch in sein Heft, die er Schritt für Schritt ins Englische übersetzte. Er war ein ciotóg. Ein Linkshänder. Bedeutung: »Ein Unbeholfener.«

Fadó, fadó,

Es war einmal

bhí laoch mór ann, ar a dtugtar Cúchulainn.

ein großer Held Krieger mit Namen genannt, der hieß

Cúchulainn.

Er hörte auf zu schreiben und ließ die Spitze des Bleistifts auf dem Papier ruhen wie den Zeiger auf einem Hexenbrett. Eine Weile später nahm er ihn wieder auf, setzte ihn auf einem leeren Blatt an und begann, eine Seitenansicht von Cúchulainn zu zeichnen, der sein Schwert schwang. Es war eine riesige Waffe mit aufwendig verziertem Griff. Guthrie stattete seinen Helden mit langen, wehenden Locken, einem Kettenhemd und Beinschienen aus. Als alle Details ergänzt waren, fügte er um die ganze Gestalt herum Schnörkel hinzu und zeichnete wüste Kringel in die Luft – kindlich im Vergleich zu Cúchulainns wildem Gesichtsausdruck.

»Sind das Wolken?«, fragte Gael.

Ein kaum merkliches Kopfschütteln.

»Bäume?«

»Wellen«, sagte er leise.

»Warte.« Sie sah sich die Zeichnung noch einmal an. »Ist er im Meer? Mit diesen schweren Sachen?«

Statt mit ja zu antworten, übertrieb Guthrie die Grimasse des Helden noch und zeichnete einen wallenden Mantel. Um Kühnheit zu demonstrieren, verstärkte er die Kinnlinie und die Nasenflügel. »Er kämpft gegen den Ozean.«

Gael folgte den Bewegungen des Bleistifts und wunderte sich. Cúchulainn, der gegen den gigantischen Atlantik kämpft. Ein unsichtbares Duell, mit langsamen, bedächtigen Bewegungen. War ihm denn gar nicht an Belohnung oder Ansehen gelegen, falls er gewann? Oder an Rettung, falls er verlor? Vielleicht wollte er ja auch nur sich selbst etwas beweisen; die Muskelkraft seines Charakters auf die Probe stellen, ohne an ein Publikum zu denken. Auf Türmen aus Wasser gibt es keine Beobachtungsposten. Kein Urteil. Weshalb würde es jemand mit der unermüdlichen See aufnehmen, es sei denn, um die Stärke seiner eigenen Strömung herauszufinden? Guthrie hob den Kopf, und ein blassgelber Fleck markierte die Stelle, wo seine Wange gegen seinen Unterarm gedrückt hatte.

»Genau so fühlt es sich an«, sagte er monoton, während er ein paar Linien ausradierte und den grauen Gummiabrieb auf den Boden wischte. »Wenn du in den weißen Teil gezogen wirst.«

»Was fühlt sich so an?«

Es vergingen einige Augenblicke ohne Antwort.

»Oh«, sagte Gael, als sie begriff. »Das hört sich nicht sehr beruhigend an.«

»Ist es auch nicht.«

»Aber du weißt, dass es nur die Schwerkraft ist, die dich hinabzieht, ja? Es ist kein Monster oder Satan oder so was.«

Guthrie schien darüber nachzudenken. »Das bin ich«, sagte er.

»Der Krieger?«

Er schüttelte den Kopf, und Gael rechnete fast schon damit, dass ihm Federn hellen Haars ausfallen würden, so wie wenn man einen toten Vogel schüttelt. »Der, der hinabzieht.«

»Guthrie! Das darfst du nicht denken. Es ist nicht deine Schuld.«

Gael sagte es, obwohl sie wusste, dass es eine Lüge war, um das Ganze erträglicher zu machen. Wenige Wochen zuvor hatten sich ihre Eltern mit ihr hingesetzt, um die Situation zu erklären. »Dein Bruder hat keine Epilepsie. Er glaubt nur, Epilepsie zu haben«, hatte Jarleth gesagt. Diese Erklärung hatte Sive bestürzt, und sie hatte das Wort ergriffen. »Es nennt sich somatische Wahnstörung, Gael. Ich bin sicher, dass du es nachschlagen wirst. Wichtig ist, dass er körperlich gesund ist«, hatte sie gesagt, »aber es gibt einen klitzekleinen Bereich in seinem Gehirn, der nicht ganz in Ordnung ist. Die Ärzte vermuten, dass es leichter sein wird, ihn direkt darauf anzusprechen, wenn er älter ist, mit entsprechender therapeutischer Unterstützung. Im Augenblick würde es ihn extrem belasten und ängstigen, ihn sogar aggressiv machen, wenn wir mit ihm über die Störung sprechen. Er glaubt, wir wollen ihm vormachen, er sei nicht krank. Was er ist, nur nicht so, wie er es glaubt. Deswegen ist es besser, wenn alle die Krankheit als das behandeln, wofür Guthrie sie hält. Und das ist Epilepsie.« Gael entnahm den Worten ihrer Mutter, dass ihr Bruder zu jung war, um die Wahrheit zu begreifen, und dass es Teil seiner Krankheit war, dass er es nicht konnte.

»Guth?«, wiederholte Gael. »Es ist nicht deine Schuld.«

»Dad sagt das aber.«

Ein Schwall von Wut in ihrer Brust. »Dad irrt sich.«

»Er ist böse auf mich.«

»Er ist einfach nur … frustriert, dass du jedes Mal, wenn du einen Anfall hast, etwas kaputt machst.«

»Das ist keine Absicht.«

»Ich weiß.«

»Ich kann’s nicht steuern.«

»Das weiß ich.«

»Wenn’s dazu gut wäre … Wenn ich nicht zum Sport gehen müsste, würde mir Miss McFadden einfach mehr Kunstunterricht geben – solange ich nichts in Steckdosen stecke oder Scheren, Messer oder starken Kleber benutze, hat sie gesagt, dass ich darf. Oder sogar was anderes.«

Gael machte ein schockiertes Gesicht. »Die muss betrunken gewesen sein oder so. McFadden ist ein Arschloch.«

»Sie weiß, dass du das denkst. Deshalb ist sie gemein. Sie sagt, dass du arrogant bist, aber ich habe ihr gesagt, dass du netter bist, wenn du nicht in der Schule bist.«

»Wen interessiert schon nett.«

»Sie hat gesagt: ›Wie praktisch.‹«

»Praktisch wäre es, wenn sie sich mit einem Burger Rinderwahn einfangen würde.«

»Hör auf, Gael.« Wieder traten ihm Tränen in die Augen. »Ich mag sie.«

»Schon gut, Entschuldigung, ich nehm’s zurück! Kein Rinderwahn für Miss McFadden. Vermutlich ist sie sowieso Vegetarierin. Guthrie, hör auf zu weinen.«

»Es ist nicht –«, sagte er heiser.

Gael nahm seine Hand von seinem Mund, an deren Kante er gekaut hatte. »Lass das. Bitte sag mir, was los ist.«

Er versuchte, es zu erklären, doch Schluchzer beeinträchtigt den Satzbau. Gael fügte die hinausgeheulten Wortfetzen zusammen. Dad hatte ihn gewarnt, wenn er weiter Anfälle habe, werde er auf die Förderschule gehen müssen. »Aber es hat … nichts mit Fördern … Fördern ist … Fördern … bedeutet …«

»Es ist ein Euphemismus«, sagte Gael. Ein Wort, das sie unlängst gelernt und zwar gut gelernt hatte.

Guthrie blinzelte sie blitzschnell an. Das war etwas Neues. »Ein was?«

»Ein Euphemismus. Hier.« Sie nahm seinen Bleistift. »Du lernst das Wort und sagst es Dad, falls er dir noch einmal droht. Oi-fe-miss-muss. Wenn ein Wort nur eine schöne Art ist, etwas Schlechtes zu sagen. Und es ist eine Lüge, Guth. Du wechselst auf keinen Fall die Schule.«

»Dad würde es nicht einfach nur so dahinsagen.«

»Für ihn ist es keine Lüge. Für ihn ist es eine Möglichkeit, dich zu schützen. Er wird alles sagen, wovon er glaubt, dass es dich schützt. Weiß Mum davon?«

»Wovon?«

»Dass Dad das gesagt hat?«

Guthrie zuckte mit den Schultern. Er betrachtete das Wort, das Gael in Druckbuchstaben neben seiner Zeichnung auf die Seite geschrieben hatte. Unter die Irisch-Hausaufgaben. Er atmete durch. »Sie hat nichts gesagt.« Er hob den Bleistift wieder auf und fing an, die gesamte Zeichnung diagonal zu schraffieren, sie mit Blei zu verschleiern.

»He!« Gael nahm ihm das Schreibheft ab, bevor er es ganz ruinierte. Sie schlug es zu und schob es in seine Schultasche. Es war nervig, wie oft ihre Mutter in letzter Zeit auf Tournee war. Sie sollte sich um diese Sache kümmern. »Schau mich an«, sagte Gael. »Heute hast du keinen Anfall gehabt. Und das, obwohl … deine Klassenkameraden über dich gelästert haben … diese affigen kleinen Scheißer.« Sie fügte nicht hinzu: meinetwegen.

Er wandte sein Gesicht von ihr ab und der Tür zu, wo Geldmissionare in grauen Anzügen und mit schädelbetonenden Haarschnitten an der Glasscheibe vorbeigingen.

Gael sah, wie die Schulterblätter ihres Bruders zitterten. Die Haltegriffe seiner Wirbelsäule. »Komm schon, Guth. Wenn er hereinkommt und sieht, dass deine Augen immer noch rot sind …«

»Die heute Morgen vorgelegten Kostenvoranschläge –« Vom Ende des Korridors wurde die Stimme ihres Vaters hereingetragen, wie das bei modernster Schalldämmung eben so ist. »– die verscheißern Sie doch … vierzehn Basispunkte … dreizehn zu viel.« Da sie nur die Länge des Korridors hatte, um sich auf seine Ankunft vorzubereiten, stand Gael auf und lief im Zimmer auf und ab, sah hinter dem freistehenden Whiteboard nach und prüfte die Wand aus abgeschlossenen Aktenschränken, bis sich einer schließlich öffnete. Sie kramte darin und zog eine Rolle Tesafilm heraus. »Schnell«, sagte sie, wirbelte Guthries Drehstuhl zu sich herum und biss ein Stück Klebestreifen ab. »Halt still.«

Er stieß sie weg. »Was machst du da?«

Jarleths Stimme wurde lauter. »– nach wem sie sich richten. Er wird es nennen, wie es ihm passt.«

»Vertrau mir«, sagte sie und wischte mit dem Daumen seine Tränen weg, was sie nicht zum Versiegen brachte.

»Hör auf.«

»Versuch nicht zu sprechen.« Sie klebte den Tesafilm horizontal über sein Kinn, sodass seine Unterlippe riesig wurde und wie gepellt wirkte und sein rosa Zahnfleisch zu sehen war, wie bei einem unleidlichen Blutbrustpavian. »Es wird nicht wehtun. Versprochen.« Sie rang ihn nieder, um noch ein Stück Tesafilm aufkleben zu können, das von den Schläfen bis unter die Wangenknochen reichte, sodass seine verquollenen Augen nur noch blinzeln konnten. Sie brachte die Proteste ihres Bruders zum Schweigen, schützte sich gegen seine schwächlichen Faustschläge und vollendete die Collage seines Gesichts. Auf dem Stuhl rollten sie kreiselnd am Tisch entlang: der Planet, der seinen bedrängten Trabanten mit sich schleppt. Der letzte Klebestreifen verpasste ihm eine Schweinsnase, aus der wässriger Schleim tropfte und die gesamte Komposition aufzuweichen drohte.

Die Tür hatte sich geöffnet, und dort stand Jarleth, der seine Uhr festzurrte wie ein Schauspieler, der mitten im Kostümwechsel die Bühne betritt. Distanziert betrachtete er seinen Nachwuchs. Der Text würde ihm schon noch rechtzeitig einfallen, oder ein mittlerer Manager würde ihm soufflieren. Dies war keine wichtige Szene.

Gael war zu einer Art Habachtstellung aufgesprungen und fühlte sich deshalb leicht gedemütigt. Diese Ehrerbietung. Sie bückte sich, aber nicht zu einem Kniefall, sondern um in ihrer Tasche nach ihrem Handspiegel zu wühlen. Sie reichte ihn Guthrie und sagte: »Wir spielen Wer bin ich.« Jarleth warf ihr einen Ach, spielen also?-Blick zu. Seine geraden Wimpern zeigten auf sie, dann wanderten sie zu den Getränken, die ihnen serviert worden waren. Eine Dose Sprite für Guthrie. Mineralwasser für Gael, die um einen Kaffee gebeten hatte, doch die Empfangsdame hatte das Kinn auf die Brust gelegt und verkündet: »Ms Foess ist sehr kultiviert und kommt ganz nach ihrem Vater, nicht wahr, aber ich denke nicht, dass es deiner Mammy gefallen würde, wenn wir dich ganz hibbelig nach Hause schicken würden, nicht wahr, kleines Fräulein?« Gael hatte ihr mit ihrem besten tz geantwortet: dem Geräusch der strg-alt-entf-Tastenkombination. »Wenn Sie schon die dritte Person verwenden, dann wenigstens konsequent«, hatte sie gesagt. »Ich nehme ein Mineralwasser mit. Pellegrino, bitte.«

Guthrie hatte es nicht gewagt, den Puderdosenspiegel aufzuklappen, um zu erraten, wer er denn nun sein sollte, aber zumindest hatte die Tarnung funktioniert. In den Augen ihres Vaters war Unfug besser als Tränen. »Es ist zehn nach drei«, sagte Jarleth. »Da euch beiden die Hausaufgaben ausgegangen sind, werde ich Carla anrufen müssen.«

»Ach, Dad«, sagte Gael. »Nicht Carla anrufen.« Für Gael war Carla die deprimierendste Sorte Erwachsene – eine, die Kinder als gesonderte Spezies ansieht und dabei für das Kindliche des eigenen Lebens blind ist. Partynächte mit den Mädels, mit indisponiertem Kredit finanziert. Absichtlich begrenzter Wortschatz. Lipgloss-Wahn. Guthrie konnte Clara wegen ihrer allgemeinen Nachlässigkeit und ihrer schlechten Küche nicht leiden. Ihre Mutter mochte das Unbedrohliche an ihr.

Desinteressiert zog Jarleth sein Mobiltelefon aus der Brusttasche seiner Anzugjacke und schwang es herum wie ein Rasiermesser. Die Farbe des Nadelstreifenanzugs war jenes klassische Blaugrau, das nur in der Welt der Anzüge existiert. Jarleth trug dazu ein schneeweißes Hemd mit schräg abfallenden Kragenenden und silbernen Manschettenknöpfen (die ihm niemand geschenkt hatte) und eine Krawatte in Silber und Blau mit Rautenstruktur. Sein aus Weißgold gefertigter Claddagh-Ring betonte seine Frühlingsbräune. Am Sonntag war er nach der Messe stundenlang Fahrradfahren gewesen, und wie er bei der Rückkehr auf seinem hohen Ross aus Carbon verkündete, hatte die Sonne auf ihn herabgeschienen. (Er trug niemals Fahrradhandschuhe oder rasierte sich die Beine: die beiden unmännlichsten Aspekte der Radfahrkultur. Die Radlerhose war einfach nur praktisch.) Im Büro war er ein bisschen wie eine von lauter Brautjungfern umgebene Braut im Hochzeitskleid, denn keiner seiner Kollegen traute sich, denselben herrschaftlichen Farbton zu tragen – nicht einmal die anderen Führungskräfte. Es stimmte schon, der Anzug stand ihm gut. Dank der hohen Fadenanzahl wirkte er bei Tageslicht hellblau, allerdings hatte dieser Raum keine Fenster. Heute war einer jener seltenen Tage, an denen Jarleth nichts auf die Farbe seiner Augen abgestimmt hatte, die er gern als grün bezeichnete, obwohl sie wie Hundert-Euro-Scheine waren, die in eine braune Pfütze gefallen sind.

»Dir ist was runtergefallen«, sagte Gael, um ihn von der Suche nach Carlas Nummer abzulenken. Sie streckte sich und warf ihren einzigen Geldschein auf den Teppichboden. Das war’s mit Susans Anzahlung für die Jungfernkapsel.

Jarleth schaute auf den gefalteten Fünfer. »Kauf dir einen Kaffee.« Er blickte auf seine Armbanduhr.

»Ich mach dir einen Vorschlag«, sagte Gael. Vorschläge waren ihrem Vater lieber als Fragen. Sie war darauf abgerichtet, ihn zufriedenzustellen. Bei ihren Lehrerinnen hatte die Technik die umgekehrte Wirkung, aber Eltern zahlten bar, und Zeugnisse waren leicht zu fälschen. »Wir gehen ins St. Stephen’s Green Shopping Centre, bis du fertig bist.« Sie deutete mit ihrem Kopf auf Guthrie. »Ich werde ihn an die Hand nehmen.«

Jarleth sah sie forschend und ziemlich ernst an. »Du musst Zeit totschlagen, weil deine Lehrerinnen zu provinziell sind, um deine Geschäftsidee zu würdigen – die clever, wenn auch margenschwach und eindeutig nicht altersangemessen ist –, und jetzt möchtest du diese schwer erkämpfte Zeit in einem Einkaufszentrum vertrödeln?«

»Um hab füff hab ich Karate«, sagte Guthrie, zumindest hörte es sich durch die Tesafilmschicht so an. »Awher ich kann auch nich gehn, wenn das eif – eifaer … iff, Dhadh?«

»Marktforschung?« Mit einem niedlichen Achselzucken zog Gael die Schultern bis an die Ohren.

»Walter Lippmann hatte eine großartige Bezeichnung für die Massen, die sich in Einkaufspassagen tummeln statt in Büchereien«, sagte Jarleth. »›Die verwirrte Herde‹. Für preisreduzierte Espressomaschinen trampeln sie sich gegenseitig tot. Du hast es selbst erlebt.«

»Eine Espressomaschine haben wir schon«, sagte Gael.

»Dann wird es etwas anderes geben, das du haben willst.«

»Vielleicht brauche ich etwas.«

»Was brauchst du? Sag mir, was du brauchst. Was dein Bruder braucht.« Jarleth ging mit großen Schritten zum Tischtelefon und wählte die 1. »Wenn ich doch bloß gewusst hätte, dass meine Kinder bedürftig sind. Alles, was du willst, Gael. Ich lasse Margaret eine Bestellung aufgeben, ganz gleich, was es ist. Lieferung am selben Tag.«

»Ich hab’s kapiert«, sagte Gael mit reumütigem Blick auf Guthrie, bevor sie sich wieder fasste.

»Was hast du kapiert?« Jarleth schob eine Hand in seine Hosentasche und drückte seinen Bauch heraus, sodass seine Krawatte zur Seite rutschte und Gael durch die Schlitze seines gespannten Hemdes die gelockten dunklen Haare unterhalb des Nabels sehen konnte. Seinen Körper setzte er mit Bedacht so ein: die Körpersprache eines älteren, hässlicheren, schmuddeligeren Mannes; kein Unterhemd ließ, was seine Figur betraf, Interpretationsspielraum. Dadurch schien er umso attraktiver zu wirken, auf Frauen im Alter ihrer Mutter, aber auch auf jüngere Frauen, wie Gael in letzter Zeit beobachten konnte.

»Was hast du kapiert, Gael?« Immer wieder gelang es ihm, seine vollen Lippen – die dieselbe Ballettschuhfarbe hatten wie der Rest seines Gesichts – entspannt wirken zu lassen, selbst wenn die Worte, die über sie kamen, es nicht waren.

Gael setzte ihre prüde Stimme auf. »Meine Zeit ist wertvoller als die, die es in Anspruch nehmen würde, zum St. Stephen’s Green zu gehen, um einzukaufen.«

»Gut.«

Zum Glück sagte er nie »Good Girl«, wie viele Verwandte, Lehrer und Fremde es taten. Gael hasste diesen Ausdruck, so wie sie Leute hasste, die Schokolade und Obst durcheinanderaßen. Es war herabwürdigend. Als würde man mundtot gemacht. G-G. Wie ein glucksender Säugling. Am schlimmsten war Good Girl, Gael. G-G-G. In der vierten Klasse hatte Miss McFadden bitter dafür gebüßt.

»Was noch?«

»Hä?« Gael durchsuchte ihren Kopf flink nach was noch.

Das Festnetztelefon auf dem Tisch klingelte schrill. Jarleth nahm ab und lauschte. »Sagen Sie ihm, dass ich gerade eine Telefonkonferenz mit London habe. Ich bin da, wenn er mich vor sich sieht.« Er pfefferte das Telefon in die Basisstation, stieß einen lauten Seufzer aus und schaute mit gerunzelter Stirn erst auf Guthrie, dann auf Gael. »Wer ist er denn nun? Picassos Weinende Frau?«

Ein Grinsen durchzuckte ihre gespannte Aufmerksamkeit. Gael tippte Guthrie ans Knie, wo in seiner Hand der Spiegel lag. Er klappte ihn auf und hielt ihn auf Armeslänge von sich, um sich zu betrachten. Einen Moment lang fiel ihm nichts ein. Sie warteten. Dann überkam es ihn wie eine Art Welle, die man in allerletzter Minute sieht, sodass man nur noch durch sie hindurchtauchen kann. Sein Gesicht drückte sich durch das Klebeband, die Komposition zerfiel und riss den feinen Flaum auf seinen Wangen gleich mit ab. Sein eigenes Gelächter widerstrebte ihm so sehr, dass seine Augen abermals tränten. Als Gael die Ohren spitzte, um zu verstehen, was er sagte, stimmte sie bald mit ein, und es kam ihr nicht in den Sinn, neben sich zu stehen und ihr Kichern zu unterdrücken; das scharfe, schroffe Gelächter von Männern zu imitieren. Schließlich fing sich Guthrie und platzte heraus. »Deirdre Concannon«, sagte er.

»Vollpfostentreffer!« Gael klatschte einmal in die Hände. In Erwartung einer Rüge oder irgendeiner Reaktion drehte sie sich nach ihrem Vater um, doch der war schon verschwunden und die Tür geschlossen.

Bald darauf fuhr ein Taxi vor, um sie nach Hause zu bringen. Jarleth sagte, es werde spät werden, sie sollten das Geld auf dem Garderobentisch nehmen und sich etwas zu essen liefern lassen. Nicht auf ihn warten.

Guthrie hatte niemanden, der ihn zum Karate fahren konnte. Schwänz doch einfach, sagte Gael. Aber nein, Dad wäre böse, wenn er nicht hinginge, denn sie hatten ein Gespräch geführt und einen Pakt geschlossen, und es traf ja auch zu, dass seine Körperkraft der eines Weidenkorbs entsprach. Gael sagte, sie werde Dad anrufen, um zu fragen, ob sie ein Taxi bestellen könnten, aber dann rief sie ihn doch nicht an, weil abzusehen war, dass ihre Bedürftigkeit ihn ärgern würde.

Nein, sie hatte keine Lust, dieses Kind zu sein. Darauf hatte sie keine Lust mehr – ihr Aussehen und ihre Empfindungen stimmten nicht länger überein. Voller Unmut betrachtete sie ihre Uniform. Ihre blutrote Krawatte lag auf dem Wohnzimmerboden wie eine abgestreifte Schlangenhaut. Während sie nachdachte, hob sie den Faltenrock ihres marineblauen Trägerkleids und zog es über den Kopf, sodass sie in weißer Bluse und Söckchen dastand. Sie nahm die wohlige Wärme der Fußbodenheizung in sich auf. Da war es wieder, dieses Gefühl, das sie durchprickelte. Die Kniekehlen hinauf bis zum Po-Ansatz. Die Kopfhaut entlang. Dieses Gefühl, dass sich ein bisschen wie Furcht anfühlte, aber irgendwie auch wieder nicht. Ein bisschen wie Übelkeit, aber nicht in ihrem Magen. Es war irgendwo anders in ihrem Inneren. Als wäre ein gefährlicher Magnet in ihren Körper eingedrungen – unverfänglich, solange das Gegenstück fehlte. War es ihr Uterus? Ihre Blase? Als hätte sie zu viel getrunken und fühlte sich dennoch wie ausgetrocknet. Als wäre sie von zu viel Zucker ganz aufgedreht, wollte ihn aber trotzdem tütenweise verschlingen und ihre Zunge in seinen löslichen rauen Kristallen vergraben. Sie betrachtete sich im Fenster. Ihr Spiegelbild war deutlich zu sehen, denn draußen war es dunkel, und drinnen waren sämtliche Lichter an. Sie trug einen BH, weil die obligatorischen Blusen mit dem Schulwappen billig waren und das Fehlen von BH-Trägern auffällig wäre. Hin und wieder stopfte sie die schlabberigen Körbchen mit Kastanien oder Teebeuteln von Barry’s, mit Schwammstückchen oder, wenn eine Klassenarbeit anstand, mit zusammengefalteten Schulbuchseiten aus. Meistens aber ließ sie sie leer, dann spürte sie nur die Luft an ihren gereizten Brustwarzen. Jungs ließen sich von bloßem Anschein beeindrucken. Verträumt ging sie nach oben und zog sich Jeans und eine schwarze Bluse an, die ihr ihre Mutter für eine Klarinettenprüfung gekauft hatte. (Führ dich einfach wie eine Musikerin auf, dann werden sie dir die schreckliche obere Oktave vielleicht verzeihen, hatte ihre Mutter gesagt, die schon früh wusste, welche Talente ihre Tochter besaß und welche nicht.) Es würde kalt sein, und sie würde einen Pullover brauchen, aber wenn sie sich ein vorüberfahrendes Polizeiauto vorstellte, sah nichts Warmes in ihrem Kleiderschrank passend aus. Die Bluse musste reichen.

Indem sie es in zweifacher Geschwindigkeit abspielte, gelang es ihr, sich das Video »Wie man einen Automatik fährt« viermal anzuschauen, bevor sie losmussten. Falls das eine Prüfung war, dann bestand sie zum Teil womöglich darin, sich eigene Fragen zu überlegen. »Ich fahr ihn schon mal die Straße rauf und runter«, rief sie die Treppe hinauf, »um mich dran zu gewöhnen. Pack deine Sachen. Du bist spät dran.«

Guthrie hatte ihre Versuche, den Wagen ihrer Mutter zu starten, von seinem Schlafzimmerfenster aus beobachtet, und das Geräusch der Wischer, die über die trockene Windschutzscheibe kratzten, das fehlende Blinklicht beim Ausparken, die grellen Nebelleuchten und das Geruckel, als hätte das Auto einen hysterischen Anfall, genügten, um ihn zu überzeugen. Er rannte nach unten und wartete, bis sie wohlbehalten am Bordstein vorgefahren war, plus minus ein paar Meter. Gerade wollte sie den Rückwärtsgang ausprobieren, da schrie sie auf, weil im dunklen Fahrerfenster plötzlich Guthries weißes Gesicht erschien und zu ihr aufschaute. »Von hier ist alles anders!«, sagte sie, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie fand den elektrischen Fensterheber. »Wo ist dein Bademantel?«

»Das ist kein Bademantel.«

»Die Robe halt.«

»Das ist ein Karategi.«

»Wenn er in der Wäsche ist, nimm meinen Bademantel.«

Guthries Gesichtsmuskeln hatten sich zu einem Lachen verzogen, das sich auch beinahe Bahn brach. »Ich steige auf keinen Fall zu dir in den Wagen!«

»Warum denn nicht?« Gael schlug mit der Hand auf die Nabe des Lenkrads, und es hupte. »Du musst aber.«

»Nein.«

»Ich bin ein Naturtalent.«

»Niemals.«

»Nun steig schon ein. Ich fahre auch langsam.«

»Dann würden wir langsam sterben.«

»Komm schon, Guthrie. Bitte. Ich hab keinen Bock mehr, von Eltern abhängig zu sein.«

Angesichts der Entschlossenheit ihres Bruders sah Gael ein, dass sie den Streit verloren hatte. Sie stöhnte und wollte die Scheinwerfer ausschalten, löste stattdessen aber die Scheibenwaschanlage aus. Im Vorbau der Nachbarn ging das Licht an. Gael fummelte an Hebeln und Knöpfen und Schlüsseln herum, bis alles dunkel und still war. Das bedeutete, es war aus und vorbei. Erst nachdem ihr die Entscheidung, ob sie stehen bleiben oder losfahren sollte, abgenommen worden war, überkam sie ein Gefühl der Erleichterung. So also fühlte sich Adrenalin an. Stehlen war nichts gegen Autofahren. »Gib mir eine Minute«, sagte sie und sammelte sich. Nahm die neue Perspektive in sich auf. Die gepflegten Vorstadtgärten vor zugezogenen Gardinen. Die geharkten Rasenflächen, vollgestopft mit Lifestyle-Attributen. Einstudiertes Leben, die Säulen in der Einfahrt ordentlich aufgereiht wie Cairns – Granit aus Connemara neben chinesischem Kies –; nie war einer armen Grasnarbe die Ausrede gestattet, vom Weg abgekommen zu sein.

Guthrie öffnete ihr die Tür, und sie versuchte auszusteigen, hatte aber noch den Sicherheitsgurt umgelegt. So plumpste sie wie ein nasser Sack wieder auf den Sitz. Guthrie kletterte über sie hinweg, um an das Gurtschloss heranzukommen, und half ihrem Arm aus dem Gurt.

Er blieb dicht an ihrem Ellbogen. »Du schwitzt ja.«

»Das war krass.« Sie schlug die Tür zu und drückte auf einen Knopf am Schlüssel, um sie zu verriegeln, doch stattdessen sprang die Kofferraumhaube auf. Beide starrten sie sie an wie Eiscreme auf einem Bürgersteig.

»Lass uns Karate Kid schauen«, sagte Guthrie.

Gael blickte die Straße hinunter, wo ein Auto heranrollte. War das Dad? Sie wollte schon winken. Nein, es beschleunigte und wendete. Guthrie schloss den Kofferraum. Nahm ihr den Schlüssel aus der Hand. Drückte auf den richtigen Knopf und verriegelte den Wagen.

»Können wir?«

Sie hörte ihn nur schwach. »Was?«

»Karate Kid schauen.«

»Ach so. Ja.«

Es war zwanzig vor elf. Guthrie war auf dem Sitzsack eingeschlummert. Gael wischte Papadamkrümel von seinem Pullover und bugsierte ihn sanft ins Bett. Mit verschlafener, aus dem Traum geschreckter Stimme fragte er: Ist Dad schon zurück? Scht. Schlaf weiter. Zähne putzen. Ich brauche meine Zähne noch. Wie spät ist es? Scht, sagte Gael. Halb elf. Pass auf, wo du hintrittst. Wo ist Dad? Auf dem Weg, log sie. Er möchte, dass du tief und fest schläfst, also zurück zu deinem Traum, solange er noch warm ist. Zieh deine Socken aus. Sie stopfte die Bettdecke um seinen kleinen Körper, strich ihm die fedrigen Ponyfransen aus der Stirn und blies kalte Luft darauf, was Mum meist vergaß. Er ließ es sich gefallen. Das Alter hatte ihn noch nicht verdüstert. Derlei Gesten machten ihn noch nicht verlegen. Im Gegenteil. Auf einmal sog er wie bei einer Mundharmonika die Luft ein und öffnete weit die Augen. Gael war noch da, auf seinem Bett, fast so schwer wie eine Frau. Was ist? Sie rieb die Bettdecke auf seiner Brust. Was ist? Hast du deine Medikamente vergessen? Ich hol dir Wasser. Aber sie rührte sich nicht, denn sie spürte, wie sich die rechte Hand der Mumie unter der Decke löste und vom Hals bis zum Nabel, von der linken Schulter bis zur rechten Linien zog. Das Zeichen des Kreuzes. Er blickte zum Fenster, wo ihm ein Mond sein Ohr lieh, ein Konkurrent. Kannst du jetzt bitte gehen?, sagte er.

Als Jarleth nach Hause kam, lag Gael im Dunkeln auf dem Wohnzimmerdiwan. Sie wusste, dass es längst nach Mitternacht war, weil sie die zwölf dumpfen Glockenschläge im Radio gehört hatte. Sive hatte das Gerät sechs Tage zuvor in der Küche leise eingestellt angelassen, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, es auszuschalten. Gael hatte über Kontrolle nachgedacht und darüber, wie man mehr davon erlangt. Ihr Herz, zum Beispiel, fühlte sich nicht so an, als stünde es unter ihrem Kommando. Obwohl es ein Muskel war, konnte sie ihn nicht anspannen. Sie konnte ihn nicht vorübergehend aussetzen. Für ihr Herz konnte sie nicht die Vortragsbezeichnungen ihrer Mutter borgen; über die Notenlinien der Rippen nicht ritardando schreiben. Das Herz wechselte unaufhörlich das Tempo. 4/4. 2/4. 9/8. Wie könnte man ihm widersprechen? Als Jarleth, ohne hereinzuschauen, an der offenen Tür vorbeikam und direkt auf die Treppe zuging, schlug es alla breve. Und zu diesem Takt musste sie einige Minuten reglos liegen bleiben, bevor ihr Herz wieder gleichmäßig schlug. Spianato.

Sie stand auf und ging langsam die Treppe hoch. Das teure Eichenholz, das nicht knarrte. In der Diele und im Flur oben hing Blumenduft in der Luft. Sive hatte nur selten Blumen im Haus, weil es ohnehin zu viele Dinge gab, um die sie sich kümmern musste, und weil Guthrie schlecht gelaunt war, wenn er den Biorhythmus des Erblühens und Verwelkens miterleben musste, und weil Gael so lange an ihnen herumzupfte, bis sie keine Blumen mehr waren, sondern nur noch Blattgerippe. Die hier rochen, als wären sie verfault. Wenn man sie aus der Vase nähme, wo immer diese stand, wären die Stiele ein klebriges Braun. Durchaus möglich, dass es irgendwo im Haus Dinge gab, die sie vernachlässigt hatten, während Sive weg war. Dinge, die Folgen haben mochten. Etwa ein laufender Wasserhahn.

Aber es war kein Wasserhahn. Die Dusche. Ihr Vater duschte, ohne den Lüfter zu benutzen. Sie schaute nach Guthrie, dessen nach Schlaf hungernder Mund weit offen stand, und machte seine Tür zu. Dann stieß sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern auf, stahl sich hinein und zog sie leise hinter sich zu. Aus dem offenen En-Suite-Badezimmer strömte Dampf, und der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen. Zu hören waren Klatsch- und Einseifgeräusche. Der Teppichboden fühlte sich dick und flauschig an, als sie in ihren Socken darüber hinwegtapste. Statt sich über das Bett zu rollen, wie sie es früher getan hatte, wählte sie den Weg zwischen dem Bett und dem Polsterhocker. Die Vorhänge waren aufgezogen, und die Nachttischlampe brannte, aber da waren keine Nachbarn, die sie hätten sehen können. Sie machte absichtlich große Schritte, als nähme sie Anlauf für einen Weitsprung. Sie hörte ein Grunzen, als hätte sie den Sprung schon ausgeführt, doch es war nicht ihr Grunzen. Es war ein kehliges Stöhnen, wie wenn man sich morgens nach zu ausgedehntem Schlaf reckt, doch davon ließ sie sich nicht beirren. Ausgreifende, leise Schritte. Sive war hochgewachsen. Das verhieß Gutes für ihre Kinder. Wenn sie einander gegenüberstanden, waren Sive und Jarleth gleich groß.

Jarleth war jemand, der Dinge in den Blick nahm. Gerade nahm er den Brausekopf in den Blick. Den Arm, der Gael am nächsten war, hatte er über den Kopf gestreckt und gegen die geflieste Wand gestützt. Er ließ das Wasser auf seinen Hinterkopf prasseln und schirmförmig um sich herumspritzen. Mit der rechten Hand wusch er sich den Schritt.

Gael setzte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel. Inzwischen wurde der Geruch nach verfaulten Schwertlilien von der Minze im Shampoo ihres Vaters überdeckt – die sollte den Haarwuchs anregen. Er lässt wohl den Schaum an der Wirbelsäule herunterlaufen, dachte sie, weil dort ein Streifen Haare zu sehen war, der sich im Kreuz verbreiterte wie Flechten auf einem Felsen. Schenkel und Pobacken jedoch waren nicht behaart. Sie waren blass. Blasser, als sie es sich vorgestellt hatte. So blass wie sie. Seine Fahrradkleidung hatte deutliche Bräunungsstreifen hinterlassen. Die untere Hälfte seiner Beine und Arme und sein Nacken waren braun. Wenn er sich bewegte, wurden die weißen, handflächengroßen Mulden an den Seiten seines Pos flacher. Er ging leicht in die Hocke und griff sich zwischen den Beinen an den Hodensack, den sie nicht sehen konnte. Dann nahm er seinen linken Arm von der Wand und machte eine Bewegung, als würde er sich die Hände waschen, dabei waren sie bestimmt schon längst sauber. Mit der Faust drückte er auf den Knopf, um das Wasser abzustellen, dann wischte er das überschüssige Wasser von Haaren, Armen und Brust. Er drehte sich um, trat gleichzeitig aus der Dusche auf die Matte und erstarrte.

»Ich mag ihren Geruch nicht.«

Das sagte Gael. Ihre Augen trafen sich, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick zu seinem noch prallen Penis huschte. Der krängte von einer Seite zur anderen, und langsam senkte sich das Auge an seinem Ende zu Boden wie ein reumütiges Kind. Dad hatte gerade gewichst. Wie sie später lernen würde, erschlaffte der Penis danach nicht sofort. Ihr Herz war jetzt mehr tremolo als spiccato, und sie verspürte wieder jenes sonderbare, nicht unbedingt Übelkeit erregende Gefühl; da sie aber nicht den Eindruck erwecken wollte, als könne sie den Anblick nicht ertragen, ließ sie ihren Blick einen Moment länger verweilen. Auf seinem behaarten, herabhängenden Sack, der wie ein Wespennest wirkte, und auf dem schweren Penis, der erst lebendig schien, dann tot wie Knorpel. Ihre Wangen mussten noch rosiger sein. Sie setzte einen bestimmten Gesichtsausdruck auf, so wie man ein Glas auf einer unebenen Oberfläche aufsetzt, und versuchte stolz auszusehen. Unbeeindruckt. Jarleth sprang nicht nach einem Handtuch. Für welche Bewegung er sich auch entschied, er würde an Macht verlieren. Das Handtuch hing auf halbem Weg zwischen ihnen an der Wand. Er würde einen großen Schritt machen müssen, um danach zu greifen. Sie spielte mit dem Gedanken, es ihm zu reichen, aber so war es besser.

»Wie lange bist du schon hier?«

Seine Stimme klang leise. Anders. Gael hob eine Schulter.

»Gael. Verschwinde. Ich sage es noch einmal, und ich sage es laut und deutlich: Verschwinde.«

Aber sie rührte sich nicht vom Fleck und sprach auch nicht. Schaute ihm nur wieder in die Augen, mit einem Gefühl der Erleichterung.

»Wage es bloß nicht, diesen Moment jemals gegen mich zu verwenden«, sagte er. »Solltest du dich falsch erinnern, sollte dein Leben eine schlimme Wendung nehmen und du jemanden benötigen, dem du die Schuld zuschieben kannst, solltest du daran denken, herumzuerzählen, dass sich dein Vater, als du noch ein kleines Mädchen warst, vor dir entblößt hat – hiermit sage ich dir: Verschwinde. Hast du mich klar und deutlich verstanden?«

»Mmm-hm«, sagte Gael mit einer Art fröhlichem Summen. »Aber hast du mich verstanden?«

Als er vortrat, spannten sich seine Beinmuskeln unter der Haut. Gael wurde von seinem Wasser bespritzt. Doch sie zuckte nicht zurück und zog auch nicht die Hände unter ihren Schenkeln hervor. Am Vortag waren die Reinigungskräfte da gewesen, sodass der Toilettensitz vor Sauberkeit quietschte. Jarleth trocknete sich gründlich ab, bevor er sich das Handtuch um die Taille band. Die Haare auf seinem Bauch ließen den kleinen Fettansatz akzeptabler erscheinen. Solange es von Haaren bedeckt war, hatte das Bauchfett eines Mannes etwas Charismatisches, stellte Gael fest. Etwas Ungerührtes. Mit einem Gesichtshandtuch wischte er den Spiegel ab und nahm eine kleine Schere aus der Schublade.

»Du hast also gewisse Flausen im Kopf.« Er begann, sich die Nasenhaare zu trimmen. »Dann mal raus damit.«

»Lasst ihr euch scheiden?«

»Wir sind nicht verheiratet. Da gibt es nichts zu scheiden.«

»Trennt ihr euch?«

»Nein.«

»Ist Mum wirklich auf Tournee?«

»Ja.«

Fragen. Das war ihr Fehler.

»Mum könnte auch fremdgehen«, sagte sie. Da hielt er inne und warf ihr einen kurzen Blick zu.

»Wir kontrollieren uns nicht gegenseitig.«

»Es würde dir also nichts ausmachen, wenn es so wäre?«

»Natürlich würde es mir etwas ausmachen, sehr viel sogar.« Er sagte es barsch, als wäre es eine äußerst ernste Angelegenheit.

Es herrschte kurzes Schweigen, und Gaels Körper sagte ihr, wie spät es war und dass sie heute Nacht nicht schlafen würde. Sie fragte: »Welches Gebot hat mit Ehebruch zu tun?«

Sie dachte, das würde ihn wütend machen. Vielleicht sogar aggressiv. Doch er stützte sich aufs Waschbecken und lächelte. Vergaß, wen er vor sich hatte.

»Ehebruch liegt nur dann vor, wenn jemand verheiratet ist. Stell’s dir als spirituelle Gesetzeslücke vor. Deine Mutter und ich begehen beide die Sünde … außerhalb der Ehe sexuell aktiv zu sein. Das liegt an ihr. Nicht an mir. Wie du weißt, habe ich sie viele Male gebeten, mich zu heiraten. Jeden Monat beichte ich und empfange das Sakrament der Buße, weil ich nicht verheiratet bin. Immer in der Absicht, das Unrecht wiedergutzumachen. Immer auf Widerstand stoßend.«

»Mum muss sich deswegen echt scheiße fühlen.« Gael dachte daran, wie distanziert Sive in letzter Zeit gewesen war. Sie arbeitete in einem fort. Oder versuchte, »Dinge aus dem Weg zu räumen«, damit sie sich wieder an die Arbeit machen konnte. Wenn sie sich nicht um Orchesterangelegenheiten kümmerte – Partituren studierte, Arrangements verglich –, komponierte sie. Aber war sie nicht schon immer so gewesen? Ihr wahres Ich war nicht gesellig.

»Das Selbstbewusstsein deiner Mutter hängt nicht davon ab, ob sie mein Augapfel ist. Wir wären nicht zusammen, wenn es so wäre. Außerdem, was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.«

»Was? Natürlich macht es das! Wenn du Krebs hast, es aber nicht weißt und ihn nicht entfernst, kann er dich töten!«

Als er sich die Nasenhaare gezupft hatte, legte er die Schere wieder weg und drehte sich zu ihr um.

»Du bist ganz schön frech, so mit mir zu reden. Es geht dich nichts an, Gael. Das ist Erwachsenensache.«

»Ich bin doch schon fast ein Teenager, Jarleth. Ich kann damit umgehen.«

»Ach, du nennst mich Jarleth?«

Gael zuckte die Schultern. Das war neu. Es fühlte sich gut an. »Das ist dein Name. Dein Vorname. Und überhaupt, ich weiß es schon eine ganze Weile.«

»Ach ja?«

»Ja.«

»Du hast es einfach so gewusst?«

»Ja.«

»Und wem hast du erzählt … was du ›einfach so gewusst‹ hast?« Jarleths kleine, braune, behaarte Brustwarzen waren jetzt hart, die Haut auf Brust und Armen wie Sandpapier.

»Niemandem.«

Er neigte den Kopf, als wollte er nicken. »Und dabei wird es auch bleiben.«

Gael starrte ihn an und hörte ihren eigenen lauten Atem. Das Kondenswasser vom Duschen hatte sich irgendwo abgesetzt. Der Dampf war nicht abgezogen, hing aber auch nicht in der Luft. Was stattdessen in der Nacht umherschwebte, waren Theorien.

»Ich hab gesehen, dass du das Auto rausgefahren hast«, sagte er. »Es steht mitten auf der Straße.«

»Ich bin damit rumgefahren.«

»Gut. Und hast du Guthrie zum Karate gefahren?«

Obwohl ihr danach zumute war, senkte Gael den Blick nicht zu Boden. »Er hat mich nicht gelassen.«

»Dich nicht gelassen?«, fragte Jarleth. »Du bist die Ältere. Du bist die Starke.«

»Sein Leben ist ihm wichtiger, als du meinst!«

»Er weiß nicht, was gut für ihn ist.«

Gael wusste, dass das nicht stimmte. Sie wusste auch, dass sie das nicht sagen durfte.

»Wenn du Teil der Erwachsenenwelt sein willst, Gael. Wenn du Teil der Gesellschaft sein willst, solltest du akzeptieren, dass die Dinge nicht so geradlinig sind, wie es dir im Klassenzimmer beigebracht wird.«

»Das brauchst du mir nicht zu sagen.«

Jarleth verschränkte seine Radfahrerarme. Gael zog ihre Hände unter den Schenkeln hervor und verschränkte sie ebenfalls. Es war kalt. »Weißt du, was ich beruflich mache? Damit wir ein Dach über dem Kopf haben?«

»Globale Märkte, irgendetwas Derivatives.«

Jarleth lachte über Gaels unabsichtlichen Scherz – legte die Antwort zu ihren Gunsten aus. »Nicht mehr, aber gut. Was ich tue, Gael, hat mich etwas gelehrt, was in keiner Universität der Welt auf dem Programm steht. Nämlich dass wir eine einfache Wahl treffen müssen. Streben wir nach Geltung und Einfluss und riskieren Tragödien; oder streben wir nach Liebe und Zusammengehörigkeit und riskieren, dass es nicht genug gewesen sein wird? Man kann nicht beide Bestrebungen gleich gewichten.«

Darauf konnte Gael nicht antworten. Sie wusste nicht, wonach er fragte.

»Jetzt aber. Bett. Morgen früh habe ich eine wichtige Sitzung.«

Gael stand vom Toilettensitz auf, und Jarleth breitete die Arme aus. Doch Gael hatte das Gefühl, dass sich hinter der Umarmung ein Vertrag verbarg und sie das Kleingedruckte nicht gelesen hatte. Ihr war kalt, und die Umarmung würde sie wärmen, aber vielleicht war es eine Falle? Diese Sache mit der Liebe und der Zusammengehörigkeit und der einfachen Wahl? Auf dem Weg nach draußen streifte sie ihn, und sein Körper fühlte sich stählern an. Als sie jedoch an ihm vorbei war und sich an der Schlafzimmertür noch einmal umdrehte, sah sie im Spiegel seinen Gesichtsausdruck. Ein sorgenvolles Stirnrunzeln.

Im Dunkeln fühlte das Haus sich an, als schwanke es. Als habe sein Fundament sich verflüssigt. Sollten sie versinken, wäre bestimmt noch Zeit, aus den Fenstern zu klettern. Schlaf war unmöglich, dachte Gael, also begann sie, im Computer eine Reihe von Dingen nachzuschlagen. Irgendetwas Wichtiges hatte sie übersehen. Da sie diejenige sein würde, die eine Entscheidung treffen und dann, in Form ihrer Mutter, für den Rest ihres Lebens damit leben müsste, hielt sie es für besser, über alle Informationen zu verfügen. So las sie um zwei Uhr morgens den Wikipedia-Eintrag zum Thema Fremdgehen, als handele es sich um etwas Geschichtliches, das man recherchieren, zusammenfassen und verarbeiten könnte. Aber es gab doch einen Abschnitt, der sich wie echte Information und nicht nur wie Begriffshuberei ausnahm.

»Natürliche Auslese begünstigt Fremdgehen auf biologischen Märkten. Wenn eine Spezies ihre Chancen auf Überleben durch Fremdgehen verbessern kann, spielt sie diese Stärke aus. Fremdgänger sind jedoch auf eine ganze Gesellschaft von Kooperateuren angewiesen, die sie ausnutzen können. In der Ökologie ist Fremdgehen dadurch reguliert, dass der Erfolg von der Häufigkeit abhängt. Je mehr Fremdgänger es gibt, desto geringer ist ihr Erfolg. Je weniger, desto besser.«

Dann war es also ein Aspekt der Natur und überall anzutreffen. Nur dass die meisten Leute deswegen auch nicht klüger waren als zuvor. Schließlich übermannte sie der Schlaf. Und dieser Schlaf nahm alles Schwarz und Weiß und strickte daraus Grau. Es konnte doch nicht nur Fremdgänger und Kooperateure geben – das war zu einfach. Man nehme das Meer. Es war weder das Wasser noch der Held noch das Schwert. Auch nicht der Vogel, der auf einem Wellenkamm sitzt und darauf wartet, dass eine aufgedunsene Leiche hochgespült wird, die Augen eine leichte Beute. Auch nicht die Fische, hin und her geworfen in einer Schlacht, die nichts mit ihnen zu tun hat. Auch nicht das Gewerbe der Hufschmiede, die sich am Mut der Helden mästeten. Sie wusste nicht, was es war. Schwarz und Weiß war zu wenig. All das Grau zu viel. Es reichte nicht.

2

Reuig ist das Kind

Februar 2003

I

Ein Jahr später, an einem Freitagnachmittag, als sie auf dem Weg zur Houston Station waren, um sich in Tante Adas Obhut zu begeben – die ihre Eltern damals häufig entlastete –, fand Gael heraus, wie stark die Überzeugung ihres Bruders war.

Er war immer stiller geworden, so als glaube er, jeder Haushalt habe einen bestimmten Geräuschquotienten, und solange das Gesamtgeräusch dieselbe Dezibelsumme erreiche, könne er, Guthrie, die Haushaltsbilanz der Familie Foess mit Hilfe seines Schweigens kontrollieren.

Gael behandelte ihn wie einen Lappen, spülte, wrang und drehte ihn in der Hoffnung, etwas aus ihm herauszubekommen – etwas Schmutziges. Während sie zum Bahnhof gingen, wollte sie ihn dazu bringen, abgefeimte Kinderreime zu erfinden. »Übernimm du einfach den nächsten Teil. Hans Pitter, nimm mich, ein wacker Mädchen bin ich: kann kochen, kann flicken, kann nähen, kann stricken. Hans Pitter, nimm mich, ein wacker Mädchen bin ich.«

»Ich werde flicken nicht ändern, und du kannst mich nicht dazu zwingen.«

Guthries Wangen waren gerötet, so anstrengend war es, ihrer Entschlossenheit, er möge mit ebenso abnormer Geschwindigkeit heranwachsen wie sie selbst, zu widerstreben. Obwohl die Natur dafür gesorgt hatte, dass sie genau achtzehn Monate älter war als er, hatte es den Anschein, als schiebe sich mit jedem Monat, der verging, ein zusätzliches Jahr zwischen sie.

»Genial!« Sie murmelte eine Version nach der anderen vor sich hin, um den Reim zu perfektionieren.

»Nicht, Gael!«

»Hans Pfitzner, nimm mich, ein heißes Mädchen bin ich: kann kochen, kann ficken, kann nähen, kann lecken. Hans Pfitzner, nimm mich, ein heißes Mädchen bin ich.« Sie grunzte vor Lachen.

»Hör auf! Nicht! Das ist ekelhaft.«

»Das warst alles du, Guth.«

»War ich nicht.«

»Doch.«

»Nein, war ich nicht! Ich wollte sagen: Ein freches Mädchen bin ich: kann kochen, kann spicken, kann nähen, kann zwicken.«

»Nicht schlecht … für einen gerade mal Elfjährigen. Allerdings nicht so gut wie meine Version. Mann, ich hab versucht, noch was andres einzubauen: kann grasen, kann blasen … aber du hast mich um Längen geschlagen. Vielleicht brauche ich mir keine Sorgen mehr um dich zu machen.«

Guthrie hatte die Arme verschränkt und bog in eine offene Toreinfahrt, um von ihr wegzukommen.

»Und jetzt auch noch unbefugter Zutritt«, sagte sie. »Na, das nenne ich mal Fortschritt.«

Er fuhr herum. »Das ist kein unbefugter Zutritt. Das ist ein Park. Lass mich in Frieden.«

Gael sah, dass er den Tränen nahe war, und ließ ihn in Ruhe. Der umzäunte Garten hatte einen Ausgang etwas weiter hinten. Langsam ging sie darauf zu, strich mit den Fingerspitzen an dem schwarzen Geländer entlang und genoss das Kribbeln, das dabei entstand. Sie wollte doch nur das Beste für Guthrie. Es schien, als würde er zu ihr aufblicken, weshalb sie nicht verstehen konnte, dass er nicht länger ihre Hilfe annahm. Er glaubte, alles werde sich bald wieder normalisieren. Wann immer bald war. Was immer normal war. Jetzt, wo Gael auf die Sekundarschule ging, war es schwieriger, auf ihn aufzupassen. Er hatte noch mehr als ein Jahr Grundschule vor sich, aber selbst danach konnte er nicht zu ihr auf die Sekundarschule, weil es eine reine Mädchenschule war. Mädchen wurden zu albernen Versionen ihrer selbst, wenn Jungen in der Nähe waren, und sie hatte keine Lust gehabt, sich das anzutun. Es gab genügend Mittagspausen, um sich mit Jungs zu treffen und hinter Vorstadttannen befingern zu lassen. Wohingegen Guthrie aus unerfindlichen Gründen auf eine gemischte Schule gehen wollte. Einmal, als er, nur ein Handtuch um die Hüfte gewickelt, da die Badetücher alle in der Wäsche waren, aus der Dusche kam, hatte sie an seinem Oberkörper hellblaue Striemen entdeckt. Vermutlich hatte es damit zu tun. Seine Freunde waren hauptsächlich Mädchen – zu wenige, um ein Rudel zu bilden, also nützten sie nichts. Jarleth glaubte an individuelle Verantwortung, »um der Zivilisation Zivilität beizubringen«: Streitereien mussten auf geordnete Weise ausgetragen werden, idealerweise mit einer Einleitung, einer Schlussfolgerung und einer moralischen Erleuchtung. Ist ja in Ordnung, wenn er schwul ist, dachte Gael, aber dann muss er wirklich wissen, wie man zurückschlägt, oder zumindest, wie man eine Prügelei übersteht.

Als sie das hintere Tor erreichte, sah sie ihn vor einem zwiebelförmigen Teich stehen, auf dessen Wasser eine Bronzestatue thronte. Es war die Gestalt einer liegenden Frau, allerdings langgestreckter und starrer als ein Mensch. Sie war grün verwittert, von den Haarwurzeln bis zu den gekreuzten Knöcheln. Mythische Kunst wie diese – die erhabene Mutterfigur – zog Guthrie in Bann. Gael wusste, dass er stundenlang dort stehen bleiben konnte, und rechnete aus, wie viel Zeit sie noch hatten, bevor der nächste Zug kam. Zweiunddreißig Minuten. Zeit genug, um am Kiosk einen Chai Latte zu kaufen. Tante Adas Tee schmeckte ekelhaft. Gael vermutete, dass sie warmes Leitungswasser verwendete und aus einem Teebeutel gleich drei Tassen herausquetschte.

Sie befanden sich im Croppies Acre Memorial Park. Von den Croppies, den kurz geschorenen Rebellen von 1798, hatte sie schon gehört, den Teil des Namens konnte sie verstehen, aber das mit dem Acker ergab keinen Sinn. Das bisschen Park war doch kein Acker. Sive hatte ihr erzählt, dass die Statue nach einer Figur aus Finnegans Wake benannt sei: Anna Livia Plurabelle. Ein guter Name. Gael fragte sich, ob »Wake« damit zu tun hatte, dass Anna selbst ein kleines Nickerchen zu machen schien. In alten Überlieferungen schliefen die Frauen immer. Sie schliefen kühl und schnarchten nie. Die Skulptur sollte die Personifizierung des Flusses Liffey darstellen, der durch Dublin fließt: Abhainn na Life. Anfangs war sie Teil einer Brunnenanlage in der O’Connell Street im Stadtzentrum gewesen, dann aber das Opfer von Abfall, Graffiti und Pisse geworden. Ein Spritzer Spülmittel, und das Seifenwasser lief auf die Bürgersteige, als sei Anna Livia läufig. Die Leute nannten sie »the Floozie in the Jacuzzi«, das Flittchen im Whirlpool. Oder »the Hoor in the Sewer«, die Hure in der Kloake. Warum war Dublin immer so vulgär? Die Stadtverwaltung nahm Straßenarbeiten zum Vorwand, um sie dem Mob zu entziehen, und ein düsteres Jahrzehnt verbrachte sie in einer Lattenkiste auf einem Hof des St. Anne’s Park in Raheny auf der Nordseite, weit entfernt von ihrem stolzen Fluss.

Gael hätte Guthrie eine ausgeschmückte Version dieser Geschichte erzählt, doch genau in diesem Augenblick musste sie ihm etwas ganz anderes zurufen.

»Nein! Guthrie!«

Aber es war schon zu spät. Er war aufs Wasser hinausgetreten, hin zur erhabenen Mutter, als könne die dünne Schmutzschicht sein Gewicht tragen. Der Teich war so flach, dass man kein Schwimmer zu sein brauchte, und Guthrie konnte schwimmen, dennoch schnappte er nach Luft und ruderte mit den Armen. Die Schultasche auf seinem Rücken füllte sich mit Wasser. Sie zog ihn nach unten, und auf dem glitschigen Boden fanden seine Mokassins keinen Halt, sodass nur noch Arme und Kinn aus dem Wasser ragten. Die Schluckgeräusche verstörten sie mehr als alles andere. »Du hast dich angehört wie ein Esel beim Orgasmus«, sagte sie ihm später. Dabei hatte es sich in Wahrheit für sie beide neu angehört: nach Überlebenswillen und Scheitern.

Es war ihr erster richtiger Schreck, als sie ihren Bruder aus dem Teich zog. Sein Gesicht war ein durchsichtiges Weiß und gänzlich unvertraut – als habe die Erfahrung ihn, und ihn allein, zur Waise gemacht. Er blickte starr, seine Augen waren wie die erstaunten Augen eines Fisches, der zum ersten Mal den Himmel sieht. Sie schimmerten. Die Sonne kam hervor, und Gael leerte seine Tasche aus und legte alle seine Bücher – darunter eine illustrierte Bibel – zum Trocknen aufs Gras, dann zog sie ihm Stück für Stück die Sachen aus und wrang sie, so gut sie konnte, aus. Sie versuchte zu begreifen, was er sich dabei gedacht hatte. So sehr konnte sie ihn doch gar nicht aufgeregt haben. »Was geht hier ab?«, fragte sie ihn fast flehentlich, als sie sich mit schmerzenden Handgelenken abmühte, ihn wieder anzukleiden, doch das einzige Geräusch, das er von sich gab, war das Klappern seiner Zähne. Am breitesten waren seine Arme an den Ellbogen. Die Plastiktasten ihres Handys reagierten nicht auf ihre Daumen, die auf Kontakte – Dad (irische Nummer) – Anrufen klickten. Anrufen. Als sie endlich durchkam, konnte sie das Geschäftsmäßige in seiner Stimme hören. »Ich bin mitten in einer Sitzung, Gael. Was ist?«

Während sie warteten, rubbelte Gael auf dem Rücken ihres Bruders harte Kreise, einen nach dem anderen. Sie versuchte, sie in ihn hineinzupressen wie die Jahresringe eines Baumes.

Im Flur lauschte sie heimlich, als Guthrie spätabends wieder Worte fand. Mit heldenmütiger Zurückhaltung fragte er seinen Vater, weshalb er nicht auf dem Wasser gehen könne. Er habe einen ebenso starken Glauben wie jeder, den er kenne, sagte er leise. Er habe tatsächlich geglaubt, sein Glaube sei so stark, dass er übers Wasser des Teichs gehen könne, und in der Mitte sei die Muttergottes gewesen und habe ihn geheißen, zu ihr zu kommen. Der Wecker auf seinem Nachttisch maß das Schweigen, wie ein Metronom, lange nachdem die Musik verklungen ist.

»Warum konnte ich es nicht, Dad? Warum war mein Glaube nicht stark genug, um mich auf dem Wasser zu halten?«

Jarleths Zögern war zu kurz, um gleich mit der Wahrheit herauszurücken.

»Zu glauben, dass etwas funktioniert, heißt nicht, dass man es zum Funktionieren bringt«, sagte Jarleth. Dann schnalzte er mit der Zunge und atmete leicht angewidert aus. »Dass unser Herr Jesus auf dem Wasser gegangen ist, war ein Wunder.«

»Aber mein Glaube ist so stark, wie es nur geht. Wirklich. Warum konnte ich dann kein Wunder vollbringen?«

Im Schlafzimmer wurde das Licht ausgeknipst. Das klickende Geräusch kam von Jarleth, der die AAA-Batterien aus dem Wecker herausnahm. Er warf sie unters Bett, wo sie, wie Nachtfalter, unsinnige ruckartige Kreise drehten.

»Es gibt keine Wunder mehr.«

II

Der Anfall ereignete sich eine Woche später, als Sive von einer Tournee in Polen zurückkehrte. Die Flugzeugreifen prallten zeitgleich mit Guthries Kopf auf den Asphalt, so als hätte Guthrie abgewartet, bis ihre Maschine in Dublin aufsetzte. Beim ersten Hauch von verbranntem Gummi stürzte sein Fahrrad um – das kreiselnde Vorderrad suchte im näher gerückten Himmel nach Halt. Vielleicht fühlte er sich seiner Mutter in jenen wirr wirbelnden Momenten besonders nahe, dachte Gael. Vielleicht konnte er das Warum und Weshalb ihres ständigen In-Bewegung-Seins erahnen.

»Die Notaufnahme kannst du freitagabends vergessen«, hatte Jarleth gesagt, als er Guthries violett verfärbtes Handgelenk untersuchte. Der Anfall hatte ihn nach der Geburtstagsfeier einer Klassenkameradin erwischt, als er allein auf dem Heimweg war. (Irgendein herrschsüchtiges Mädchen, wie Gael sich undeutlich erinnerte. Herrschsüchtige Mädchen schienen Guthrie zu mögen. Es war sein Knochenbau; seine perlmuttartige Haut; sein paranormales Potenzial; seine elfenhaft zierliche Totentänzerschönheit. Sie konnten sich mit ihm vergleichen, ohne unter dem Gift wirklichen Neids leiden zu müssen. Es war nicht wichtig, wen er seinerseits mochte. Es stand ihm nicht zu, unter ihnen zu wählen.) Guthrie streckte die Zunge heraus, um die entzündungshemmenden Tabletten entgegenzunehmen, die sein Vater ihm zugeteilt hatte. »Es ist nur verstaucht – nichts, was ein paar Gebete nicht heilen könnten.« Jarleth verabreichte ihm die Medikamente. »Spül sie runter, und dann ab ins Bett mit dir.« Mit einem Blick auf seine Armbanduhr fügte er hinzu: »Du wartest nicht auf deine Mutter.«

Gael brachte Guthrie ein zusätzliches Kissen ins Schlafzimmer und sah, dass er die Ohren gespitzt hatte und auf das Geräusch von Autoreifen wartete, die die Einfahrt heraufknirschten. Seine Gedanken mussten überkochen, seit Jarleth in der Vorwoche den Deckel draufgesetzt hatte. Düstere und schmerzliche Gedanken, die seinen inneren Glanz besudelten. Sie legte das Kissen neben ihn und hob seinen verletzten Arm darauf:

»Hoch damit.«

Er nickte vorsichtig, so als hätte sie gesagt: Näher zum Himmel.

»Selbst wenn Mum in dieser Sekunde nach Hause kommt«, sagte Gael, »wird sie dir sagen, warte bis zum Morgen. Dann wird sie sagen, warte bis zum Nachmittag. Du weißt doch, wie sie ist, wenn sie weg gewesen ist. Sie braucht, na ja … einen ganzen Tag, um zu akzeptieren, dass sie eine Familie hat.« Gael fiel das Wort Verantwortlichkeiten ein, aber es war wie mit den Speichen einer Fahrradfelge – zu viele Silben für etwas so Banales. Sie klopfte auf die Mondleuchte auf dem Nachttisch, und sie leuchtete sanft. Guthrie brachte ein Gähnen zuwege. Gael stand auf, um die Deckenlampe auszuschalten, und überraschte sich dann selbst damit, dass sie ohne Grund zum Bett zurückging. Die ununterbrochene Stille verriet, dass die Weckerbatterien noch nicht wiedergefunden worden waren.

»Wer immer diese Leuchte entworfen hat, ist ein Vollidiot«, sagte Gael. Inzwischen hatte Guthrie theatralisch die Augen geschlossen. »Der Mond ist nicht hell. Er sieht nur hell aus, weil er die Photonen der Sonne reflektiert. Wenn’s die Sonne nicht gäbe, würden wir ihn am Himmel nicht einmal sehen. Er wäre einfach nur da. Ein kalter, grauer, steiniger Klumpen mitten im Nichts.« Warum war sie überhaupt in sein Zimmer gegangen? Das Kissen, ja. Aber … Hatte sie ihn mit dieser Idee bekannt machen wollen? Der Idee des Nichts? Sie lag da, von Kopf bis Fuß in ihren flauschigen Hotelbademantel gehüllt, und hatte das Gefühl, als ob unter ihr nichts sei. Kein Bett, kein Boden, kein Magma.

Am Morgen sah Guthries Handgelenk aus wie ein rohes Würstchen, dessen Hülle bis zum Platzen mit Fleisch vollgestopft ist. »Iiiiigitt!«, stöhnte Gael angesichts der Kraftlosigkeit, der fahlen Farbe, als wäre es nach Tagen von den Bandagen eines verschwitzten Boxers befreit worden. Sie schnüffelte nach Anzeichen von Fäulnis. Keuchend stieß er sie von sich, um sein Handgelenk im Schlafzimmer ihrer Eltern vorzuführen, doch der Empfang, der ihm dort bereitet wurde, war ernüchternd. Ihr Gezeter drang durch die Wand: Unter keinen Umständen werde ich Carla anrufen (Jarleth zu Sive) … Der Junge braucht seine Mutter … Ja, am Samstagmorgen … Wir sind alle hundemüde … Bei ihm gesessen … Glaube, es ist gebrochen (Guthrie zu beiden) … Etwas fühlt sich lose an … Und richtig straff wie die Blutdruckmanschette … Gael hat bei mir im Bett geschlafen und dagegengetreten … Ich werde dir meinen ganzen Nachmittag widmen, Liebling (Sive zu Guthrie) … Danach machen wir alles, was du willst … Morgen zwei Konzerte … Gestern Achtzehnstundentag … Frühstückssitzungen (Sive zu sich selbst)