Osserblut - Manfred Faschingbauer - E-Book

Osserblut E-Book

Manfred Faschingbauer

4,8

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Kriminaloberkommissar Moritz Buchmann wird während einer Wanderung im Bayerischen Wald nach Sankt Ulrich gerufen. Dort wurde die grauenvoll entstellte Leiche von Alois Huber gefunden. Der Waldbauer aus Engelsgrub wollte einige seiner Grundstücke verkaufen, damit am Osser ein Pumpspeicherwerk gebaut werden kann. Sind die Gegner des umstrittenen Baus bis zum Äußersten gegangen? War der Tote anderen Profiteuren des Projekts im Wege? Oder ist der Täter im persönlichen Umfeld des Opfers zu suchen? Buchmann bleibt wenig Zeit, diese Fragen zu beantworten, denn der Täter hat weitere Morde angekündigt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 390

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (13 Bewertungen)
11
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Manfred Faschingbauer

Osserblut

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Mördersuche im Bayerischen Wald Moritz Buchmanns Urlaub im Bayerischen Wald endet unverhofft, als der Kriminaloberkommissar an den Tatort eines grausamen Verbrechens gerufen wird. Alois Huber wird in seiner Scheune ermordet aufgefunden – neben ihm sitzt seine blinde Enkelin. Das Mädchen wiederholt die Worte, die ihr der Täter zugeflüstert hat: »Opa war nur der Erste.« Eine Warnung, die Buchmann und seinem Team wenig Zeit lassen, wollen sie weitere Morde verhindern. Dabei treffen sie auf eine gespaltene Region und viele mögliche Täter. Schließlich wollte Huber einige seiner Grundstücke an die Investoren eines umstrittenen Pumpspeicherwerks am Osser verkaufen. Dabei stand der Tote sowohl Profiteuren als auch Gegnern des Projekts im Wege.

Manfred Faschingbauer, 1963 in Bad Kötzting geboren, lebt mit seiner Familie in Blaibach im Bayerischen Wald. Die dramatischen Ereignisse während des Höhepunkts der Flüchtlingswelle im Sommer 2015 sind für ihn Anlass, Moritz Buchmann erneut in seiner Heimat auf Mördersuche zu schicken. Er lässt seinen Kriminaloberkommissar dabei einen Weg von Zweifel und Angst gehen, der ihn an seine persönlichen Grenzen führt. Nach »Osserblut« ist »Bayerisch Kalt« sein zweiter Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Bayerisch Kalt (2018)

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © dcwcreations / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5464-6

Widmung

78396 Worte

344 Seiten

Ungezählte Stunden

*

Für Marianne

Danke für deine Geduld

Prolog

Die Lippen des Mädchens bewegten sich unablässig. Lautlos formten sie Worte, die Karl nicht verstand. Nichts, aber auch gar nichts hätte ihn auf den Anblick vorbereiten können, der sich ihm im Dämmerlicht der Scheune bot. Dabei hatte der Tag so gut begonnen.

Vogelgezwitscher hatte ihn geweckt und als er sich aus seinem Bett gekämpft hatte, schwebten winzige Staubflocken im Licht lange vermisster Sonnenstrahlen. Beim Blick aus dem Fenster des alten Schusterhauses suchte er Wolken am Himmel, fand aber keine. Minuten später erreichte ihn die frohe Botschaft zwischen weich gekochtem Ei und Honigbrötchen über das Radio: Das Wetter versprach so zu bleiben, denn auch für Montag kündete die Sonne ihren Besuch im Bayerischen Wald an.

Na also! Hatten die Bad Kötztinger wieder Glück. Schönes Wetter bedeutete viele Gäste beim Pfingstritt und damit hohe Umsätze für Schausteller und Festwirt. Und nicht zuletzt einen trockenen Weg für Ross und Reiter hinaus ins Zellertal. So würde auch Karl einen angenehmen Pfingstmontag verbringen, wenn er und seine Kollegen von der Polizeiinspektion Bad Kötzting die Pilgerstrecke sicherten. Noch aber war es nicht so weit und als er sich heute Morgen auf den Weg hinab in die Dienststelle machte, konnte er nicht ahnen, dass ihn wenig später ein Notruf gleich wieder herauf nach Engelsgrub führen würde.

Die Frau klang völlig aufgelöst. Kein Wunder, war sie sich doch sicher, einen Schuss drüben auf dem Ledererhof gehört zu haben. Also setzten sich Karl und sein junger Kollege Daniel in ihren Dienst-Audi und fuhren herauf in den Osserwinkel, in das Tal zwischen Ossermassiv und Mühlriegel.

Um den alten Bauernhof zu finden, brauchte er das Navi des Polizeiautos nicht. Schließlich war Karl Loibl in Sankt Ulrich geboren und kannte hier Land und Leute. So auch das Mädchen und den alten Mann, neben dem es kniete und dessen Hand es hielt.

»Da in der Scheune«, hatte Maria Obermeier die beiden Polizisten empfangen. »Dort hat es geknallt. Genauso wie im Fernsehen. Das war ganz bestimmt ein Schuss!«

Und dann wollte sie doch tatsächlich noch vor den Staatsdienern den Tatort betreten, doch Karl hatte die 60-jährige Witwe und Nachbarin des Ledererbauern freundlich, aber bestimmt zurückgehalten. Und während Polizeimeister Daniel Beierl seine liebe Mühe hatte, Marias Neugier zu bremsen, war Karl vorsichtig in die Scheune gegangen.

Hier stand er nun, bemüht, die Fassung zu wahren. Sein Kopf versuchte, die von seinen Augen eingefangenen Eindrücke zu verarbeiten und dabei Emotionen und Panik auszuklammern. Ein Unterfangen, das Karl nicht leichtfiel, übertraf doch das sich ihm bietende Bild alles, was ihm sein bisheriger Polizeialltag abverlangt hatte. Im Dämmerlicht der Scheune durchfuhren Entsetzen und Grauen Karl Loibl. Es war nicht nur das Mädchen – von dem er, wie alle im Dorf, Name und Schicksal kannte – und auch nicht Alois Huber, der auf dem Boden lag und offensichtlich tot war. Nein, es war der Zustand des alten Mannes, den er nicht fassen konnte. In Karls Augen brannten sich Bilderserien, die er nie mehr vergessen würde. Er sah das Loch in der linken Schläfe des Bauern vom Ledererhof, das auch ohne kriminalistische Ausbildung als Einschussloch zu erkennen war. Karl hoffte, dass ihn die Kugel sofort getötet hatte und nicht erst der Sappie, dessen Stahlspitze aus dem weit geöffneten Mund ragte. Frisch geschliffen und messerscharf hatte sich das Werkzeug durch den Hinterkopf des Mannes gebohrt, hatte dabei Zähne in blutige Stumpen verwandelt und trat vorn zwischen Ober- und Unterkiefer wieder heraus; eine groteske, stählerne Zunge, die der Tote Karl höhnisch herausstreckte.

Mühsam zwang er seine Augen, nach unten zu wandern. Dorthin, wo der Mörder das Arbeitshemd des Alten aufgerissen und dessen dürre Brust bloßgelegt hatte. Die Knöpfe sind abgerissen, dachte Karl und wunderte sich zugleich, dass ihn diese Nebensächlichkeit überhaupt erreichte. Immerhin war das Zeichen, welches der Täter in die Haut seines Opfers geschnitten hatte, viel interessanter. Es waren keine Ritze, sondern tiefe Schnitte, die den Kreis und das Dreieck bildeten. Die Haut klaffte weit auseinander und dort, wo sich die Schnitte trafen, weinte sie blutige Tränen.

»Oh, mein Gott.« Ein Ächzen riss Karl aus seiner Erstarrung. Daniel hatte Maria Obermeier endgültig des Feldes verwiesen und sich in die Scheune gewagt. Freilich nur, um sich sofort wieder umzudrehen, hinauszustolpern und das Frühstück dieses Morgens großzügig in die Büsche nebenan zu verteilen.

Karl erinnerte sich seines Berufes und trat näher zu Lisa heran. Das kleine Mädchen hielt noch immer die Hand des Toten, während ununterbrochen lautlose Worte ihren Mund verließen. In diesem Augenblick war Karl fast schon dankbar dafür, dass Jochen und Gabi Schreiners Ziehtochter blind war. Wie auch hätte sie diesen Anblick verkraften können?

Er beugte sich zu ihr herunter und kniete sich neben sie: »Was? Was sagst du, Lisa?«

Sie schien ihn nicht zu hören. Vorsichtig, fast schon zärtlich umfasste er ihre Hand, die sich schlagartig verkrampfte. Ihr Kopf ruckte nach oben und mit pupillenlosen, weißen Augen starrte sie ihn an. Karl fuhr erschrocken zurück, als Lisa wieder den Mund öffnete und mit klarer und lauter Stimme schrie: »Opa war nur der Erste!«

Dann sank sie bewusstlos in seine Arme.

Pfingstsamstag

Ich

Das Eichhörnchen bemerkt mich nicht. Aufrecht sitzend ruckt sein Kopf wachsam hin und her und zwingt mich, so regungslos zu bleiben wie der Stein, an den ich mich lehne. Unter mir rauscht, wie seit Jahrtausenden, glasklares Wasser zwischen Felsen und vom letzten Sturm gefällten Baumleichen den Berg hinab. Meine Hand tastet feuchtes Moos, das sich an Granit klammert, der hier im Zusammenspiel mit Bäumen und Wasser die Landschaft formt. Ich gebe zu, ich wundere mich ein wenig, dass ich allein bin in diesem Paradies, doch an diesem Maivormittag stört kein Mensch den kleinen Nager und mich. Noch immer erkundet sein Blick die Umgebung und noch immer hat er mich nicht bemerkt. Über uns glitzern Blätter in der Sonne, die sich durch das Dach der Bäume einen Weg bis zum Waldboden bahnt. Ein seltener Gast in diesen regenreichen Tagen.

Noch vor einem Jahr wäre es undenkbar gewesen, dass ich die Bekanntschaft mit dem fleißigen Tierchen gemacht hätte. Wie auch? Selbst wenn ich durch irgendeinen unbeschreiblichen Zufall von den Rieslochfällen gehört hätte, der Name dieses kleinen Paradieses hätte nie und nimmer Eingang in meine Gedankenwelt gefunden. Und schon gar nicht wäre es den Kaskaden glasklaren Wassers, die ihren Weg herab vom Arber suchen, gelungen, mich aus München hierher zu locken und die Hänge des Bayerwaldkönigs hinaufzutreiben.

Wie konnte aus einem überzeugten Großstädter, wie ich es war, ein wahrer Naturfreund werden? Ein ermordeter alter Mann, eine bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts reichende Tragödie und eine Frau namens Claudia haben es geschafft, dass ich meine Wanderschuhe – K2 Mountainrunner – anziehe, und Freude am Spiel eines Eichhörnchens empfinde.

Jetzt frage ich mich, wie dieser Genuss so lange an mir vorbeigehen konnte.

In meinem früheren Leben hätte ich mich solcher Gedanken geschämt. Ein Moritz Buchmann war für die Stadt gemacht und für nichts anderes. Landleben und Natur überließ ich dankend anderen und der Outback jenseits der Stadtgrenze Münchens stand gleichbedeutend mit einer Sperrzone.

Und heute? Ich wage es kaum zu sagen. Klar, es ist in erster Linie Claudia, die die Distanz von München zum Bayerischen Wald von Lichtjahren auf akzeptable zwei Stunden Fahrt reduziert. Claudia, die es geschafft hat, mir Lebensfreude und den Glauben an Liebe zurückzugeben. Doch dann haben die von Anfang an regelmäßigen Besuche Kirchbachs und seiner Umgebung und nicht zuletzt die Wanderungen mit der neuen Frau meines Lebens einen vollständigen Wandel meiner Weltanschauung herbeigeführt. Es begann damit, dass ich Berge und Wälder, Bäche und Wiesen nicht nur als notwendiges Beiwerk zu Claudias Gesellschaft akzeptierte, sondern erst bestaunte, dann bewunderte und irgendwann anfing, die Gegend zwischen Dreisessel und Kaitersberg zu lieben. Und auch seine Bewohner, gleich ob Mensch oder Tier. Sogar ein kleines Eichhörnchen, das mich noch immer nicht entdeckt hat.

Und dann passiert es: das Handy! Nichts Besonderes, nur ein Standardklingelton. Mein kleiner Freund auf der anderen Seite des Baches verharrt für einen Sekundenbruchteil, dann springt er in einem einzigen Satz auf einen Baumstamm, klettert behände und flink diesen hinauf und ist verschwunden. Und mit ihm der Zauber dieses Augenblicks. Meine Erstarrung löst sich und ich taste nach dem Störenfried.

Der Mann, der sich heute Morgen nach einem ausgiebigen Frühstück von Kirchbach auf nach Bodenmais gemacht hat, ist noch immer Kriminaloberkommissar. Jawohl, so ist das! Und dabei war ich mir absolut sicher, dass die spektakuläre Aufklärung des Mordes an meinem letzten Bayerwaldtoten meiner stockenden Karriere den nötigen Anschub geben würde. Doch weit gefehlt! Natürlich sei man mit mir sehr zufrieden und natürlich würde man mich bei der nächsten Beförderungswelle berücksichtigen, so hatte man mir versichert. Doch bald schon war mir schmerzlich bewusst, dass andere Qualifikationen weitaus schwerer wiegen im bayerischen Behördenapparat. Einem anderen Kollegen gelang es, eine Einbruchserie in Münchner Nobellokale aufzuklären. Na gut, ich gebe zu, so nebenbei auch noch den Mord an einem Sternekoch, dessen Spezialität offensichtlich das Lieblingsmenü des amtierenden Polizeipräsidenten war. Und schon war meine Planstelle besetzt. Beim nächsten Mal würde ich sicher berücksichtigt werden, so sagte man mir.

Oder auch nicht. Und was soll ich sagen? Inzwischen ist es mir egal! Mein Einkommen reicht für meinen Lebensstil allemal. Also bin ich weiter ein Kriminaloberkommissar, der sich in diesem Sommer mit mehr oder weniger langweiligen Fällen herumschlagen musste. Als wäre dies nicht genug Ungemach, wurde mir auch noch ein übermotivierter und besserwisserischer Jungkollege zugeteilt. Vielleicht wollte die Personalabteilung meine von Routinefällen geschonten Nerven wenigstens ein wenig strapazieren. Wenn ja, dann ist ihnen das mit Sven Straubmann gelungen. Eigentlich wollte ich keinen Partner und schon gar keinen Neffen eines Abgeordneten, der seine Zeit im Maximilianeum absitzt und das Seine dazu beigetragen hat, dem Sohn seiner Schwester zu dessen Traumjob zu verhelfen. Doch da ist nichts zu machen. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als auch diese Pfingsttage – wie so viele Tage in den letzten Monaten – hier im Bayerischen Wald zu verbringen, auf der Flucht vor dem Präsidium, vor der Langeweile und vor Sven.

Ich kenne diese östlichste Ecke des Freistaats inzwischen ganz gut. Nicht ohne Stolz konnte ich meinem Freund Marcel Biedermann vor zwei Wochen vermelden, dass ich mit dem Dreisessel nun auch den südlichsten der Berge dieser Region erklommen habe. Zugegeben, er schien nicht sonderlich beeindruckt. Schon gar nicht angesichts seiner Pläne, in diesem Jahr seiner Sammlung von Naturabenteuern eine ausgiebige Andenexpedition hinzuzufügen. Natürlich kennt er mich gut genug, um zu wissen, dass die Tausender des Bayerischen Waldes für einen Naturverächter, wie ich es den größten Teil meiner inzwischen 40 Jahre gewesen bin, Herausforderung genug sind. Und dennoch konnte mein Bericht vom Dreisessel nur kurz sein Interesse wecken. Die meiste Zeit dieses Abends im Rubico haben wir damit verbracht, über die kommende Südamerikatour des erfolgreichen Anlageberaters zu reden. Beruflich erfolgreich, wohlbemerkt, denn Marcel ist ebenso bindungsunfähig, wie ich es vor Claudia war. Seit er sich nach zahllosen gescheiterten Beziehungen sein Versagen dem weiblichen Geschlecht gegenüber eingestehen musste, gibt er sich exzessiv der Natur hin und kann seither mit Fug und Recht als Outdoor­experte bezeichnet werden. Vor drei Tagen ist Marcel aufgebrochen und inzwischen sitzt er wohl in einem Geländewagen oder schläft in einem Zelt.

Nichts für mich jedenfalls! Ich bin auf dem Weg hinauf zur Chamer Hütte. Soll sich mein bester – und einziger – Freund ruhig in der Welt herumtreiben. Mir reicht Bayern! Wo ich seit einem Jahr die Ruhe des Bayerischen Waldes genieße. Sofern sie nicht durch ein Handy gestört wird. Und dabei wollte ich den Plagegeist in meinem Zimmer in Kirchbach lassen.

Unerreichbarkeit! Ein Luxus in dieser Zeit, der mir in diesem Augenblick nicht gegönnt ist. Widerwillig nehme ich den Anruf entgegen, umso mehr, als es sich um meine Dienststelle beim Landeskriminalamt München handelt.

»Guten Morgen, Herr Buchmann«, dringt die unverschämt fröhliche Stimme Svens an mein Ohr. Kriminalkommissar Straubmann, genau gesagt. Richtig! Die Nervensäge mit dem Landtagsonkel.

»Guten Morgen!« Ich bemühe mich, meiner Stimme die Verärgerung über die Störung nicht anmerken zu lassen. »Wurde der Ministerpräsident ermordet, oder warum stören Sie mich im Urlaub?«

»Ha, ha«, klingt es gekünstelt aus dem winzigen Lautsprecher, »diesen Fall würde ja wohl jemand anders übertragen bekommen.«

Was? Frechheit!

Was erlaubt sich dieser Polizist von Onkels Gnaden eigentlich? Will er damit andeuten, Moritz Buchmann sei nur für unbedeutende Fälle geeignet?

Natürlich weiß ich, dass meine Vorgesetzten genau das denken. Und da hilft auch meine mehr als passable Aufklärungsquote nicht. Die Eintragungen in meiner Personalakte wiegen schwerer. Die Zeit nach der Trennung von Andrea …

Ja, der geschniegelte Möchtegernermittler am anderen Ende der Leitung hat recht. Aber muss, nein, darf er das so unverblümt sagen? Ich versuche, meine Wut zu kontrollieren. »Also, was ist los?« Ich muss das Gespräch voran- und zu einem hoffentlich raschen Ende bringen.

»Nun, was wird schon los sein? Ein Mord natürlich.« Svens Stimme klingt nicht so, als würde sie den Tod eines Menschen verkünden. Das passt zu ihm.

»Na, dann klären Sie ihn doch auf. Ich bin immerhin im Urlaub.«

»Genau das ist es ja. Sie sind bestimmt wieder im Bayerischen Wald, stimmt’s? Und genau dort ist der Mord passiert. In Ihrem Revier sozusagen.«

Noch so eine Spitze! Ich bemerke, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildet. Ich kann es nicht verhindern. Und er kommt nicht vom Aufstieg zu den Wasserfällen. Nein, ganz bestimmt nicht. In ihrem Revier! In der Provinz. Wäre der Mord in München passiert, würde er ihn selbst verfolgen. Er oder ein anderer Kollege, dessen Personalakte keine Einträge über diverse Alkoholgeschichten ziert.

»Und wie Herr Kriminalrat Schulz vermutet, sind Sie ohnehin in der Gegend und könnten kurzfristig am Tatort sein«, drängt sich Svens Stimme in meine düsteren Gedankengänge.

»Und wo ist mein nächster Toter?«

»In Engelsgrub, einem Ortsteil der Gemeinde Sankt Ulrich! Wie schnell könnten Sie denn dort sein?«

20 Minuten zu Fuß nach Bodenmais, halbe Stunde mit dem Auto über den Arber, zehn Minuten Toleranz. »Eine Stunde.« Meine Stimme kann nicht ausdrücken, wie sehr sich meine Begeisterung für diese Sache in Grenzen hält.

»Sehr gut! Ich werde die Kollegen vor Ort informieren, dass Sie kommen. Und Frau Güßbacher von der Direktion Regensburg ist auch schon unterwegs.«

»Mel.« Meine Stimmung nähert sich schlagartig dem Wetter des Tages: sonnig, nur um gleich wieder umzuschlagen.

»Ach übrigens, Herr Buchmann. Es ist natürlich nicht Ihr Toter, sondern unserer. Schließlich bin ich ja Ihr Partner. Ich komme ebenfalls.«

*

»Sie haben Ihr Ziel in 200 Metern erreicht.« Die freundliche, unverbindliche Stimme meines Navis hat mich zielsicher über den Arber vorbei an Sankt Ulrich über die Umgehungsstraße hierher nach Engelsgrub geführt. Die letzte Mitteilung war nicht mehr erforderlich. Bereits von Weitem ist der Tatort zu erkennen. Nicht wegen seiner idyllischen Lage am Ortsrand des kleinen Dorfes westlich von Sankt Ulrich. Nein, es sind die Menschen, die mich auf den letzten Metern zu meinem Ziel geleiten. Mühsam auf Abstand gehaltene, sichtlich erregt diskutierende Schaulustige, Einsatzfahrzeuge des Roten Kreuzes und der Polizei und die zugehörigen Uniformierten und nicht zuletzt die unsichtbare, aber doch spürbare unheilvolle Stimmung zeigen, dass hier Außergewöhnliches geschehen ist. Mein Dienstausweis, den ich immer bei mir trage, öffnet mir den Weg durch die Absperrung und die Zufahrt zum Hof von Alois Huber. Der Name des Opfers, den mir Sven Straubmann ebenso wie die Adresse des Tatortes durchgegeben hat, war mir vor einer Stunde noch völlig fremd. Und doch bin ich den Weg zurück von den Wasserfällen nach Bodenmais fast gelaufen und habe den Geschwindigkeitsbeschränkungen auf der Strecke über den Arber nicht den gebührenden Respekt erwiesen, sodass ich nur knapp 45 Minuten nach dem Anruf Engelsgrub erreiche. Das verschafft mir mindesten zwei Stunden Vorsprung vor meinem Partner und auch Mel sollte aus Regensburg erst in einer halben Stunde eintreffen. Zeit genug also, um mich in Ruhe umzusehen.

Der Bauernhof des Verstorbenen macht einen mäßig gepflegten Eindruck. Der sonst im Bayerischen Wald übliche Blumenschmuck an den Fenstern fehlt. Im obligatorischen Gemüsegarten neben dem Haus wuchert Unkraut. Aber Haus, Scheune und Stall befinden sich nach meiner ersten Einschätzung in tadellosem Zustand. Das ganze Anwesen duckt sich in den Schatten des mächtig hinter den Wiesen aufragenden Ossers, des Hausbergs aller ihn umgebenden Ortschaften.

»Grüß Gott! Sie sind sicher Herr Buchmann.« Ein uniformierter Polizist reißt mich aus meinen Betrachtungen und hält mir die Hand entgegen. Der kräftige Händedruck verrät ihn als Einheimischen. Unverkennbar nicht das sanfte Händeschütteln eines Städters. »Karl Loibl von der Polizeiinspektion Bad Kötzting. Mein Kollege und ich waren als Erste am Tatort. Wenn Sie mir folgen wollen?«

Karl, den nicht nur sein Händedruck, sondern auch sein Dialekt zweifelsfrei als jahrelangen Bewohner dieses Landstrichs verrät, führt mich zu einer kleinen Scheune etwas abseits der übrigen Gebäude. »Sie waren aber schnell hier aus München«, startet er den Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Bin im Urlaub hier«, erkläre ich kurz angebunden. »Drunten in Kirchbach.«

»Aha, deshalb.« Karl Loibl, den Sternen auf seiner Schulter nach Polizeihauptmeister, scheint auch kein Freund vieler Worte zu sein. Wieder ein Indiz für seine Abstammung. Inzwischen haben wir die Scheune erreicht. Die Gesichtsfarbe des Uniformierten vor der Tür verrät, dass der Mord nicht in die Schublade Standard gelegt werden kann. Vermutlich keine schöne Leiche, denke ich. Der Polizist nickt uns stumm zu. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ist er froh, uns nicht an den Ort des Verbrechens folgen zu müssen. Karl Loibl lässt es sich nicht nehmen, voranzugehen. Ich folge ihm mit einem unguten Gefühl im Magen in das Halbdunkel vor mir. Im ersten Augenblick kann ich nichts erkennen. Durch Ritzen in den Wänden und ein trübes Milchglasfenster versuchen einige wenige Sonnenstrahlen das Innenleben der Scheune der Dunkelheit zu entreißen. Offensichtlich handelt es sich um eine Werkstatt. Hämmer, Sägen, Hobel und diverse andere Werkzeuge sowie Maschinen, deren Funktion ich nicht kenne, zeugen davon. Obwohl mein geschultes Auge sich bemüht, die Umgebung als Ganzes zu erfassen, ist es dann doch die Leiche auf dem Boden, die meinen Blick gefangen nimmt.

Nicht meine erste Leiche, wahrlich nicht. Aber sicher die am grauenvollsten zugerichtete meiner Karriere. Der Notarzt hat zwar bereits den Tod Alois Hubers festgestellt, eine Diagnose, die jeder Mensch hätte treffen können, doch niemand hat den Toten bisher zugedeckt.

Die meisten Opfer, die mir während meiner Zeit bei der Mordkommission begegnet sind, sahen auch im Tode noch manierlich aus. Vergiftet, ein kleines Loch im Kopf oder auch schon einmal ein Messer im Rücken. Alois Huber jedoch ist kaum mehr als Mensch zu erkennen. Ein Metallkeil hat sich durch den Hinterkopf des Mannes gebohrt und ragt nun aus dessen Mund heraus. Dabei hat dieser Keil Zähne und Kiefer durchstoßen. Übrig geblieben ist eine undefinierbare Masse aus Blut und Knochen, die unweigerlich von dem Loch in der Schläfe des Toten ablenkt.

Da ist es ja, denke ich mit Blick auf die Einschussstelle. Seltsam tröstlich, dieser Gedanke an das vertraute Muster. Hoffentlich hat ihn die Kugel getötet und nicht dieses Ding, denke ich, nicht ahnend, dass Karl Loibl vor einer knappen Stunde den gleichen Wunsch hegte. Ich knie neben der Leiche nieder. Was ist das? Ein etwa ein Meter langer dicker Stiel und ein vielleicht 30 Zentimeter langer stählerner und verdammt spitz aussehender Haken, der dem Toten aus dem Mund ragt.

Der Polizist neben mir ahnt meine Unwissenheit. »Ein Sappie«, erklärt er. »Der Alois war ein Waldbauer. Den Sappie brauchte er zum Holzfällen. Man schlägt ihn in die Baumstämme, um diese zu sichern oder zu ziehen.«

Oder um jemandem den Schädel einzuschlagen! Ich nicke benommen. Ein wahres Mordwerkzeug. Mein Blick gleitet nach unten. »Und was bedeutet das?« Ich deute auf das von einem Kreis umgebene Dreieck, das sich blutig von der blassen Haut des Toten abhebt. »Welcher Täter ritzt seinem Opfer Zeichen in die Brust? Das sieht ja fast nach einem Ritualmord aus.«

»Die Osserriesen. Ein Dreieck für den Berg und ein O für Osser. Nicht sehr einfallsreich, ich weiß«, erklärt Karl Loibl. Auf meinen fragenden Blick fährt er fort: »Die Osserriesen sind eine Bürgerbewegung gegen das Pumpspeicherwerk am Osser.« Scheinbar ist mein Gesicht weiter ein einziges Fragezeichen, sodass sich mein örtlicher Kollege genötigt fühlt, weiter auszuholen. »Am Osser soll ein Pumpspeicherwerk gebaut werden. Oberbecken, Leitungen, Unterbecken. Das hat die Bevölkerung hier aufgebracht. Die Menschen fürchten um den Erhalt ihrer Heimat. Es vergeht keine Woche ohne Versammlungen, Diskussionen und Protestaktionen. Am radikalsten sind die Osserriesen. Sie belassen es nicht beim Reden. Da fliegen schon mal Farbbeutel gegen die Vertreter der Investoren oder es werden Straßensperren aufgestellt. Auch Autos wurden schon zerkratzt oder beschmiert und Reifen zerstochen. Das da«, er deutet auf die schmale Brust des Toten, »ist ihr Zeichen.«

Ach ja! Ich erinnere mich. Während meiner Tage in Kirchbach lese ich schon mal die örtliche Zeitung. Ich habe mich zwar mit den unzähligen Leserbriefen und Leitartikeln über das Großprojekt am Osser nicht näher beschäftigt, aufgefallen sind sie mir dennoch. Ich will gerade fragen, welcher Täter so dumm sei, sein Zeichen am Tatort zurückzulassen, da wird schwungvoll die Scheunentür aufgerissen und mein neuer Partner Sven tritt voller Elan auf den Plan.

Wieso ist der schon da?

Der Verwunderung folgt Belustigung. Karl Loibl und ich blicken uns an, und wäre die Situation nicht so unpassend, wir würden beide hellauf lachen. Kollege Straubmann lebt offensichtlich in einer dieser CSI-Serien. Zumindest dem Outfit nach. Dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte und Sonnenbrille wollen jedoch nicht ganz zu seinem erschrockenen Gesicht passen, dessen Farbe beim Anblick der Leiche über Grün ins Weiße wechselt. Ich gebe zu, ich registriere das nicht ganz unzufrieden.

»Was ist denn das?«, stammelt er benommen.

»Das, lieber Kollege, ist ein Sappie. Und Sie kommen jetzt mit und befragen die Leute da draußen nach Einzelheiten, während wir auf die Spurensicherung warten. Ich werde mich noch ein wenig mit Karl hier unterhalten.« Der gemeinsam unterdrückte Lachanfall hat ohne die üblichen Höflichkeitsfloskeln zum Du zwischen uns beiden geführt. Außerdem ist mir der hiesige Landpolizist auf Anhieb sympathisch. Ein Privileg, das sich Sven erst erarbeiten muss.

Im Augenblick nickt er benommen und dankbar, diesen Ort verlassen zu dürfen. Ich packe Karl am Arm und ziehe ihn beiseite. Der ortskundige Polizist scheint bei all dem Geschehen bisher die Nerven behalten zu haben. Noch ein Pluspunkt für ihn. Wir gehen ein paar Schritte hinauf zum Obstgarten und setzen uns auf eine Bank unter einem Kirschbaum. Ein wahrlich romantischer Ort, wären die Umstände andere. Und er verliert noch mehr an Glanz, als Karl mir das bisherige Geschehen erzählt.

Sven

Sven Straubmann stapfte beleidigt davon. Nicht nur, dass sich sein Chef und auch dieser Dorfpolizist über sein Äußeres amüsiert hatten! Nein, ihm wurde auch noch die in seinen Augen minderwertigste Aufgabe zugeteilt: Befragung der Zeugen. Welche Zeugen? Was sollte das neugierige Pack da draußen schon gesehen haben? Die tuschelnde Menge jenseits der Absperrbänder war doch erst hier, seit sich die für dieses Kaff sensationelle Tat herumsprach. Das war doch wirklich nicht sein Niveau. Warum hatte Buchmann nicht einen der Dorfpolizisten damit beauftragt? Diesen Loibl zum Beispiel. Mit dem verstand sich der Herr Oberkommissar ja prächtig. Eigentlich hatte er ja nichts gegen Buchmann. Dieser schien nach allem, was man so hörte, ein fähiger Polizist zu sein. Und als ihm nach all den Mühen endlich das Zeugnis zum Kriminalbeamten ausgestellt worden war, hatte er seine nicht unerheblichen Verbindungen spielen lassen, um der Mordkommission Moritz Buchmanns zugeteilt zu werden. Auch wenn dessen Ruf im Präsidium nicht vor Glanz erstrahlte, so hatte doch die spektakuläre Aufklärung des Mordes in der Arberseewand vor einem Jahr Buchmann vor allem bei den jüngeren Kollegen zu einer Art Vorbild werden lassen. Etwas, wovon dieser sicher keine Ahnung hatte.

Und jetzt dieser Fall. Sein erster Außeneinsatz, sein erster Mord. Hier im Bayerischen Wald, wo sich sein Chef anscheinend bestens zurechtfand.

Also mach, was er dir sagt!, gebot sich Sven. Deine Chance in dieser Geschichte wird noch kommen. Dann kannst du zeigen, was du drauf hast.

Sven Straubmann war zutiefst überzeugt, einen guten, nein, einen hervorragenden Kriminalpolizisten abzugeben. Und das würde er gleich in seinem ersten Fall beweisen. Auch Moritz Buchmann würde das am Ende zugeben müssen. Also los! Auch wenn es nur eine Zeugenbefragung war. Er würde sein Bestes geben!

Ich

»Scheiße!«

So unerwartet die Person, die dieses Wort gebraucht, so passend ist dieses, um unsere Situation zu beschreiben. Mir lag es selbst im Mund, doch Mel ist mir zuvorgekommen. Melanie Güßbacher ist vor wenigen Minuten zusammen mit der Spurensicherung aus Regensburg eingetroffen. Ich würde sie am liebsten umarmen, halte mich jedoch zurück und belasse es bei einem herzlichen Händedruck. Wir haben schon des Öfteren zusammengearbeitet und uns verbindet mehr als die übliche Kollegialität. Ich glaube, hoffen zu dürfen, dass mich Mel mag. Sie hat sich nicht verändert. Im Gegensatz zu mir. Die von der archaischen Landschaft des Bayerischen Waldes und nicht zuletzt von Claudia Schedlbauer in mir entfachte Leidenschaft für ausgedehnte Wanderungen hat meine körperliche Konstitution seh- und spürbar verbessert. Mel hat das nicht nötig. Selbst ihre Frisur ist noch dieselbe. Warum auch etwas Perfektes ändern? Ein weiterer Wagen mit Regensburger Nummer fährt vor. Frau Dr. Niebauer, Gerichtsmedizinerin und vor einigen Jahren kurzzeitig meine Lebensgefährtin. Sehr kurzzeitig.

Immerhin reicht es noch für ein kurzes Winken in meine Richtung. Dann folgt sie der Spurensicherung, um Alois Hubers Leiche zu untersuchen. Während die Kollegen in der Scheune ihrer Arbeit nachgehen, informieren wir Mel über die bisherigen Fakten. Karl taucht noch einmal in den Albtraum der Erzählung vom Fund der Leiche ein, wenngleich nur in eine Kurzfassung.

Schlimm genug! Er macht dies mit professioneller Akribie und scheinbar emotionslos. Ich fange an, den einfachen Polizisten zu bewundern, ahne ich doch, was sich im Innern des Mannes wirklich abspielen muss.

»Opa war nur der Erste?« Mel wiederholt die unheilverkündenden Worte, mit denen Karl Loibl seinen Bericht beendet.

»Scheiße!« Ich zucke entschuldigend mit den Schultern.

»Glaubt ihr, das ist ernst gemeint?« Karls Stimme verrät Angst. »Ein Serienmörder? Das wäre ja eine Katastrophe für meinen Ort.«

Hoffentlich nicht!, denke ich. Und wenn ich Mel ansehe, weiß ich, dass sie diesen Wunsch mit mir teilt. Und doch wissen wir, es ist eine trügerische Hoffnung. Ein angekündigter zweiter Mord. So etwas macht man nicht ohne Grund. Selbst ein irrer Mörder nicht, der einen alten Mann erschießt und ein blindes Mädchen dazu missbraucht, seine Botschaft zu verkünden.

Plötzlich wünsche ich mich zurück zu den Rieslochfällen und meinem Eichhörnchen.

*

Der Chef der Spurensicherung und Sven Straubmann kommen zusammen den Weg zum Obstgarten herauf. Als ich Mel mit meinem neuen Partner bekannt mache, lächelt sie. Trotz seiner Aufmachung kein höhnisches Lächeln, eher ein freundliches, ja interessiertes. Und auch ihr Händedruck fällt etwas länger aus, als nach meinem Empfinden nötig. Bestimmt, weil er die Sonnenbrille weggesteckt hat. Jetzt sieht er nicht mehr ganz so lächerlich aus. Mel wird ihn doch nicht sympathisch finden?

»Herr Buchmann war so freundlich, mich zu diesem Fall hinzuzuziehen«, meint Sven jovial.

Ich weiß genau, was sich hinter dieser Floskel verbirgt. Es klingt doch sehr nach: Herr Buchmann braucht meine Hilfe, um den Fall zu lösen.

Was soll’s? Es gibt jetzt Wichtigeres. Thorsten Schneider zum Beispiel, dessen Leute die Scheune mit den Mitteln modernster Kriminaltechnologie untersucht haben. Und Renate Niebauer. Bemüht um einen nichtssagenden Gesichtsausdruck gesellt sie sich ebenfalls zu uns.

»Servus, Renate.«

»Hallo, Moritz. Bist du inzwischen auf Morde im Bayerischen Wald spezialisiert?«

»Könnte man meinen. Vielleicht sterben die Leute hier ja gerade dann, wenn ich da bin.«

Sie lächelt säuerlich, dann kommt sie zur Sache: »Der Tod wurde mit ziemlicher Sicherheit durch den Schuss herbeigeführt. Dieser wurde vermutlich aus etwa zwei bis drei Metern Entfernung abgefeuert. Die Pistole wurde dem Toten nicht an die Schläfe gesetzt. Es gibt keine Schmauchspuren und für einen größeren Abstand ist die Scheune zu klein. Da müsste der Täter schon von draußen geschossen haben. Dieser Pickel …«

»Sappie«, belehrt sie Sven.

»Ach was? Und wer sind Sie?«

Ich hole mein Versäumnis nach und mache meinen jungen Kollegen mit meiner alten Gefährtin bekannt.

»Also gut: Sappie.« Wohlwollend registriere ich, wie die leitende Gerichtsmedizinerin der Kripo Regensburg Sven einen vernichtenden Blick zuwirft. »Dieser Sappie«, knüpft sie an ihre unterbrochene Erklärung an, »hat den Kopf glatt durchbohrt. Dabei wurden auch der erste und zweite Halswirbel und der Gaumenknochen zertrümmert. Die Schnittwunden auf der Brust wurden voraussichtlich mit einem Messer verursacht. Einzelheiten kann ich natürlich erst nach einer genaueren Untersuchung in Regensburg feststellen.«

»Natürlich. Und was hat die KTU gefunden?«, wende ich mich an Schneider.

»Bisher leider wenig Hilfreiches.« Er klingt enttäuscht. »Fußspuren des Mädchens und des Toten, jede Menge Fingerabdrücke, Haare, Blut. Alles andere muss erst im Labor ausgewertet werden. Die Sache mit dem Sappie war sicher nicht geplant. Reiner Zufall, dass er da lag. Wenn wir die Kugel hätten, könnten wir mit etwas Glück das Kaliber und den Waffentyp feststellen.«

»Du benötigst dafür Glück?« Mel sieht Schneider fragend an.

»Vor allem eine intakte Kugel. Hätte der Täter auf die Stirn des Toten gezielt, wäre da sicher nichts zu machen. Der Schädelknochen ist dort am dicksten.«

Renate Niebauer nickt bestätigend. »Die Kugel wäre zwar in den Kopf eingedrungen, hätte sich aber so stark verformt, dass Rückschlüsse auf die Waffe unmöglich wären.«

»Da aber der Schuss von der Seite kam«, fährt Frau Dr. Niebauer fort, »ist die Kugel durch die Schläfe eingetreten. Der Schädelknochen ist im Bereich der Schläfe äußerst dünn. Ich denke, Kollege Schneider sollte eine schöne Kugel zu sehen bekommen, nachdem ich diese aus dem Kopf geholt habe.«

»Was du hoffentlich schnell machst«, beende ich ihren Vortrag.

»Für dich doch immer«, lächelt sie mir zu, nur um dieses Versprechen gleich einzuschränken. »Wenn ich mit der Leiche in Regensburg bin.«

»Dann machen wir uns gleich auf den Weg«, meint Schneider. »Ich denke, ich kann euch den Waffentyp noch heute präsentieren. Alles andere dann morgen. Ich lasse ein paar Kollegen hier, die die Scheune gründlich auf den Kopf stellen.«

Ich verabschiede Schneider mit Handschlag. Beinahe erwarte ich, dass mich Renate auf die Wange küsst, doch zum Glück lässt sie das bleiben. Auch wir reichen uns nur die Hände. Nicht dass wir im Streit auseinandergegangen wären, aber es war eben nur eine kurze Affäre. Sie verabschiedet sich von den anderen: »Servus Mel, auf Wiedersehen Herr Loibl, Herr Straubmann.« Ach ja, Sven! Er kennt ja die Einzelheiten noch nicht. Ich wiederhole deshalb in wenigen knappen Sätzen Karl Loibls Bericht.

»Ein Serienmörder?« Sven blickt uns der Reihe nach an. »Wenn das bekannt wird, gibt’s eine Panik.«

»Richtig.« Jetzt ist es an mir, meine Kollegen ernst anzusehen. »Und deshalb darf es nicht bekannt werden.« Die drei nicken ernst, während ich mich leise ärgere, dass es Sven ist, der die Gefahr einer Panik erkannt hat.

Ich weiß, das wäre meine Aufgabe gewesen.

*

»Wo seid ihr untergebracht?«

»Hotel Zur Post.«

Natürlich, wo auch sonst? Seit ich meinen Aktionsradius von München hinaus aufs Land erweitert habe, ist mir klar, dass es in jedem Dorf eine Post gibt.

»Mitten auf dem Marktplatz«, ergänzt Sven mit Blick auf sein Navi eines nagelneuen Dienst-Audis des Landeskriminalamts.

»Schaut mal nach, ob wir dort unsere Einsatzzentrale einrichten können. Was denkst du, Karl?«

»Hm. Wäre hier im Ort sicher nicht schlecht, aber ich glaube, wir sollten dann doch lieber die Inspektion in Kötzting nehmen. Dort haben wir alles, was wir brauchen, und so weit ist es ja auch nicht. In 15 Minuten können wir hier sein. Mit Blaulicht sogar in zehn.«

»Also gut. Seht ihr zwei euch mal die Post an. Wäre gut, wenigstens ein Besprechungszimmer dort zu haben.«

»Eins, wo wir ungestört sind«, nickt Mel zustimmend. »Und dann richten wir unsere Zentrale in Kötzting ein.«

»Gut«, stimme ich zu. »Und wir beide unterhalten uns mal mit Frau Obermeier. Mal sehen, was die neugierige Nachbarin sonst noch alles über unser Mordopfer zu erzählen hat.« Sven nickt begeistert. Endlich passiert mal was! Der Satz steht ihm ins Gesicht geschrieben.

*

Die Familie Obermeier ist sichtbar weniger gut gestellt als die des Mordopfers. Das nachbarliche Anwesen duckt sich förmlich unter die große Scheune des Ledererhofes und wirkt dennoch gepflegt und aufgeräumt. Maria Obermeier scheint die Sache gut im Griff zu haben. Und sie hat uns schon erwartet. Ich habe kaum an die Tür geklopft, als sie selbige auch schon öffnet. »Grüß Gott, die Herren Kommissare. Was kann ich für Sie tun? Sie wollen sicher wissen, ob ich gesehen habe, wer den Alois umgebracht hat. Der Alois ist doch umgebracht worden, oder? Aber ich hab nichts gesehen, tut mir leid. Nur gehört hab ich was. Den Schuss, ja, den hab ich gehört. Und auch gleich die Polizei gerufen. Das war doch richtig so, oder?«

Sven zuckt erschrocken ob der auf uns einprasselnden Wortlawine zurück. Auch ich halte kurz die Luft an. Im ersten Augenblick habe ich den Eindruck, Resi Bielmeier gegenüberzustehen. Die Ähnlichkeiten sind aber nur von kurzer Dauer und beschränken sich auf das Mundwerk der beiden Frauen und die Tatsache, dass beide Nachbarinnen von Mordopfern sind. Maria Obermeier unterbricht gerade ihren Wortschwall, um Luft zu holen. Eine vielleicht einmalige Gelegenheit, die ich sofort nutze: »Natürlich, Frau Obermeier, war es richtig, die Polizei zu rufen. Und dazu hätten wir ein paar Fragen an Sie. Mein Name ist Moritz Buchmann. Und das ist mein Kollege Sven Straubmann. Wir ermitteln in diesem Fall. In diesem Mordfall«, präzisiere ich mein Begehren. »Können wir in die Stube kommen?«

Jetzt hat sie es aus erster Hand: Ihr Nachbar ist tot. Ermordet.

Na und? Bald wissen es ohnehin alle im Osserwinkel. Und dennoch: Diese Frau ist raffinierter, als es ihr Äußeres verrät. Der Blick, mit dem sie Sven und dessen Aufmachung mustert, trieft vor Verachtung. Kein Wunder. Es wird Zeit, dass sich mein Partner hier draußen wie ein normaler Mensch kleidet, sonst wird er nie Informationen bekommen.

Sie zögert kurz. Entweder weil ihr bewusst wird, dass ihr Nachbar gestorben ist oder weil wir in ihr Haus eintreten wollen. Der kleine Hof ist ihr Reich. Neugierige Fremde sind hier wahrscheinlich nicht willkommen. Dann jedoch besinnt sie sich darauf, dass sie Polizisten vor sich hat. Mit einem Winken bittet sie uns hinein. Wir betreten eine Bauernstube, wie ich sie des Öfteren gesehen habe. Sven lässt seinen Blick umherschweifen, während ich das Frage-Antwort Spiel beginne.

»Frau Obermeier. Können Sie mir erläutern, was genau passiert ist?«

»Das habe ich ja Ihren Kollegen schon gesagt.« Sie räuspert sich. »Na gut. Ich war draußen im Garten. Hab die Schnecken bei den Erdbeeren eingesammelt. Die fressen alles auf, die Viecher. Du kannst nichts anbauen, was die nicht fressen. Ich schmeiß die dann in kochendes Wasser. Andere streuen Salz drauf oder spießen sie auf. Aber glauben Sie mir, kochendes Wasser ist das Beste.«

»Sie waren also im Garten.« Ich will mir das Ende von Maria Obermeiers Schnecken gar nicht vorstellen.

»Ja, das sagte ich doch schon.« Sie schüttelt genervt den Kopf.

»Und dann haben Sie den Schuss gehört?«

»Ja doch. Ich hab mich nicht hingetraut und da hab ich die Polizei gerufen.«

»Und davor?«

»Was davor?«

»Vor dem Schuss. Ist Ihnen nichts aufgefallen? Haben Sie niemanden gesehen?«

Nach kurzem Überlegen: »Nein. Niemand außer dem Alois und der Lisa. Der Alois war oft in seiner Werkstatt. Hat dort die Sachen für seine Waldarbeit repariert. Der Alois ist ja ein Waldarbeiter.«

War, denke ich und … hoppla, Lisa. Mal sehen, was die Obermeier so über die Enkelin des Toten erzählt. Vielleicht weiß sie mehr, als ich aus Karl Loibls kurzem Bericht entnehmen konnte. Maria Obermeier lässt sich nicht lange bitten: »Seine Enkelin. Seit dem Unfall haben sich ja alle um sie gekümmert. Gestern Abend ist sie dann wieder zu ihrem Opa. Sie ist dann oft ein paar Tage hier geblieben. Wenn ich so überlege, war die Kathrin dann auch wieder öfter da.«

Langsam, langsam. Maria Obermeiers Erzählung driftet wieder vom geraden Weg ab. Ich muss sie wieder zurückholen, sonst verliere ich den Faden: »Unfall? Was für ein Unfall?«

»Na, der mit der Lisa. Das arme Ding. Und ihren Eltern. Der Albert und die Manuela sind beide mit dem Auto umgekommen. Vier Jahre ist das jetzt schon her. Sind in einen tschechischen Laster gefahren. Peng! Und tot. Beide. Nur die Lisa nicht. Das kleine Ding war damals erst drei Jahre alt, als ihre Eltern gestorben sind. Sie hat’s überlebt. Aber dafür ist sie blind. Seit ihrer Geburt.«

Sven blickt nachdenklich an die Decke. »Lisa ist also sieben Jahre alt und ohne Eltern. Wo wohnt sie jetzt? Im Waisenhaus?«

»Waisenhaus? Warum das denn? Der Jochen und die Gabi, das ist die Schwester von der Manuela und der Kathrin, die wohnen seit fünf Jahren drunten in Arrach. Die haben damals die Lisa aufgenommen. Und manchmal bringen sie die Kleine herauf zu ihrem Opa auf den Hof. Früher, da kümmerte sich auch die Kathrin um sie. Seit sie Direktorin geworden ist, drüben bei den Tschechen, da hat sie nicht mehr viel Zeit. Deshalb ist sie wohl gestern auch da gewesen, weil sie die Lisa sehen wollte.«

»Und wer ist diese Kathrin?«

»Frau Dr. Kathrin Huber. Die Tochter vom Alois. Der wollte zwar einen Sohn haben, aber dann hat’s nur zu drei Mädchen gereicht. Und die Manuela ist dem Alois noch vorausgegangen.« Automatisch zeichnet ihre Hand ein Kreuz auf ihre Stirn, ihre Augen huschen kurz zum Herrgottswinkel. »Als die Kathrin dann auch noch zum Studieren gegangen ist, anstatt den Martin Aschenbrenner zu heiraten, haben sich die beiden nicht mehr vertragen. Und seit der Sache mit dem Osser, da flogen zwischen ihnen erst so richtig die Fetzen.«

Aha, jetzt wird’s interessant!

»Die beiden haben also gestritten. Hm, und was hat das mit dem Osser zu tun?«, mischt sich Sven in das Gespräch ein. Vermutlich hat er sich vor seiner Abfahrt aus München über die grundlegenden örtlichen Gegebenheiten informiert. Sonst würde ihm der Osser sicher nichts sagen.

»Na, das Speicherwerk oben. Wegen dem Strom und so. Die Kathrin leitet doch den Kampf gegen diese Leute und der Alois wollte denen den Wald verkaufen. Und seine Wiese. Früher hätte er nie verkauft, aber seit seine Anna tot ist, da hat den Alois der Wald nicht mehr interessiert, glaube ich. Ja, seit der Sache mit dem Osser, da sind die beiden wie Hund und Katze aufeinander. Die Kathrin hat sich kaum noch blicken lassen. Ich glaub, die ist nur noch wegen der Lisa gekommen, wenn die auch da war. So wie gestern. Hat aber nicht lange gedauert, dann haben sie und der Alois wieder gestritten. Ich hab dem Alois sein Geschrei bis hierher gehört. Immer dieselbe Leier. Er wolle die Kathrin nicht mehr auf dem Hof sehen und so.«

Na, da wirst du deine Ohren aber auch gespitzt haben, damit dir nichts entgeht! Zum Glück für mich, fügt mein Verstand lautlos hinzu.

»Aber heute haben Sie die Kathrin nicht gesehen?« Svens Stimme klingt fast desinteressiert. Seine Aufmerksamkeit gilt den Bildern, die auf einer Kommode aufgereiht die Geschichte der Familie Obermeier erzählen.

»Nein, heute war sie nicht hier. Nur der Alois und die Lisa. Die haben sie vorhin aus der Scheune getragen. Das arme Ding. Ein Glück, dass sie sich das nicht mit ansehen musste.«

Wenn die Alte nur wüsste, was für ein Glück das Mädchen wirklich hatte. Die Erinnerung an den Anblick der Leiche jagt mir noch jetzt einen Schauer über den Rücken.

»Vermutlich wäre sie sonst auch tot.« Wieder Sven aus dem Hintergrund.

»Lisa? Tot?«

»Wenn sie den Täter gesehen hätte«, führe ich den Gedanken meines Kollegen zu Ende.

Die alte Frau nickt verstehend.

»Und Sie haben niemanden aus der Scheune kommen sehen?«

»Nein. Da war keiner! Jedenfalls nicht auf dieser Seite.«

Sie hat sicher recht. Der Neugier dieser Frau wäre niemand entgangen. Aber Lisa! Sie war am Tatort gewesen. Blind. Hat sie alles gehört? Könnte sie den Täter anhand seiner Stimme identifizieren? Sicher nur, wenn sie ihn kennt. Das Gehör von Blinden ist für gewöhnlich überdurchschnittlich ausgebildet. Vielleicht ist das eine Chance. Lisa könnte ein Schlüssel zur Lösung des Falles sein.

Während diese Gedanken in meinem Kopf nach Ordnung suchen, sehe ich mich in Maria Obermeiers Stube um. Eine Bauernstube wie gemalt. Holzofen und Kanapee, Holzdielenboden, Herrgottswinkel und die Kommode mit den Bildern, die Sven noch immer betrachtet.

Die alte Frau bemerkt sein Interesse an den Schwarz-Weiß-Fotografien. Drei Männer, zwei mittleren Alters, in der Mitte ein Jugendlicher, die Arme um die Schultern der beiden gelegt. Einer der älteren den Arm auf dem Jungen. Eine andere Aufnahme zeigt Maria Obermeier, etliche Jahre jünger, zwischen zwei diesmal jüngeren Männern.

»Korbinian, mein Mann. Ist den Asbesttod gestorben.« Auf Svens fragenden Blick fährt sie fort. »Der Hof war zu klein zum Leben. Da hat der Korbinian aufm Bau gearbeitet. Hat Asbestplatten gebohrt und gebrochen. Der Doktor meinte, das Zeug habe dem Korbinian seine Lunge zerschnitten. Mit so einer wirst du dann halt nicht älter als 50.«

»Und wer ist das?« Mein Kollege nickt verstehend und deutet auf das andere Bild. »Auch Korbinian. Da war er noch ein paar Jahre jünger. Und mein Kurt. Der muss da so um die 15 oder 16 gewesen sein. Der dritte ist der Alois. Er hat uns manchmal geholfen, wenn wir mit der Arbeit nicht mehr über die Runden gekommen sind. Er hat sich auch mit dem Kurt ganz prima verstanden. Die anderen Kinder im Dorf haben sich oft über den Kurt lustig gemacht, aber der Alois hat denen dann eine aufs Maul gegeben. Bald hat sich keiner mehr getraut, meinen Buben zu verspotten.«

Ich trete näher heran. Der junge Mann zwischen dem toten Ehemann von Frau Obermeier und dem jüngst Verstorbenen lässt seine Schultern hängen, besitzt ein freundliches Lächeln, das seine kalten starren Augen und sein dichtes wirres Haar kontrastieren. Wieder läuft ein Schauer über meinen Rücken, ohne dass ich weiß warum. Irgendwas mit dem Kerl stimmt nicht.

»Kurt, mein Junge. Müsste eigentlich gleich nach Hause kommen.«

»Ihr Sohn lebt bei Ihnen?«

»Natürlich, wo denn sonst?«

»Ich dachte nur. Hat er keine eigene Familie?«

»Familie? Dazu bräuchte er ja eine Frau. Einen wie meinen Kurt will ja keine. Und er will auch keine. Nein, Herr Kommissar. Mein Bub ist und bleibt bei mir. Wo ist er heute bloß? Ist schon den ganzen Vormittag unterwegs.« Sie geht zur Tür und vor das Haus.

Ganz so wie eine Ehefrau, die ihren Liebsten von der Arbeit erwartet.

»Nein, mein Kurt braucht keine Frau.« Sie scheint für einen Augenblick unsere Anwesenheit vergessen zu haben. Dann wendet sie sich wieder uns zu: »Ist wie der Karl, der vorhin die Lisa herausgetragen hat. Der findet sich auch keine.«

Es ist Zeit für uns zu gehen. Im Augenblick werden wir ohnehin nichts mehr erfahren. »Danke, Frau Obermeier. Wir gehen dann jetzt. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte an.« Ich drücke ihr die obligatorische Visitenkarte in die Hand. »Und was glauben S’, Herr Kommissar. Wer hat den Alois umgebracht?« Ich zucke nur die Schulter und lasse Maria und ihre Neugier zurück.

Maria

Marias Blick folgte den beiden Männern, bis sie hinter einem der Einsatzfahrzeuge verschwanden. Langsam drehte sie sich um und ging zurück ins Haus. Sie dachte an Lisa. Das arme Ding! Sie hatte beobachtet, wie der Loibl Karl – der Bub vom Dietmar, der genau wie ihr Kurt keine Frau fand und der gleich nach der Schule zur Polizei gegangen war – das Mädchen herausgetragen hatte und wie es dann von den Sanitätern fortgebracht worden war. Und in der Scheune? Da lag der Alois! Ihr Nachbar seit Menschengedenken. Alois, mit dem sie hier am Fuße des Ossers ihre Kindheit verbracht hatte. Mit dem sie erst gespielt und Jahre später noch mehr gemacht hatte. Damals, als ihr Korbinian – Gott hab ihn selig – im Krankenhaus gelegen war, weil ihn der Max, das Kaltblut, getreten hatte. Und jetzt war er tot, der Alois.

Ein seltsames Gefühl machte sich in ihr breit, das sie so schnell nicht mehr verlassen würde. »Wo ist nur der Bub?«

Sie hatte Kurt den ganzen Tag noch nicht gesehen.

Erstes Zwischenspiel

Was für ein Aufstand! Polizei und Rotes Kreuz und Massen von Schaulustigen. Dabei war doch nur ein alter Mann gestorben. Zugegeben, die Todesart war schon spektakulär und der Anblick der Leiche noch mehr. Es war schon erschreckend anzusehen gewesen, wie sich das Eisen durch Alois’ Kopf gebohrt hatte. Was für ein Zufall, dass die Spitze des Sappie nach oben gezeigt hatte und auch nicht verrutscht war, als der Kopf des Alten darauf gefallen war. Das Ergebnis war fast noch besser als die Idee mit dem Zeichen der Osserriesen. Wie perfekt Kreis und Dreieck doch geworden waren. Fast schon genial, die Widerstandsgruppe gegen das Pumpspeicherwerk ins Spiel zu bringen. Jeder in Sankt Ulrich würde die Verbindung zu Alois Huber erkennen. Und trotzdem! So unvermeidlich der Tod des Alten auch gewesen war: Beinahe wäre alles schiefgegangen. Da war das Mädchen gewesen. Lisa. Oh Mann! Wie gut, dass sie blind war, und noch besser, sich sofort ein Tuch vor den Mund zu halten und die Stimme zu verstellen. Lisa! Ihr durfte nichts geschehen. Ob es richtig gewesen war, sie miteinzubeziehen?

»Opa war nur der Erste.«

Zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Es war eine spontane Idee gewesen, geboren aus der Situation.

Soweit von hier oben zu erkennen war, löste sich die Menge auf dem Ledererhof langsam auf. Anscheinend hatten sie nichts mehr zu begaffen. Die Leute hatten genug gesehen, um die nächsten Kaffeerunden und die Dorfstammtische mit Tratsch zu füllen. Nur die Polizei war noch da. Hier oben, am Rande des Waldes, ließen Ruhe und Frieden nichts von dem Geschehen dort unten erahnen. Es war an der Zeit, aufzubrechen.

Ich

Ich stecke noch immer in meiner Wanderkleidung und langsam meldet sich mein Magen. Da kommt es ganz gelegen, dass wir Mel und Karl in der Post