Ostergewitter - Saskia Fischer - E-Book

Ostergewitter E-Book

Saskia Fischer

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Beschreibung

Ein Osterfest wie aus dem Bilderbuch: das Wetter prächtig und die ganze Familie versammelt um den Ostersonntagmittagstisch. Da kippt Aleit, blauverfärbt und speichelschäumend, auf die Schulter ihres Stiefvaters – ein epileptischer Anfall. Ohne Grunderkrankung, doch nicht ohne Grund. Die Ärzte zucken die Schultern, aber Aleit schaut genauer hin. Was sie sieht, ist der Genesung nicht zuträglich: Der eigene Mann versteckt sich hinter Jointschwaden, die Schwester hinter ihrer Unschuldsmiene; die Mutter vergräbt sich in den Erstlesebüchern aus der DDR-Schulzeit ihrer Kinder, und der Stiefvater verschwindet mit Aleits fünfjähriger Tochter in seinem verdunkelten Zimmer. Schon fährt der nächste Blitz Aleit ins Gehirn, und dergestalt erleuchtet, sieht sie die Chance gekommen, mit den Verleugnungsstrategien ihrer Familie endlich aufzuräumen … Wütend, unversöhnlich, voller Sarkasmus: In ihrem Romandebüt »Ostergewitter« schleudert Saskia Fischer Blitze und setzt ein Familienidyll, das in Wahrheit die Hölle ist, in Flammen.

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Seitenzahl: 256

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

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Ein Ostergewitter? Es kann nicht sein,

Sonntag

Lenin, sage ich auf Mutters Diagnose hin, war am Ende ein einziger Krampf. An Schnüren aufgehängt, stelle ich ihn mir vor, die Arme und Beine zucken; Gott, den er sein Leben lang zu vernichten suchte – ein rachsüchtiger Puppenspieler. Die Syphilis fraß ihm Löcher ins Hirn, die Schlaganfälle häuften sich und die epileptischen, bis er eines frühen Wintermorgens von einem fünfzigminütigen Grand Mal geschüttelt und von einem gänzlich ideologiefreien Grand Mort in einem majestätischen Schnabel davongetragen wurde.

Mutter schlitzt die Augen, nein, so was, sagt sie, dieser Bolschewistenspitzbart, wo kommt der denn auf einmal her?

Im Gegensatz zu Lenin, der bettlägerig war, habe ich am Tisch gesessen, wild mit den Füßen getrampelt, bin mit blau angelaufenem Gesicht zur Seite gegen Feindtlings Schulter gekippt und habe zum Fürchten Grimassen geschnitten. Christian hat Amina am Arm gepackt, los, raus hier! gerufen, als sei Fliegeralarm, sagt Mutter. Hast geschnaubt wie ein Tier. Mit zusammengebissenen Zähnen. Der Speichel zwischen den Lippen – rosa Blasen. Vom Zungenbiss. Richtiger Schaum.

Soso, gegen Feindtlings Schulter. Wie rührend! Als stecke ein Anlehnungsbedürfnis dahinter. Ausgerechnet an ihn, den ich ablehne wie nichts sonst. Ausgerechnet am Ostersonntagmittagstisch, zur Feier der Auferstehung.

Mutter beugt sich über das Sofa, auf das man mich gehievt hat, und zückt ein patronenähnliches Lämpchen. Sie wird mir doch nicht die Augen ausbrennen! Das Ding sieht aus wie Aminas Laserpointer, mit dem sie gern einen roten Punkt an die Wand wirft, weil dann die großelterliche Katze danach springt. Aber nie in die Augen damit, Amina, hörst du! Doch das Licht ist weiß und Mutters Krankenschwesterstrenge professionell, nicht tückisch. Ich muss meinen Namen sagen, mein Alter, den Wohnort – korrekt. Mein Blick folgt ihrem Zeigefinger von links nach rechts und wieder zurück, der Puls ist normal, die Blutdruckmanschette quetscht meinen Oberarm: niedrig.

Aleit, sagt sie, du musst einen Termin für eine Kernspin machen. Vielleicht ein Tumor. Veranlagung. Man weiß nie. Aus der Michael-Familie.

Natürlich, alles Krankhafte kommt von meinem Vater. Die sieben Jahre jüngere Hendrikje hingegen, Halbschwester und vom genetisch offenbar einwandfreien Stiefvater, führt bis auf pubertäre Ohnmachtsanfälle und eine viel zu früh geschlossene Ehe mit viel zu langer Scheidungsphase in den Augen unserer Eltern ein kerngesundes Leben mit Hauskauf, Neumann, Nagelneuauto und in solider Anstellung. Stadtverwaltung, da schlummern noch Talente. Während ich als Hausfrau ohne Haus und ohne mich je als Frau an der Seite eines Mannes, überhaupt eines Menschen, anfangs nicht einmal meiner Tochter, betrachtet zu haben, hochschädliche Anlagen in mir trage, das hat man aber der Abstammung wegen kommen sehen. Als Kind von so einem ist man nicht ganz normal, und das gerät mir gleich nach dem Aufwachen und dem ollen Lenin in den Kopf, dass sie jetzt wieder etwas zu lästern hat über die väterliche Seite meiner Herkunft. Weil der Vater und seine Verwandtschaft für DDR-Begriffe Sonderlinge waren, kirchennah und mit Privatbesitz. Musisch. Das scheint die schlimmste Eigenschaft. Weil der Sohn aus zweiter Ehe Pfaffe wurde, wie sie das nennt, und die Tochter Gesangsblättchen verteilt. Dinge, die ich ihr aus dem einzigen je geführten Telefonat mit Michael erzählt habe und die sie mir im Mund verdreht. Ich rief ihn letztes Jahr zu seinem Sechzigsten an, er stand im Telefonbuch. Der Sohn lehrt evangelische Theologie, und die Tochter verteilt keine Gesangsblättchen, sondern ist Organistin und Kantorin aus hochkarätiger Gewandhausschmiede. Und ich bin keine Hausfrau, sondern eine abgebrochene Universitätskarriere mit ungebrochener Geduld in Sachen Familie. Christian gestikuliert draußen auf der Terrasse. Er hat offenbar schon gepackt und kann es kaum abwarten loszufahren.

Feindtling hantiert nervös in der Garage. Er registriert, dass ich aus dem Haus komme und ins Auto steige, er hüstelt, aber er dreht sich nicht um, er vermeidet es, meine Mutter anzusehen, die mir die Tür aufhält, er drückt auch Aminas Hand zum Abschied nicht, mehr darf er von ihr ohnehin nicht anfassen. Dieses Ehepaar lebt wirklich in idealer Symbiose: Während die Medizinermutter stets die Symptome aufzählt, dieses marode, jenes defekt, benimmt ihr Mann sich wie ein nicht anschlagendes Medikament: in Deckung gehen, herumschleichen, Ausflüchte suchen.

Meine Eigenstrombehandlung ist mir offenbar gut bekommen, ganz neue Ansichten …, ach was, uralte, bloß neue Töne. Elektroschockanwendungen in der klinischen Psychiatrie, glaubte ich immer, würden die Patienten dümmlich machen und in sich gekehrt. Aber im Gegenteil, meine hier schüren die Familienglut! Ich wache auf und fürchte meine Mutter. Ich trete hinaus und sehe ihren mir verhassten Mann. Als hätte man meine gerissenen Kindheitsnerven wieder zusammengelötet, und jetzt stehe ich in Flammen. Ich würde ihnen gern dazu passend die Zunge rausstrecken, aber jede Bewegung im Mund schmerzt, die gesamte rechte Seite der Zunge ist angeschwollen und wie ausgefranst.

Amina sitzt schon in ihrem Kindersitz hinter mir, dann kann es ja losgehen, einen Termin für Aleit, sagt Christian zum Fenster hinaus, ja, wir rufen dich an, und hebt die Hand zum Gruß. Feindtlings Kopf taucht kurz im dunklen Garagenviereck auf, aber da biegen wir auch schon um die Ecke. Christian sagt, paar Stündchen früher nach Hause ist doch kein Beinbruch, hm?, und drückt bereits auf der Landstraße ordentlich aufs Gas und schaltet ins ruhiger laufende E.

Christian wischt mir mit einem feuchten Waschlappen den Mund ab, das Kinn, und ich sehe am Stoff: schon wieder Blut! Was ich dann sehe: die Deckenlampe im Wohnzimmer meiner Eltern. Wir sind doch von hier weggefahren. Ich hatte dieses E angestarrt; ich erinnere mich, es gedreht und gewendet zu haben zu einer Drei, Musik und Harmonie, die Drei und das E, vielleicht lief im Radio ein besonderes Lied, oder es sind mir die Drei Hasen im Schnee eingefallen, mein erstes Kinderbuch, in Versen geschrieben. Ich brachte mir mit fünf oder sechs Jahren damit das Lesen bei, ich sagte die Wörter auswendig auf und verglich die Laute mit dem Schriftbild. Ach, all die As, die ich in der Freien Presse mit einem Stift einkreisen musste, eine allabendliche Strafarbeit meiner Mutter, wofür eigentlich? Es hätte mir den Spaß am Lesen lernen gründlich verderben müssen, tat es aber nicht, die Wörter gefielen mir, wenngleich ich deren Inhalt nicht verstand, und Trotz und Auflehnung hätten die Strafarbeit nur noch vermehrt. Das also war es, was innerlich verkümmerte, die Lust auf Revolte, und nun prescht sie hervor nach mehr als dreißig Jahren, entstellt und bissig, eine Anomalie, na, wenn das nicht ein schönes Nervenleiden ist, da steckt richtig Bums dahinter. Christian sagt, ich habe im Auto mit den Füßen aufgestampft und den Oberkörper mehrmals mit voller Wucht gegen die Rückenlehne geworfen, die eingenickte Amina sei davon aufgewacht, habe aber zum Glück nichts gesehen, kein fratzenschneidendes Muttergesicht.

Sie kommt herein und kann mich nicht auf dem Sofa liegen sehen. Sofort will sie Fahrstuhl spielen. Ich ziehe die Knie an, und sie legt sich mit dem Bauch auf meine Fußsohlen, ich muss sie mindestens sieben Etagen hoch und runter bewegen.

Nicht jetzt, sagt Christian und hält sie mir vom Leib. Meine Waden schmerzen vom Krampf. Ob ich heute noch mal auf die Beine komme?, frage ich. Keine Sorge, sagt Christian, er habe bereits wieder ausgepackt.

Warum hast du mich nicht in ein Krankenhaus gebracht?, frage ich. Vielleicht ein Gehirntumor, und jede Minute zählt.

Weil man dich dort behalten hätte und ich mich dann ein, zwei Wochen um Amina kümmern müsste, was schlichtweg gerade nicht geht, du weißt doch, meine Projekte, winselt er.

Deine Projekte!, schieße ich zurück.

Ja, ein Projektil gegen seine Projekte. Unmöglich, einen Streit zu beginnen, wenn Amina dabei ist, und er geht auch schon mit ihr hinaus in den Garten. Ganz recht, hütet euch vor meinem bis zur Ausrenkung beißwütigem Kiefer, vor meiner gespaltenen Zunge. Der Herr Projektleiter sitzt den lieben langen Tag in seinem Luftschutzkeller, seinem Büro im Souterrain, wo er lichtlos und erfolglos an seiner Karriere als Grafiker bastelt, wie er sagt, bastelt. In der Sadomasoszenesprache nennt man das Umbauen von unauffälligen Wohnmöbeln zu sessionstauglichen Hänge- und Streckvorrichtungen basteln. Ob er sich da unten in seiner Selbstfolterkammer an seinen Scheinselbstständigen-Schreibtisch mit den einklappbaren Beinen nagelt? Sein persönliches Andreaskreuz? Er liebt die Selbstkasteiung, er verlustiert sich den ganzen Tag mit seinem Schmerz. Unsere Rücklagen sind aufgebraucht, und er animiert besten

Montag

Ich habe am Abend im Schlaf einen weiteren Anfall gehabt, sagt Christian beim Frühstück, den dritten. Im Wohnzimmer auf dem Sofa. Er habe dort mit meiner Mutter gerade ferngesehen. Ich sei danach aber ansprechbar und fähig gewesen, ins Bett zu gehen, sagt er.

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