Ostfriesenfeuer - Klaus-Peter Wolf - E-Book + Hörbuch

Ostfriesenfeuer Hörbuch

Klaus-Peter Wolf

4,5

Beschreibung

Dieser Mörder sucht die Öffentlichkeit. Er deponiert seine Leichen an Orten,  an denen sich viele Menschen begegnen. Der achte Fall für Ann Kathrin Klaasen. Das traditionelle Osterfeuer fiel in diesem Jahr etwas anders aus als sonst. Denn aus den verkohlten Resten ragten am nächsten Morgen menschliche Knochenreste. Als eine weitere Leiche auf einem Spielplatz gefunden wird, ahnt Ann Kathrin Klaasen, dass dieser Mörder nicht einfach nur tötet. Er inszeniert seine Morde regelrecht und will die Welt daran teilhaben lassen. Wer ist der Nächste? »Enorm spannend: Weil Wolf genau beobachtet, realistische Figuren entwickelt und bei aller Spannung immer wieder warmherzige Momente schafft.« Stefan Keim, WDR4, 14.5.2013 »Die raffinierte Mischung aus Abscheu vor abstrusem Mordgemetzel und Lebenslust an ostfriesischer Gemütlichkeit macht die ungeheure Sogwirkung dieses Krimis aus. Wolf gelingt es, einen wunderbaren Spannungsbogen zwischen Normalität und nacktem Grauen aufzubauen.« Elisabeth Höving, Der Westen, 19.4.2013 »Das Besondere an seinen Büchern: Alle Schauplätze und Figuren gibt es wirklich.« Tjalke Weber, Nordwest Zeitung, 18.4.2013 »Klaus-Peter Wolf ist es auf beeindruckende Weise gelungen, dem Krimi die ausreichende Spannung zu geben, um ein fesselnder seiner Sorte zu sein, vergisst dabei aber nicht die kleinen Nebengeschichten zum Schmunzeln.« Christian Behrends, Ostfriesisches Tageblatt, 5.4.2013 »Extrem spannender Deich-Krimi.« Joy, 1.4.2013 »Einwandfreie Krimikost« Andreas Ammer, Deutschlandradio, Die Krimikolumne, 28.3.2013 »Er ist nah dran an seinen Figuren, blickt dorthin, wo es weh tut und lässt uns in die Abgründe der menschlichen Seele blicken.« Hamburger Abendblatt, 21.3.2013 »Seine Krimis bieten nicht nur beste Unterhaltung, sondern erzählen auch viel von Land und Leuten, sind atmosphärisch, spannungsvoll und facettenreich.« Schweriner Volkszeitung, Norddeutsche Neueste Nachrichten, Flensburger Tageblatt, Schleswig-Holsteinische Landeszeitung, 19.3.2013 »Ein echtes Lesevergnügen« Andreas Kurth, Krimi-Couch, 15.3.2013 »Es ist diese Mischung, die den großen Erfolg von Autor Wolf ausmacht: Spannende Fälle mit dem gewissen Etwas, dazu lebensnahe Figuren, die der Leser einfach ins Herz schließen muss und nicht zu vergessen das ausgeprägte Lokalkolorit.« Krimi-Forum, 28.2.2013 »Geschickt führt Wolf auch dieses Mal den Leser auf die falsche Fährte und lässt ihn tief und realistisch in die Abgründe der menschlichen Existenz blicken.« Yvonne Stock, Nordsee-Zeitung, 22.2.2013 »Deutschlands erfolgreichster Regionalkrimischreiber« Rheinische Post, 22.2.2013 »Wolf gilt als akribischer Rechercheur, der die Details seiner Geschichten mit hoher Präzision schildert.« Ostfriesischen Nachrichten, 16.2.2013 »Höchst amüsant« Nordsee-Zeitung, 14.2.2013

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Zeit:16 Std. 53 min

Sprecher:Klaus-Peter Wolf

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Klaus-Peter Wolf

Ostfriesenfeuer

Der neue Fall für Ann Kathrin Klaasen

 

 

Über dieses Buch

 

 

Das Osterfeuer war noch nicht ganz niedergebrannt. Am nächsten Morgen wärmten sich einige Übriggebliebene an ihm. Auch Rupert wurde von der Glut des Feuers magisch angezogen. Was er dann sah, schrieb er zunächst seinem Blutalkoholpegel zu. Aus den Holzresten ragten die verkohlten Knochen eines menschlichen Fußes. Rupert fehlten auf einmal die Worte, und Ann Kathrin Klaasen sah ihre geplante Hochzeitsreise in weite Ferne rücken.

 

»Enorm spannend: Weil Klaus-Peter Wolf genau beobachtet, realistische Figuren und immer wieder warmherzige Momente schafft.« Stefan Keim, WDR4

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über zwölf Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden einige Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

 

Besuchen Sie auch die websites des Autors:

www.klauspeterwolf.de

www.ostfrieslandkrimis.de

Inhalt

»Von wegen der Weg [...]

Die Polizeiinspektion Aurich, die [...]

Ein paar Jugendliche hielten [...]

Der unberührte Sand war [...]

Je länger sie zu [...]

Ann Kathrin schreckte hoch, [...]

Es war, als würde [...]

Lesen Sie mehr von [...]

Lars Schafft Zum Erfolg von Klaus-Peter Wolfs Kriminalromanen

Kritikerstimmen zu »Ostfriesenmoor«

»Von wegen der Weg ist das Ziel. Das Ziel ist meist nur im Weg!«

Rupert, Hauptkommissar, Kripo Aurich

»Staatskrise? Was interessieren mich der Euro oder die Steuerreform? Hauptsache, die Nordsee bleibt hinterm Deich!«

Ubbo Heide, Kripochef Aurich/Wittmund

»Ich hatte schon Freunde, da gab’s noch gar kein Facebook.«

Ann Kathrin Klaasen, Hauptkommissarin, Kripo Aurich

Die Polizeiinspektion Aurich, die Landschaft, Fähren, Häuser und Restaurants gibt es in Ostfriesland wirklich.

Doch auch wenn dieser Roman ganz in einer realen Kulisse angesiedelt ist, sind die Handlung und viele Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Organisationen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Café Willbrandt in Carolinensiel existiert nicht, sondern entstammt komplett meiner Phantasie.

Ein paar Jugendliche hielten es nicht länger aus und zündeten ihre Osterfeuer schon vormittags an. Das gefiel dem Mörder, denn eine leichte Brise von Nordwest zog jetzt lange Rauchfäden nach Norddeich.

Für ihn war es wie ein Versprechen, das die Vorfreude in ihm schürte. Er saß auf dem Deichkamm und atmete den Qualm ein.

Hinter sich wusste er Diekster Köken, vor sich sah er das haushoch gestapelte Holz fürs Osterfeuer. Für ihn sah es aus wie ein wunderbarer Scheiterhaufen. Er konnte seinen Blick gar nicht davon abwenden.

Die Schaumkronen der Wellen erreichten das Holz nicht, sondern brachen an der Strandbefestigung.

Er zog die Lederjacke aus und legte sie wie eine Decke ins Gras. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er keine pochenden Kopfschmerzen, und auch das enge Gefühl in der Brust war weg. Es hatte ihm verdammt gutgetan, Willbrandt zu ermorden. Seitdem ging es ihm wesentlich besser.

Er streckte sich auf der Jacke aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah voller Zuversicht in den blauen ostfriesischen Himmel.

Die Kitesurfer bereiteten sich, angestachelt vom Wetterbericht, auf einen großen Tag vor. Während im Binnenland Regenschauer niedergingen, wurden der Küstenstreifen und die Inseln verschont. Die Sonne lachte mild herunter.

Peter Grendel behauptete lachend, der Wettergott müsse ein Ostfriese sein, und wenn der nur genügend Tee bekäme und ab und zu einen Matjeshering, bliebe alles, wo es hingehört: die Nordsee hinterm Deich und die Regenwolken über der Hauptstadt.

Er versuchte, damit seinen Freund Frank Weller aufzuheitern, der nervös herumtanzte. Einerseits war dies ein wunderbarer, großer Tag für ihn. Er und Ann Kathrin Klaasen würden sich gleich das Ja-Wort geben. Aber die Hochzeitszeremonie im Ostfriesischen Teemuseum weckte auch Ängste in ihm.

Die letzte Ehe hatte aus Frank Weller einen armen Mann gemacht. Diesmal würde alles anders werden, so hoffte er.

Seine beiden Töchter, Jule und Sabrina, waren dabei und strahlten. Er hatte ihren Segen, und das war wichtig für ihn.

»Familienväter«, sagte Peter Grendel, »sind die letzten Abenteurer dieser Zivilisation, Frank.«

Dann steckte Peter Grendel Weller einen Zettel zu.

Weller sah ihn fragend an.

»Damit du gleich keinen Hänger hast, wenn der Standesbeamte dich was fragt.«

Frank Weller sah auf den Zettel. Dort stand: Ja, ich will.

Weller lachte: »Mensch, gute Idee, falls ich vergesse, was ich sagen wollte.«

Weller kam mit dieser Art Humor sehr gut klar. Er sah zu Ann Kathrin. Sie betrachtete die friesische Standuhr und sagte zu ihrer Freundin Rita Grendel: »Guck mal, die Uhr zeigt das Datum an, die Tageszeit, den Mondstand und Ebbe und Flut. Das Ding ist aus dem 18. Jahrhundert. Meine Digitaluhr ist von 2012, weiß aber nicht, wann Ebbe und Flut ist.«

»Dafür«, grinste Rita, »hast du eine genaue Sekundenangabe. Die fehlt hier.«

Die Trauung fand im ehemaligen Gerichtssaal, dem sogenannten Rummel, statt.

Weller fand, dass Ann Kathrin großartig aussah. Sie hatte sich die Haare ein bisschen aufhellen lassen, und die paar blonden Strähnen standen ihr gut. Das Hochzeitskleid war champagnerfarben und schien eine Aufforderung an den Wind zu sein, es hochzuheben. Sie lief auf den High Heels erstaunlich sicher, obwohl es ungewohnt für sie war, während Frank Wellers neue schwarze Lackschuhe Druckstellen an seiner Hacke und am kleinen Zeh verursachten.

Sie hatten sich bewusst für eine Feier im ganz kleinen Kreis entschieden. Lediglich Ubbo Heide, der für Ann Kathrin so etwas wie ein Vater war, nahm als einziger Kollege der beiden an der Feierlichkeit teil.

Ann Kathrins Mutter, Helga Heidrich, saß zwischen Wellers Kindern, die sich rührend um die alte Dame kümmerten. Ann Kathrins Sohn Eike hatte sich zwar geweigert, eine Krawatte zu tragen, aber immerhin hatte er ein sandfarbenes Jackett an und ein weißes T-Shirt. Seine Jeans und die Turnschuhe waren vielleicht nicht ganz angemessen, doch darüber sah Ann Kathrin gern hinweg. Sie war froh, ihren Sohn überhaupt dabeizuhaben, denn zwischen ihm und Frank Weller herrschte bestenfalls so etwas wie Waffenstillstand. Richtig Frieden geschlossen miteinander hatten die beiden nie.

Sie hatten für später bei ten Cate eine Hochzeitstorte bestellt und für Ubbo Heide ein paar Marzipanröschen zusätzlich, weil sie Angst hatten, er würde sich sonst heimlich drüber hermachen. In weiser Voraussicht hatten sie darum gebeten, das Hochzeitspaar aus Porzellan und keineswegs aus Marzipan zu gestalten, damit es vor Ubbo sicher war.

Mancherorts schmückte eine Hexenpuppe aus Stroh den Holzstapel des Osterfeuers. Dies war hier bei den Ostfriesen anders. Der Inhalt des Feuers war aber diesmal etwas ganz Besonderes. In der Mitte des Holzstapels befand sich die Leiche von Christoph Willbrandt.

Er dachte über einen alten Streit nach, den er mal mit seinem Deutschlehrer hatte, ob die Osterfeuer christlicher oder heidnischer Herkunft seien. Sein Lehrer hatte damals behauptet, die ersten Osterfeuer seien erst 1559 bezeugt worden, also lange nach Christi Geburt.

Er erinnerte sich noch gut an die Worte seines Lehrers: »Wie einst das Volk Israel der Feuersäule durch die Wüste folgte, so folgen heute die Gläubigen Jesus Christus auf dem Weg vom Tod zum Leben.«

Er wusste nicht, wen er mehr hasste: seinen alten Deutschlehrer oder Christoph Willbrandt.

Ja, dachte er, auf dem Weg vom Tod zum Leben. Wie ironisch.

Am liebsten hätte er Willbrandt gepfählt zuoberst auf den Holzstapel gesteckt. Aber heidnische Sitte hin oder her, das ließ sich nicht machen.

Sein Plan jetzt war besser. Er hatte die Leiche in den frühen Morgenstunden zur vorbereiteten Feuerstätte gebracht. Angst hatte er nur vor den blöden Tierschützern, die ihm noch alles zunichtemachen könnten. In den Nachrichten hatte er gehört, dass in Österreich und im Sauerland Tierschützer gegen das Abbrennen von Osterfeuern protestiert hatten, weil sich in den aufgetürmten Holzstößen aus Baum- und Strauchschnitt Kleintiere einnisteten, die dann später, wenn das Feuer entzündet war, elendig verbrennen würden.

Er hoffte, dass die Ostfriesen keine ganz so fanatischen Spinnen-, Käfer-, Wanzen- und Milbenschützer waren wie die Sauerländer oder Österreicher.

»Tja«, freute er sich und sprach es gegen den Wind, »du wirst also mit dem ganzen Getier verbrennen, Willbrandt.«

Sein Hals wurde trocken, und er hustete. Aber er fühlte sich wohl wie selten. Durchtrieben und auf eine lange nicht mehr dagewesene Art glücklich.

Ich werde dabei sein, wenn du brennst!, dachte er triumphierend.

Ich werde mit den Schaulustigen ums Feuer stehen und feiern. Ich werde mit ihnen Musik hören, Bier trinken und Bratwürstchen essen und dabei der Einzige sein, der genau weiß, was geschieht.

Er reckte sich und legte sich dann wieder auf seine Lederjacke. Sie war wie eine Ritterrüstung für ihn. Später würden sich vielleicht Menschen an ihn erinnern, aber sie würden die Jacke beschreiben, nicht ihn. Sie war dominant, machte eine bestimmte Persönlichkeit aus ihm. Im hellblauen Anzug mit roter Krawatte würde ihn niemand wiedererkennen. O ja, Kleider machten Leute. Und wie! Heute gab er den Motorradfreak mit Meckihaarschnitt und Dreitagebart.

Er sah einer Möwe zu und beneidete sie darum, so segelfluggleich im Wind schweben zu können.

Wenn ich wiedergeboren werden sollte, so möchte ich eine Möwe sein. Am Meer leben und den Touristenkindern die Pommes stehlen.

Er lachte und wunderte sich, dass seine Lachmuskeln überhaupt noch funktionierten, so untrainiert, wie sie waren …

Unten am Strand wurden in der Nähe des Holzstapels die ersten Tische aufgebaut und Getränkestände installiert.

Er sang: »Goodbye, Michelle, it’s hard to die, when all the birds are singing in the sky.«

Vor der Feuerstelle, die mit Delfter Fliesen verkleidet war, gaben sich Weller und Ann Kathrin das Ja-Wort, und Weller musste nicht einmal auf den Zettel gucken, den Peter ihm zugesteckt hatte.

Ann Kathrin schämte sich ihrer Tränen nicht. Jeder behielt seinen Namen, denn sie wollte heißen wie ihr Sohn und Weller wie seine Töchter.

Dann nahm Ann Kathrin die herzlichen Glückwünsche von Wellers Töchtern und die verhaltenen ihres eigenen Sohnes entgegen, was sie ein bisschen schmerzte, aber sie wollte sich diesen schönen Tag nicht verderben lassen, und immerhin war er ja gekommen.

Es gab eine Teezeremonie, und jeder trank nach alter ostfriesischer Sitte drei Tassen mit Kluntje und ein paar Tropfen Sahne, aber natürlich ohne umzurühren.

Im Distelkamp 13 wartete schon die Hochzeitstorte, und es waren so viele Marzipanrosen darauf, dass man die Torte kaum noch sehen konnte. Sie war dreistöckig. Fürst Pückler-Erdbeersahne-Sanddorn.

Rita Grendel bestand darauf, mit ihrer neuen Digicam zu filmen, denn was jetzt geschehe, sei äußerst wichtig. Das Brautpaar müsse die Torte gemeinsam anschneiden.

Weller holte aus der Küche ein Brotmesser und wollte forsch beginnen.

»Halt, halt!«, rief Rita. »Gemeinsam! Das ist wichtig für den weiteren Verlauf der Ehe.«

Ann Kathrin legte ihre Hand auf die von Weller. Sie lächelte. Gemeinsam sägten sie durch das Marzipanrosen-Meer ein Stück Sanddorntorte ab.

Sie küssten sich dabei, und Weller genoss die Berührung von Ann Kathrins Hand auf seiner. Ubbo Heide schoss ein Foto, die Kinder auch. Rita filmte und erklärte fröhlich:

»Es ist nämlich so: Wer beim Anschneiden der Torte die Hand oben hat, führt auch später in der Ehe die Regie.«

In das brüllende Gelächter hinein sagte Ann Kathrin: »Tja, Frank, dann weißt du ja, was dich erwartet.«

»Später«, erklärte Ann Kathrin ihrer Mutter, »werden wir zum Deich fahren und dort am Osterfeuer Freunde treffen und mit denen auf die Hochzeit anstoßen. Holger Bloem und seine Frau Angela werden da sein, Jörg und Monika Tapper, Melanie und Frank Weiß.«

Helga Heidrich unterbrach ihre Tochter: »Das schaffe ich nicht mehr. Bringt ihr mich denn vorher zurück zur AWO?«

»Na klar, Mama.«

Ann Kathrin war froh, dass ihre Mutter überhaupt so lange durchgehalten hatte.

»Nein, noch nicht gleich. Erst noch ein Stück Kuchen. Aber dann …«

Rupert reckte die Nase und schnupperte. Er fand, das Osterfeuer roch heute besonders gut. Da knisterten nicht einfach alte Weihnachtsbäume in der Glut. Da war auch ein Hauch von Buchenholz, Birke und salzigem getrocknetem Strandgut. Die Flammen loderten in den Himmel, und weil die Sicht klar war, konnte man von hier aus auch die Feuer auf Juist und Norderney sehen.

In Fünferreihen standen die Touristen und erfreuten sich an den Flammen. Aus den Lautsprechern dröhnten die alten Hits, die von vielen mitgesungen wurden: Born to be wild, Satisfaction und schließlich Smoke on the water.

Rupert stand zum zweiten Mal für eine Bratwurst Schlange. Er konnte diesem Duft einfach nicht widerstehen, und heute waren die Würstchen besonders knackig.

Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich, einige Pärchen knutschten, einige ganz Verwegene tanzten im Sand. Dann näherten sich plötzlich, wie in einer Prozession, genau die Leute, deren reine Anwesenheit ihm normalerweise die Stimmung verhagelte. Der Journalist Holger Bloem. Der Maurer Peter Grendel. Ann Kathrin Klaasen und mittendrin, bestens gelaunt, Ruperts Chef Ubbo Heide.

Er ahnte nicht, dass hinter ihm in der Schlange jemand stand, der ihnen in der nächsten Zeit noch viel Kopfzerbrechen bereiten würde. Er sang laut mit: »Smoke on the water, a fire in the sky …«

Der Wind drehte jetzt, und eine Böe wehte den Qualm vom Osterfeuer direkt in die Menge, die an der Würstchenbude und am Bierstand wartete. Eingehüllt in Nebel hielten sich einige die Augen zu, fächelten völlig sinnlos vor ihrem Mund in dem Rauch herum, während Flugasche ihre Haare und ihre Hemden silbern und schwarz färbte. Nur der Mann hinter Rupert saugte die verqualmte Luft so tief ein, als hätte er nie eine bessere geschnuppert.

Rupert glaubte sofort zu wissen, was mit dem Mann in der roten Motorradjacke los war. Er lachte: »Nichtraucher, hm? Ist noch keine vierzehn Tage her, dass du die letzte Kippe geraucht hast, stimmt’ s?«

Der Mann nickte, und Rupert grinste: »Ich war so sehr auf Entzug, dass ich hinter jedem Raucher auf der Straße hergelaufen bin, um wenigstens ein bisschen von dem Qualm mitzukriegen.«

Es schien dem ostfriesischen Wind Spaß zu machen, den Rauch in die Menge zu drücken, während die Funken wie in einem Feuerschwanz in ihre Richtung stoben.

Als sie endlich dran waren, legte der Mann am Grill gerade neue Würstchen auf. Der Mörder überließ Rupert großzügig die letzte Wurst und gab auch noch ein Jever aus. Er war so gutgelaunt, er hätte die ganze Welt umarmen können. Mit all diesen Menschen hier zusammen feierte er eine Party. Die Verbrennung von Christoph Willbrandt. Gab es einen schöneren Anlass?

Er mochte diesen Rupert und hätte gerne mit ihm noch ein Bier getrunken, doch eine Frau weckte sein Interesse. Sie hatte lange rote, vom Wind verwuselte Haare, und mit den Ascheteilchen darin sah sie aus, als sei sie gerade in eine Schneewehe geraten.

Sie hieß Claudia, war Mitte dreißig, machte aber erfolgreich auf Ende zwanzig und war so wütend auf ihren Freund, dass sie ihn jetzt eifersüchtig machen wollte.

Es entstand eine kurze Konkurrenzsituation zwischen Rupert und dem Mörder, aber dann gab Rupert auf, denn so wie sie den Typen in der Lederjacke anhimmelte, hatte er keine Chance bei ihr. Sie wäre zweifellos Ruperts erste Wahl gewesen, aber so, wie es aussah, würden sich im Laufe der Nacht noch mehr Chancen für ihn auftun.

Auf solchen Festen hatte Rupert schon oft für sich einen One-Night-Stand abgestaubt. Wenn die Kerle besoffen genug waren, um sich nicht mehr um ihre Frauen zu kümmern, dann, so hoffte Rupert, saßen die Schlüpfer lockerer als sonst.

Er überließ dem Lederjackentypen, der einen auf Harley-Davidson-Fahrer machte, die Rothaarige und wendete sich anderen Abenteuern zu.

Ubbo Heide hatte so viele Marzipanröschen gegessen, dass ihm jetzt nach einem Schnaps war. Er bestellte sich zwei Doppelte in einem Glas. Das war jetzt genau die richtige Portion für ihn.

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Ausschankwagen und sah zu Ann Kathrin rüber. Sie sah glücklich aus, und das stimmte ihn fröhlich. Weller war ein guter Mann, und sie hatte einen guten verdient. Er wünschte sich für seine Tochter auch so einen.

Er bestellte eine Runde Jever und wollte die Flaschen rüber zu den anderen tragen, doch wo die Stimmung besonders gut und ausgelassen ist, sagt eine alte Polizeiweisheit, sucht auch der Bösewicht seine Chance. Heute versuchten gleich drei Jugendliche aus Moordorf, eine Karriere als Taschendiebe zu starten.

Ubbo wollte die Getränke gegen den Wind durch die Menge tragen. Es fiel ihm nicht leicht. Der Lederjackenmann bot seine Hilfe an, denn der Freund von Claudia sah aus, als sei er schwer auf Krawall gebürstet und suche nur ein Opfer für seine Kampfeslust … Der Mörder wollte keinen Stress und sich den Abend nicht verderben lassen. Da zog er sich lieber aus der Affäre, indem er dem alten Mann beim Flaschentragen half.

Melanie und Frank Weiß hatten den kleinen Ole mitgebracht. Sie zeigten ihm sein erstes Osterfeuer. Melanie tanzte jetzt mit Ole auf dem Arm.

Holger Bloem suchte eine gute Schussposition für ein Foto. Er fand das sehr stimmungsvoll. Im Watt spiegelten sich die Flammen, als seien viele hundert kleine Osterfeuer auf dem Meeresboden entzündet worden.

Da sah er, dass sich ein jugendlicher Taschendieb von hinten an Monika Tappers Handtasche heranmachte. Er hatte schon eine Hand in der Tasche und glaubte sich am Ziel.

Holger Bloem war gut vierzig bis fünfzig Meter entfernt, aber er rannte sofort los.

Der Jugendliche warf Monikas Portemonnaie zu seinen Freunden und versuchte, in Richtung Hundestrand zu entkommen, während seine Freunde in Richtung Deich loswetzten und dann einen Haken schlugen.

Holger verfolgte den Dieb, Rita Grendel stieß Peter an, und der versuchte, die beiden anderen mit dem Portemonnaie aufzuhalten. Jörg Tapper schnitt ihnen den Weg zum Haus des Gastes ab. Sie liefen Peter Grendel direkt in die Arme.

»Aus dem Weg, alter Mann, oder ich brech dir sämtliche Knochen«, fauchte ein Junge, der seinen sechzehnten Geburtstag gerade erst mit einem fürchterlichen Rausch hinter sich gebracht hatte. Er kam sich cool dabei vor und sah zu seinem Kumpel. Er glaubte, den damit zu beeindrucken.

»Na klar«, sagte Peter Grendel und versuchte, ängstlich zu gucken, »du brichst mir sämtliche Knochen.«

Den Bruchteil einer Sekunde später küsste der jugendliche Räuber den Sand.

Sein Freund hatte im Karate-Anfängerkurs einen Tritt gelernt, den Mae-Kin-Geri.

Den führte er jetzt filmreif gegen Peter Grendels Brust aus.

Es war, als hätte er gegen eine Steinwand getreten, und er hielt sich mit beiden Händen den Fuß, als könne er durch Handauflegen den Schmerz lindern.

Peter Grendel verpasste ihm eine Ohrfeige und nahm den einen links und den anderen rechts unter den Arm und ging mit ihnen zu Monika. Während er sie in Richtung Monika trug, rief der Karateschüler: »Ich zeig Sie an! Ich ruf die Polizei!«

»Gute Idee«, sagte Peter. »Würde ich an deiner Stelle auch tun. So ein Satz wie: Hilfe! Ich hab ein Portemonnaie geklaut, und der Onkel war dagegen. Kommt bestimmt gut an bei unseren Ordnungshütern.«

Vor Monika ließ er die beiden fallen und sagte: »Die Jungs haben dein Portemonnaie gefunden, Monika. Sie wollten es dir gerne wiederbringen.«

Die zwei entschuldigten sich wortreich, gaben das Portemonnaie zurück und behaupteten tatsächlich, es da drüben im Sand gefunden zu haben.

Rita lachte: »Ja, das sind ja ganz reizende Kinder, nett, hilfsbereit … Hat man ja heutzutage sonst selten …«

Holger Bloem saß derweil mit dem eigentlichen Dieb oben auf dem Deich und hörte sich dessen Lebensgeschichte an. Er weinte, und Holger tröstete ihn.

Ja, die Welt war schlecht. Nicht mal als richtiger Taschendieb konnte man in Ostfriesland etwas werden.

Ubbo Heide verteilte jetzt Flaschenbier an alle und verabschiedete den hilfreichen Lederjackenmann, indem er ihm ein Jever ausgab und mit ihm anstieß. Die beiden prosteten sich zu und tranken aus der Flasche. Dann sagte Ubbo Heide: »Komische Situation. Die halbe ostfriesische Kripo feiert hier, aber die Taschendiebe werden von einem Journalisten und einem Maurer gefangen.«

Der Mann, der Ubbo Heide geholfen hatte, das Bier zu tragen, grinste, hob die Flasche und sagte: »Darauf trinken wir aber jetzt mal einen.«

Die rothaarige Claudia hatte sich durch die Menge zum Lederjackenmann vorgearbeitet. Die Blicke ihres Freundes verfolgten sie eifersüchtig.

»Was ist jetzt?«, fragte sie ein bisschen angenervt. »Gehen wir zu dir oder zu mir?«

Holger Bloem brachte »seinen Jungen« jetzt auch mit. Sie gingen nebeneinanderher wie Vertraute. Auch er wollte sich bei Monika entschuldigen, aber einen kleinen aufmunternden Anstupser von Holger brauchte er doch noch, bevor er den Mund aufbekam.

»Eigentlich«, sagte Ann Kathrin, »müssten wir die Jungs jetzt festnehmen. Das ist doch auch eine pädagogische Frage.«

Die drei standen bibbernd, mit weit aufgerissenen Augen, da.

Weller kramte in seiner Tasche und suchte in seinem Hochzeitsanzug seinen Polizeiausweis.

»Die sind nämlich von der Kripo«, erklärte Rita Grendel, zeigte auf Weller und sagte: »Der findet nur gerade seinen Ausweis nicht.«

»Aber ich finde«, sagte Weller, »wir sollten sie laufenlassen. Immerhin ist heute unser Hochzeitstag.«

Ubbo Heide lachte. »Schöne Art, seine Hochzeit zu feiern. Anlässlich der Vermählung von Frank Weller und Ann Kathrin Klaasen ließ die ostfriesische Polizei sämtliche Taschendiebe und Kleinkriminelle an diesem Feiertag laufen …«

Ubbo Heide krümmte sich vor Lachen über seinen eigenen Witz.

Die drei Jungs erkannten ihre Chance und rannten los.

»Immerhin«, stellte Ann Kathrin fest, »so klug sind sie, dass jeder in eine andere Richtung rennt.«

Ihr kriegt mich nie, dachte der Lederjackenmann. Ihr nicht. Und er atmete noch einmal tief ein. Es roch nach verbranntem Fleisch, und das kam bestimmt nicht von der Bratwurstbude.

Als Rupert am nächsten Morgen ungeküsst, aber mit einem Riesenkater wach wurde, lag er in Norddeich zwischen zwei Sanddünen. Zwischen seinen Zähnen knirschte es. Sein Mund war trocken wie eine Wüste, seine Kleidung aber feuchtnass vom Morgentau. Er war durchgefroren und zitterte.

Magisch zog die Feuersglut ihn an. Zunächst auf allen vieren, dann aufrecht gehend, näherte er sich. Mit ihm standen fünf, sechs Übriggebliebene und zwei Wächter des Feuers und wärmten sich an der Glut. Es war ein saukalter Morgen, wie sie sich gegenseitig versicherten.

Was Rupert dann sah, schrieb er zunächst seinem Blutalkoholgehalt zu. Da unten aus der Glut ragte etwas heraus, und es sah aus wie die verkohlten Knochen eines menschlichen Fußes.

Rupert fehlten die Worte, und der Sand im Mund machte ihm das Sprechen schwer. Er zeigte nur stumm auf den Fuß. Dann erstarrten die Männer neben ihm.

Eigentlich wollten sich Weller und Ann Kathrin zur Hochzeit gemeinsam ein neues Auto schenken und damit ihre Hochzeitsreise antreten. Die Reise sollte an die Ostsee gehen, nach Hohwacht ins Hotel Genueser Schiff.

Im Autohaus Immoor in Lütetsburg fanden sie einen Jahreswagen, der beiden auf Anhieb gefiel. Ein Citroën Picasso. Doch Weller musste nicht mal auf sein Konto sehen, um zu wissen, dass er keinen ernsthaften Beitrag dazu würde leisten können, während Ann Kathrin bei der Sparkasse Aurich-Norden genügend Euro auf dem Tagesgeldkonto hatte, um zwei solcher Autos zu finanzieren.

Weller fand, in diesen schweren Zeiten sollte man sein Geld lieber in Sachwerten anlegen, denn er hatte einen Filmbericht gesehen, in dem eine Hyperinflation angekündigt wurde. Seitdem drückten ihn seine Schulden nicht mehr so sehr, denn die würden ja durch die Inflation auch an Wert verlieren, hoffte er.

Weller vermutete, dass Ann Kathrin den Wagen schon allein deswegen liebte, weil er Picasso hieß und der Namenszug des von ihr verehrten Meisters silbern auf dem Wagen glänzte. Aber als sie ihren froschgrünen Twingo in Zahlung geben sollte, hatte sie plötzlich Tränen in den Augen. Sie nahm Weller beiseite und flüsterte: »Ich kann das nicht.«

»Was kannst du nicht?«

»Na, den Twingo abgeben.«

»Warum nicht? Wir können uns zwei Autos nicht wirklich leisten. Außerdem kommen wir mit einem Auto doch gut aus …«

»Das ist es nicht. Ich meine, wie fühlt der Wagen sich denn? Jetzt, wo er nicht mehr gebraucht wird, schieben wir ihn einfach so aufs Abstellgleis …«

Weller schluckte und atmete tief durch. Er sah sich nach allen Seiten um. Das hier musste niemand mitbekommen. Die Verhörspezialistin der ostfriesischen Mordkommission, die das BKA nur zu gern abgeworben hätte, weil sie als Fachfrau für Serienkiller galt, hatte eine emotionale Beziehung zu ihrem Auto und fürchtete, es zu verletzen, wenn sie es in Zahlung gab …

»Ann, Autos sind Gebrauchsgegenstände, keine Menschen.«

»Der Wagen hat mich überall sicher hingebracht. Er führt ein Eigenleben. Er spürt Hitze und Kälte, isst und hat eine Verdauung.«

»Nein, Ann, er isst nicht, er wird betankt. Und das da hinten ist kein Verdauungsorgan, sondern ein Auspuff.«

»Trotzdem.«

»Wie, trotzdem?«

»Ich kann ihm das nicht antun. Ich weiß, dass es Blödsinn ist, aber ich habe oft mit ihm gesprochen.«

»Ja, ich weiß. Ich fand es auch immer witzig, aber das war doch nicht dein Ernst, oder?«

»Na ja, wie man’s nimmt. Die Dinge haben eben ein Eigenleben und ich …«

Sie stampfte mit dem Fuß auf, sah Weller fast wütend an, verzog trotzig den Mund und sagte: »Lach mich ruhig aus. Ich bin eben so. Mein Herz hängt daran. Ich will ihn nicht verstoßen. Wir nehmen ihn wieder mit. Und wehe, du sagst einem, warum!«

»Nein, natürlich nicht, das bleibt unser Geheimnis. Aber, Ann, wir haben für zwei Autos gar keinen Platz in der Garage.«

»Na und? Dann bleibt eben einer draußen.«

Weller stellte vorsichtshalber nicht die Frage, welcher Wagen denn in Zukunft draußen frieren sollte, sondern stimmte zu.

Und jetzt hatten sie eben zwei Autos. Einen Twingo, der langsam vor sich hin rostete, und dazu einen Jahreswagen mit Sitzheizung und einer funktionierenden Klimaanlage.

Weller packte den Picasso und freute sich auf die Reise. Im Genueser Schiff gab es ein Krimiwochenende mit mehreren Autoren, die Weller spannend fand. Außerdem wurde dort hervorragend gekocht. Er liebte die Frau, mit der er frisch vermählt war, und das Wetter versprach, prächtig zu werden.

In Ann Kathrins Handtäschchen heulte ein Seehund. Sie fischte ihr Handy heraus, und Weller beschlich sofort so ein mulmiges Gefühl. Sie sah es ihm an und flüsterte in seine Richtung: »Ubbo. Er will uns bestimmt noch eine gute Reise wünschen.«

Ubbo Heide hatte eine belegte Stimme und räusperte sich zunächst. Das reichte Ann Kathrin völlig aus. Sie wusste, noch bevor er einen ersten Satz formuliert hatte, dass sie die Hochzeitsreise verschieben mussten.

»Rupert hat im Osterfeuer eine verkohlte Leiche gefunden, Ann.«

Sie versuchte wenigstens einen Protest, und sei es nur, um Weller zu zeigen, dass sie die Hochzeitsreise mit ihm ernst nahm.

»Ubbo, wir sind sozusagen in den Flitterwochen.«

»Ich brauche dich nicht nur als Kommissarin, Ann, sondern auch als Zeugin. Wir waren alle dabei, als das Verbrechen geschah. Kannst du dir vorstellen, wie sich Rieke Gersema als Pressesprecherin fühlt? Willst du das irgendjemandem erklären? Da führt uns jemand vor, Ann. Wir sollen die Deppen der Nation werden.«

»Quatsch! Es konnte niemand wissen, dass wir alle dort hinkommen würden. Es war eine spontane Idee, mit der Hochzeitsgesellschaft …«

»Wie dem auch sei, wir sehen nicht gerade gut aus. Bitte kommt. Es fällt mir schwer, euch darum zu bitten, aber verschiebt eure Flitterwochen wenigstens um einen Tag. Ihr könnt uns jetzt nicht hängenlassen.«

»Wir sind in einer Stunde da«, schlug Ann Kathrin vor, doch Ubbo stöhnte: »Geht es nicht in einer halben?«

Ann Kathrin drückte das Gespräch weg und sah Weller nur an. Der winkte ab und knallte den Kofferraum zu.

»Wäre ja auch zu schön gewesen.«

Rupert sah aus wie ein Penner. Er lehnte mit grippigen Augen unrasiert an der Wand, hatte ein teigiges, blasses Gesicht und fror.

Weller hielt sich gleich ein bisschen fern von ihm, denn er hatte keine Lust, sich von ihm anstecken zu lassen.

Immerhin roch es nach frischem Schwarztee, Rosinenbrot stand auf dem Tisch und eine Schale mit bröckeligen Sanddornkeksen.

Rieke Gersema nestelte an ihrem Brillengestell herum, als hätte sie Angst, es könne ihr von der Nase fallen und die Gläser würden auf der Tischplatte zerspringen, so als seien sie aus Zucker und nicht aus praktisch bruchsicherem Polycarbonat.

»Bitte sagt mir, dass wir den Fall hier binnen vierundzwanzig Stunden lösen.«

Rupert roch streng. Ann Kathrin nahm sich eine Tasse mit Rosenmuster und goss Tee ein. Sie hielt sich die Tasse nah vors Gesicht, um den Geruch, der von Rupert rüberwehte, zu überdecken.

DIN-A4-große Abzüge, auf denen nur ein paar Knochen zu erkennen waren, wurden herumgereicht.

Sylvia Hoppe sah sich die Bilder nicht richtig an. Entweder kannte sie die Aufnahmen schon, oder sie hatte einen besonders schlechten Morgen.

»Alles, was wir wissen«, sagte Ubbo Heide, »ist, dass es sich um eine erwachsene männliche Person handelt. Eine passende Vermisstenmeldung ist bei uns in den letzten Tagen nicht eingegangen. Wir gehen davon aus, dass der arme Mensch keineswegs bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Das war im Grunde nicht möglich. Sondern hier hat jemand vor unser aller Augen eine Leiche entsorgt.«

Rupert kaute an den Fingernägeln herum, was sonst überhaupt nicht seine Art war.

»Stellt fest, wer für das Osterfeuer verantwortlich ist, und befragt alle Beteiligten. So ein riesiger Holzberg wird doch bewacht, schon deshalb, damit ihn niemand vor der Zeit abfackelt«, sagte Ubbo Heide und strich auf dem Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag, etwas durch.

Rupert hustete: »Das macht natürlich die Kurverwaltung Norddeich.«

Weller hatte die Nummer in seinem Handy gespeichert und brummte: »Das haben wir gleich …«

Er hielt sich das Gerät ans Ohr, aber es war mal wieder so laut geschaltet, dass alle im Raum mithören mussten, wie eine sympathische weibliche Stimme vom Band sagte: »Herzlich willkommen bei der Kurverwaltung im See- und Heilbad Norddeich. Leider sind alle Plätze besetzt, aber ein Mitarbeiter ist gleich für Sie frei.«

Sylvia Hoppe klopfte einen Stapel Papier vor sich so lange auf den Tisch, bis alle Kanten ordentlich übereinanderlagen. »Also, wenn ich auch mal etwas sagen darf«, sagte sie vorwurfsvoll, als sei es ihr bisher verwehrt worden, »die Kurverwaltung hat das früher mal gemacht. Die Zeiten sind längst vorbei. Die zahlen höchstens noch einen Zuschuss von ein paar hundert Euro. Heute macht das der SPD-Ortsverein.«

Sie registrierte die verblüfften Gesichter.

»Ja … Ein Freund von mir … Also, mehr ein Exfreund … Der macht da mit und hat es mir erzählt.«

»A … aber …« Weller drückte die Verbindung weg und legte sein Handy vor sich auf den Tisch. »Aber wir waren alle da. Da hingen keine SPD-Plakate oder so. Ich habe jedenfalls nichts gesehen.«

»Mein Freund … also, wie gesagt, mein Exfreund … hat mir erzählt, dass zum Beispiel in Süderneuland die CDU das Osterfeuer mache. Das merkt kein Mensch.«

Ubbo Heide gab ihr sofort recht. »Das ist typisch Ostfriesland. Bei den richtigen heidnischen Sitten wird alles über Parteigrenzen hinweg organisiert. Jedenfalls müssen wir mit allen reden, die dabei waren, als das Holz aufgeschichtet wurde.«

»Na prima. Ich wollte mich sowieso klonen lassen«, maulte Rupert.

»Ich könnte das ja übernehmen«, schlug Sylvia Hoppe vor, die sich deutlich darauf freute, ihren Ex zu vernehmen und ins Schwitzen zu bringen. Sie wurde jetzt noch wütend, wenn sie an den pinkfarbenen BH dachte, den sie in seinem Bett gefunden hatte, und an die lächerliche Unschuldsmiene, mit der er behauptet hatte, keine Ahnung zu haben, wie dieser BH dorthin gekommen sei. Aber sie sah den anderen sofort an, dass es für niemanden in Frage kam, ihr diese Aufgabe zu überlassen. Rupert vielleicht ausgenommen.

»Also gut. Ich bin ja vielleicht befangen, aber … Bei der Kurverwaltung seid ihr jedenfalls an der falschen Adresse.«

Ann Kathrin faltete ein Blatt Papier vor sich auseinander und strich es glatt. Ein leicht verunglückter Kreis sollte das Osterfeuer symbolisieren. Die Striche darin die gefundenen Knochen.

»Wir sollten uns den Tatort genauer ansehen«, begann sie.

»Wir waren alle da«, konterte Rupert.

Sie reagierte nicht darauf, sondern zeigte auf ihr Papier. »Das hier ist eine Skizze der Kriminaltechnik vom Fundort. Auffällig ist die Verteilung der Leichenteile. Hier, das rechte Bein und der Kopf. Da das linke und ein Arm. Hier der Brustkorb und die Hüfte. Der linke Arm dort, praktisch unter der Hüfte. Das alles deutet darauf hin, dass die Leiche recht weit oben im Holzstapel lag, und das Gerippe ist dann mit dem Rest vom Osterfeuer eingebrochen. So kam es zu dieser zufälligen Verteilung. Wahrscheinlich wollte der Täter, dass der brennende Körper oben zutage tritt. Die Chancen standen auch gut, denn wie die Kollegen von der KT sagen, braucht ein menschlicher Körper eine viel höhere Temperatur, um zu verbrennen, als trockenes Holz. Die Feuchtigkeit der inneren Organe …«

Rieke Gersema stand auf. »Mir wird schlecht.«

Rupert rollte mit den Augen. »Die war doch gar nicht dabei.«

»Wir sollten also unser Augenmerk darauf richten«, fuhr Ann Kathrin fort, »wer das obere Drittel des Osterfeuers mit Holz bestückt hat. Dort lag vermutlich die Leiche.«

Rieke Gersema setzte sich wieder und trank einen Schluck Wasser.

Ubbo Heide kam zum nächsten Punkt auf seinem Zettel: »Sein Gebiss ist noch relativ gut erhalten. Wir könnten über eine Anzeige in der Zahnärztezeitung versuchen herauszufinden, ob …«

»Die erscheint vierzehntäglich«, warf Rieke Gersema ein. »Für die nächste Ausgabe sind wir bereits zu spät. Das würde bedeuten …«

Ubbo Heide brach unterm Tisch ein Stückchen von seinem Marzipanseehund ab und schob es sich verstohlen zwischen die Lippen. Er brauchte das jetzt für seinen Magen.

»Wir waren damit vor ein paar Jahren schon einmal erfolgreich. Das Blatt erscheint bundesweit«, sagte er.

Ann Kathrin meldete sich zu Wort. »Ich denke, wir sollten mit einem Gebissabdruck und einer OPG-Röntgenaufnahme die örtlichen Zahnärzte aufsuchen und fragen, wer diesen Status kennt.«

»Ja«, warf Rupert ein, »wenn wir Glück haben, handelt es sich um einen Einheimischen …«

»Ich würde das jetzt nicht Glück nennen«, betonte Ubbo Heide, »wenn ein Mitbürger auf diese Art ums Leben kommt.«

»Beim Osterfeuer«, sagte Weller, »sind auch viele Touristen. Aber einen Versuch ist es wert. Die sollen uns aus der Pathologie in Oldenburg schnell alles rüberschicken, und dann ziehen wir los.«

»Kann man das nicht per E-Mail oder per Fax regeln?«, fragte Rieke Gersema leicht angenervt.

Ann Kathrin schüttelte den Kopf. »Ein persönliches Erscheinen der Kollegen sorgt dafür, dass der Fall augenblicklich ernst genommen wird und wir nicht warten müssen, bis sich jemand Zeit dafür nimmt.«

Ubbo Heide stimmte Ann Kathrin zu.

Rupert krächzte übertrieben. »Ich glaube, das müsst ihr ohne mich machen. Ich melde mich für heute krank.«

»Nein, das wirst du nicht tun«, sagte Ann Kathrin bestimmt, »sondern du duschst erst einmal gründlich, und dann übernimmst du die Zahnärzte in Aurich, Frank die in Norden, Hage und Umgebung, und ich werde …«

»Seit wann entscheidet Madame denn, wer hier krankfeiert und wer nicht?«

»Wenn wir nicht in die Flitterwochen fahren«, brüllte Weller Rupert an, »dann feierst du auch nicht krank! Klar? Weißt du, wie viele Zahnärzte es in Norden und Umgebung gibt?«

»In fünfzig Kilometer Umkreis genau einhundertneunzig«, stellte Rieke Gersema zur allgemeinen Verblüffung klar.

Ubbo Heide versuchte zu schlichten. »Bitte, Leute! Keinen Zoff! Das bringt uns doch nicht weiter.«

»Mit was für einem Täter haben wir es zu tun?«, fragte Ann Kathrin.

»Mit einem, der Leichen verbrennt«, giftete Rupert zurück und gab zu bedenken: »Vielleicht handelt es sich ja auch gar nicht um einen Mörder. Wieso kommt ihr überhaupt auf die Idee? Das Ganze kann auch ein blöder Studentenstreich sein. Vielleicht haben ein paar Besoffene eine Leiche in der Totenhalle geklaut und dann im Holz fürs Osterfeuer versteckt, um uns allen einen gewaltigen Schrecken einzujagen.«

»Und um uns die Hochzeitsreise zu versauen«, maulte Weller.

Ann Kathrin wirkte konzentriert, ja, angespannt auf Ubbo Heide. Er sah sie an und forderte sie mit Blicken auf, ihre Gedanken mitzuteilen.

»Der Täter hat nicht einfach nur eine Leiche verbrannt, sondern er hat ein Volksfest daraus gemacht. Wir alle waren dabei. Es ist eine Art Hexenverbrennung gewesen.«

Rupert rülpste, als würden Ann Kathrins Worte einen Brechreiz in ihm auslösen. Als alle ihn ansahen, maulte er: »Wenn man den Film Der weiße Hai rückwärts anschaut, handelt er von einem Hai, der so lange Menschen ausspuckt, bis sie eine Strandbar eröffnen.«

Ubbo Heide wies ihn mit einem Blick zurecht. »Ich weiß nicht genau, was du uns damit sagen willst, Rupert, aber es wäre besser gewesen, du hättest den Mund gehalten.«

»Eine Hexenverbrennung war es jedenfalls ganz sicher nicht«, spottete Rupert. »Es handelt sich um einen Mann, das ist ja wohl eine gesicherte Erkenntnis, oder nicht?«

Ann Kathrin ignorierte seinen Einwand. »Das Ganze hatte Volksfestcharakter«, beharrte sie.

»Ja, ich weiß. Ich war ja dabei. Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke, wie gut die Bratwurst roch«, schimpfte Rupert.

»Der Täter wollte, dass die Menschen gutgelaunt und feiernd dabei zusehen, wie jemand verbrennt. Findet ihr das nicht eigenartig?«

»Nein«, sagte Rieke Gersema und ordnete die Papiere, die vor ihr lagen. »Finde ich nicht.«

Sie konnte sich schon lebhaft vorstellen, wie die Zeitungsartikel ausfallen würden, wenn ein Journalist auf die gleichen Gedanken käme wie Ann Kathrin.

»Wir haben das nicht gefeiert. Niemand der Anwesenden hat mitbekommen, was da los war. Sonst hätte ja jemand eingegriffen. Ich neige eher zu Ruperts Theorie. Es handelt sich um einen Scherz. Einen saublöden Scherz.«

Ubbo nahm Ann Kathrins Faden wieder auf. »Denkst du, es ist so eine Art Ritual?«, fragte er Ann Kathrin und schüttelte sich. »Ein vergleichbarer Fall ist mir nicht bekannt. Es hat immer mal wieder Unfälle gegeben, dass jemand am Feuer eingeschlafen ist, fast verbrannt wäre oder so. Aber meines Wissens nur bei den Bergvölkern, nicht hier bei uns auf dem flachen Land. Das alles wird doch sehr gut und professionell gemacht.«

Ann Kathrin sprach zwar laut, sah aber aus, als würde sie einfach nur nachdenken und mit sich selbst reden. »Jemand hat seine eigene, private Leichenverbrennung zu einem riesigen öffentlichen Ding gemacht. Ich wette, dieser Mensch war dabei.«

Ubbo Heide spürte ein Kribbeln auf der Haut. Manchmal, wenn Ann Kathrin sprach, war das so. Dann wusste er, dass die Sache heiß wurde. Sehr heiß.

»Du meinst, wir haben den Täter möglicherweise gesehen?«

Ann Kathrin nahm jetzt den ersten Schluck aus ihrer Teetasse und lächelte. »Mehr als das. Vielleicht existieren sogar Fotos von ihm. Holger Bloem hat ein paar Aufnahmen gemacht. Das weiß ich genau. Ich werde ihn anrufen.«

Allein die Nennung des Namens Holger Bloem ließ Ruperts Magenschleimhaut verrückt spielen.

»Nee, Ann Kathrin. Du wirst doch jetzt nicht die Presse einschalten. Da kannst du gleich bei Radio Ostfriesland anrufen. Ich denke, wir wollen das alles hier schnell und still über die Bühne bringen.«

Dies war einer der seltenen Fälle, in denen Rieke Gersema Rupert sofort mit Blicken in die Runde zustimmte, aber Ann Kathrin Klaasen ließ sich nicht beirren.

»Holger hat oben auf dem Deich gesessen und Aufnahmen gemacht. Wenn der Täter da drauf ist, sollten wir die Chance nutzen und …«

Rupert lachte demonstrativ. »Ja. Außer ihm waren aber noch gut zwei-, dreihundert Leute da. Wenn nicht mehr. Sollen wir die besuchen, bevor wir zu den Zahnärzten gehen oder danach?«

»Ich finde«, sagte Ubbo Heide, »Ann Kathrins Vorschlag bedenkenswert. Wir könnten Holger Bloem um Verschwiegenheit bitten …«

Erneut lachte Rupert auf. Es klang höhnisch.

»Genau das habe ich vor«, sagte Ann Kathrin, nahm ihr Handy und ging damit in den Flur.

Während Weller mit dem vollgepackten Citroën die siebzehn Zahnärzte in Norden auf seiner Liste abarbeitete und vom Brummelkamp, wo er Dr. Hans-Joachim Doege besucht hatte, zum Markt fuhr, um bei Dr. Andreas Dohle vorstellig zu werden, besuchte Ann Kathrin ihre Zahnärztin Melanie Maida in Marienhafe.

Ann Kathrin genoss die Fahrt nach Marienhafe in ihrem grünen Twingo. Es kam ihr vor, als sei der Wagen ihr dankbar dafür, dass sie ihn nicht in Zahlung gegeben hatte.

Sie parkte direkt vor der Apotheke, und als sie die Stufen zur Zahnarztpraxis hinaufging, wurde ihre Vorfreude, Melanie Maida zu treffen, von ihrem schlechten Gewissen überschattet, weil sie seit bestimmt einem Jahr ihre Zähne nicht mehr hatte kontrollieren lassen, obwohl sie Melanie beim letzten Besuch das Gegenteil versprochen hatte.

Melanie Maida war eine kleine, drahtige Frau. Sie strahlte sportliche Lebendigkeit aus. Ann Kathrin wusste, dass sie zumindest vor kurzem noch aktiv im Norder Boxverein trainiert hatte.

Für Rupert, der boxende Frauen genauso furchtbar fand wie intelligente, waren die beiden ein Albtraumgespann. Er hatte sie einmal zusammen gesehen, als sie aus der Alten Backstube kamen, wo sie an einer Kleinkunstveranstaltung teilgenommen hatten.

Hinter ihrem Rücken hatte Rupert zu Schrader gestichelt: »Vorsicht! Die beiden mischen zusammen jede Kneipe auf. Da wirft selbst Klitschko das Handtuch.«

Als Melli, die Zahnfee, wie sie von Ann Kathrin liebevoll genannt wurde, Ann Kathrins Stimme am Empfang hörte, kam sie sofort, um sie zu begrüßen. Bei der Umarmung musste sie sich auf Zehenspitzen stellen und hochrecken. Dann tätschelte sie Ann Kathrins Gesicht und sagte: »Schmerzen, meine Liebe, oder warum kommst du ohne Voranmeldung? Kann ich etwas für dich tun? Hier ist heute viel los, aber …«

»Es geht nicht um mich, sondern«, Ann Kathrin zeigte die Fotos vor, »wir haben eine Leiche gefunden, und ich hoffe, du kannst uns bei der Identifizierung weiterhelfen.«

Sie wusste, dass sie Melli sofort am Haken hatte, denn die Zahnfee war nicht nur ein begeisterter Boxfan, sie las auch mit Vorliebe Kriminalromane. So manch guten Buchtipp hatte Weller von ihr erhalten.

Sie nahm Ann Kathrin die Papiere aus der Hand und versank in geradezu meditativer Betrachtung.

Leise sprach Melli vor sich hin. »Der Gebissstatus ist ziemlich klar. Vorhandene Füllungen, Kronen, Brücken, Implantate – das Vorhandensein der Weisheitszähne, ihre Lage, ja, sogar die Zahnwurzeln sind bei jedem Menschen einzigartig. Wenn er je bei mir auf dem Stuhl gesessen hat, dann …« Sie hielt inne, ließ die Blätter sinken und sagte: »Bingo. Wenn mich nicht alles täuscht, war der vor ein paar Tagen hier. Kein Stammkunde, aber warte. Wir haben ein Röntgenbild. Das mache ich immer, um eventuelle Frakturen zu erkennen. Er kam nach einer Schlägerei. Ich hatte Notdienst.«

Sie lief in die Praxisräume. Ann Kathrin eilte hinter ihr her, immer höchstens einen Meter von ihr entfernt, und schon hielt sie eine Röntgenaufnahme in die Höhe.

»Ja, das ist er. Ganz eindeutig. Ich habe ihm zwei provisorische Kronen gemacht, die saßen hier. Die sind vermutlich verbrannt.«

Ann Kathrin wusste, dass Melli jetzt zu einem großen Vortrag über Zähne, Zahnhygiene und möglicherweise sogar die Besonderheiten einer Wurzelbehandlung ausholen würde, aber daran hatte sie im Moment kein Interesse. Sie hakte gleich nach: »Wie heißt er? Ich brauche kein Gutachten für die Krankenkasse, sondern einen Namen und eine Adresse.«

»Er war privat versichert und glaubte, daraus besondere Privilegien für sich herleiten zu können. Er klingelte nachts, so zwischen zwölf und halb eins.«

»Hast du eigentlich keine Angst, wenn dich irgendjemand nachts anruft und …«

Melli grinste, und Ann Kathrin wusste wieder, warum ihre Zahnärztin so gerne in den Boxring stieg.

Aber Melli spielte darauf gar nicht an, sondern sagte: »Auch die stärksten Männer und die wildesten Typen werden hier plötzlich ganz kleine, weinerliche Jungs, die Angst vor dem Bohrer haben. Besonders, wenn sie mit eingeschlagenen Zähnen kommen, so wie der hier.«

»Du weißt also, wie er heißt.«

»Na klar. Dieses Gebiss gehört zu Christoph oder Christian Willbrandt. Auf jeden Fall Willbrandt. Er kommt aus Carolinensiel.«

»Aus Carolinensiel? Und dann kommt der zu dir nach Marienhafe? Hatte denn in Wittmund keiner Notdienst?«

»Er war auf einem Konzert von action b. Die haben in Marienhafe im Zelt gespielt. Ich wäre auch gerne hingegangen, aber ich hatte ja leider Notdienst. Die machen nämlich richtig guten Soul.«

»Ich weiß«, sagte Ann Kathrin und schloss für ein paar Sekunden die Augen, weil sie sich daran erinnerte, wie sie gemeinsam mit Frank beim fünfzehnjährigen Jubiläum der Gruppe zu Proud Mary und Midnight Hour zwischen verschwitzten Fans getanzt hatte. Die dreizehn Musiker hatten gegroovt, als ob es kein Morgen geben würde, und Frank hatte nicht gehen wollen, bevor sie nicht Son of a preacher man und Unchain my heart gespielt hatten. Es war eine äußerst fröhliche, ausgelassene Stimmung gewesen.

»Und bei einem Konzert von action b haben sie ihm die Zähne eingeschlagen?«

»Nein, es war wohl draußen am Bierzelt. Er hat es mir erzählt, so gut, wie er halt sprechen konnte. Aber ich war nicht wirklich daran interessiert, mir von einem Besoffenen seine Heldentaten während einer Schlägerei anzuhören.«

»War er volltrunken?«

»Nein, du darfst das nicht so interpretieren, Ann Kathrin. Er roch nach Bier und Zigaretten, klar, aber volltrunken war er bestimmt nicht. Ich hätte ihm zwar keinen Autoschlüssel mehr gegeben, aber …«

»Weißt du sonst noch etwas über ihn?«

»Ja. Er war ungefähr eins achtzig groß. Ich vermute, er hatte zwanzig Kilo Übergewicht, und mit seiner Zahnhygiene stand es nicht zum Besten … Eine junge Frau hat ihn begleitet. Ich dachte erst, sie sei vielleicht seine Tochter, aber möglicherweise waren sie auch ein Liebespaar … Es war uneindeutig. Hellblonde Haare und strahlend blaue Augen. Etwa zwei Köpfe größer als ich. Die Figur sah nach strenger Diät und viel Arbeit aus.«

Ann Kathrin hatte es plötzlich sehr eilig. Die beiden Frauen versprachen sich gegenseitig, bald mal wieder etwas gemeinsam zu unternehmen, dann gingen sie beide ihrer Arbeit nach.

Der Milchschaum stand auf dem Cappuccino wie die Miniaturausgabe eines schneebedeckten Bergmassivs. Der Anblick löste in ihm Assoziationsketten aus. Der Urlaub in St. Moritz. Die Abfahrt in Muottas Muragl … Wie frei er sich auf Skiern fühlte, wenn er über die weiße Fläche nach unten glitt! Der harsche Ton der Skier auf dem Schnee.

Er griff sich an die Schläfe, als müsse er die Schneebrille geraderücken. Lange Zeit hatte er geglaubt, einen größeren Kick, als auf Skiern ins Tal zu fahren, gäbe es nicht für die menschliche Seele. Doch diesen Willbrandt zu töten hatte sich noch viel besser angefühlt. Eine fast schwerelose Leichtigkeit des Seins hatte ihn erfasst, als er ihm die Kehle durchschnitt. Dieses Gefühl verspürte er jetzt in diesem Augenblick, als er den Cappuccino genoss. In Willbrandts Café.

Carolinensiel war zwar kein Paradies für Skifahrer, dachte er grinsend, aber doch ein schöner Ort, um die Vollstreckung des Todesurteils an Willbrandt zu genießen. Hier wurde er von der Energie seines Triumphes befeuert und konnte in fröhlicher Stimmung die nächste Tat planen.

Er streckte die Füße unterm Tisch aus und bog die Knie durch. Ja, diese Kreaturen auszulöschen war besser, als Ski zu laufen, Champagner zu trinken oder schöne Frauen zu lieben.

Die Kellnerin mit den wippenden blonden Haaren und dem kräftig geschminkten Schmollmund sah der Frau sehr ähnlich, die Willbrandt zum action-b-Konzert begleitet hatte.

Ja, sie war es. Sie bewegte sich nur weniger lasziv als beim Konzert, und sie hatte ihre Frisur verändert. Er kannte einige Frauen, die sich eine neue Frisur zugelegt hatten, nachdem sie verlassen worden waren oder einem Typen den Laufpass gegeben hatten.

Ihm ging es ähnlich. Auch er hatte sich verändert. Allerdings nicht, weil sein Gemütszustand in Unordnung geraten war, sondern weil er seine Spuren verwischen wollte.

Er hatte die Motorradlederkluft gegen eine North-Face-Jacke mit künstlichem Fell an der Kapuze ausgetauscht. Darunter trug er einen Norwegerpullover. Die Echthaarperücke mit der Mickie-Krause-Frisur und der hochgesteckten Sonnenbrille machte aus ihm einen völlig anderen Typ.

Er winkte sie noch einmal herbei. Das Spiel mit dem Feuer gefiel ihm.

Sie erkannte ihn nicht.

Er fuhr sich mit der Hand über das glattrasierte Kinn und bestellte sich ein Stück Käsekuchen.

»Mit oder ohne Rosinen?«, fragte sie gelangweilt.

»Mit.«

»Mit oder ohne Sahne?«

»Mit.«

Jetzt rang sie sich ein Lächeln ab und verschwand mit der Bestellung zur Theke. Sie tuschelte mit ihrer Kollegin.

Ja, das war sie, keine Frage. Sie hatte wild getanzt und einige Songs laut mitgegrölt, obwohl es gar nicht die Musik ihrer Generation war. Sie hatte heftig mit Willbrandt herumgeknutscht. Er erinnerte sich an einen Anflug von Wut auf sie, weil er befürchtete, durch das Geturtele der beiden könne er ihn an diesem Abend nicht mehr alleine erwischen, und er hatte keine Lust, ihnen bei diesem Gefummele und Geschmuse zuzusehen.

Aber dann war der schöne Augenblick gekommen, als Willbrandt alleine das Zelt verließ und zum Toilettenwagen rüberging.

Er schloss die Augen. Nie würde er vergessen, wie gut es ihm getan hatte, seine Faust in Willbrandts ahnungsloses Gesicht zu platzieren.

Das Weichei hatte sich nicht mal gewehrt, sondern nur gejammert, er solle doch um Himmels willen aufhören, und beteuert, er habe ihm doch gar nichts getan.

Das musste der gerade sagen …

Sie brachte ihm den Käsekuchen und fragte: »Sagen Sie mal, ich soll Sie das von meiner Kollegin fragen: Sind Sie der Mallorcatyp, der Zehn nackte Frisösen gesungen hat?«

Er lächelte und nickte. Er hielt den Zeigefinger vor seine Lippen und bat: »Psst. Aber nicht verraten. Ich bin inkognito hier. Und heute keine Autogramme und keine Interviews …«

Sie lächelte ihn verständnisvoll an, als sei es völlig normal, dass Promis sich hierher zurückzogen, um ungestört Urlaub zu machen.

Tja, Willbrandt, dachte er schadenfroh. Noch vor kurzem bist du hier durch das Café gegockelt und hast auf dicke Hose gemacht. Jetzt bin ich hier der Star. Vermutlich wissen sie noch gar nicht, dass du tot bist, oder es lässt sie kalt. Werden sie in Jubelschreie ausbrechen, wenn sie es erfahren? Oder gibt es jemanden, der um dich trauert, du alte Mistsau?

Langsam, jeden Bissen genießend, begann er, den Käsekuchen zu essen. So gut der Milchschaum auf dem Cappuccino gewesen war, so mies war diese Sahne. Viel zu süß und vermutlich aus der Sprühflasche. Trotzdem beschloss er, noch eine Weile zu bleiben. Er bestellte sich ein Mineralwasser und einen weiteren Cappuccino.

Er wäre zu gern dabei gewesen, wenn die Nachricht vom Tod Willbrandts eintraf. Er fragte sich, wie lange die ostfriesische Polizei brauchen würde, um herauszufinden, wen er da im Osterfeuer abgefackelt hatte. Falls sie es überhaupt herausfinden sollten. Vielleicht würde er einfach später auch zu den vielen verschwundenen Personen gezählt werden, die sich in Deutschland vom Acker machten und nichts zurückließen außer Steuerschulden und ein paar gebrochenen Herzen.

Sylvia Hoppe traf Rupert im Flur vor dem Kaffeeautomaten, der vor drei Monaten hier aufgebaut worden war und seit dem ersten Tag nicht funktionierte. Inzwischen war von den vielen Tritten und Schlägen links oben und rechts unten das Blech eingedellt. Der Automat schluckte Ein- und Zwei-Euro-Stücke, dann leuchtete auf dem Display kurz das Wort Danke auf, und das war’s.

Sylvia Hoppe kannte niemanden, der jemals sein Geld wiederbekommen oder gar einen Kaffee erhalten hatte.

Es gab auch eine Taste für Suppe und eine für Kakao. Der Einzige, der offensichtlich noch nicht wusste, dass man hier nur sein Geld verlieren konnte, war Rupert. Amüsiert sah sie ihm zu, während er Geld einwarf.

Rupert fummelte mit dem kleinen Finger in seiner Ohrmuschel herum und schüttelte dabei den Kopf wie ein Hund, der mit dem Staub der Straße auch Parasiten loswerden will, die sich in seinen Haaren verfangen haben.

»Ich werde diesen Ton nicht mehr los! Ich hasse diesen Ton, wenn ein Bohrer sich in den Zahn arbeitet. Wieso werde ich immer zuletzt informiert? Ich hab noch zwei Stunden lang Zahnarztpraxen besucht, als längst klar war, dass wir die entscheidende längst gefunden hatten.« Er trat zornig mit dem Fuß auf. »Der Bratarsch hat mir nicht Bescheid gesagt. Das ist Absicht! Das ist Mobbing. Ich lasse mir das nicht länger gefallen!«

»Vielleicht weiß die Kollegin in der Einsatzzentrale ja, dass du sie immer Bratarsch nennst, und du bist deswegen immer der Letzte auf der Liste, den sie anruft.«

Rupert drückte eine Hand gegen sein rechtes Ohr, als sei er dort immer noch taub. »Im Grunde ist das Körperverletzung. Die hat allen vor der Mittagspause Bescheid gesagt und mir erst danach. Jetzt habe ich diesen Ton im Ohr. Ich hasse diese schrecklichen Bohrer. Das Geräusch macht mich irre!«

»Ja«, sagte Sylvia Hoppe spitz, »wir wissen alle, dass du hypersensibel bist. Ann Kathrin ist mit Weller unterwegs nach Carolinensiel. Während du dir einen Gehörschaden geholt hast, haben wir schon eine ganze Menge über diesen Willbrandt herausgefunden. Er stammt aus gutem Hause. Seine Eltern hatten in München mehrere Mietshäuser. Der Vater starb Mitte der Neunziger. Die Mutter hat zunächst ihm, dann seinem Bruder die Verwaltung des Vermögens übertragen. Er ist in Köln mit einer Discothek pleitegegangen, in Bonn mit einem Fitnessstudio, dann hat er ein Hotel in Hamburg gekauft. Das ging aber auch nicht gut. Jetzt hat er ein Café in Carolinensiel. Macht auf mich den Eindruck eines jungdynamischen Bankrotteurs.«

Zu Sylvia Hoppes Verblüffung gab der Automat einen weißen Becher frei. So weit war ihres Wissens nach noch nie jemand gekommen. Dann zischte es, und eine Flüssigkeit tropfte in den Plastikbecher.

Sylvia fuhr fort: »Vor einem Jahr starb seine Mutter. Mit dem Bruder ist er völlig über Kreuz. Es geht wohl ums Erbe. Der Bruder ist mehr nach dem Willen der Eltern geraten. Er unterrichtet an verschiedenen Universitäten Germanistik und Komparatistik.«

»Was ist das denn für ein Scheiß?«

Sylvia Hoppe sah ihn von der Seite an, und Rupert spürte, dass sie sich darüber freute, dass er keine Ahnung hatte.

»Na komm schon«, sagte er. »Tu doch nicht so. Du wusstest es doch auch nicht und musstest erst nachgucken, oder nicht?«

»Vergleichende Literaturwissenschaften!«, triumphierte sie. »Er hat sogar zwei Bücher darüber geschrieben.«

Sie wollte die Titel aufzählen: »Die Bedeutung inter- und transkultureller literaturwissenschaftlicher Forschung …«

»Ja, schon gut. Ich will es ja nicht auswendig lernen. Sie haben sich also ums Erbe gezankt, und er hat dann seinen Bruder bei uns verfeuert? Erbt der dann alles allein, oder hat Willbrandt Frau und Kinder?«

»Verheiratet ist er jedenfalls nicht. Könnte sogar sein, dass du mit deiner Vermutung richtigliegst …«

»Guck, wem’s nutzt, dann weißt du, wer’s war.«

»Hast du die schlauen Sprüche von deiner Oma oder aus einem Jerry-Cotton-Heftchen?«, lästerte sie.

Rupert nahm sein Getränk und nippte daran. Er verzog den Mund. »Pfui Teufel, was ist das denn? Da kocht ja meine Schwiegermutter besseren Kaffee!«

Sylvia Hoppe roch an seinem Becher. »Das ist kein Kaffee. Das ist Gemüsesuppe.«

»Wer trinkt denn hier Gemüsesuppe?«

»Du.«

Rupert stellte das Getränk oben auf dem Automaten ab. »Und ich soll jetzt vermutlich losfahren und diesen vergreisten Akademiker besuchen, während Ann Kathrin und Weller in Carolinensiel Kaffee und Kuchen bekommen, ja?«

»So ungefähr.«

Schrader trat aus seinem Büro in den Flur, sah die beiden beim Getränkeautomaten stehen und rief: »Wirf da bloß kein Geld rein, Rupert! Da kommt nie was raus! Das Ding ist Betrug! Wir sollten uns die Lieferfirma mal vorknöpfen.«

»Aber nicht jetzt! Trink erst mal dein Süppchen, Rupert, und dann fahren wir zusammen nach Hannover und nehmen uns den Professor vor«, sagte Sylvia Hoppe.

Rupert spottete: »An Ostern schaukeln diese faulen Intellektuellen sich die Eier. Nur so arme Schweine wie wir ackern …«

»Irrtum. Er gibt ein Blockseminar. Er ist eine Art Privatdozent. Er unterrichtet mal hier und mal da, hat seine Frau mir gesagt. Hannover, Bremen, Tübingen, Heidelberg, Birmingham, Balaton.«

»Na«, spottete Rupert, »da müssen wir ja direkt stolz sein, dass so ein toller Hecht überhaupt mit uns spricht.«

Es machte Sylvia Hoppe Spaß zu sehen, wie Rupert mit seiner Intellektuellenfeindlichkeit unter dem Gedanken litt, eine Universität betreten zu müssen. Das wollte sie ihm auf keinen Fall ersparen. Deshalb hatte sie sich ihn als Begleitung ausgesucht.

Es war Ann Kathrin peinlich, dass Weller den Kuchen annahm, den die Bedienung ihnen angeboten hatte. Auch zu einem doppelten Espresso hatte er nicht nein gesagt.

Während Ann Kathrin nun die Angestellten über den Tod von Christopher Willbrandt informierte, wurde sie zweimal von Weller unterbrochen, der den guten ostfriesischen Apfelkuchen lobte.

»Danke«, sagte die junge Frau, »aber wir machen den hier nicht selber, wir bekommen alles geliefert.«

Sie hieß Nadja Jansen. Angeblich hatte sie Willbrandt vor drei Tagen zum letzten Mal gesehen, aber so kritisch, wie ihre Kollegin guckte, konnte an der Aussage irgendetwas nicht ganz korrekt sein.

Ann Kathrin hatte Respekt vor Melli Maidas genauer Beschreibung. Man merkte halt, dass die Zahnfee Kriminalromane las. Ann Kathrin hätte ein Monatsgehalt darauf gewettet, dass Nadja Jansen Christopher Willbrandt zur Zahnärztin begleitet hatte.

Dreimal während des Gesprächs sprang die junge Frau auf, bediente Gäste oder kassierte ab. Sie saß so bei Weller und Ann Kathrin, dass sie den Raum des Cafés überblicken konnte, und ihre Aufmerksamkeit war mehr bei den Gästen als bei den Kommissaren.

Nachdem Weller sein Stück Kuchen verdrückt hatte, ging er zur Theke, um sich dort mit der Bäckereifachverkäuferin zu unterhalten. Sie behauptete, Herr Willbrandt sei ein großzügiger Chef gewesen, sie hätten im Grunde alle Freiheiten gehabt. Er sei nicht oft vorbeigekommen, und sie wollte wissen, was jetzt aus ihr werden solle und ob Café und Kuchentheke weiterhin geöffnet bleiben könnten.

Weller zuckte mit den Schultern.

Sie nahm ein Quarkhörnchen aus der Auslage und biss hinein. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie, »aber mir schlägt so etwas immer auf den Magen, und ich muss dann essen.«

»Ich auch«, sagte Weller.

»Verbrannt«, sagte sie. »Das ist ja ganz schrecklich. Einen schlimmeren Tod hätte er sich nicht vorstellen können.«

»Er ist nicht bei lebendigem Leibe verbrannt«, beruhigte Weller die Frau.

Sie spuckte ein paar Krümel aus. »Trotzdem war es das Schlimmste für ihn.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Weller.

»Nun, als seine Mutter starb – wir hatten damals gerade eröffnet –, da weiß ich noch ganz genau, wie er reagiert hat. In ihrem Testament stand, dass sie verbrannt werden wollte. Er schüttelte sich und sagte, dass er so eine Beisetzung grausam finde. Es gab ziemlichen Krach deswegen. Er wollte auch im Krematorium nicht dabei sein. Und ausgerechnet dieser Mann verbrennt in einem Osterfeuer?«

»Wer immer das getan hat«, brummte Weller, »wusste bestimmt von dieser Abneigung.«

»Abneigung? Das war eine richtige Phobie. Am Anfang habe ich mir Mühe gegeben, hier alles schön zu machen und beim Aufbau des Cafés mitzuhelfen. Ich hatte mir ja erhofft, Prokura zu kriegen. Aber dann …« Sie winkte ab. »Na ja, jedenfalls habe ich Kerzen auf jeden Tisch gestellt. Ich dachte, wenn ein Gast kommt, zünden wir die Kerze an. Ich kannte so etwas von meiner früheren Arbeitsstelle. Aber bei offenem Feuer wurde der gleich panisch. Ich musste alle Kerzen wieder von den Tischen räumen.«

Ann Kathrin ließ einen Versuchsballon steigen. »Sie haben Herrn Willbrandt zum action-b-Konzert begleitet. Stimmt das?«

Nadja Jansen machte einen verblüfften Eindruck, deutete dann mit einer Kopfbewegung zu ihrer Kollegin und fragte: »Hat die Ihnen das erzählt?«

Für Ann Kathrin klang das nach einer angespannten Beziehung.

»Nein«, sagte Ann Kathrin, »wir haben uns noch gar nicht miteinander unterhalten. Darf ich Ihre Antwort als Ja deuten?«

Nadja Jansen sah vor sich auf den Tisch und nickte. Aber etwas daran war ihr peinlich. Ann Kathrin vermutete, dass ihre Beziehung zu Willbrandt gründlich schiefgelaufen war.

»Was ist an dem Abend geschehen? Können Sie mir das erzählen?«

Sie sah sich nach den Gästen um. Es war ihr offensichtlich unangenehm. Niemand sollte mithören. Dann flüsterte sie: »Er hat mich angegraben, und ich war total verknallt in ihn. Ich verliebe mich immer in die falschen Männer … Irgendjemand hat eine Schlägerei mit ihm angefangen und ihn ganz schön verdroschen. Ich bin dann zum Notarzt mit ihm. Der hat uns gleich zum Zahnarzt weitergeschickt. Also, zu einer Zahnärztin, in Marienhafe.«

»Würden Sie den Mann wiedererkennen, mit dem er sich geprügelt hat?«

»Nein. Ich habe das gar nicht gesehen. Er ist zur Toilette gegangen, und dann kam er nicht wieder. Ich dachte schon, der lässt mich einfach hier stehen und haut ab. Ich war ziemlich sauer auf ihn, bin dann nach draußen gegangen, ihn suchen. Und dann fand ich ihn. Er sah übel aus …«

»Hat er Ihnen gesagt, wer ihn angegriffen hat?«

»Er kannte den Typen nicht … Zumindest hat er das behauptet.«

»Gab es Zeugen? Irgendwelche Leute, die Sie kennen?«

»Ich kannte niemanden. Nicht mal die Band.«

»Wurde die Polizei gerufen?«

»Ich glaube, er hat am nächsten Tag Anzeige gegen unbekannt erstattet. Zumindest wollte er das.«

Weller kam von der Theke zurück. Mit jedem Schritt, mit dem er sich dem Tisch näherte, zog sich Nadja Jansen mehr in sich selbst zurück. Ann Kathrin deutete Weller an, er solle noch Abstand halten, aber er nahm das nicht wahr.

Ann Kathrin konnte noch eine Frage loswerden: »Hatte er auch etwas mit Ihrer Kollegin?«

Nadja Jansen antwortete nur mit einem Gesichtsausdruck. Es war ein deutliches Ja.

Weller zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Er stöhnte, als hätte er einen Dauerlauf hinter sich.

Weil beide Frauen ihn jetzt ansahen, als erwarteten sie etwas von ihm, fragte er: »Fühlte Herr Willbrandt sich bedroht? Ist Ihnen etwas Merkwürdiges aufgefallen?«

»Nun ja. Er wurde zusammengeschlagen«, antwortete Nadja Jansen und suchte mit Blicken bei Ann Kathrin Bestätigung.

»Das meint mein Kollege nicht. Das wissen wir doch bereits.«