Ostseeschleife - Menso Heyl - E-Book

Ostseeschleife E-Book

Menso Heyl

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Beschreibung

Nach seinem Ausscheiden als Chefredakteur des "Hamburger Abendblatts" hat Menso Heyl zusammen mit seiner Frau und dem Bordhund einige Wochen lang die Ostsee im Segelboot umrundet – bis zu den Åland-Inseln, dann durch den Götakanal quer durch Schweden nach Göteborg und wieder zurück nach Deutschland. Seine Beobachtungen sind nicht nur Reisebericht, sondern auch Reflexionen eines aus dem Berufsleben getretenen Menschen, der zunächst einmal die neu gewonnene Ruhe und Zeit genießen lernen muss – fern von Konferenzen, Terminen und Vorgaben ..

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Menso & MaryAnn Heyl

OSTSEESCHLEIFE

Ein zeitloser Segelsommer

1. Auflage

© by Delius, Klasing & Co KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-7688-3255-7 (Print)

ISBN 978-3-7688-8121-0 (pdf-eBook)

ISBN 978-3-7688-8322-1 (EPUB-eBook)

Lektorat: Birgit Radebold

Fotos: Alle Fotos von Menso Heyl, bis auf die Bilder 5, 11, 17, 28 und 29: Herbert Biller, Bilder 4 und 33: Uwe Heldewig

Umschlaggestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger, Hamburg

eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis

des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,

nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.delius-klasing.de

Für unsere Söhne Marcus

und Christopher

Inhalt

 1 Der erste Schritt ist der wichtigste

 2 Zwischen gestern und morgen liegt der Augenblick

 3 Der Wind sagt, was zu tun oder zu lassen ist

 4 Eine Gemeinschaft von Seenomaden

 5 Vom Gefühl, vor Anker zu liegen

 6 Auch wer die Leinen loswirft, ist nicht unbedingt weg

 7 Das Licht des Sommers im Norden

 8 Wenn ein Stück vom Panzer der Gewohnheit platzt

 9 Nicht nur das Wetter wandelt sich

10 Die unverzichtbaren Momente des Für-sich-Seins

11 Sehnsucht nach dem offenen Meer

12 Nichtstun ist aller Freuden Anfang

13 Angekommen, aber nicht am Ziel

14 Keinen Hund mehr! Keinen Mann mehr! Höchstens einen Goldfisch

1

Der erste Schritt ist der wichtigste

55°07,52´N

012°02,60´E

Præstø, Seeland

Ein Lichtfleck wandert über mein Gesicht. Von links nach rechts, wieder nach links. Ganz langsam. Er weckt mich auf. Es ist der erste Sonnenstrahl, der d'urch das unverdunkelte Decksluk fällt. Der Schein wandert mit dem Boot, das sich vor Anker hin und her bewegt.

Beine aus der Koje. Sechs, sieben Schritte, dann die Stufen ins Cockpit hoch. Maimorgen. Der Himmel ist von frühlingshafter Helligkeit, aber noch nicht blendend. Über dem glatten Wasser der Bucht liegt Dunst, wie ein Schleier, wie eine leuchtende, fast durchsichtige Glocke. Das Holzdeck macht die nackten Sohlen nass, es ist durchtränkt von der Feuchte der Nacht. Niemand anders ankert hier, wir sind allein. Wiesen und Bäume an Land, die Tropfen an den Relingsdrähten, frisch sieht das alles aus, als wäre es gerade geschaffen. Für uns.

Wir sind später aufgebrochen, als wir dachten. Immer ist noch etwas zu tun. Die vier Winschen am Cockpit, die Extra-Winsch für die Wickelleine des Großsegels, die beiden Winschen am Mast zum Durchsetzen von Groß-, Vorsegel- und Spinnakerfall, sieben Stück, auseinandernehmen, reinigen, fetten und wieder zusammensetzen. Die Kanten der Cockpit-Grätings brauchen frischen Klarlack, die hölzerne Einfassung des Niedergangsluks braucht ihn auch – wie sieht das sonst aus? Hinter der Verschalung über dem Navi-Tisch muss ein Kabel für den Bordcomputer verlegt werden. Die neuen Vorhänge für die sechs Seitenluken im Salon, die aufstellbaren Luken in Pantry, WC und der Achterkajüte bekommen neue Vorhänge. An das Bücherbord in der Achterkajüte wird eine Schlingerleiste gesetzt, damit die Bücher nicht im Seegang herabstürzen. Reparaturen und kleine Einbauten ziehen und ziehen sich hin.

Abbildung 1

Raus aus dem Winterlager, endlich sind wir im Wasser. Doch dann ist der Wind gegen uns. Tag um Tag kommt er aus Nordost, die Richtung, in die wir wollen. Die Langsamkeit des Aufbruchs liegt jedoch nicht nur am Wind: Wir finden immer wieder eine Sache, die noch zu erledigen ist und erledigt werden soll. Das Segeln ist eben ein Abbild des Lebens: Die Leinen loswerfen, das Vertraute fahren lassen und sich auf Neues einlassen – das ist schwer. Du schiebst es also etwas hinaus, findest immer genug, das noch zur Vorbereitung gehört.

Als wir dann ablegen, steht im Hafen von Burgstaaken auf Fehmarn, wo wir außer den Handwerkern kaum jemand kennen, niemand an Land und winkt. Doch mit dem Augenblick des Ablegens beginnt unsere neue Zeit. Zu zweit drei, vier Monate auf einem Boot. Wie fühlt sich das an? Wird es kostbar sein oder eine Last?

Das Meer wird besungen, beschrieben, gezeichnet und gemalt. Wenige aber wissen, dass die See sowohl trennen als auch vereinen kann. Freundschaften, Liebe und Ehen scheitern an der Enge des Lebens an Bord. Sich so nah sein, das können nur wenige. Aus Tagen wird Endlosigkeit. Jede Falte des anderen, jede kleine Verwerfung des Charakters, jede dumme Angewohnheit vergrößert sich unter der Lupe der Nähe ins Unerträgliche. Und ein Ausweichen gibt es nicht. Für manche jedenfalls.

Aber es gibt auch die anderen, die Glücklichen. Für sie ist das Schiff ihre Schale. Es trägt sie. Es umhüllt sie. Es beschützt sie. Sie genießen die Nähe zueinander. Von Tag zu Tag bezieht sich ihr Leben mehr auf das, was ihnen wichtig ist. Tage füllen sich mit Sein. Aus Unterschieden wird Gemeinsamkeit.

Es wird sich zeigen, was ist.

An den Kreidefelsen der Insel Møn sind wir entlanggesegelt. In der Bucht bei Præstø, umhüllt von Wald und Seelands Hügeln, fällt der Anker. Nur 100 Seemeilen bis hier. Wir sind nicht am Ziel, aber auf dem Weg. Auch wenn das Ziel kein Ort sein wird, sondern ein Zustand, so wissen wir doch schon jetzt, dass dieser Zustand mit der Intensität des Lebens zu tun haben wird.

Die ersten 100 Meilen sind nur ein Schritt. Aber der erste Schritt ist der wichtigste. Du musst ablegen, wenn du ankommen willst. Hol den Anker auf, setz Segel, leg ab. Fühl den Wind im Rücken oder – wie meistens – mitten im Gesicht. Richte die Augen auf den Horizont. Oder bleibe an Land. Aber wähle.

Unser Boot heißt NAJADE, wie manche Wassergöttinnen bei den alten Griechen. NAJADE ist 10,34 Meter lang und an ihrer dicksten Stelle 3,33 Meter breit. An diesem Morgen wiegt sie mit all unseren Vorräten gut acht Tonnen. Das ist unsere neue Welt. Für die nächsten Monate haben wir gewählt.

Alles wird langsamer und eindringlicher werden. Die Zeit fühlt sich anders an. Sie verrinnt nicht, sie trägt uns. NAJADE ist nicht sehr schnell, kein Rennboot, aber man kommt gut mit ihr voran. Sie ist verlässlich, und dass wir uns auf ihr sicher fühlen können, hat sie uns oft bewiesen. 26 Jahre ist sie alt, in dem Alter haben Boote schon viel Erfahrung. MaryAnn und ich finden auch, dass sie eine Schönheit ist, nicht nur wegen der neuen himmelblauen Gardinen.

Unsere Welt unter Deck ist nicht riesig, doch Platz haben wir genug. Ganz vorn gibt es eine Kajüte mit zwei Kojen, dort, wo ich gerade aufgewacht bin. Durch eine Holztür geht es in den größten Raum, wir nennen ihn den Salon. An seinem anderen Ende ist auf der einen Seite das Bad (na ja, ein viel zu großspuriger Begriff). In der Mitte geht es vier Stufen hoch, durch das Niedergangsluk ins Cockpit. Auf der anderen Seite der Treppe ist die Küche, die wir Pantry oder Galley nennen. Und daran vorbei führt unter Deck ein kleiner Gang nach hinten in die Achterkajüte. Sie hat eine ganze Menge Schapps – das sind Aufbewahrungskästchen – und Schränkchen und das größte Bett, eine Doppelkoje. Nachmessen allerdings würde beweisen: Es ist nur eine Anderthalb-Koje.

Oben an Deck nehme ich einen tiefen Atemzug. Die Luft, die allmählich von der See her über die Landzunge hinweg zu uns streicht, trägt einen gerade spürbaren Hauch von Jod und Salz. Sie zieht weiter über die Bucht, fährt durch das Astwerk der Bäume am Ufer wie durch ein Sieb und vermischt sich über Feldern und Wiesen, die sich nach weit landeinwärts erstrecken, mit dem Duft des frischen Grüns, das überall zu sehen ist. Über die Hügel streicht der Wind, als würde er das Gras bürsten. Die Welt einsaugen an diesem Morgen. Welch ein Glück, das zu dürfen.

Wer sonst ist nicht im Käfig der Gewohnheiten eingesperrt? Im Käfig wie jener Bär, von dem man schon gelesen hat. Der Bär ging in seinem Käfig immer hin und her. Als die Gitterstäbe nach Jahren entfernt wurden, ging der Bär weiter seine sechs Meter hin und her. So als ob der Käfig noch da wäre. Die Macht der Gewohnheit. Machen wir es anders als der arme Bär? Vielleicht selten, aber doch manchmal im Leben, taucht eine gute Gelegenheit dafür auf. Wenn eine alte Aufgabe erledigt ist, wenn dein Zug von den Schienen genommen wird, oder du selbst die Weichen neu stellst.

Vor 20 Jahren hätte ich laut gelacht, wenn mir einer gesagt hätte, du liegst irgendwann einmal in einer Bucht vor Anker und schreibst Gedanken auf ein Stück Papier über den ersten Schritt zu einem langen Törn. Vorwärtskommen hat sich damals anders definiert. Aber heute? An Schwedens Südküste vorbei, nordwärts durch die Schären und – auch Ziele, die weit abseits der Südsee liegen, können exotisch klingen – zu den Åland-Inseln. Wohin auch immer. Wir haben Zeit, bis der Sommer zu Ende geht.

Zehn grüne Oktavheftchen sind an Bord, mit jungfräulich-weißen linierten Seiten. Darauf wollen wir Eindrücke und Gedanken festhalten für die Kolumne, die ich einmal die Woche von unterwegs für die »Welt« schreibe. Am Morgen unseres zweiten Hafentages in Præstø sehe ich, dass MaryAnn in der Achterkajüte schon eine Weile wach gewesen ist. Sie hat eins der grünen Heftchen auf dem Schoß und einen Bleistift in der Hand. Sie hat sich Notizen gemacht, die ersten Seiten gefüllt. Es sind mehr als Notizen, sehe ich, als sie mir das Heft herüberreicht. Es sind ihre Gedanken über das, was wir vorhaben. Es ist die Sicht einer Frau, meiner Frau, auf unser Abenteuer:

Bevor wir aufbrachen, schreibt sie, habe ich mich gefragt: Was könnte größer sein – die Freude, meiner Sehnsucht nachzugeben und zu bleiben oder später das Bedauern, dass ich nicht gegangen bin? Und weiter: Die Gefühlswelten hinter diesen Gedanken hängen für mich eng zusammen. Sie sind Elemente meines Abenteuers, die in unserer Reise fest verankert sind.

Das Wichtigste ist, mir selbst zu beweisen, dass ich die Ausdauer habe, viele, viele Wochen, einige Monate sogar, auf See zu sein. Weg von allem, was mein und unser Leben sonst ausmacht. Und wenn wir zuvor auch immer wieder über unsere lange Fahrt gesprochen haben und unsere Köpfe darauf vorbereitet haben, als es wirklich losgeht, habe ich nur den Eindruck, dass wir in Urlaub fahren. In mir ist dieses Drei-Wochen-Gefühl. Vielleicht ist es nur ein Schutz, den die Seele aufbaut, um das Unbekannte bekannter erscheinen zu lassen. Gewiss, mir hat das den Anfang leichter gemacht. Und die Hürde der mir so lang erscheinenden Zeit kann später kommen.

Lange, lange Zeit eng zusammen? Jeder neue Schuh scheuert an einer anderen Stelle. Da wird kein Schuhmacher was dran ändern, das ist eben so. Aber wenn Männer auf die Nerven gehen, dann immer genau da, wo es am sensibelsten ist. Und daran wird sich auch nichts ändern. Welche Kleidung wir brauchen, was zu viel ist und was zu wenig. Die Dinge für den Hund, die Gänge zum Tierarzt wegen der Impfungen. Bordapotheke, Proviant. Menso hatte diese Idee, dass er unterwegs selbst Brot backen will. Also war ich es, die 16 Pakete Backmischungen ausgesucht, gekauft und gut verstaut hat. Frauen wissen alles besser, Männer machen alles besser? Nach 36 Jahren Zusammensein muss er mir wirklich nicht mehr erzählen, wo die Marmelade steht …

Wir segeln seit 20 Jahren. Ostsee, Mittelmeer, Ostsee. Ich kenne mich inzwischen einigermaßen aus. Stürmischer Wind, Flaute, Fallböen, das glatte Wasser, in dem sich Mond und Sterne spiegeln, die unfreiwillige Halse bei sechs Windstärken, als ich selbst am Ruder steh. Und der D-Zug-Wind in der Gewitterfront, der Wasser über das Seitendeck gurgeln lässt. Alle Varianten haben mich nicht wirklich ängstlich gemacht, weil ich mit der Zeit lernte, wie ich mich zu verhalten habe. Da draußen, das weiß ich nun wirklich, kann vieles aus heiterem Himmel kommen. Es ist ein Teil des Segelns. Aber du musst eins mit dir sein, du musst fokussiert sein. In unseren Revieren, wo ein schützender Ankerplatz oder ein sicherer Hafen meist nicht allzu weit entfernt sind, bin ich der Sache gewachsen. Die Ruhe danach wird durch den Sturm zum Geschenk. Soll doch keiner abtun mit dem ironischen Satz: Es ist so schön, wenn der Schmerz nachlässt. Nein, die schwierigen Teile machen zusammen mit den schönen am Ende das Erlebnis aus. Der Entschluss zum ersten Schritt braucht bei mir immer ein wenig Mut. Mit dem Gefühl bin ich wahrscheinlich auch nicht ganz allein auf der Welt.

Und so wachen wir am ersten Morgen in Burgstaaken schon um 5 Uhr 30 auf. Was für ein Unterschied zu gestern. Von der Laune her, meine ich vor allem. Hatte es eigentlich sein müssen, dass unter dem Kran, als er gerade unseren Mast gesetzt hatte, wieder genau das passierte, was ein Jahr zuvor auch schon geschah? Vor einem Jahr hatten wir unter den Decksluken über Vorpiek, Salon und Achterkajüte gerade ein nagelneues, ich nenne es mal »Rollo-System« einbauen lassen. Wenn man den Mechanismus mit einem Magneten einrastet und nach vorn zieht, rollt ein Moskitoschutz unter die Luken, nach achtern geschoben zieht sich ein Rollo vor, das den Innenraum des Schiffes vor Licht und Blicken von außen schützt. Die fachmännisch eingebaute Anlage ließ sich ganz leicht bewegen. Die neuen Plastikteile liefen in ihren Bahnen wie geschmiert. Wie gesagt, das war im letzten Jahr, und als wir uns gerade zum Ablaufen vom Kranplatz fertig machten, wischte eine heftige Bö über den Hafen. Sie wirbelte den Schlackensand hoch, der nicht weit entfernt vom Kran den Autoabstellplatz bedeckt, und trieb die Wolke von »Grand«, ich glaube so nannte man irgendwann einmal diese kleinsteinige Bodenbedeckung, über die Kaikante genau auf unser Boot. Durch die offen stehenden Luken fiel das Zeug viertelpfundweise ins Schiffsinnere. Und die nagelneuen Plastik-Gleitbahnen des schönen Rollo-Systems füllten sich mit den feinsten Anteilen des Schlackenstaubs. Es kostete viel Arbeit, das alles rauszukriegen. Die Gleitlager gleiten seitdem nie wieder so sanft wie in den ersten Minuten ihrer Existenz an Bord, als wir mit den frisch eingebauten Dingern noch unter dem Kran lagen – bevor die Schlackewolke kam.

Diesmal hatte Menso tagelang unser Teakdeck aufgefrischt. Erst hatte er es gereinigt, die meisten Stellen auf den Knien mit Lappen und sehr weichen Bürsten mit der Hand bearbeitet. Dann hatte er in einem zweiten Arbeitsgang eine Flüssigkeit mit Nanoteilchen aufgetragen, die das Vergrauen des Teaks verlangsamen, seinen frischen, warmen Holzton bewahren soll. Seinem Stöhnen nach zu urteilen, war es Knochenarbeit. Zum Mastsetzen hatten wir noch einmal unter den Kran gemusst. Wir lagen so ziemlich genau an derselben Stelle wie ein Jahr zuvor. Und? Wieder ein heftiger Windstoß. Der Teufel muss am Werk gewesen sein. Wieder fiel der ganze Dreck über das Schiff, jetzt traf es Mensos Teak-Kunstwerk. Warum hat man diesen verdammten Kranvorplatz noch immer nicht teeren lassen? Ich wollte zur Stadtverwaltung stürmen, den Bürgermeister fragen und ohrfeigen. Aber ich habe es dann sein gelassen. Wenigstens die Luken waren diesmal geschlossen. Ich will den Kranplatz der Leiden nach unserer Rückkehr im Auge behalten. Mal sehen, ob sich immer noch nichts getan hat, wenn unsere Reise vorüber ist.

Der letzte Hafentag also, mit allem, was noch erledigt werden musste, war für uns durch und durch grau. Mitten in der Nacht hörte dann der Wind auf zu pfeifen, nur noch ein leichter Zug aus Südwest. Um 8 Uhr sind wir unterwegs. Sonnenschein, die Luft ist warm. Am Nachmittag laufen wir in Gedser den Strand entlang. Für unseren Hund, Scotchterrier Emmy, wird das zu einer Art Kleidungs-Premiere.

Emmy hat die Angewohnheit, an Dänemarks Stränden ins Wasser zu laufen, mindestens so weit oder besser so tief, wie sie ihre kurzen Beine noch tragen. Dabei wird das lange Fell nass. Danach wälzt sie sich im Sand, was ihr das Aussehen eines Streuselkuchens verleiht. Falls sie dann noch eine schön verrottete Qualle entdeckt, rollt sie sich mit dem Rücken drauf, die Beine in die Luft gestreckt. Das mag für sie den Vorteil haben, dass ihr Geruch zur Umgebung passt. Es hat aber den Nachteil, dass sie so unmöglich wieder aufs Boot darf.

Wer will schon seinen Scottie nach jedem Landgang waschen? Wir haben ihr deshalb einen kleinen Neoprenanzug schneidern lassen. Orangefarben. Am Rücken ein Tragegriff, Kopf frei, Heck frei, mit Viertel Bein. Den Anzug trägt Emmy in Gedser das erste Mal in freier Wildbahn. Und es funktioniert. Sie läuft nach kurzer Trotzphase tatsächlich damit. Gleich auch ins Wasser. Selbst das Schwimmen klappt. Beim Wälzen hinterher bleibt das Fell sauber. Nicht schlecht für den Anfang.

Abbildung 2

Wenn ich meinen Mann beim Hantieren an der Maschine, beim Umgang mit Diesel, Petroleum und Schmierfett sehe, frage ich mich inzwischen, ob so ein Schutzanzug nicht auch für ihn richtig wäre …

Im Süden Dänemarks bin ich in einer Umgebung, in der ich mich wohlfühle. Als wir nach der ersten Nacht vor Anker, hier in Præstø, dem kleinen seeländischen Hafen, einlaufen, können wir uns den Liegeplatz aussuchen. Es ist Mai, noch früh im Jahr. Stille, herrliche Tage. Wir holen die neuen Bordfahrräder heraus – sie lassen sich so praktisch zusammenklappen, dass sie in die Schränke unter Deck passen – und gehen auf Jungfernfahrt. Bald darauf erkennt mich Benny, mein Lieblings-Antik-Händler gleich wieder. Hier in dieser Landschaft sind wir jetzt zum dritten Mal, das gibt mir das Gefühl, beinahe noch zu Hause zu sein.

2

Zwischen gestern und morgen liegt der Augenblick

55°33,59´N

014°21,31´E

Simrishamn, Schweden

Am Morgen ist der Geruch der See besonders. Bevor die Sonne stark genug scheint, riecht das Meer wie ein Garten, der sonst nirgendwo zu finden ist. Hätte die Farbe Blau einen Duft, er wäre so.

Um 8 Uhr 30 klopft es an unseren Rumpf. Der Skipper der CRESCENDO, eine Hallberg Rassy 36, steht auf dem Steg.

»Meine Frau hat gerade den Schweden gehört«, den Seefunk-Wetterdienst von Stockholm Radio auf Kanal 21. »Wir gehen raus. Sonst liegen wir die nächsten zwei Tage hier eingeweht.«

Uwe und Renate hatten uns am Abend in Ystad, Südschweden, zu einem Glas guten Badener auf ihre CRESCENDO eingeladen. Sie sind auch Hamburger, das ist bei Seglern oft von Weitem zu erkennen. Der Heimathafen steht meist gut sichtbar am Heck ihres Schiffes.

Die Wettervorhersage für die nächsten drei Tage war zunächst äußerst unerfreulich gewesen. Kernsatz des Berichtes:

»Gewittertief 1008 Westdeutschland, vertiefend, nordostziehend, heute Nacht 990 Südschweden.«

Das versprach Schlechtwetter, Regen, Wind. Erst aus Südost bis fünf Beaufort, dann westdrehend, zunehmend sechs und schwere Gewitterböen. Allerdings waren unsere holländischen Stegnachbarn, drei Yachten, gegen Viertel nach sieben ausgelaufen und der letzte deutsche Wetterbericht hatte die Situation etwas günstiger eingeschätzt. Er sagte maximal vier bis fünf Windstärken aus Südost an, spät abends auf West drehend. Renate von der CRESCENDO zeigte die Notizen, die sie gegen acht Uhr über Seefunk vom schwedischen Küstenwetterbericht aufgenommen hatte:

»Wind mit 5 bis 7 Metern in der Sekunde aus Südost.«

Das sind höchstens vier Beaufort im nahen Küstenbereich. Alles zusammengenommen kommen wir zu dem Schluss, dass wir nur noch während des heutigen Tages bei Sonnenschein und einigermaßen günstigen Bedingungen um die Südostecke von Schweden herumsegeln können. Bei den Westwinden, die danach für einige Zeit heftig wehen, werden wir dann im Schutz der ostschwedischen Küste sein. Dennoch schwanken wir einen Augenblick mit der Entscheidung, zu bleiben oder nicht. Der Eindruck aus den Werbebroschüren der Landschaft Schonen klingt noch nach.

»Es ist wie ein anderes Land«, hatten wir gelesen. »Alles ist so anders, ein wenig kontinental, aber auch wieder nicht. Die wogende, offene Landschaft, die langen weißen Sandstrände, das Fachwerk, die Geschichte, die Speisen und die Kunst.« Hier, so hieß es, würden sich Himmel und Meer auf eine Art begegnen, die die Zeit zum Stillstand bringt. So nah käme man dem Himmel hier.

Ystad hatte bei Seglern lange den Ruf eines langweiligen Übernacht-Hafens. Noch zu Recht? Es war einmal ein durchaus wichtiger Hafen der Hanse. 1684 wurde ein regelmäßiger Postdienst nach Stralsund eingerichtet. Heute wird Ystad von Fähren aus Bornholm, Polen, dem Baltikum und Deutschland angelaufen. In der modernen kleinen Stadt stößt man auf Fachwerkhäuser, schmale Gassen, die Reste eines Franziskanerklosters. Ein Schmugglernest war Ystad auch vor Langem. Einige Straßennamen zeugen noch davon, »Betrügerweg«, »Trinkergasse«. Inzwischen ist die Stadt als Lebensschauplatz des Bestseller-Helden Kurt Wallander für viele Krimileser zum Begriff geworden. Die Touristeninformation gibt Straßenkarten heraus, die jeden, der mag, auf Wallanders Spuren durch Ystad leiten. Geführte Touren zu den Hauptschauplätzen der Romane gibt es obendrein.

Es hilft alles nichts, auch wir laufen aus. Wir müssen eben darauf verzichten, aus der Hauptstadt von Henning Mankells Kriminalsaga Postkarten an unsere Freunde zu verschicken.

»Wir bleiben hier«, sagt am Steg die Bordfrau der INDIAN II, eine Najad 320 aus Bremen. »Ystad ist ganz hübsch geworden, seit es Wallander gibt.«

Die Entscheidung der INDIAN II, zu bleiben, ist so gut wie unsere Entscheidung, abzulegen. Aber vielleicht ist der Entschluss der Bremer der reifere.