Bayerisch Kalt - Manfred Faschingbauer - E-Book

Bayerisch Kalt E-Book

Manfred Faschingbauer

5,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Als Moritz Buchmann zu einem Autounfall gerufen wird, ahnt er nicht, dass die goldenen Herbsttage, die er im Bayerischen Wald verbringt, bald in Blut versinken werden. Die verkohlte Leiche des rumänischen Geschäftsführers der in Kirchbach ansässigen Green Mountain Electronics ist dabei nur der Auftakt zu einer Reihe rätselhafter Morde, welche die Region am Regen in Angst und Schrecken versetzen. Moritz und seine Kollegen werden in einen Strudel der Gewalt gezogen und müssen erkennen, dass Mord nicht das schlimmste aller Verbrechen ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 482

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (2 Bewertungen)
2
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Manfred Faschingbauer

Bayerisch Kalt

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Blutiger Herbst im Bayerwald Kriminaloberkommissar Moritz Buchmann fühlt sich endlich im Bayerischen Wald angekommen. Doch das Verbrechen gönnt ihm keine Pause. Ein vermeintlicher Verkehrsunfall entpuppt sich als grausamer Mord am Geschäftsführer der Green Mountain Electronics (GME). Während Moritz und seine Regensburger Kollegin Melanie Güßbacher die Ermittlungen aufnehmen, schlägt der Täter erneut zu. Obwohl die Zusammenhänge zwischen den Opfern nicht zu übersehen sind, stehen die Ermittler vor einem Rätsel. Stecken die dubiosen Eigentümer der GME hinter den Taten? Haben sich die Toten mit dem organisierten Verbrechen angelegt? Oder ist der Gesuchte ein psychopathischer Einzeltäter? Unaufhaltsam werden die Ermittler in einen Strudel der Gewalt und Angst gerissen. Moritz muss erleben, wie sich sein Fall zu einer Gefahr für die nationale Sicherheit entwickelt. Und während die Katastrophe scheinbar nicht mehr abzuwenden ist, führen ihn die Ereignisse zurück in die dunkelsten Tage seines Lebens.

Manfred Faschingbauer, 1963 in Bad Kötzting geboren, lebt mit seiner Familie in Blaibach. Nach »Osserblut« und »Bayerisch Kalt« schickt er seinen Kommissar Moritz Buchmann in »Bayerisch Tot« erneut in seiner Heimat, dem Bayerischen Wald, auf Mördersuche.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

1. Fall: Osserblut

2. Fall: Bayerisch Kalt

3. Fall: Bayerisch Tot

4. Fall: Gnadenlos im Bayerwald

Impressum

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2020

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © gualtiero boffi / shutterstock

und © lomographic/photocase.de

ISBN 978-3-8392-5752-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

August 2015

Das Mädchen hatte Angst.

Angst vor der Dunkelheit.

Angst vor dem Sterben.

Ein vertrautes Gefühl. Kaum sechs Monate waren vergangen seit jener ersten Begegnung mit dem Tod. Auch damals war es dunkel gewesen. Auch damals hatte ihr die Hitze den Atem genommen. Dann waren die Stimmen gekommen. Ihnen waren Gesichter gefolgt und Hände, die sie aus den Trümmern ihres Elternhauses gezogen hatten.

Jetzt lauschte sie wieder in die Dunkelheit, suchte nach Stimmen. Doch sie kamen nicht. Nur das beständige Rauschen vorbeifahrender Autos drang in ihr Gefängnis. Alle anderen Geräusche waren verstummt. Das Schluchzen der Erwachsenen, das Weinen der Kinder, das Röcheln nach Luft. All das war immer leiser, immer weniger geworden, je öfter der Tod jemanden geholt hatte.

Ja, sie waren alle tot! Sie wusste, dass es viele waren. Nach und nach waren sie gestorben. Männer und Frauen, Jungen und Mädchen. Manche erlagen der Hitze, manche ihrem schwachen Herzen. Die meisten aber waren erstickt.

Ein gnädiger Tod, verglichen mit Khasibs Schicksal. Er war ihr Bruder gewesen. Er wurde nur drei Jahre alt.

Das Mädchen erinnerte sich an das große Fest, das ihr Vater gegeben hatte, als ihre Mutter Zwillinge geboren hatte. Jungen! Das nächste Fest zu Ehren der beiden würde eine Beerdigung sein.

Khasib und Alim. Verbrannt und erdrückt!

Sie wusste nicht, wie es passiert war. Als die Lichter der Handys langsam erloschen waren, hatte jemand versucht, mit einem Feuerzeug die Dunkelheit zu vertreiben. In der drückenden Enge des Wagens griff die Flamme nach dem kleinen Jungen. Eine Gefahr, die unter normalen Umständen leicht zu bannen gewesen wäre. Im Chaos der Todgeweihten war es jedoch niemandem gelungen, das Baumwollshirt des Kindes schnell genug zu löschen. Alle versuchten nur, Abstand zwischen sich und den Flammen zu halten. Und dabei hatten sie auch Alim getötet.

Alim! Auch er ihr Bruder, auch er drei Jahre alt. Zerquetscht zwischen sterbenden Leibern und der Wand des Wagens.

Vielleicht hatten sie ihn nicht einmal bemerkt. Vielleicht hatte die Angst sie gleichgültig gemacht gegenüber einem kleinen Jungen, der einer von ihnen und doch ein Fremder für sie war.

Die beiden Zwillinge waren fast zeitgleich zur Welt gekommen und fast zeitgleich waren sie gestorben. Und doch so unterschiedlich. Während Alim lautlos und still gegangen war, hallten Khasibs gellende Schreie noch immer in ihrem Kopf.

Es waren diese Schreie, die ihr Tränen in die Augen trieben. Nicht ihr eigenes Schicksal, nicht ihr naher Tod. Sie wusste, ihre beiden Brüder wären nicht auf diese Weise gestorben, wäre Bassam noch am Leben gewesen. Schließlich war er als Ältester ihrer Familie für seine Geschwister verantwortlich gewesen. Eine Verantwortung, die den 15-Jährigen dazu getrieben hatte, mit einigen anderen der Eingeschlossenen zu versuchen, die Hecktüren des Wagens aufzubrechen. Ein vergebliches Unterfangen, das er mit einem gebrochenen Taschenmesser und einer von der abspringenden Klinge aufgeschlitzten Schlagader bezahlt hatte.

Und wieder war es keinem der eng beieinander stehenden Gefangenen gelungen, einem der ihren zu helfen. Sie alle hatten zugesehen, wie Bassam mitten unter ihnen verblutete.

Irgendwann hatten sie alle Fluchtversuche aufgegeben. Sie hatten aufgegeben, mit ihren Handys jemanden zu erreichen, sie hatten aufgegeben zu beten, aufgegeben zu leben. Sie starben im Dunkeln, während draußen die Sonne auf ihr Gefängnis herabbrannte.

Hitze und der Gestank nach Urin, Schweiß und Verwesung raubten dem Mädchen das Bewusstsein.

Nur sie war noch am Leben. Noch einmal hörte sie die Stimmen. Die Stimmen, wie jene, die sie damals gerettet hatten und die jetzt nicht kamen. Noch einmal zog der lange Weg ihrer Reise an ihr vorbei. Länder und Städte, deren Namen in ihrem Leben aufgetaucht und wieder verschwunden waren. Die Zeit des Schreckens auf dem kleinen Boot, die Nächte im Freien und die Tage auf der Straße. Noch einmal erinnerte sie sich an ihren letzten Geburtstag. Ein paar Tage waren seitdem erst vergangen. Die Menschen, die sie an diesem Tag in ihr Haus aufnahmen, hatten ihr einen Kuchen gebacken. Fünf Kerzen hatte sie ausgeblasen. Das Mädchen wusste, dass es keine sechste mehr geben würde. Sie wusste, dass sie jetzt sterben würde.

Langsam wich die Angst. Die Schreie ihres brennenden Bruders blieben hinter einer Wand aus Watte zurück. Das Schwarz, das sie seit Stunden umgab, drang langsam in sie ein. Sie war bereit, in die Dunkelheit zu gehen.

Und die Dunkelheit kam!

Erstes Kapitel - Feuer -

Montag, 03.10.2016

Ich

»Komm schon! Wir schauen noch am Fußballplatz vorbei.«

Claudia nimmt meine Hand und zieht mich dorthin, wo Pfiffe und Schreie das sportliche Aufeinandertreffen des heimischen TSV Kirchbach mit einem mir unbekannten Gegner verraten. Noch vor nicht einmal zwei Jahren zeugten erbitterte Streitgespräche zwischen mir und Marcel von meiner Fußballbegeisterung. Ich, ein Bayernfan, er, ein waschechter Sechziger. Angesichts dieser Konstellation verwundert unsere langjährige Freundschaft schon ein wenig.

Hier in meiner neuen Heimat geht die angeblich schönste Nebensache der Welt weitgehend an mir vorbei. Ein paar flüchtig überflogene Zeitungsberichte, ein paar aufgefangene Gesprächsfetzen, wenn ich Rosi Geiger einen Besuch abstatte. Immerhin habe ich mitbekommen, dass der TSV dank eines großzügigen Sponsors nach Jahren in den Niederungen unterster Ligen wieder auf dem Weg nach oben ist. Wohl auch deshalb drängen sich die Fans beider Lager dicht an dicht auf der kleinen Tribüne vor dem Vereinsheim.

Alle Augen sind auf das Spielfeld gerichtet, als wir den Platz betreten. Niemand bemerkt uns, was mir wirklich gelegen kommt. Mir wäre es angenehmer, wir würden unseren kurzen Sonntagnachmittagsspaziergang über die Wiesen um Kirchbach allein fortsetzen, doch die Frau an meiner Seite gelüstet es wohl nicht nur nach einem Kaffee aus der Hand der Spielerdamen im Kiosk des Vereinsheims, sondern auch nach einem kurzen Tratsch mit ebendiesen. Ungeniert drängt sie sich durch die Menge und entschwindet meinem Blick. Ich hingegen sehe mich umringt von Männern jeden Alters. Ich versuche, etwas vom Geschehen auf dem Platz mitzubekommen. Gerade wird ein Spieler im weißen Trikot von seinem Gegner mit einem Bodycheck gegen die Bandenwerbung befördert. Eine Szene, die empörte Rufe und nicht druckreife Schimpfwörter nach sich zieht, während die Menge hinter dem linken Tor abfällige Worte und Handbewegungen von sich gibt. Fußball sei schließlich kein Mädchensport und überhaupt sei das gar kein Foul gewesen und der Schiedsrichter halte sowieso zu den Kirchbachern. Wahrscheinlich sei der auch vom neuen Sponsor gekauft. Wenn dem so ist, dann hat dieser aber die Geldbörse nicht weit genug geöffnet, denn auch die Kirchbacher um mich herum haben den Feind des Tages ausgemacht: den eigentlich Unparteiischen, der dem TSV den Elfmeter verweigert habe, als dieser Fünfer, der sowieso ständig nur auf die Beine geht, den Sebastian Schieder umgehauen hat. Und überhaupt liege man nur wegen diesem Kerl in Rückstand und wenn das so weitergehe, dann werde das nichts mit der Kreisligameisterschaft und dem Aufstieg in die Bezirksliga.

Kurz überlege ich, was ich hier in der Provinz eigentlich mache, doch nach wenigen Minuten des unbeteiligten Zuhörens muss ich zugeben, dass sich die Gespräche und Diskussionen der Menschen hier kaum von denen der Anhänger meines Clubs in der Allianz Arena unterscheiden. Spielklasse hin oder her: Fußballfans sind überall gleich.

Ein junger Mann Mitte 20 schiebt sich vom Kiosk her kommend der Gruppe entgegen, die neben mir steht. Bemüht, nichts vom kostbaren Nass zu verschütten, konzentriert er sich auf die zwei Weißbiergläser in seinen Händen. Angekommen reicht er eines weiter, was ihm mit einem knappen »Merci« gedankt wird. Der Aufgabe entledigt lässt er den Blick durch die Runde schweifen und prompt erkennt er mich: »Ah, Herr Kommissar. Auch mal am Fußballplatz? Ham S’ derzeit nichts zum Ermitteln?« Jetzt haben mich auch die anderen bemerkt. Einige grüßen durch ein kurzes Nicken, andere adeln mich mit einem wohlwollenden »Servus«.

Schau einer an! Vielleicht hat es sich ja doch gelohnt, sich mal kurz unters Volk zu mischen. Ich will mich ja nicht gerade bei den Einheimischen hier anbiedern, aber als Außenstehender möchte ich in Kirchbach auch nicht leben. Und das kleine Dorf im Regental ist nun mal zurzeit meine Heimat. Der positive Anstoß zu dieser Entscheidung kam natürlich von Claudia, die zwar noch immer des Öfteren auswärts für ihren Arbeitgeber unterwegs ist, es aber dennoch für angemessen hielt, meinen Wohnsitz in ihr Elternhaus zu verlegen.

Ich wäre aber nicht Moritz Buchmann, gäbe es nicht auch einen negativen Grund für meinen Umzug von meinem geliebten München in die ostbayerische Provinz. Und dieser liegt nun fast eineinhalb Jahre zurück und hat mit drei Toten, einigen Verletzten und noch so manch anderem Ungemach droben im Osserwinkel zu tun. Nicht nur meine Vorgesetzten sind der Meinung, der leitende Ermittler Kriminaloberkommissar Moritz Buchmann hätte da so einiges verhindern können. Nicht alles wohlgemerkt, aber doch so einiges. Ich teile ihre Meinung. Nicht uneingeschränkt, aber es gibt da schon so einige kleine Teufel, die in mir nagen.

Auch wenn Claudia und mein neuer Freund Karl versuchen, mir das Gegenteil einzureden. Die Engel lügen. Es sind die Teufel, die die Wahrheit sagen, auch wenn sie sich immer größere Pausen gönnen. Hin und wieder jedoch, in den Nächten, da meine Gedanken alleine sind, höre ich ihre durchdringenden, leisen Stimmen: Du bist schuld! Daran kann auch die Zwangsversetzung weg aus München nichts ändern.

Die Kriminalpolizeistation Deggendorf hat sich für mich inzwischen zu einem akzeptablen Schauplatz meiner Heldentaten entwickelt. Kein LKA mehr, keine Sondereinsätze. Dafür kleinere und größere Verbrechen bis hinein in den Bayerischen Wald. Ohne Sven als Partner und ohne Melanie. Dafür näher bei Claudia, zu der ich kurz nach meinem Dienstantritt in der Donaustadt zog und damit zum Kirchbacher wurde.

Und als solcher interessiere ich mich selbstverständlich für die örtliche Fußballmannschaft! Was ich sofort unter Beweis stelle: »Wie steht’s denn eigentlich?«

»1 : 3«, kommt die Antwort aus mehreren Kehlen. Die Erklärung für diesen aus Kirchbacher Perspektive inakzeptablen Zustand wird gleich mitgeliefert. Der Schiri, natürlich. Und ein gewisser Nadim. Der nicht einmal hier ist. Das verstehe ich nicht, werde aber augenblicklich aufgeklärt.

»Der Nadim. Das ist unser Iraker«, erklärt ein leicht angetrunkener Jugendlicher, den ich schon mal in Feuerwehruniform gesehen habe.

»Quatsch! Ein Syrer«, wird er prompt verbessert. »Spielt seit dieser Saison beim TSV.«

»Genau«, bestätigt wieder ein anderer. »Der Nadim wohnt in Kötzting und arbeitet drüben beim Lazar.«

»Wo?«

»Na, im Gewerbegebiet drüben in Kreuzbach. Bei der GME. Die haben ihn angestellt, weil er ein super Fußballer ist, der Nadim. Wenn der und der Miro spielen, hat kein Gegner in dieser Liga eine Chance.«

Miro? Auch hier folgt die Erklärung ohne weitere Frage.

»Miroslav Dobry. Unser Tscheche. Der arbeitet nicht beim Grigo, sondern für den Fürsten.«

Anscheinend bin ich heute hergekommen, um mir wirres Zeug anzuhören. Doch dann wendet sich das Blatt. Bürgermeister Alois Huber betritt die Szene. Selbstredend, dass er dem Spitzenspiel seines Vereins beiwohnt. Ich habe ihn bisher nicht bemerkt. Er erkennt meine Irritation.

»Grigore Lazar. Eigentümer der GME und Fußballfan. Er hängt eine Menge Geld in die Mannschaft und hat zudem Nadim Hemedi in seiner Firma beschäftigt. Nadim kam letztes Jahr mit dem Flüchtlingsstrom nach Deutschland und im Herbst nach Kirchbach. Miroslav Dobry spielt auch bei uns. Er ist bei der Arber-Bergbahn beschäftigt und die gehört dem Fürstenhaus Hohenzollern. Natürlich wollten ihn auch andere Vereine, besonders der SV St. Ulrich. Ich weiß ja nicht, wie viel ihm die GME bezahlt, aber wenig ist es nicht.«

Profiverhältnisse in der Kreisliga. Diese Entwicklung habe ich anscheinend verpasst.

»Ja, aber es stimmt nicht, dass der Nadim nur bei uns ist, weil er gut Fußball spielt«, meldet sich der Erste wieder zu Wort. Offensichtlich profitiert auch er von der Neuansiedlung der GME in Kirchbach. »Der Nadim ist ein richtig guter Asyli. Der hat echt was auf dem Kasten. Handwerklich, meine ich und auch im Köpfchen. Bei uns kümmert er sich um alles und besonders um unsere Fahrzeuge. Wir haben ja einen ganz ansehnlichen Fuhrpark. Kleinere Sachen macht da alle der Nadim.«

Ein guter Asyli! Soso!

Und dann passiert es. Der TSV, nein, Miro Dobry schießt ein Tor. Der TSV ist wieder im Spiel. Schlagartig schwenkt die Aufmerksamkeit aller von mir zum Fußballgeschehen. Die Stimmung, zwischendurch am Tiefpunkt, nähert sich dem Siedepunkt und kocht dann endgültig über. Vom Anstoß weg gelingt einem mir unbekannten Spieler – aus der eigenen Jugend, wie mir sofort zugerufen wird – das 3 : 3. Und so endet die Partie dann auch.

Dem lang anhaltenden Applaus und kollektiven Aufatmen folgt der Abmarsch der Menge, die mich mit sich reißt und aus der Sportanlage hinaus auf die Straße spült. Claudia folgt wenige Minuten später. Vorbei an der Autoschlange machen wir uns auf den Weg nach Hause.

»Nicht zu glauben, was in so einem kleinen Dorf alles passiert.« Meine Lebensgefährtin fühlt sich verpflichtet, mich an den Dorfneuigkeiten teilhaben zu lassen. Ob ich das überhaupt will, spielt keine Rolle. Mein Schweigen ermuntert sie, weiter zu erzählen. »Die Verena Lazar hat doch tatsächlich einen Geliebten. Sagen die Jasmin und die Kathy jedenfalls.«

Spielen denn heute alle verrückt? Sogar meine Freundin bombardiert mich mit mir unbekannten Namen. Sie sieht mich kurz an, glaubt Interesse zu sehen, wo keines ist, und meint: »Die Verena ist die Schwester von der Barbara, die mit mir zur Schule gegangen ist. Sie hat diesen Geschäftsführer von der Firma da drüben geheiratet.« Ihr Blick geht in Richtung Kreuzbach. »Seither fährt sie ein großes Auto und spielt die feine Dame.«

»Sagen die Jasmin und die Kathy«, deute ich meine Ansicht über diese brandheißen Informationen an.

Claudia lässt sich jedoch nicht beirren. »Genau! Und jetzt hat sie ein Verhältnis mit diesem Fußballer.«

»Dem Nadim?«

»Nadim? Wer ist das denn? Nein, dem gut aussehenden da. Der die Tore vorhin geschossen hat.«

»Ach so. Der Miro! Es war aber nur ein Tor. Das andere hat ein Jugendspieler aus Kirchbach geschossen.«

Ist sie beeindruckt von meinen Kenntnissen der örtlichen Fußballszene? Kein Fünkchen.

»Na, jedenfalls sieht er gut aus.«

Vielleicht wollen ihn deshalb die Jasmin und die Kathy ja auch und tratschen deshalb das angebliche Verhältnis im Dorf herum? Ich behalte diesen Gedanken jedoch verborgen, will ich doch Claudia kein neues Futter geben, dieses überflüssige Gespräch zu vertiefen.

Fünf Minuten gehen wir schweigend nebeneinander her. Stellt sie sich gerade vor, wie dieser Miro jetzt unter der Dusche aussieht? Gut möglich. Aber den hat sich ja die Verena Lazar, geborene Schweiger, schon geangelt. Sagen jedenfalls die Jasmin-und-Kathy-News. So ein Pech aber auch.

Als wir endlich das Haus ihrer Eltern erreichen, überrascht sie mich mit ihrer Frage: »Wer hat eigentlich gewonnen?«

»Keiner! 3 : 3, unentschieden.«

»Ach so.«

Typisch Frau. Keine Ahnung von Fußball.

Silvian

Langsam wich das Dunkel milchigem Grau. Was zum Teufel war passiert? Der Versuch, sich zu erinnern, wurde von einem stechenden Schmerz bestraft. Stöhnend öffnete er die Augen. Das Stechen wanderte in seinen Brustkorb. Irgendetwas da drinnen musste gebrochen oder gerissen sein. Er lag vornüber auf dem Lenkrad, was nur den Schluss zuließ, dass der Wagen an einem steilen Abhang stand. Die Fensterscheibe hing lose im Rahmen und seine Beine fühlten die Kunststoffverkleidung des Kleinlasters.

Den Grund dafür erkannte er im nächsten Augenblick. Unmittelbar vor ihm entriss das Licht des Vollmondes die raue Rinde eines Baumes dem Halbdunkel. Ein Ast ragte neben ihm ins Führerhaus.

Mann, da hatte er aber noch einmal Glück gehabt. Ein paar Zentimeter, und er wäre aufgespießt worden wie ein Brathähnchen überm Grill.

Sein nächster Gedanke verbannte das kurze Glücksgefühl in eine dunkle Kammer. Von wegen Glück! Er saß gehörig in der Tinte. Warum nur musste er auch wieder fahren wie ein Irrer? Hatte ihn nicht Verena tausendmal gebeten, vorsichtiger zu sein?

Vorsichtig! Das Gegenteil von Lebensfreude. Er liebte es nun mal, schnelle Wagen auszufahren. Dabei musste er zugeben, seine Frau hatte recht. Zumindest heute. Mit diesem Wagen, mit dieser Ladung. Doch was blieb ihm übrig? Sicher, sein Onkel sorgte mit dem Job bei der GME dafür, dass es ihm gut ging. Aber er wollte seiner hübschen Frau noch mehr bieten.

Nein, nicht mehr – alles. Er liebte Verena. Es war seine Pflicht als Mann, ihr zu beweisen, dass sie ohne ihn nicht mehr sein konnte. Deshalb war der Tipp eines der tschechischen Mitarbeiter der GME drüben, in Domažlice, gerade zur rechten Zeit gekommen. Der Zuverdienst sollte ihm die Möglichkeit geben, seiner Frau alles zu bieten.

Und es hatte ja auch wunderbar geklappt.

Bis jetzt! Sollte die Polizei den Kleinlaster der Firma gründlich durchsuchen, würde sie den doppelten Boden im Laderaum finden und darin die Ware. Das wäre sein Ende. Grigore würde ihm das nie verzeihen. Nicht nach allem, was bisher passiert war.

Aber warum war er überhaupt in diese missliche Lage geraten?

Er versuchte, die Zeit ein paar Minuten zurückzudrehen. So furchtbar schnell hatte er die Kurve doch gar nicht genommen. Nun gut, langsam schrieb sich anders, aber er hatte nie das Gefühl gehabt, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Hatte er nicht sogar abgebremst? Und war das Pedal nicht leer durchgegangen?

Der Schmerz in der Brust wurde unerträglich, das Atmen zur Qual. Er stützte die Hände aufs Lenkrad, biss die Zähne zusammen und drückte sich langsam nach hinten. Besser, viel besser, dachte er.

Er versuchte, den Kopf zu bewegen, und da sah er es. Der Schatten eines Menschen stand direkt neben dem Seitenfenster. Unbeweglich und stumm beobachtete er ihn. Wie lange schon?

Hilfe, dachte er. Dann sagte er es: »Hilfe! Helfen Sie mir hier raus!«

Die Gestalt reagierte nicht. Hörte sie ihn nicht? Er holte tief Luft – so tief es seine schmerzende Lunge zuließ – und wiederholte diesmal lauter: »Helfen Sie mir!«

Endlich kam Bewegung in die Gestalt. Ohne einen Laut von sich zu geben, bückte sie sich. Das Gesicht blieb im Schatten der Nacht verborgen. Nur das Weiß der Augen und der Zähne, die ein Lächeln in diesem Gesicht verrieten, blitzte im Mondlicht auf.

Was soll das? Warum hilft mir der Kerl nicht?, dachte er.

Plötzlich war da etwas anderes, Neues. Ein Gluckern, dann ein scharfer, beißender Geruch. Nässe durchdrang seine Hose, dann seine Jacke. Der nächste Gedanke mündete in Panik.

Benzin!

Der Fremde schüttete Benzin in den Wagen! Er ließ das Steuerrad los, wollte den Türgriff packen, diesen Irren da draußen stoppen, doch es ging nicht. Er verstand nicht warum, aber er konnte seine Hände nicht bewegen.

Was? Warum?

Ein letzter Versuch einer rationellen Analyse der Situation. Wer hat denn meine Hände ans Lenkrad gefesselt? Und warum?

Die Frage, bereits auf seinen Lippen, verließ diese nicht mehr. Sie wurde zurückgehalten von der winzigen Flamme des Streichholzes, die draußen aufflammte und für einen Sekundenbruchteil das Gesicht des Fremden der Dunkelheit entriss.

»Du?«

Seine Stimme wurde zum Krächzen. Nein, durchzuckte es ihn. Nein, bitte nicht das! Seine Augen sogen sich an der kleinen Flamme fest, folgten, wie diese näher kam, zur Fackel wuchs und schließlich zur Sonne wurde. Eine Sonne, die auf seinem Schoß landete.

Sekunden später gellten seine Schreie durch den Wald.

Ich

Der Abend verspricht besser zu werden, als es die Stunde auf dem Sportplatz erwarten ließ. Verena, Jasmin und Kathy und auch der gut gebaute Miro sind kein Thema mehr. Wir genießen die laue Nacht auf der Hollywoodschaukel im Garten. Ein Gläschen Rotwein für mich, ein Weißer für Claudia und über uns die Sterne. Es könnte kaum romantischer sein. Wäre da nicht mein Handy, dessen nervender Klingelton in Konkurrenz mit dem Konzert der Grillen tritt und diese in puncto Lautstärke locker schlägt.

»Such dir doch endlich mal einen angenehmeren Klingelton«, mault Claudia. »Es gibt da unendlich viele.«

Genau das ist das Problem. Das Angebot macht mir die Auswahl zur Qual und so lasse ich es gleich bleiben. Außerdem verstehe ich nicht, was ein angenehmer Ton bewirken soll. Am Ende höre ich diesem lieber zu, als abzuheben?

Es ist Karl Loibl. Überqualifizierter Landpolizist und Freund.

»Servus, Moritz!«

»Servus, Karl! Was gibt’s? Ich hoffe, nichts Dienstliches.« Wohl kaum, denke ich. Zumal unsere Zuständigkeitsbereiche durch die Bezirksgrenze zwischen Niederbayern und der Oberpfalz fein säuberlich getrennt sind. Diesmal jedoch anscheinend nicht.

»Leider doch dienstlich. Ich hoffe, ich störe euch nicht bei etwas Wichtigem?«

Claudia, die Hollywoodschaukel, die Sterne und der Wein. Alles in allem schon ganz schön wichtig. Aber ein Anruf Karls am Abend dieses Feiertags lässt ebenfalls Bedeutendes vermuten.

»Wenn du Claudias Gesicht sehen könntest, würdest du gleich wieder auflegen.«

»Ich würde Claudias Gesicht viel lieber sehen als deines. Gleich, welche Laune sie hat.«

Na so was. Karl als Charmeur. Wusste ich noch gar nicht.

»Grüß dich, Karl«, meldet sich die Angebetete aus dem Hintergrund. »Lass dich nicht abwimmeln. Moritz schiebt doch ohnehin nur Langeweile. Er sitzt nur bei mir, um mich von einem tollen Fußballspieler abzulenken.«

Also doch! Kann sie meine Gedanken lesen? Ist diese Gabe im zweiten X-Chromosom versteckt? Ich ziehe eine Grimasse und flüchte mich zu Karl. »Also, was ist los?«

»Ein Unfall. Kleinlaster gegen Baum. Ich bin hier oben zwischen Wettzell und Viechtach. Ziemlich üble Sache. Ein Toter.« Kurz und prägnant. Karl eben. Doch was geht mich das an? Ich bin – wie sagt man so schön im Behördendeutsch – weder sachlich noch örtlich zuständig. Ein Unfall ist ein Unfall und kein Mord. Und Wettzell gehört zu Bad Kötzting, Cham und der Oberpfalz, während sich das Feld meiner Schlachten auf Niederbayern beschränkt. Noch ehe ich Karl diese Überlegungen offenlegen kann, fährt er fort: »Ich weiß, du bist kein Verkehrspolizist, aber das ist auch kein gewöhnlicher Unfall, glaub mir.«

»Kein gewöhnlicher Unfall? Was meinst du damit?«

»Komm einfach her und schau dir die Sauerei selber an, okay?«

Eigentlich nicht, aber wenn Karl mich bittet, dann sage ich nicht Nein. Nicht nach allem, was wir beide im letzten Jahr zusammen erlebt haben. »Also gut. Ich bin in 15 Minuten da.«

»Danke. Und grüß Claudia von mir!«

»Mach ich«, sage ich und auf ein Zeichen von ihr: »Liebe Grüße auch von ihr.«

Damit lege ich auf. Schulterzuckend sehe ich sie an. »Ich muss noch mal weg.«

»Geht klar. Wenn Karl ruft.« Sie sagt das weder ärgerlich noch schnippisch. Auch sie weiß, was Karls Freundschaft bedeutet. Auch für Jana.

»Hast du eine Ahnung, warum er deinen Rat nicht angenommen hat und nicht zur Kripo gegangen ist? Er ist doch deiner Meinung nach ein außergewöhnlich talentierter Polizist.« Sie beantwortet ihre Frage mit einer weiteren. »Denkst du, es ist wegen Jana?«

»Vielleicht ist Jana nicht der einzige Grund, wohl aber der wichtigste. Sie könnte ohne Karl niemals ein zweites Leben beginnen. Nicht nach dem, was sie durchgemacht hat.« Und nicht nach dem, was sie getan hat. Dieses Geheimnis bleibt jedoch unausgesprochen zwischen ihr, Karl und mir.

»Außerdem liebt er sie.«

»Ich dich auch.« Ich beuge mich zu ihr hinab und küsse sie auf die Lippen.

»Und jetzt verschwinde«, meint sie. »Ich gönne mir noch ein Glas Wein und dann lass ich meine Gedanken mal in die Umkleidekabine des TSV wandern. Mal sehen, wie sich dieser Miro so unter der Dusche macht.«

Jetzt ist es amtlich: Sie kann meine Gedanken lesen!

*

Blaues Blitzlichtgewitter zerreißt das Dunkel der Nacht und verrät die Unfallstelle schon von Weitem. Die reflektierenden Leuchtstreifen von Feuerwehruniformen tauchen vor mir auf. Zwei junge Männer bedeuten mir, anzuhalten. Mein aus dem Fenster gehaltener Dienstausweis öffnet mir die Absperrung. Rechts neben der Straße weisen umgeknickte Sträucher und dünne Bäume den Weg des Unfallautos. Ich steige aus, sehe einen Kollegen von der PI Bad Kötzting, der mir den Weg weist. »Guten Abend, Herr Buchmann. Kein schöner Anblick da unten.«

Das hört sich ja wenig verheißungsvoll an. Die Feuerwehr hat die Szenerie gut ausgeleuchtet, sodass ich ohne größere Schwierigkeiten den kurzen, aber steilen Abhang hinabklettern kann. Das Unfallfahrzeug ist ein weißer VW-Kleintransporter. An der Seite verrät in grünen Lettern die Aufschrift Green Mountain Electronics den Eigentümer des Haufens Schrott. Denn mehr ist von dem Wagen nicht übrig geblieben. Eine Kiefer hat die Fahrt des Wagens nicht nur gebremst, sie hat sich auch als stärker als Blech und Metall erwiesen. Außerdem scheint es, als habe der Wagen gebrannt.

Ich ahne, was mich erwartet, und ich weiß, es wird mir nicht gefallen. Zusammen mit den bleichen Gesichtern der Feuerwehrleute und dem vielsagenden Empfang oben an der Straße bedarf es keiner weiteren Erklärungen. Mein Herz beginnt zu rasen, Schweißperlen laufen über meine Stirn. Plötzlich ist alles wieder da. Die Ereignisse des letzten Jahres, mühsam in einen Winkel meiner Erinnerungen verbannt und doch ständig unter der Oberfläche erkämpfter Normalität treibend. Für ein paar Herzschläge wird mir dunkel vor Augen. Ich lehne mich an einen Baum, atme tief durch. Die anderen dürfen nichts davon mitbekommen. Vor allem Karl nicht, der mir von unten zuwinkt. Der Schatten streicht vorbei und verschwindet. Ein letztes, tiefes Einatmen, dann gehe ich weiter bis zum Fahrerhaus des Wagens.

»Verbrannt?« Ich schüttle Karl die Hand. Der nickt. Ich schließe kurz die Augen, dann folgt mein Blick dem Schein seiner Taschenlampe. Hell erleuchtet sie ein grausiges Bild, das lieber verborgen geblieben wäre.

Der Fahrer – wieso bin ich mir sicher, dass es ein Mann ist? – oder das, was von ihm noch übrig ist, sitzt seltsam aufrecht hinter dem Steuer. Das Feuer hat ihn bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Von einer Kleidung ist auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen. Die Haut wirft an einigen Stellen riesige Blasen, hängt in Fetzen an ihm. Anderswo wirkt sie verkohlt. Am schlimmsten hat es den Kopf erwischt. Ein kahler Schädel mit leeren Augenhöhlen und einem weit aufgerissenen Mund starrt uns an. Der Tote scheint zu grinsen, doch ich weiß, dieser Mensch hat in seinen letzten Sekunden nur gelitten und geschrien.

Aber noch immer erkenne ich nicht, was das mit mir zu tun hat. Alles sieht nach einem Unfall aus. Bis zu dem Augenblick, da Karl den Schein der Lampe hinunter zum Lenkrad wandern lässt. Dort bleibt er zitternd an den Händen des Toten hängen. Mein Blick sucht die Augen Karls. Dann schaue ich noch einmal in den Wagen, zum Lenkrad, auf die Hände des Toten.

Jetzt verstehe ich, warum Karl mich gerufen hat.

*

»Was? Handschellen? Heißt das …?«

Obwohl Mitternacht bereits hinter uns liegt, hat Claudia auf mich gewartet. Sie muss den Satz nicht vollenden. Ja, das heißt es!

Der noch Unbekannte wurde ermordet!

Ob sein grausamer Tod so beabsichtigt war, kann ich nicht sagen. Wenn ja, dann … Ja, dann habe ich es mit einem außergewöhnlich sadistisch veranlagten Täter zu tun. Ich kann nur hoffen, dass dem nicht so ist. Ich wage es nicht, mir das Gegenteil auszumalen. Das übernimmt Claudia.

»Gefesselt und verbrannt. Mein Gott! Wenn das so geplant war, dann muss der Täter ja so richtig krank sein.«

»Vielleicht war das Feuer ja so nicht beabsichtigt«, hoffe ich. »Wie dem auch sei, ich muss morgen ganz früh in die Dienststelle. Sicher weiß Kussinger schon Bescheid und wartet auf mich.«

»Bist du überhaupt zuständig?«

Höre ich da einen winzigen Hauch Hoffnung in ihrer Stimme?

»Der Unfall ist genau an der Landkreisgrenze passiert. Deshalb waren die Kollegen von der PI Bad Kötzting vor Ort. Dann sind auch die Viechtacher gekommen und tatsächlich: Zehn Meter fehlen, und die Regensburger müssten sich um den Fall kümmern.« Und damit Mel, füge ich in Gedanken hinzu. Meine Lieblingskollegin wurde endlich für ihre Leistungen in den letzten Jahren belohnt. Die neue Leiterin der Fachkommission K1 bei der Kripo Regensburg heißt seit einigen Tagen Melanie Güßbacher.

Gratuliere!

Auch dazu, dass sie diesen Fall nicht lösen muss. Damit muss sich wohl oder übel Moritz Buchmann von der Kriminaldienststelle Deggendorf herumschlagen.

»Manchmal gäbe es Schöneres, als einen Kriminalbeamten zu lieben«, dringt Claudias Stimme in meine Gedanken. Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals und drückt mir einen Kuss auf den Mund. »Jetzt sieh zu, dass du dich schlafen legst! Wie es aussieht, hast du morgen einen langen Tag vor dir.«

»Das mit Sicherheit«, stimme ich ihr zu. Ich weiß aber auch, dass es sinnlos ist, jetzt Schlaf zu suchen. Den werde ich in dieser Nacht nicht finden. Auch sie weiß das. Und sie ahnt, was in mir vorgeht. Claudia hat meinen letzten Mordfall miterlebt.

Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals und blickt tief in meine Augen. »Du schaffst das!«

Auch dafür liebe ich sie.

Maschiach

Die Augen, die ihn anstarrten, verrieten keine Gefühle. Wut, Trauer, Angst, Liebe, Freude, Glück. All dies war ihnen fremd. Was er in diesen Augen fand, war eine seltsame Teilnahmslosigkeit. Das Unabänderliche war eingetreten. Die Dämonen waren zurückgekehrt und sie machten sich auf, fürchterlich Rache zu nehmen. Lange Zeit hatte er sie besiegt geglaubt, sie gar verspottet. Doch nun waren sie wieder da. Es waren die Dämonen seiner Jugend.

Schon damals hatten sie in ihm gewütet, ihn zu diesen Taten getrieben. Die Erinnerung schwebte gleich einer bleichen Wolke an ihm vorbei.

Es war die Erinnerung an Mäuse, Katzen und Hunde.

Die Erinnerung an Piepsen, Kreischen und Jaulen.

Die Erinnerung an Jungen und Mädchen. An Entsetzen und Schmerz, an Angst und Schreie.

Und die Erinnerung an Glück, an Erregung, an tiefste Befriedigung. Die Anspannung der Muskeln, das Kribbeln der Haut, das Rauschen des Blutes in seinen Adern, das Gefühl von Macht beim Überschreiten dieser letzten Grenze.

All das war früher gewesen und er wähnte es vorbei, begraben im Dunkel der Vergangenheit.

Jetzt war es wieder da! Alles war wieder da. Wie wenig es doch bedurft hatte, die Dämonen erneut zu wecken. Und nicht nur sie. Da war etwas Neues. Etwas ungemein Befriedigendes. Die Kokosstreusel auf dem Schokoladenkuchen.

Er hatte es nicht gespürt, als er die Handschellen gekauft hatte in diesem Erotikshop, in dem sich niemand an den Mann mit dem schwarzen Bart und den langen Haaren erinnern würde. Zumal der Bart und die Haare längst in einer Mülltonne lagen.

Auch jetzt nicht, da die Bilder noch einmal an ihm vorbeizogen: der Mann, hilflos gefesselt. Der kurze Moment der Hoffnung. Das maßlose Entsetzen in seinen Augen im Augenblick des Verstehens. Nicht einmal die herrlichen Schreie aus dem Feuer hatten dieses Gefühl hervorgerufen. All das war es nicht gewesen. Es war etwas anderes.

So neu! So erregend!

Es war die Frau gewesen, die mit ihrer Geschichte den Begriff zum ersten Mal in sein Bewusstsein gepflanzt hatte. Er erinnerte sich daran, ein Werk begonnen zu haben. Und an das Versprechen, es später zu Ende zu führen. Er erinnerte sich daran, sie alle erlöst zu haben. Doch dann waren die Jahre des Glaubens gekommen und hatten die Dämonen in eine dunkle Kammer seines Kopfes gesperrt. Jetzt waren sie wieder frei.

Waren sie je aus seinem Geist verbannt gewesen? Er glaubte nicht mehr daran. Warum sonst hatte er alles unternommen, um die Geschehnisse, die heute ihren Anfang nahmen, ins Rollen zu bringen?

Spürte er Enttäuschung darüber? Nein, dachte er. Denn da war ja noch dieses Neue, bisher Unbekannte.

Es war Gerechtigkeit! Jawohl!

Gerechtigkeit!

Die Toten seiner Jugend, diese Glückseligen, die das Privileg genossen hatten, von ihm erlöst zu werden, diese zufällig Auserwählten, sie waren vergessen.

Silvian Lazar war der Auserwählte der Gegenwart. Er hatte den Tod verdient. Mehr als das. Er hatte genau diesen Tod verdient!

Für einige Sekunden senkte er den Blick. Dann starrte er wieder in diese Augen.

Was verrieten sie?

Entschlossenheit?

Ja, das war es! Er war entschlossen, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Die Zeit der Zweifel war vorbei. Er war kein Mörder. Er war ein Werkzeug der Gerechtigkeit. Er war Maschiach.

Auch die anderen sollten büßen. Alle!

Noch nie hatte ihn solche Erregung ergriffen. Langsam wandte er sich vom Spiegel ab. Die Augen verschwanden. Ohne besondere Eile ging er ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett.

Sein Schlaf war tief und traumlos.

Dienstag, 04.10.2016

Ich

Wie vermutet, brachte die Nacht wenig Neues und noch weniger Schlaf. Obwohl ich das Getriebe der Zahnräder in meinem Kopf nicht abschalten konnte, haben diese nichts geliefert. Ohne erste Fakten der Kriminaltechnik und der Gerichtsmedizin wäre dies zu erwarten auch mehr als vermessen. Die Kollegen der Spurensicherung sind noch am Werk und so beschränken sich die ersten Hinweise auf die Angaben der Kfz-Zulassungsstelle. Letztendlich liefern sie mir nur den Halter des Kleinlasters. Und das ist eine Firma. Die Green Mountain Electronics zu Kirchbach kann sich ein neues Lieferfahrzeug besorgen. Die Identität des Fahrers muss erst noch durch einen DNA-Abgleich bestätigt werden. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Person, die wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen dem Feuer übereignet wurde, der Geschäftsführer der GME war. Jedenfalls dann, wenn es neben Silvian Lazar nicht mehrere Silvians in der Gegend gibt.

Was eine Gravur im Ehering und ein Blick auf eine Firmenhomepage doch alles verraten.

*

Wie von Claudia prophezeit, wartet Kriminalrat Kussinger an diesem Montagmorgen bereits auf mich. Der Chef der Kriminalpolizeistation Deggendorf war nicht erfreut, einen vermeintlich abgehalfterten Kommissar aus München zugeteilt zu bekommen. Natürlich hat er seine Kontakte zum Landeskriminalamt spielen lassen. So ist ihm nicht verborgen geblieben, warum man dort der Meinung ist, Moritz Buchmann sei für die Landeshauptstadt nicht mehr geeignet. Ob das nur am Verlauf der Ermittlungen im Fall Alois Huber liegt? Immerhin wurden diese von jeder Menge Blut begleitet.

Das allein kann es aber nicht sein.

Vielleicht bin ich jemandem beim LKA schon länger ein Dorn im Auge.

Vielleicht hat jemandem auch meine Personalakte nicht gefallen.

Deggendorf erweist sich als ganz passabel, zumal mein neuer Chef nach ein paar Wochen und einigen aufgeklärten kleineren Delikten ganz zufrieden mit mir ist.

Jetzt aber steuere ich mit vollen Segeln in einen Fall ganz anderen Kalibers. Mit öffentlicher Aufmerksamkeit, Medienrummel und allem Drum und Dran.

Bernd Kussinger hat die Gefahr sofort erkannt. »Wenn es das ist, was ich befürchte, dann haben wir es vielleicht mit einem Mehrfachtäter zu tun. Sie wissen, was das bedeutet, Buchmann?«

Klar weiß ich das: Finden Sie ihn, bevor weitere Morde passieren!

Er muss es nicht sagen. Ich verstehe ihn auch so. Trotzdem muss ich mich allein mit der Sache rumschlagen. Die Personalpolitik des Freistaats hat auf die Pensionierung meines Kurzzeitkollegen der ersten Tage in Deggendorf noch nicht reagiert.

Wie also soll ich jetzt vorgehen? Natürlich bin ich ein erfahrener Ermittler und dies ist nicht mein erster spektakulärer Fall.

Etwas jedoch fehlt. Besser gesagt, jemand. Melanie Güßbacher, meine Lieblingskollegin. Seit einem Jahr beschränkt sich ihr Kontakt zu mir auf eine Internetfreundschaft und einige Kurzbesuche im Bayerischen Wald. Stefan Kellermann, mein Teamkollege aus früheren Jahren, klettert derweilen unaufhaltsam auf der Karriereleiter des BKA nach oben und Sven Straubmann, nun ja, Sven hätte mein neuer Partner werden können, wäre ich noch für das LKA München tätig.

Das, was ich in der Anfangszeit unserer Bekanntschaft nie für möglich gehalten habe, ist eingetreten. Ich hätte Sven gern an meiner Seite, zumal er im Gegensatz zu mir ein ausgewiesener Computerexperte ist. Allein schon der Gedanke an Stunden vor dem Bildschirm ruft Übelkeit in mir hervor. Und Surfen gehört auch nicht zu meinen bevorzugten Sportarten.

Um diese Unannehmlichkeiten zu umgehen, werde ich Sven bitten müssen, ein paar Recherchen für mich anzustellen. Nebenbei natürlich! Mal sehen, was er gerade so macht.

*

Mein Anruf sorgt bei Sven für unerwartete Begeisterung. Seit er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, verbringt er den Großteil seiner Zeit im Innendienst. Obwohl er nicht geschont werden möchte, denken seine Vorgesetzten, dass sie genau das tun müssen, und verkennen dabei, dass sich Sven nach einem Einsatz an der Front sehnt. Doch bis dahin wird die Sonne wohl noch einige Male auf die Nackten im Englischen Garten herabscheinen. Da ist es nur recht und billig, seine Langeweile mit ein bisschen Mord zu bekämpfen. Wenn auch nur vom Bürostuhl aus. Sven wird mein Tor zur Welt der Informationen. Und die benötige ich dringend.

Zuerst über die Green Mountain Electronics und deren Geschäftsführer.

»Ich mach mich sofort an die Arbeit«, verspricht Sven. Ich möchte mich verabschieden, doch er holt noch einmal tief Luft. Ich ahne, was kommt, und dennoch habe ich Angst davor.

»Moritz, du … weißt hoffentlich, dass ich dir nichts nachtrage.«

Seltsam. Seit unserem gemeinsamen Fall im Osserwinkel ist ein Jahr vergangen und doch haben wir bisher keine Gelegenheit gefunden, uns darüber auszusprechen. Warum gerade jetzt?

»Das, was passiert ist, wäre so oder so geschehen«, fährt er fort. »Außerdem war es meine eigene Schuld. Ich hätte nicht allein zu Kurt gehen dürfen.«

Wahrscheinlich hat er recht. Bei Betrachtung aller Umstände sogar mit Sicherheit. Und dennoch! Was soll ich jetzt sagen?

Soll ich erzählen, dass ich oft mitten in der Nacht aufwache? Schweißgebadet und zitternd.

Dass ich träume von ihm? Aufgespießt und durchbohrt von unzähligen Zacken des Heuwenders.

Dass ich von Jochen Schreiner träume, von seiner Frau und seiner blinden Tochter?

Soll ich ihm erklären, dass ich ganz froh bin, nicht mehr beim LKA zu sein, sondern in Deggendorf? Froh, seither mit keinen Morden konfrontiert worden zu sein?

Soll ich ihm gestehen, dass von seinem einstigen Vorbild nicht mehr viel übrig ist?

Und soll ich von dem Mann berichten, dessen verkohlte Haut in Fetzen an ihm herunterhängt, dessen Augen in ihren Höhlen geschmolzen sind? Davon, dass ich in der letzten Nacht schreiend hochfuhr? Dass Claudia, vor der ich meinen Zustand so lange verborgen glaubte, mich in die Arme genommen hat? Dass sie mir versicherte, seit Langem zu wissen, wie es um mich steht? Dass sie mir versprach, alles würde wieder gut werden?

Soll ich ihm sagen, dass ich Angst habe?

Nein, ich werde weder ihn noch jemand anderen in den Strudel meiner Gefühle hineinziehen. Also beschränke ich meine Antwort auf Svens Freispruch, auf ein schlichtes »Danke«. Ich hoffe, er versteht auch so.

Sven verabschiedet sich und lässt mich und meine Gedanken zurück.

Noch während diese weiter durch meinen Kopf flattern, öffnet sich die Tür und Doris Späth schießt herein. Trotz der frühen Stunde strotzt sie vor Tatendrang. Schwungvoll platziert sie einige Blätter Papier auf meinen Tisch und noch ehe ich sie mir genauer ansehen kann, ist sie schon wieder verschwunden. Dagelassen hat sie die Berichte der Kriminaltechnischen Untersuchung und der Gerichtsmedizin. Und den DNA-Abgleich.

Silvian Lazar. Wie erwartet.

Die medizinische Abteilung bestätigt meine Befürchtungen. Er war noch nicht tot, als ihn das Feuer verzehrte. Bis jetzt hatte ich gehofft, mich zu irren, doch nun ist es amtlich. Der Täter wollte Silvian nicht nur töten. Er wollte ihn quälen. Ein Racheakt? Eine Warnung für andere? In jedem Fall die Tat eines kaltblütigen Mörders, der ein Zeichen setzen wollte, oder die Tat eines kranken Sadisten.

Und was hat die KTU? Ich lese den Bericht zweimal, versuche mir alle Fakten einzuprägen. Der Täter hat Silvian mit einem Brandbeschleuniger bespritzt und ihn angezündet. Von dort hat sich das Feuer auf den Wagen ausgebreitet. Der Unfall war vorbereitet und vorhersehbar gewesen. Die Bremsleitungen haben versagt. Ich habe etwas in der Art bereits vermutet. An der Unfallstelle gab es keine Bremsspuren.

Ich stehe auf und sehe zum Fenster hinaus. Wie muss ich mir das vorstellen? Der Täter bearbeitet die Bremsleitungen des Firmenwagens. Er weiß vielleicht, welche Strecke Silvian in dieser Nacht fahren wird. Warum? Er muss sein Opfer kennen. Aber er weiß nicht, wann die Bremsen versagen werden. Er muss also seinem Opfer folgen und hoffen, dass der geplante Unfall irgendwo zwischen zwei Ortschaften passiert. Er muss Handschellen dabeihaben. Woher hat er diese? Eine Aufgabe für die KTU. Er muss Benzin in einem Kanister mit sich führen. Er muss zu allem entschlossen und nicht zuletzt sadistisch veranlagt sein. Denn kein normales Gehirn plant, einen Menschen bei lebendigem Leib zu verbrennen.

Ich brauche jetzt einen Kaffee. Auf dem Weg zum Automaten grüße ich automatisch Kollegen und Kolleginnen auf dem Flur, ohne sie richtig wahrzunehmen. Und dann muss ich mich doch noch mit einem von ihnen beschäftigen. Gerhard Schweiger fühlt sich genötigt, mir von einer aufregenden Jagd auf jugendliche Autoknacker zu berichten. In allen Details natürlich. Möglicherweise für ihn spannend, für mich angesichts meiner Probleme jedoch im unteren Bereich der kriminalistischen Dringlichkeitsskala angesiedelt. Gerhard sieht das ganz anders und die betroffenen Autobesitzer sicher auch.

Nach 15 Minuten gelingt es mir endlich, ihn abzuschütteln. Erleichtert aufatmend erreiche ich die Sicherheit meines Büros. Dort verkündet ein Klingeln, dass ein Anrufer schon auf mich wartet.

Sven! Eine knappe Stunde schien ihm zu reichen, um die ersten Informationen zu besorgen. Seine Stimme klingt völlig normal. Hat er unser Gespräch von vorhin so schnell abgehakt?

Für mich völlig überraschend gestand er mir, ein schlechtes Gewissen wegen meiner Versetzung weg aus München zu haben. Natürlich weiß ich, dass weder Sven noch sein Landtagsonkel hier ihre Hände im Spiel haben. Und auch mein Ex-Chef nicht. Schulz hat sogar dafür gesorgt, dass ich nicht in Hof oder Coburg landete. Deggendorf, eine Stunde Fahrzeit von München entfernt, sollte doch ganz in Ordnung sein?

Letztendlich hat wohl meine Personalakte den Ausschlag gegeben. Meine früheren Alkoholeskapaden waren der Inneren schon immer ein Dorn im Auge.

Nachdem ich das Sven erklärte, war für ihn die Angelegenheit erledigt. Auch für mich? Ich muss es versuchen. Das bin ich auch ihm schuldig.

»Also«, eröffnet er seinen Kurzbericht, »die Green Mountain Electronics, kurz GME, ist eine GmbH mit Sitz in Kirchbach. Dort bist du doch seit Neuestem zu Hause?«

Richtig, dort bin ich zu Hause. »Ja. Ich kenne das Firmengebäude. Wurde letztes Jahr im Gewerbegebiet an der Staatsstraße drüben eröffnet. Ein modernes Gebäude aus Beton und Glas. Das Umfeld gepflegt und einladend. Das Geschäft scheint nicht schlecht zu laufen.«

»Kann ich so bestätigen. Die GME produziert in Tschechien, Polen und Rumänien Elektrokomponenten für Zulieferer der Auto- und Medizinindustrie. Und solche gibt es ja einige in eurer Gegend. Der Warenverkehr läuft fast ausschließlich über den Grenzübergang Furth im Wald. Ein kleiner Kundenkreis ist auch in der Rüstungsindustrie zu finden. Denkst du, das wäre ein Ansatz?«

»Möglich, ja. In kaum einem anderen Metier wird so viel Geld umgesetzt. Das zieht das Verbrechen an wie Blumen die Bienen.«

Der Gedanke führt mich zum nächsten: Polen, Rumänien, Tschechien. Namen für die Drogenautobahn in den Westen. Wahrscheinlich werde ich meinen Kumpel Wolfgang wieder belästigen müssen.

»Der Betrieb beschäftigt fast 150 Leute, davon 20 in der Zentrale in Kirchbach«, fährt Sven fort. »Geschäftsführer war dein Toter. Silvian Lazar war gebürtiger Rumäne, seit zwei Jahren in Deutschland. 34 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder. In Rumänien Volksschulabschluss, kein Abitur, keine Wirtschafts- oder kaufmännische Ausbildung.«

Alle Achtung. Sven weiß, worauf es ankommt. Er stellt die Frage unausgesprochen in den Raum: Wie bringt es jemand ohne entsprechende Ausbildung zum Geschäftsführer einer international tätigen, erfolgreichen Firma? Und er liefert die Antwort gleich mit.

»Eigentümer der GME sind zwei Brüder, die gleichzeitig die Onkel unseres Verblichenen sind. Ludovic und Grigore Lazar stampften den Betrieb vor zwei Jahren aus dem Boden. Da war wohl eine Menge Geld im Spiel. Es gab eine Vorgängerfirma, von der die GME offensichtlich die Produktpalette und den Kundenstamm übernahm. Nach einigen Monaten in einer gemieteten Halle in Straubing haben sie sich entschlossen, dass es für sie eines repräsentativeren Gebäudes bedarf. Ihre Wahl fiel auf Kirchbach. Dort kauften sie ein Grundstück und eröffneten im November 2015 ihren neuen Firmensitz.«

Wieder eine unausgesprochene Frage. Warum in der Provinz und nicht in Regensburg oder zumindest Straubing oder Deggendorf? Diesmal bleibt Sven die Antwort schuldig.

»Scheint ja ein regelrechter Familienbetrieb zu sein«, kehre ich zu seinem Bericht zurück.

»Jedenfalls sind die beiden Lazars strafrechtlich ein unbeschriebenes Blatt. Jedenfalls offiziell.«

Es folgt die für ihn typische Kunstpause. Drei Atemzüge Spannungserhöhung, dann fährt er fort: »Also habe ich wieder einmal die allgemein zugänglichen Wege des Internets beschritten. Bei Google taucht der Name der Firma in erster Linie im Zusammenhang mit dem TSV Kirchbach auf.«

»Als Sponsor.«

»Genau. Aber ich habe auch noch einen Zeitungsartikel gefunden. Ein Lokalreporter hat im Rahmen der Serie ›Unternehmen im Landkreis‹ einen Bericht über die GME gebracht. Dabei hat er auch Mitarbeiter befragt. Das Betriebsklima dort scheint hervorragend zu sein. Den Beschäftigten ist es auch erlaubt, firmeneigene Fahrzeuge zu Privatzwecken zu nutzen.«

»Wie es unser Mordopfer getan hat.«

»Nun, als Geschäftsführer dürfte das für ihn kein Problem gewesen sein. Was aber, wenn er dies allen Mitarbeitern erlaubt hat, um seine Fahrten mit den Kleintransportern unauffällig aussehen zu lassen?«

»Du denkst, er hat diese Touren öfter gemacht?«

»Jedenfalls gestern. Warum war er an einem Feiertag mit einem Firmenfahrzeug unterwegs?«

»Die er ungebremst an einem Baum beendete. Die Frage habe ich mir auch schon gestellt. Es gibt nur eine Antwort.«

»Er wollte etwas transportieren. Etwas, das zu groß für ein normales Auto war.«

»Und etwas, das es zu verstecken galt«, vervollständige ich seinen Satz. »Warum sonst nachts und heimlich?«

»Und hinter dem jemand anders her war«, führt Sven den Gedanken fort.

»Sein Mörder? Warum aber dann die Feuershow?«

»Ablenkung? Spuren verwischen? Keine Ahnung. Das musst du noch herausfinden.«

»Und du noch ein bisschen mehr über die Brüder Lazar.«

»Jawohl, Chef. Da mach ich mich doch gleich an die Arbeit.«

»Hast du denn überhaupt Zeit dafür?«

»Mein lieber Herr Kommissar. Zeit ist das Einzige, das ich im Überfluss habe.«

*

Ein paar Sekunden später wähle ich die Nummer von Kurt Amberger. Der Ingenieur leitet die KTU des Polizeipräsidiums Straubing und ist damit auch für die Außenstelle Deggendorf verantwortlich.

»Herr Buchmann? So früh schon? Haben Sie unseren Bericht noch nicht erhalten?«

Meine bisherige Zeit in Deggendorf hat für ein Du zwischen uns noch nicht gereicht. Dem Ärger in seiner Stimme zu folgen, wird es auch heute nicht dazu kommen. Zumal wir eine kultivierte Abneigung gegen den jeweils anderen pflegen.

»Ihnen auch einen schönen Tag, Herr Amberger. Doch, schon. Schnell und präzise wie immer. Keine Sorge. Ich weiß doch, dass Ihr Team stets das Beste gibt. Ich wollte Sie nur bitten, sich den Wagen etwas genauer anzusehen.«

»Wir haben uns den Wagen sehr genau angesehen, glauben Sie mir.«

Ich zögere eine Sekunde. Zu lange für Kurt Amberger.

»Sind Sie noch da?«

»Ja, bin ich. Ich meinte nicht die Unfallursache. Es besteht die Möglichkeit, dass Herr Lazar etwas transportieren wollte.«

»Ach ja? In einem Kleinlaster?« Ärger ist jetzt Spott gewichen. »Da war nichts. Der Laderaum ist völlig leer.«

»Der Laderaum schon«, überhöre ich die Häme in seiner Stimme. »Haben Sie nach einem möglichen Versteck gesucht?«

»Versteck? Äh, nein. Warum sollten wir auch?«

»Dann tun Sie das bitte. Und rufen Sie mich an, wenn Sie etwas finden.«

*

Die kommende Begegnung ist nicht geeignet, meine Laune zu bessern. Wieder einmal bin ich der Überbringer der schlechten Botschaft. Wenigstens ist Verena Lazar vorgewarnt. Spätestens seit die Mitarbeiter der Rechtsmedizin letzte Nacht bei ihr wegen des erforderlichen DNA-Abgleichs vorstellig wurden, muss sie sich mit dem Gedanken beschäftigt haben, Witwe zu sein. Ein Haar aus Silvians Kamm brachte schließlich den endgültigen Beweis, dass der verkohlte Torso der letzten Nacht einmal ihr Ehemann gewesen war.

Bis dass der Tod euch scheidet, eben. Und ich bin es jetzt, der ihren letzten Funken Hoffnung, sofern dieser noch glimmt, löschen muss.

Während der Fahrt nach Moosbach, dem Wohnort des jungen Paares, gehe ich noch einmal in Gedanken die ersten Fakten durch. Ich werde Verena damit konfrontieren müssen, dass der Täter ihren Mann nicht nur töten wollte. Er wollte Silvian lebendig verbrennen! Nicht der Wagen hat sich beim Unfall entzündet. Er war es, der zuerst gebrannt hat. An der Flucht gehindert durch Handschellen aus dem Erotiksortiment einer einschlägig bekannten Handelskette. Nicht sonderlich stabil, aber feuerfest genug, um nicht in der Flammenhölle des Fahrerhauses zu schmelzen. Für den Zweck ausreichend eben. Die Kollegen versuchen, den Laden und Näheres über einen möglichen Käufer herauszufinden. Ein dünner Faden Hoffnung, an den sie sich klammern. Nach meiner Erfahrung verschenkte Zeit.

Silvian Lazar war zum Zeitpunkt seines Todes trocken wie ein Schwamm in der Wüste, sagt die Gerichtsmedizin. Kein Alkohol, keine Drogen, keine Medikamente. Er starb an einem neurogenen Schock, ausgelöst durch die kaum vorstellbaren Schmerzen.

Vielleicht eine Enttäuschung für den Täter? Warum diese Art des Todes? Eine Warnung? Rache? Vergeltung?

Oder auch, und davor habe ich am meisten Angst: Freude am Leid des anderen. Ein Psychopath und Sadist wäre das Letzte, was ich hier im Bayerischen Wald haben möchte.

Hier nicht und nirgendwo.

*

Das Haus, das Verena Lazar nun allein bewohnen wird, ist nicht zu übersehen. Am Ortsrand Moosbachs gelegen, hebt es sich durch seinen modernen Baustil von den übrigen Gebäuden des Dorfes ab. Schon der Garten des mit einem herrlichen Blick über die Hügel des Bayerischen Waldes gesegneten Anwesens riecht förmlich nach Geld. Silvians Geschäftsführergehalt konnte sich offensichtlich sehen lassen.

Ob er deshalb diese attraktive Frau abbekam? Verena Lazar hat alles, was man von einer schönen Frau erwartet. Auch die tiefen Ringe um die geröteten Augen, die eine Nacht mit Tränen, wenig Schlaf und vielen Ängsten verraten, können das hübsche Gesicht nicht verunstalten.

»Kommen Sie herein«, bemüht sie sich um Fassung, ohne meinen Dienstausweis, den ich gewohnheitsmäßig zücke, auch nur anzusehen. Sie führt mich in ein riesiges Wohnzimmer. Durch eine vollverglaste Außenwand fällt der Blick hinaus in den Garten. Auch hier grüßen aus jeder Ecke Wohlstand und Reichtum.

»Frau Lazar. Ich muss Ihnen leider sagen, dass die DNA-Proben übereinstimmen. Der Tote ist Ihr Mann. Es tut mir wirklich leid.«

Sie nickt mechanisch. Obwohl sie mit diesem Ergebnis rechnen musste, ist es doch immer wieder dieser Augenblick der letzten Gewissheit, der dem Menschen die Endgültigkeit des Todes vor Augen führt. Erschöpft lässt sie sich in einen der Sessel fallen und stützt den Kopf in die Hände. Sie sagt nichts. Was sollte sie auch? Ich lasse ihr einige Sekunden, beobachte, wie ihre Augen groß werden. Ein Wort meiner Vorstellung hat die richtige Stelle in ihrem Kopf erreicht.

»Kriminalpolizei! Warum Kriminalpolizei? Silvian hatte doch einen Unfall? Ich habe ihn immer wieder gebeten, nicht so zu rasen. Er hat nie auf mich gehört. Er liebte schnelle Autos. Es war doch ein Unfall?«

Jetzt wird es richtig übel. Ich hole tief Luft. Und dann erzähle ich ihr von Feuer und Handschellen.

Die junge Frau, die seit dieser Nacht Witwe ist, läuft ziellos durch den Raum. Endlich bleibt sie vor mir stehen.

»Sie wollen mir sagen, dass Silvian ermordet wurde? Nein, nicht ermordet. Verbrannt! Wollen Sie das sagen?«

Ihre Augen starren mich an. Wie auch soll sie das Unglaubliche glauben?

»Frau Lazar, bitte setzen Sie sich.« Ich nehme sie bei der Hand und führe sie zur Couch. »Ich weiß, diese Frage klingt naiv, aber sie gehört nun mal zum Programm: Hatte Ihr Mann Feinde? Ich meine, Feinde, die ihm so einen Tod wünschen.«

Sie atmet tief durch. »Geschäftlich weiß ich das nicht, aber privat sicher nicht. Er hatte sogar ziemlich viele Freunde.«

»Durch sein Engagement für den Fußball?«

»Das sicher auch. Aber auch in der Firma war Silvian gern gesehen. Das Betriebsklima dort soll sehr gut sein. Die Bezahlung übrigens auch.«

»Wie lange schon kennen Sie Ihren Mann?«

Sie blickt auf ihre Hände, den Ring an der rechten. »Ich habe Silvian zum ersten Mal in Straubing getroffen. Beim Eishockey. Die Tigers haben gegen die Augsburg Panthers gespielt. Ich war mit Freunden dort. Silvian saß eine Reihe hinter mir. Nach der Schlusssirene hat er mich aufgehalten und gefragt, wer gewonnen hat. Er sagte, er habe die ganze Zeit nur mich angesehen und keine Minute des Spieles mitbekommen. Ich fand das lustig und romantisch zugleich. Wir haben unsere Handynummern ausgetauscht. Tja, so ging es los. Silvian war nett und charmant. Und er hat mich auf Händen getragen. Und das auch noch nach unserer Hochzeit. Wir haben vor vier Monaten geheiratet.«

So viel zum Kirchbacher Geheimdienst. Jasmin und Kathy müssen wohl ihre Ohren auf andere Neuigkeiten ausrichten. Verena Lazar hat ihren Mann nicht betrogen. Auch nicht mit diesem Schönling von einem Fußballer. Dessen bin ich mir ganz sicher.

Wieder blickt sie auf den Ring an ihrem Finger, zögert. »Das Haus haben wir gekauft. Der frühere Besitzer hat sich übernommen. Silvian sagte, es war ein Schnäppchen, was immer das heißen mag. Ich denke, es war noch immer teuer genug. Aber er war ja Geschäftsführer und hat richtig gut verdient.«

Seltsam, denke ich. Sie scheint über ihre finanzielle Situation kaum Bescheid zu wissen. Hat sie das alles ihrem Mann überlassen?

»Als Nächstes wollten wir ein Kind.« Sie kann jetzt die Tränen nicht mehr zurückhalten. Jahrelange Erfahrung hat mich gelehrt, für diese Situationen tiefster Verzweiflung gewappnet zu sein. Ich reiche ihr ein blütenweißes Taschentuch. Eine schmale Brücke des Vertrauens.

Die beiden waren eine deutsche Musterfamilie. Hochzeit, Haus, Kind. Wie gemalt. Bis gestern jedenfalls. Gestern entschied sich jemand, diesen Lebensplan zu durchkreuzen.

»Wie würden Sie Ihre Ehe bezeichnen? War es eine glückliche?« Diesmal zögert sie nicht. »Ja, das war sie. Ich war glücklich. Silvian war ein wunderbarer Ehemann.«

War! In dem Augenblick, da sie das Wort ausspricht, wird ihr erneut dessen Tragweite bewusst. Sie schließt die Augen und lehnt sich schluchzend zurück. Eine Minute später hat sie sich wieder gefangen. »Entschuldigung«, flüstert sie.

Ich nicke ihr zu. »Hatte Ihr Mann Familie? Ich meine, ist er allein nach Deutschland gekommen?«

»Er hatte keine Eltern mehr, wenn Sie das meinen. Aber er war nicht allein. Silvian hat zwei Onkel, die sich um ihn kümmern. Ich habe die beiden noch nicht oft gesehen. Eigentlich nur zur Hochzeit. Ja, da waren sie alle da. Auch jede Menge Cousinen und Cousins. Einige kamen sogar aus Rumänien. Silvian sagte, dort sei Familie alles und die Hochzeit eines Familienmitglieds zu versäumen undenkbar. Diejenigen, die in Deutschland leben, haben alle Karriere gemacht. Soviel ich weiß, fehlt es ihnen nicht an Geld. Das stimmt wohl, wenn ich an die Autos denke, mit denen sie damals vorgefahren sind.«

»Arbeiten bei der GME noch andere Verwandte Ihres Mannes?«

Sie überlegt kurz. »In Kirchbach nicht, aber ich denke, in der Zweigstelle in Rumänien sicher. Aber genau weiß ich das nicht. Silvian hat nie viel über die Firma geredet.«

»War er oft geschäftlich unterwegs?«

»Ziemlich oft. Manchmal auch an den Wochenenden oder spätabends. Aber das brachte seine Stellung wohl so mit sich.«

»Hat er Ihnen gesagt, wohin er gestern Abend wollte?«

»Nein. Es war keine Seltenheit, dass er noch mal wegmusste.«

»Können Sie sich vorstellen, warum er einen Wagen der Firma genommen hat? Wo doch in Ihrer Garage wahrlich kein Notstand herrscht und er laut Ihrer Aussage gern schnelle Autos fuhr. Wieso da ein Lkw?«

Sie schüttelt den Kopf. Sie weiß es wirklich nicht. Ihr Mann ließ sie offensichtlich über so manche Dinge im Unklaren. Und sie machte sich keine Gedanken über seine Geschäfte. Entweder ist Verena Lazar von einer gewissen Naivität geprägt oder – und davon gehe ich aus – ihr privates Glück reichte ihr. Warum auch nicht?

»Nein, er nimmt öfter Fahrzeuge der Firma. Das ist dort allen Mitarbeitern erlaubt.«

Sie spricht wieder in der Gegenwart von ihm. Noch immer hat sie sein Tod nicht vollständig erreicht. Versteckt in einer Ecke ihres Bewusstseins lächelt Silvian ihr noch zu, hält er sie noch in den Armen.

Ich will sie nicht länger quälen. »Vielen Dank, Frau Lazar, dass Sie sich trotz der schwierigen Situation Zeit für mich genommen haben. Falls ich noch Fragen habe, kann es sein, dass ich noch mal bei Ihnen vorbeikomme.«

»In Ordnung. Wenn ich Ihnen helfen kann, den Mörder meines Mannes zu finden.«

Das kann ich ihr nicht versprechen. Nur, dass ich mein Bestes geben werde.

Grigore

Der Anruf erreichte Grigore auf halber Strecke zwischen München und Kirchbach. Die Freisprecheinrichtung seines Audi Q7 gestattete es ihm, mit unverminderter Geschwindigkeit weiter nach Osten zu fahren. Für gewöhnlich war er ein guter Fahrer, doch die Nachricht vom Tod seines Neffen warf ihn aus der Bahn.

Seltsam, dachte er. Früher hatte er nicht nur innerhalb der Familie als eiskalt gegolten. Dabei war er das nie gewesen. Er vermied es jedoch mit eiserner Disziplin, seine Gefühle nach außen dringen zu lassen. Disziplin, das war sein Credo, seit er denken konnte. Nur so hatte er es an die Spitze der Organisation geschafft. Damit und mit Härte und Grausamkeit.

Doch davon wollte er nichts mehr wissen. Diese Zeit war vorbei. Es galt, die Familie zu schützen. Auch vor dem Zugriff des Staates. Und deshalb mussten die Geschäfte sauber wie eine Schneeflocke im Winter aussehen.

Allein schon wegen Milan. Mit ihm hatte Grigores neues Leben begonnen. Der Sohn seiner Tochter Ada war nicht nur der erste in Deutschland geborene Lazar. Er war auch ein kleiner Engel, der das kalte Herz seines Opas mit jedem Lächeln ein Stück mehr schmolz. Ihn im Arm zu halten, war mehr wert als alles Geld dieser Welt. Milan verdiente es, nicht als Teil einer Familie aufzuwachsen, die von der Polizei und der Konkurrenz gejagt wurde. Nein, er sollte als unbescholtener Mensch durchs Leben gehen können.

Unbescholten und wohlhabend natürlich. Die Vergangenheit des Großvaters sollte ihm dabei nicht im Wege stehen. Er hatte alles für dieses neue Leben getan.

Die Firma: Sie sollte absolut sauber arbeiten. Keine Steuertricksereien, gute Bezahlung der Mitarbeiter, keine geschäftlichen Unregelmäßigkeiten.

Der neue Wohnort: nicht in einer Großstadt, nicht in einem der mondänen Orte an einem der Bilderbuchseen im Voralpenland. Ein kleines Dorf im Bayerischen Wald. Abgelegen und unauffällig. Hier konnte man die Anerkennung der Leute noch durch Höflichkeit und Hilfsbereitschaft gewinnen. Dazu das Engagement für die örtlichen Vereine. Das kam gut an. Alles lief wie geplant.

Und jetzt das! Silvian tot. Ermordet! Verbrannt!

Verena hatte Mühe gehabt, zwischen Tränen und Schluchzen die Einzelheiten zu schildern. Auch die Polizei war schon bei ihr gewesen.