Ostwind: Zusammen sind wir frei / Rückkehr nach Kaltenbach - Carola Wimmer - E-Book

Ostwind: Zusammen sind wir frei / Rückkehr nach Kaltenbach E-Book

Carola Wimmer

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Beschreibung

Das große Wiedersehen

Mikas erster Aufenthalt bei ihrer strengen Großmutter auf dem Gestüt Kaltenbach sollte eigentlich eine Strafe fürs Sitzenbleiben sein. Doch im Stall findet Mika den wilden Hengst Ostwind – und stellt überrascht fest, dass sie die Sprache der Pferde versteht! Jetzt setzt sie alles daran, Ostwind zu bändigen ...

Als Mika mit ihrer besten Freundin Fanny nach Kaltenbach zurückkehrt, stellt sich heraus, dass das Gut kurz vor der Pleite steht! Zudem entdeckt Mika Wunden an Ostwinds Bauch. Was haben der benachbarte Pferdehof und der Junge Milan damit zu tun?

Der Doppelband enthält die Bände "Ostwind-Zusammen sind wir frei" und "Ostwind-Rückkehr nach Kaltenbach".

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Seitenzahl: 365

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Zusammen sind wir frei

Rückkehr nach Kaltenbach

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Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage 2015

© 2015 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House, München,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Dieser Doppelband besteht aus:

Ostwind – Zusammen sind wir frei © SamFilm GmbH/Constantin Film

Produktion GmbH, Lizenz durch Alias Entertainment GmbH

Geschrieben von Carola Wimmer basierend auf dem Drehbuch

von Kristina Magdalena Henn und Lea Schmidbauer.

Erstmals erschienen 2013 unter der ISBN 978-3-570-15680-3

Ostwind – Rückkehr nach Kaltenbach © Alias Entertainment GmbH/SamFilm GmbH, Lizenz durch Alias Entertainment GmbH

Geschrieben von Kristina Magdalena Henn und Lea Schmidbauer.

Erstmals erschienen 2014 unter der ISBN 978-3-570-15812-8

Artwork mit freundlicher Genehmigung der Constantin Film Verleih GmbH/SamFilm GmbH und Alias Entertainment GmbH

Fotos Umschlag: Tom Trambow

Umschlaggestaltung: basic-book-design, Karl Müller-Bussdorf

SaS · Herstellung: AJ

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-19577-9V002

www.cbj-verlag.de

Carola Wimmer

Zusammen sind wir frei

Prolog

Das Pferd tänzelte unruhig auf der Stelle.

Es wollte sich bewegen. Wollte Sonne und Luft. Doch es war gefangen im staubigen Halbdunkel zwischen den schmalen Wänden einer Box.

Verzweifelt machte es einen schnellen Schritt Richtung Tür.

Da näherten sich Stimmen.

»Und er ist ihr direkter Nachkomme?«, fragte Maria Kaltenbach, als sie den Stall betrat.

»Er ist Hallas Urenkel«, antwortete Herr Fink. »Er hat definitiv ihre Anlagen. Aber ich verkaufe ihn wirklich ungern«, fuhr er fort. »Er ist unberechenbar. Hat uns bisher nur Schwierigkeiten gemacht.«

Maria Kaltenbach schien die Bedenken nicht zu teilen: »Ach, das haben sie über Halla auch gesagt«, erwiderte sie leichthin. »Ich weiß schon, was ich tue.«

»Das hoffe ich. – Ich lasse den Transporter kommen«, sagte Friedrich Fink und verließ den Stall.

Maria Kaltenbach öffnete den Riegel und trat in die Box. Sie war über sechzig Jahre alt und eine erfahrene Reiterin. In ihrem langen Leben hatte sie schon viele Pferde besessen. Dass der alte Fink Ostwind verkaufen wollte, war ein großes Glück. Nur wenige Pferde hatten ein so talentiertes Springpferd, eine Legende wie Halla im Stammbaum. Sie würde den Hengst schon lehren, ihr zu gehorchen.

Als sie einen Schritt auf das Pferd zu machte, wich es ängstlich zurück und stieß hart gegen die Rückwand.

Maria Kaltenbach ließ sich nicht beirren. »Dann wollen wir mal«, sagte sie.

Doch der Hengst stieg wiehernd auf die Hinterbeine. Dann schlug er seitlich aus. Maria Kaltenbach wurde gegen die Wand der Box geschleudert. Sie schrie vor Schmerz. Die Hufe des Hengstes krachten hart auf den Steinboden.

Maria Kaltenbach klammerte sich an seine Mähne, seinen Hals. Doch Ostwind riss sie einfach mit sich fort. Immer wieder schlug sie hart gegen die Wand, bis sie ohnmächtig zu Boden fiel.

Ostwind war nicht mehr zu halten. Er galoppierte die Stallgasse entlang in Richtung Licht, der Freiheit entgegen.

1. Kapitel

Ohne Halt ging es über eine Sommerwiese Richtung Horizont. Die Landschaft rauschte in atemberaubendem Tempo vorbei. Ein grasendes Reh erschrak, ein Hase sprang fort. Ein Flusslauf kreuzte ihren Weg. Mit einem Satz ging esüber ihn hinweg, über ihr nur das grenzenlose Blau des Himmels. Es war ein unbekanntes Gefühl maßlosen Glücks …

… Mika öffnete die Augen. Das Blau war verschwunden. Statt in endlose Weite, blickte sie nur in die müden Gesichter derer, die mi=9-t ihr die überfüllte U-Bahn teilten. Eine graue Betonwand ratterte an ihr vorbei. Nichts als öde Realität. Seufzend zog sich Mika ihre Mütze tiefer in die Stirn. Vielleicht konnte sie den schönen Traum noch einmal zurückholen? Schnell schloss sie die Augen.

»Hey! Aufwachen!«, hörte sie da die Stimme ihrer besten Freundin. »Ab morgen kannst du träumen. Dann sind Sommerferien!«

Im nächsten Moment quetschte sich Fanny auch schon neben Mika auf den engen Sitz. Fanny war Mikas engste Vertraute, liebenswert und immer voller Tatendrang. Ohne sie wäre Mikas Leben wohl ziemlich langweilig. Für die Sommerferien hatten sie eine gemeinsame Reise in ein Feriencamp geplant.

»Genau. Freiheit, wir kommen!«, sagte Mika. Ihre Stimme klang dabei aber alles andere als überzeugt. Denn vor den Sommerferien lag noch die Zeugnisvergabe. Mika gehörte nicht zu den fleißigsten Schülerinnen. Ganz im Gegenteil. Sie war stinkend faul. Ihre Versetzung hing am seidenen Faden.

»Hey, keine Sorge«, sagte Fanny und legte Mika den Arm um die Schulter. Sie wusste, was ihre Freundin dachte. »Du stehst genau auf der Kippe … ich hab’s nachgerechnet!«

Mika nickte.

»Und er hat gesagt, dass es gut aussieht«, fügte Fanny hinzu.

Auch Mika hatte die Noten überschlagen. Ja, eigentlich sah es sogar ganz gut aus. Sie lächelte. »Stimmt«, gab sie zu und wischte ihre Sorgen beiseite. Es würde schon alles gut gehen.

In diesem Moment entdeckte Fanny ein paar feuerrote Strähnen, die unter Mikas Mütze hervorlugten. Fanny guckte erschrocken und zog mit einem schnellen Griff ihrer Freundin die Mütze vom Kopf. Mikas ehemals schönes goldblondes Haar leuchtete in einem feurigen Rot! Fanny starrte mit aufgerissenen Augen auf die Haare: »Was ist das denn?!?«

Mika hatte mit einer solchen Reaktion schon gerechnet. Aber es war ihr egal. Ihr gefiel die Farbe. Die U-Bahn hielt und Mika schnappte sich ihre Mütze. »Typveränderung«, sagte sie ohne weiteren Kommentar und sprang aus der U-Bahn.

»Typ Pavianarsch?«, rief Fanny Mika hinterher. Dann schulterte sie kopfschüttelnd ihre Tasche, um Mika zu folgen.

Aber Mika hatte sich bereits durch die Menschenmassen geschlängelt, denn sie hatte es eilig. So schnell wie möglich wollte sie raus aus dem Bahnhof, hinauf an die frische Luft. Endlich wieder unter freiem Himmel! Sie klappte ihr Kickboard aus und rollerte los. Fanny stürzte ihr schwer beladen hinterher.

Mika hatte das Schulgebäude fast erreicht, als plötzlich direkt neben ihr die Bremsen eines Autos quietschten. Mit bleichem Gesicht sah sie sich unvermittelt der Kühlerhaube eines blitzblank geputzten Ford Mustangs gefährlich nahe. Das Cabriolet gehörte Herrn Lessing, ihrem Klassenlehrer, der gerade auf den Lehrerparkplatz hatte einbiegen wollen. Er hatte dafür einige Lehrergehälter hinblättern müssen.

»Mika! Pass doch auf!«, schimpfte er.

Mika kam nun wieder voll zu sich. »Wie bitte?«, platzte es aus ihr heraus. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie hätte tot sein können! Und dieser Schnösel machte sich Sorgen um sein dämliches Angeber-Auto? Mika stemmte die Arme in die Hüften und wollte gerade zu einer empörten Rede ansetzen, als Fanny angeschnauft kam. Schützend schob sie sich vor Mika und deutete Herrn Lessing gegenüber eine beschwichtigende Vorfahrtsgeste an. »Bitte nach Ihnen!«

Herr Lessing lächelte knapp und stieg aufs Gas, während Fanny Mika einen strafenden Blick zuwarf. Mika verstand: Jetzt bloß keinen Ärger einhandeln! Und damit hatte Fanny sicherlich recht.

Als Herr Lessing in der letzten Stunde in der Klasse herumging und die Zeugnisse verteilte, zog sich die Zeit für Mika unerträglich in die Länge. Herr Lessing hatte allerdings keine Eile. Er machte bei der Zeugnisvergabe bei jedem Schüler aufmunternde oder kritische Bemerkungen und trat erst ganz zuletzt an Fannys und Mikas Tisch.

»Eine schöne Leistung. Weiter so«, lobte er Fanny und reichte ihr das Zeugnis. Dann wandte er sich Mika zu, die ihn hoffnungsvoll ansah.

Herr Lessing hob die Stimme. »Mika, Mika, Mika. Man sagt zwar, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, aber in deinem Fall ist er wohl auf einem anderen Kontinent gelandet.«

Dann überreichte er Mika mit einem Gesichtsausdruck, der Sorge ausdrücken sollte, ihr Zeugnis.

Mika begriff: Sie war tatsächlich sitzen geblieben. Entgegen aller Rechnerei und Zusagen.

»Aber, aber … Sie haben doch gesagt, es sieht gut aus für mich«, stammelte sie.

Herr Lessing lächelte wie eine Hyäne vor der Fütterung. »Das nennt man Ermessensspielraum«, sagte er mit einer gewissen Genugtuung.

Mika glühte vor Zorn. Was für eine ekelhafte Willkür! Was sollte sie jetzt tun? Auch Fanny fühlte sich hilflos. Sie war in sich zusammengesunken wie ein Schluck Wasser.

In diese stille Verzweiflung hinein läutete die Schulglocke und beendete das Schuljahr. Die Klasse stürzte hinaus, fröhliche und unbeschwerte Sommerferien in Aussicht.

Auch Herr Lessing nahm seine Tasche und verließ mit federndem Schritt den Raum. Mika und Fanny taumelten hinterher. Im Treppenhaus setzten sie sich frustriert auf die Stufen.

Mika fühlte sich wie eine unrettbare Versagerin.

Fanny nahm Mikas Zeugnis und studierte es sorgfältig. »Immerhin! Ne Drei in Religion!«, rief sie schließlich aufmunternd und ließ das Papier sinken.

Mika löste sich aus ihrer Erstarrung. »Wenn ich wenigstens irgendwas könnte«, sagte sie traurig.

»Hey, du kannst doch ganz viel!«, widersprach Fanny tröstend.

Mika horchte auf. »Was denn?« Ihre Stimme klang hoffnungsvoll.

Fanny überlegte. »Also …«

»Ja?«

»Ähhh … ähhh …«, machte Fanny und suchte angestrengt nach einer Antwort.

Mika ließ den Kopf hängen. »Danke. Fühl mich schon viel besser«, sagte sie resigniert.

»Ich bin halt nicht so spontan«, entschuldigte sich Fanny.

Mika seufzte tief. Sie war nun also tatsächlich eine Sitzenbleiberin. So etwas hatte es in ihrer Familie sicherlich noch nie gegeben. Denn ihre Eltern waren leider blitzgescheit. Sie genossen als Professoren der Physik internationales Ansehen und waren auf Fachtagungen und Kongressen begehrte Gastredner. Mikas Sommerferien wollten sie nutzen, um von Kongress zu Kongress zu reisen. Schon seit Wochen war nichts anderes mehr Thema.

Mika warf Fanny einen vorsichtigen Seitenblick zu. »Das Feriencamp kann ich jetzt bestimmt knicken«, sagte sie.

Fanny reagierte entsetzt. »WAS?? Nein!! Das ist gemein! Darauf freuen wir uns seit Monaten!!«

Traurig sah Mika zu Boden. Schlimmer kann es jetzt eigentlich nicht mehr kommen, dachte sie – als plötzlich ein merkwürdiger Geruch in ihre Nase drang. Sie schnupperte. Was roch denn hier so … nach Feuer?

Entsetzt entdeckte Mika ihr brennendes Zeugnis in Fannys Händen. Ihre Freundin hatte es kurzerhand angezündet!

Fanny verzog keine Miene. »Wie bedauerlich. Es gab einen Brand im Lehrerzimmer, deshalb gibt’s die Zeugnisse dieses Jahr erst nach den Ferien«, erklärte sie pragmatisch.

Schnell versuchte Mika nach dem Zeugnis zu greifen. Doch Fanny hatte es bereits aus dem Fenster geworfen. Das brennende Papier schwebte langsam in die Tiefe außerhalb ihrer Sichtweite.

»Spinnst du?«, fuhr Mika ihre Freundin völlig entgeistert an.

Aber nun wurde Fanny sauer. »Was!?«, rief sie. »Ich hab wenigstens Lösungen! Und jetzt geh ich packen – mit dir oder ohne dich!« Wütend zog sie ab. Auch das noch!

»Fanny!«, rief Mika matt. Jetzt fühlte sie sich gänzlich verlassen.

Müde und todunglücklich trottete Mika die Treppe hinab. Doch als sie das Schulgebäude verließ, wurde sie augenblicklich wieder hellwach. Das durfte nicht wahr sein! Mika traute ihren Augen kaum: Denn ihr Sitzenbleiberzeugnis war nicht einfach schadlos verglüht. Genau genommen war so ziemlich das Gegenteil der Fall: Vom lauen Wind in sanften Abwärtsschrauben getragen, war es ausgerechnet auf der Rückbank eines Mika gut bekannten Oldtimer-Cabriolets gelandet, das auf dem Lehrerparkplatz parkte und hatte den dort liegenden Aktenstapel in Brand gesetzt.

Voller Entsetzen beobachtete Mika, wie Herr Lessing, nach Hilfe rufend, um sein qualmendes Auto sprang.

Mika schloss die Augen – konnte es noch schlimmer kommen?

2. Kapitel

Mit klopfendem Herzen ging Mika nach Hause. Am besten totstellen, die Decke über den Kopf ziehen und einfach nicht da sein!

Doch kaum war sie ungesehen in ihr Zimmer gehuscht, klingelte es auch schon. Mikas Mutter, Elisabeth Schwarz, öffnete lächelnd die Wohnungstür. Davor standen zwei uniformierte Polizeibeamte mit ernsten Mienen. Einer hielt wortlos eine Klarsichttüte hoch, in der ein verkohltes Eckchen Zeugnis zu sehen war. »Mika Schw…«, stand deutlich lesbar auf dem Papierrest. Das Lächeln auf Elisabeths Gesicht versiegte.

Was folgte, war ein langes und ernstes Gespräch hinter der geschlossenen Wohnzimmertür. Als die Polizisten endlich wieder gegangen waren, wurde Mika von ihrer Mutter mit frostigen Worten ins Wohnzimmer zitiert. Mika hatte sich noch nie so allein gelassen gefühlt. Trotzig setzte sie sich aufs Sofa.

»Brandstiftung sei ein ernst zu nehmendes Warnzeichen. Vor allem bei Schulversagern«, wiederholte Mikas Mutter die Worte der Polizisten und rang mit den Händen. »Schulversager! Meine Tochter!«

Mikas Vater, Phillip, versuchte seine Frau zu beruhigen. »Elli, immerhin war dieser Lehrer doch ganz kooperativ. Mika darf die Nachprüfung machen, und wir übernehmen den Schaden ohne ein weiteres Verfahren …«, redete er beschwichtigend auf sie ein.

»Das war echt ein Unfall!«, fuhr Mika auf.

»Setz. Dich. Hin«, erklärte ihre Mutter eisig.

Enttäuscht nahm Mika wieder Platz und senkte den Kopf. Was sollte sie jetzt tun? Auf keinen Fall wollte sie die Schuld auf Fanny schieben. Und auch die beste Ausrede hätte keinen Sinn gehabt, denn ihre Eltern hörten ihr ja nicht einmal zu. Wenn sie doch wenigstens mit ihr geredet hätten und nicht nur über sie!

»Also, den Kongress können wir unmöglich noch absagen. Du bist die Hauptrednerin, Elisabeth«, sagte Mikas Vater.

Elisabeth lief unruhig durch das Zimmer. »Aber dieses Ferienlager ist wohl kaum der richtige Ort, um in Ruhe und mit Disziplin für die Nachprüfung zu lernen«, überlegte sie laut.

Konnte das denn wahr sein? Jetzt redeten sie schon so, als säße sie nicht im selben Raum, ärgerte sich Mika. »Aber ihr habt mir versprochen, dass ich mit Fanny –«, versuchte sie zu erklären.

»Du hast hier nichts mehr mitzureden!«, erklärte Mikas Mutter bebend vor Wut.

Das war zu viel! Mika sprang auf und rannte aus dem Wohnzimmer. Dabei knallte sie die Tür, dass die Wände wackelten.

Erschöpft sank Elisabeth auf das Sofa. »Was machen wir denn jetzt nur?«, fragte sie. Sie klang ehrlich ratlos.

Mikas Vater hatte eine Idee. Aber er wagte es kaum, sie auszusprechen. »Ich wüsste da jemanden«, sagte er schließlich.

Elisabeth machte ein fragendes Gesicht. Doch dann schien sie zu begreifen. Sofort schüttelte sie trotzig den Kopf. »Nein, auf gar keinen Fall«, sagte sie entschieden.

Im nächsten Moment war aus Mikas Zimmer ein lauter Wutschrei zu hören. Dann das Krachen von Gegenständen auf den Zimmerboden. Zitternd vor Enttäuschung hatte Mika Taucherbrille, Flossen, Beachballschläger – alles was sie bereits für die Reise zusammengelegt hatte – quer durchs Zimmer gefegt.

»Denk doch nur mal kurz darüber nach«, bat Mikas Vater seine Frau im Wohnzimmer.

Wieder schepperte es in Mikas Zimmer.

Elisabeth nahm ihr Rotweinglas vom Tisch und trank es in einem Zug leer. Einen sehr langen Augenblick starrte sie vor sich hin ins Leere. Dann nickte sie.

Phillip stand auf und ging zu Mikas Zimmer. Vorsichtig öffnete er die Tür. Mika saß mit roten Augen auf ihrem Bett, die Arme um die Knie geschlungen. Um sie herum herrschte Chaos.

»Wir haben eine Entscheidung getroffen«, sagte Mikas Vater. »Du verbringst die Ferien bei deiner Großmutter.«

Mika sah auf. »Auf dem Friedhof?«

Mikas Vater lächelte schwach und schüttelte seufzend den Kopf. »Du hast noch eine andere Großmutter«, erklärte er.

Mika sah ihren Vater mit großen Augen an. Denn von dieser anderen Großmutter hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört.

3. Kapitel

Gleich am nächsten Tag wurde Mika von ihren Eltern in den Zug gesetzt. Mikas Mutter hatte sie zum Abschied fest umarmt. Unruhe und Zweifel hatten dabei in ihrem Blick gelegen. Dennoch hatte sie ihre Entscheidung nicht zurückgenommen.

Die Verabschiedung von Mikas Vater war herzlicher ausgefallen. Es war ganz offensichtlich, dass er seine Tochter nur ungern fortschickte. Bevor Mika in den Zug stieg, hatte er ihr noch eine Tüte mit Büchern zugesteckt, damit sie sich auf der Fahrt nicht langweilte.

Als Mika einen Platz gefunden hatte, untersuchte sie den Inhalt. Der Titel des ersten Buchs, das ihr in die Hände fiel lautete: Knobeleien der Quantenmechanik.

Mika seufzte. Dann lehnte sie sich zurück und dachte nach. Wohin würde ihre Reise gehen? Niemand hatte ihr etwas Genaues sagen wollen. Nach dem Gesichtsausdruck ihrer Mutter zu urteilen, schien ihr Weg aber direkt in ein stacheldrahtumzäuntes Straflager zu führen. Irgendetwas mit Tieren auf jeden Fall. Vielleicht eine Schweinefarm?

Mika sah aus dem Fenster. Der Zug fuhr an endlosen Kieferwäldern vorbei über plattes Land. Nach einigen langweiligen Stunden wurde es hügeliger. Mika musste einmal umsteigen, dann hatte sie ihr Ziel erreicht: Einen Provinzbahnhof in ländlicher Idylle.

Als Mika aus dem Zug kletterte, stand dort aber lediglich eine Kuh, um sie zu begrüßen. Sie machte: »Muuhh.«

»Selber Muh«, sagte Mika und blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, nur weite Felder. Mika nahm ihr Handy aus der Tasche und fotografierte das Nichts mit der Kuh, oder vielmehr die Kuh mit dem Nichts, als sich ein Traktor näherte. Obenauf saß ein sympathisch aussehender Junge, nur wenig älter als Mika. »Hallo, ich bin Sam und du die Brandstifterin aus Frankfurt?«, fragte er zur Begrüßung und stoppte den Traktor. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen.

»Kannst auch Mika zu mir sagen«, erwiderte Mika.

Sam musterte Mika neugierig: Mit ihrer Sturmfrisur, den verwaschenen Jeans und den roten Turnschuhen sah sie nicht im Geringsten so aus, wie Sam es von Mädchen auf dem Land gewohnt war. Zumindest nicht von den Mädchen aus seiner näheren Umgebung.

»Frau Kaltenbachs Enkelin«, sagte er schließlich und fügte hinzu: »Dich hab ich mir ganz anders vorgestellt.«

»Ich hab mir meine Ferien auch ganz anders vorgestellt«, seufzte Mika.

Sam sprang vom Traktor und hievte Mikas Rucksack hinauf. Beim Anblick ihres Kickboards sagte er: »Das kannst du hier eher vergessen«, und deutete auf den Schotterweg.

»Abwarten«, erwiderte Mika und versuchte möglichst lässig auf den Traktor zu klettern.

Als Sam ihn wieder anlassen wollte, knallte es laut. Mika zuckte vor Schreck zusammen. Dann ratterte der Motor los. Sam grinste zufrieden.

»Nur die neuste Technik hier bei euch, was?«, bemerkte Mika.

Im nächsten Moment machte der Traktor, wie zum Beweis, einen Satz nach vorn. Mika konnte sich gerade noch festhalten. Dann knatterten sie über eine staubige Straße los.

Mika nahm ihr Handy in die Hand, um Fanny das Foto mit der Kuh zu schicken. »WILLKOMMEN IN DER PAMPA«, tippte sie. Aber dann bekam sie kein Netz. Genervt hielt Mika das Handy in alle Richtungen. Endlich blinkten kurz zwei Netzbalken auf und die Nachricht wurde gesendet.

Als Mika wieder aufblickte, fuhren sie gerade an einem zur Laube umgebauten, efeubewachsenen Bauwagen vorbei, der auf einer ungemähten Wiese an einer Lichtung stand. Wer wohnt denn in so einer Hütte?, wunderte sich Mika und sah der merkwürdigen Behausung nach. Hoffentlich waren hier nicht alle Unterkünfte so!

Aber da erreichte der Traktor schon eine große Allee, rechts und links lagen Wiesen und Weiden. Sie passierten einen großen Findling. Auf dem Stein stand: Gut Kaltenbach.

Mika schaute sich verwirrt um. Der Traktor fuhr durch ein Tor auf einen weitläufigen Hof, auf dem ein herrschaftliches Gutshaus stand mit Stallungen für Pferde und einem großen Reitplatz.

»Habt ihr hier Pferde?«, fragte Mika irritiert.

»Wie kommst du denn da drauf?«, lachte Sam.

Im selben Moment krachte es laut. Auf dem Reitplatz war ein Barren zu Boden gefallen. Mika drehte sich um und entdeckte ein großes weißes Pferd, das gerade mit fliegender Mähne auf ein Hindernis zu galoppierte.

Mika fühlte sich mit einem Mal, als hätte sie einen Schlag vor den Kopf bekommen. Überdeutlich nahm sie jedes Detail war: Die Hufe, die auf den Sand trommelten, der Dampf, der aus den Nüstern des Pferdes stieg. In seiner Bewegung lagen Kraft und Anmut, beides zur gleichen Zeit. Endlich sprang es ab. Mit größter Eleganz flog es über das Hindernis. Doch die Latte wackelte – und fiel erneut.

Mika stand der Mund offen. Bis eine energische Stimme sie zusammenfahren ließ.

»Nein, nein, nein! Der macht mit dir, was er will. Schenkel zusammen, Hände runter, wir sind hier doch nicht beim Fliegenfischen«, schallte es über den Platz.

Die Reiterin, ein Mädchen, das nur wenig älter als Mika war, ritt im weiten Bogen aus. Das Pferd glänzte nass und schnaubte laut bei jedem Galoppsprung.

In der Mitte der Reitbahn stand Maria Kaltenbach, Mikas Großmutter. Gebieterisch drehte sie sich mit Pferd und Reiterin wie eine Zirkusdirektorin.

Am Gatter entdeckte Mika eine Traube kleinerer Mädchen, die das Training mit glänzenden Augen beobachteten. Es war offensichtlich: Alle wollten so sein wie das Mädchen auf dem weißen Pferd.

Mika sah wieder auf die Reiterin. Der Ehrgeiz quoll förmlich aus ihr heraus. »Ich versuch’s gleich noch mal!«, rief sie verbissen. »Er nimmt einfach die Beine nicht …«

Aber Maria Kaltenbach unterbrach sie sofort kopfschüttelnd: »Nicht er! Du!«

In diesem Moment hupte Sam und brachte den Traktor zum Stehen. Alle Köpfe drehten sich abrupt zu ihnen herum. Mika war die plötzliche Aufmerksamkeit sehr unangenehm. Schnell sprang sie vom Traktor herunter. Auch Mikas Großmutter verließ ihren Posten. Mika sah, dass sie sich beim Gehen auf einen Stock stützte und schwer hinkte. Hinter dem Gatter, mit einiger Distanz, blieb sie stehen. Eine herzliche Umarmung war offensichtlich nicht geplant.

»Du bist also Mika«, sagte Mikas Großmutter und musterte Mika von oben bis unten. »Ein ziemlicher Satansbraten … was man so hört«, sagte sie. »Und groß bist du geworden.«

»Kleiner wär auch komisch«, entfuhr es Mika.

Mikas Großmutter zog eine Augenbraue hoch. Die Pferdemädchen hielten den Atem an. Es war offensichtlich, dass man so nicht mit Frau Kaltenbach sprach!

Doch nach einer langen Sekunde lächelte Mikas Großmutter. Mikas Antwort hatte sie offenbar amüsiert. »Stimmt«, sagte sie.

In diesem Moment erschien die junge Reiterin vom Reitplatz auf ihrem Wallach neben ihnen. »Soll ich dann noch mal den Oxer probieren?«, fragte sie ungeduldig.

»Nein, Michelle, wir lassen es für heute«, entschied Mikas Großmutter. Dann bat sie Sam, Mika ihr Zimmer zu zeigen.

»Wir sehen uns gleich beim Abendessen«, sagte sie zu Mika gewandt. »Versuch solange nichts anzuzünden.«

Mika grinste schuldbewusst.

»Und vielleicht möchtest du dich zum Abendessen noch umziehen«, fügte Mikas Großmutter mit kritischem Blick auf Mikas Klamotten hinzu, bevor sie Richtung Stall davonging.

Mika schaute ratlos an sich hinab. »Wieso umziehen?«, fragte sie.

Als sie wieder aufblickte, stand völlig unerwartet der hübsche weiße Wallach direkt vor ihr und sah sie durch lange Pferdewimpern neugierig an. Oben auf saß Michelle, umringt von den kleinen Pferdemädchen.

Michelle taxierte Mika. »Du bist Frau Kaltenbachs Enkelin?«, fragte sie schließlich.

»Ja, äh und du?«, fragte Mika. Vorsichtig streichelte sie die Pferdenase. Wie weich das war!

»Hallo, Pferd!«, sagte Mika. Der Wallach schnaubte.

Michelle ignorierte Mikas Gegenfrage. »Und? Welche Klasse?«, wollte sie wissen.

Mika biss die Zähne zusammen. Es war ihr unangenehm hier vor all den Mädchen Rede und Antwort zu stehen. Vor allem wenn es um ihre schulischen Leistungen ging.

»8te … äh … 7te. Ehrenrunde«, gestand sie schließlich.

Michelle lachte auf. Auch die anderen Mädchen lachten. Mika war verwirrt.

Ein etwa achtjähriges Mädchen namens Tinka kam Mika zu Hilfe. »Sie meint, welche Leistungsklasse«, flüsterte sie und deutete auf den Reitplatz.

Mika holte erleichtert Luft. »Ach so. Dann KNR!«

Die Pferdemädchen schauten sich ratlos an.

»KNR?«, wiederholte Michelle.

»Kann Nicht Reiten«, erklärte Mika fröhlich.

Nun starrten die Pferdemädchen Mika ungläubig an. Eine Außerirdische! Dass es so etwas gab! Michelle verlor unter diesen KNR-Umständen augenblicklich das Interesse an Mika.

»Na dann noch viel Spaß auf Kaltenbach«, sagte sie kühl und wandte sich zu den Pferdemädchen. »Wer …«, fragte sie. Doch weiter kam sie nicht. Das Mädchen, das Mika eben so freundlich beigesprungen war, hatte bereits den Arm hochgerissen. »Kann ich absatteln?«, rief sie atemlos.

Michelle ignorierte Tinkas Meldung und vollendete in aller Ruhe ihren Satz, »… will Weingraf absatteln?«

Nun rissen alle die Arme hoch und drängten sich um Michelle. »Ich! Ich! Ich!«, erscholl es von allen Seiten.

Michelle schwang sich vom Pferd, drückte Tinka die Zügel in die Hand und ging davon. Rund um Tinka zeigten sich enttäuschte Gesichter. Tinka hingegen sah aus, als sei sie gerade mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet worden.

Sam wurde ungeduldig. »Kommst du? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit«, sagte er. Mika strich Weingraf noch einmal liebevoll über das Fell, dann schnappte sie sich ihren Rucksack und folgte Sam.

Kaum hatte sie das Haus betreten, hielt sie überrascht inne. Alles war hier so anders! Gut Kaltenbach war ganz klar kein Straflager. Und wenn doch, dann ein stinkvornehmes. Staunend schaute sich Mika um. Im großen Flur standen schwere, dunkle Möbel, die Wände des Treppenhauses waren mit gerahmten Fotografien behängt. Mika sah sich alle genau an. Das letzte Bild zeigte ein Mädchen, das ein Pony am Zügel hielt und Mika wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Dann fiel Mikas Blick auf eine Vitrine, die neben dem Bild stand. Ein Paar edle braune Reitstiefel standen hier neben einer Goldmedaille mit den olympischen Ringen. Ein vergilbtes Foto zeigte eine lächelnde junge Maria Kaltenbach mit der Medaille um den Hals auf der Treppe des Gutshauses.

»Das war nach ihrem Olympiasieg. Den Rekord hält sie bis heute«, erklärte Sam, der auf dem oberen Treppenabsatz auf Mika wartete.

»Meine Großmutter?«, fragte Mika ungläubig.

»Frau Kaltenbach ist …«, begann Sam. Doch dann korrigierte er sich, »… war eine der besten Springreiterinnen der Welt. Und die Stiefel da kriegt irgendwann ihre Nachfolgerin.«

»Ist ja wie bei Aschenputtel«, bemerkte Mika ironisch.

Sam wurde ungeduldig. »Jetzt komm! Frau Kaltenbach wartet nicht gern«, rief er. Mika folgte ihm zu ihrem Zimmer. Es hatte blaue Wände und war mit alten Möbeln und einem riesigen, unmodernen Bett ausgestattet.

Als sich Mika vorsichtig daraufsetzte, knarzte es vernehmlich. Sie verdrehte die Augen. »Gemütlich«, sagte sie.

Als Mika zum Essen im Erdgeschoss erschien, wartete ihre Großmutter bereits an der gedeckten Tafel. Doch als die beiden einander gegenübersaßen, wussten weder Mika noch ihre Großmutter, was sie reden sollten. Einen sehr langen Moment herrschte eine peinliche Stille, in der die Wanduhr ohrenbetäubend tickte. Maria Kaltenbach suchte krampfhaft nach einem Gesprächsthema.

»Wie war die Reise?«, fragte sie schließlich.

»Gut«, sagte Mika.

Maria Kaltenbach nickte. »Schön.«

Es war ganz offensichtlich, dass sie kein Talent für Smalltalk hatte. Nach einer zähen Schweigesekunde fragte sie: »Musstest du oft umsteigen?«

»Einmal«, sagte Mika.

»Schön«, sagte Maria Kaltenbach erneut.

Aber auch Mika fühlte sich gehemmt. Schließlich war diese Frau für sie ein wildfremder Mensch. Worüber sollte sie mit ihr sprechen?

Endlich ging die Tür auf, und eine gemütlich wirkende Haushälterin erlöste Mika und ihre Großmutter, indem sie dampfende Teller servierte.

Maria Kallenbach nahm ihr Besteck. »Dann mal guten Appetit. Du hast sicher Hunger!«, sagte sie sichtlich erleichtert.

Auch Mika atmete auf. »Und wie!«, wollte sie gerade sagen, doch da fiel ihr Blick auf ihren Teller, in dem eine hautlose bleiche Wurstmasse in graugrünem Kohl schwamm.

Mikas Augen weiteten sich entsetzt. Wollwürste! Deftige, fleischige Hausmannskost, dabei war sie schon seit Jahren Vegetarierin. Wie sollte das bloß weitergehen?

4. Kapitel

In der Nacht wälzte sich Mika schlaflos in ihrem knarzenden Bett. Alles war still, nur ein trauriges Wiehern war aus der Ferne zu hören. Mika fühlte sich einsam. Vielleicht vermisste sie ihre Familie, auf jeden Fall aber Fanny. Ihre Großmutter erschien ihr nicht unbedingt besonders herzlich, aber sie war gewiss kein Monster. Aushalten ließ es sich mit ihr bestimmt.

Nur warum hatte ihre Mutter ihr ihre Großmutter nur so lange verschwiegen? Mika konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter sie jemals erwähnt hatte. Irgendetwas musste in der Vergangenheit zwischen den beiden gründlich schiefgelaufen sein.

Mika tastete nach ihrem Handy. Dann erhellte das fahle Licht des Displays ihr Gesicht. 02:30 Uhr. Noch immer kein Netz!

Verärgert warf Mika das Handy zurück in die Nachttischschublade und kniff die Augen zu. Jetzt wird geschlafen! Da erklang wieder dieses verzweifelte Wiehern. Und obendrein knurrte auch noch ihr Magen. Mika machte die Augen wieder auf.

Seufzend kletterte sie aus dem Bett und tappte hinunter in die Küche, wo sie sich die Taschen ihres Pyjamas voller Äpfel stopfte.

Aber gerade als sie genüsslich in einen Apfel beißen wollte, hörte sie wieder das Wiehern. Nur klang es hier unten in der Küche näher und noch verzweifelter.

Auf einmal krachten Hufe gegen Holz. Mika spähte aus dem Fenster. Draußen war es stockfinster. Für einen Moment herrschte eine gespenstische Stille, dann hörte sie erneut das Pferd. Mika konnte nicht anders. Neugierig verließ sie das Gutshaus und suchte sich den Weg hinüber zum Stall. Sie öffnete leise die Tür und schlich hinein.

Die Stallgasse war aufgeräumt und leer, alles stand akkurat an seinem Platz. Mika lugte in die einzelnen Boxen, doch die Pferde schliefen allesamt. Nur aus der hintersten Box drangen Geräusche. Nervöses Hufgeklapper, schließlich wieder das Wiehern.

Langsam wanderte Mika die Stallgasse entlang zur letzten Box. Sie war mit eng stehenden Gitterstäben versehen.

Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie in die Dunkelheit. Da tauchte ein funkelndes Augenpaar nur wenige Zentimeter direkt vor ihrem Gesicht auf. Sie gehörten einem Pferd mit einem weißen Fleck auf der Stirn. Einen langen Augenblick wurde Mika von ihm genau gemustert. Auch Mika betrachtete das Pferd aufmerksam.

»Na? Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte Mika schließlich.

Das Pferd antwortete mit einem leisen Schnauben. Mika wollte ihm ihren angebissenen Apfel geben. Doch er passte nicht durch das enge Gitter. Mika schob kurzerhand die Tür ein Stück auf und schlüpfte in die Box. Obwohl das Pferd deutlich größer und kräftiger war als sie selbst, verspürte Mika keine Angst. Im Gegenteil. Es war der dunkle Hengst, der ein paar Schritte zurückwich. Er sah Mika fragend an. Mika setzte sich auf einen der Strohballen, die seitlich an der Box gestapelt standen. Mit ausgestreckter Hand hielt sie dem Pferd den Apfel entgegen. Das Pferd schien Vertrauen zu fassen. Vorsichtig schnupperte es in die Luft, dann machte es einen Schritt vorwärts, dann noch einen. Schließlich nahm es den Apfel mit dem Maul behutsam aus Mikas Hand und kaute geräuschvoll.

»Auch Pech mit dem Essen gehabt?«, fragte Mika amüsiert.

Wie als Antwort knuffte sie der Hengst mit seiner weichen Pferdenase.

Plötzlich merkte Mika, wie müde sie war. Der lange Tag in der Bahn, all die neuen Eindrücke sorgten nun endlich für eine schlagartige Schläfrigkeit. Mika gähnte und streckte sich auf dem Strohballen aus.Dann war sie auch schon eingeschlafen. Dass sie von dem großen Pferd neugierig beschnuppert wurde, bekam sie schon nicht mehr mit. Die ganze Nacht blieb das Pferd neben ihr, als wollte es ihren Schlaf bewachen.

Ein schräger Streifen Sonnenlicht fiel in die Box, Mika lag noch immer tief schlafend auf dem Heuballen. Da zerriss ein scharfes Pfeifen die Luft. Das Pferd neben ihr stöhnte auf. Mika kam langsam zu sich. Sie öffnete die Augen, gerade als dem Hengst die Vorderbeine einknickten und er schwer zu Boden sackte.

»Volltreffer«, sagte eine Stimme.

Mika fuhr herum. Hinter den Gitterstäben stand ein Mann, der ein Gewehr sinken ließ. Sofort war Mika hellwach.

»Hey! Was soll das?«, rief sie panisch. Rasch rollte sie sich von ihrem Lager und sank zu dem Pferd auf die Knie. »Was haben sie mit ihm gemacht!?«, rief sie aufgebracht.

»Keine Sorge, ist nur eine Betäubung«, sagte der Mann. »Ich bin Dr. Anders, der Tierarzt.«

Mika beugte sich über den schwarzen Hengst, um ihm den Betäubungspfeil aus dem Fleisch zu ziehen. Doch da packten sie zwei starke Arme und hoben sie einfach hoch. Als sie wieder abgestellt wurde, sah sie sich dem angstverzerrten Gesicht ihrer Großmutter gegenüber.

»Herr Anders, ist sie verletzt?«, fragte Maria Kaltenbach.

»Alles dran, wie es aussieht«, sagte der Tierarzt. »Hat nur geschlafen.«

Erst als Herr Anders zurück in die Box ging, um Ostwind abzuhorchen, bemerkte Mika, dass ihre Großmutter in höchstem Maße aufgebracht war.

»Du hättest tot sein können!«, schimpfte sie.

Mika wusste nicht, was sie sagen sollte. Eigentlich wusste sie nicht einmal, was sie falsch gemacht hatte. Verzweifelt suchte sie nach Worten.

In diesem Moment bog Sam mit einer Schubkarre um die Ecke. »Was ist denn hier los?«, fragte er verwundert, als er seine Chefin mit Mika sah.

Maria Kaltenbach fuhr wutentbrannt zu ihm herum. Sie ließ ihren Zorn nun an Sam aus. »Das würde ich auch gerne wissen! Es liegt ja wohl in deiner Verantwortung, dass diese Box immer verschlossen ist!«, rief sie.

Eingeschüchtert wich Sam zurück. Er sah von Mika zu dem schwarzen Hengst und wieder zu Mika. »Sie war da drin?«, fragte er verständnislos.

»Ich bin nur eingeschlafen!«, mischte sich Mika ein.

Sam verstand jetzt erst recht nichts mehr. Er schaute fragend zu Mika. »Du bist was?«

»Eingeschlafen«, wiederholte Mika. »Warum ist das denn so schlimm?«

Maria Kaltenbach seufzte hörbar und stützte sich auf ihren Stock. Sie sah plötzlich sehr müde aus. »Dieses Pferd ist gefährlich. Du hast einfach nur großes Glück gehabt. Mehr als Verstand«, erklärte sie. Dann wandte sie sich an Sam: »Tu mir den Gefallen, lass meine Enkelin nicht mehr aus den Augen. Ich muss das Turnier vorbereiten, das ist wichtig für uns alle.«

Dr. Anders kam aus der Box. »Die Atmung ist gut. In einer Stunde ist er wieder wach«, sagte er.

Mika wollte an ihm vorbei zu dem Pferd, das betäubt am Boden lag.

Doch ihre Großmutter hielt sie eisern fest. »Du gehst jetzt auf dein Zimmer, steckst deine Nase in ein Buch und gehst nicht mehr aus der Tür, bis Sam dich holen kommt, verstanden?«, erklärte sie scharf.

Mika warf einen letzten Blick in Richtung Box. Dann drehte sie sich um und trottete davon. Sie hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, warum sich alle so aufregten. Aber es erklärte ihr ja auch niemand! Sie hatte die Nacht bei einem einsamen Pferd verbracht – nicht bei einem gefährlichen! Warum regten sich nur alle so auf?

In ihrem Zimmer angekommen, nahm Mika eines der Mathematikbücher in die Hand. Sie wollte ihre Großmutter – wegen was auch immer – nicht noch weiter verärgern. Aber schon beim Anblick der Formeln fühlte sie sich müde, sodass sie es rasch wieder weglegte. Einen Augenblick saß sie ruhig da, dann ertappte sie sich dabei, wie sie zum Fenster ging und Richtung Stall spähte.

Draußen schien die Sonne und der Himmel leuchtete lichthell und weit. Plötzlich bekam Mika große Sehnsucht nach Fanny. Wenn es einen Menschen auf dieser Erde gab, der sie verstand, dann sie.

Mika holte ihr Handy und hielt es hoch in die Luft. Aber immer noch leuchtete »Kein Netz« auf dem Display. Sie blickte in die grüne Ferne, während sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. »Sie hat nur gesagt, ich soll nicht aus der Tür gehen«, sagte sie leise zu sich selbst. Dann schnappte sie sich ihr Kickboard und kletterte mit ihm aus dem Fenster auf das Vordach.

Im Fernsehen sah eine Flucht aus dem Fenster allerdings immer viel leichter aus. Das Dach erwies sich als ziemlich steil. Mika fand schwer beladen kaum Halt und kam sofort ins Rutschen. Schließlich schlitterte sie hilflos über das schmale Dach. Erst im letzten Moment konnte sie sich an der Dachrinne festhalten. Gerade als sie sich hoch strampeln wollte, hörte sie unten Stimmen. Maria Kaltenbach hinkte um die Ecke. Neben ihr ging Dr. Anders. Sofort erstarrte Mika in ihrer Verrenkung.

»Du kannst Ostwind nicht ewig wegsperren«, hörte sie Dr. Anders sagen. »Es ist ein Tier. Das muss ich dir nicht erklären. Es war nur eine Frage der Zeit, bis so was passiert.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Maria Kaltenbach. »Ich verstehe mich ja selbst nicht. Dieses Pferd hat mich alles gekostet. Und trotzdem …«

Dr. Anders blieb stehen und legte Maria Kaltenbach eine Hand auf den Arm. »Du musst eine Entscheidung treffen«, sagte er.

Frau Kaltenbach seufzte. »Ich rufe den Ungarn.«

Dr. Anders’ Miene verfinsterte sich. »Der Ungar? Muss das sein?«

Maria nickte entschlossen. »In vier Wochen ist das Turnier, da wird er hier sein.«

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Er zahlt gut. Und du weißt, wir brauchen jeden Cent.«

Der Tierarzt blickte unglücklich. »Ja. Aber der Ungar … das ist schlimmer als meine Spritze«, gab er zu bedenken.

Mika biss die Zähne zusammen. Mit letzter Kraft krallte sie sich ans Vordach, doch sie rutschte langsam aber sicher ab. Mit einem unterdrückten Schrei landete sie unsanft in den Büschen.

Maria Kaltenbach und Dr. Anders glaubten, etwas gehört zu haben. Doch gerade als sie sich suchend umdrehen wollten, kam Tinka angerannt.

»Papa, Papa, Archibald hat einen ganzen Eimer Rüben gefressen! Schnell, du musst kommen!«, rief sie atemlos.

»Das macht doch nichts, das verträgt er schon mal«, beruhigte Dr. Anders seine Tochter.

Tinka hob fragend die Hände. »Mit dem Eimer?«

»Ja, das ist etwas anderes.« Dr. Anders seufzte hörbar auf. »Dieses Pony bringt mich noch um den Verstand«, sagte er entschuldigend und folgte rasch seiner Tochter zu Archibald.

Auch Maria Kaltenbach ging zurück ins Haus. Nicht ohne sich vorher noch einmal aufmerksam umzublicken. Doch außer einem blühenden Rosenbusch, der sanft im Wind zitterte, war nichts zu sehen.

5. Kapitel

Langsam rappelte sich Mika aus dem Busch und zog mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Dornenranke von ihrem Hosenbein. Dann zerrte sie ihr Kickboard hervor. Das Metall war völlig verbogen, das Brett gesplittert.

Worüber hatte ihre Großmutter mit dem Tierarzt eben gesprochen? Ostwind – das musste der dunkle Hengst sein, das war klar. Aber wer oder was war der Ungar?

Mika hatte keine Ahnung von einem Pferdebetrieb. Aber in ihrem Innersten ahnte sie, dass dieses Gespräch nichts Gutes für das Pferd bedeuten konnte. Umso dringender wollte Mika jetzt mit Fanny sprechen und so machte sie sich auf die Suche nach einem Plätzchen mit Netzempfang. Sie musste reichlich weit laufen. Als sie sich schließlich inmitten einer hohen Wiese auf einen verwitterten Weidezaun setzte und ihr Handy in die Luft hielt, hatte sie Erfolg: ein Netzbalken! Sofort wählte sie die vertraute Nummer. Fanny nahm prompt ab. Auf dem Display zeigte sie ein schnippisches Gesicht. Mika war sofort klar, dass Fanny noch immer enttäuscht war, dass sie nicht mit an die See gefahren war.

»Fanny? Hey! Endlich!«, rief Mika ins Telefon.

»Und, wie ist der Bauernhof von deiner Oma so? Spaß beim Schweinefüttern?«, fragte Fanny.

»Geht so. Ist eigentlich weder ein Bauernhof noch ’ne Oma«, sagte Mika.

»Aha. Aber das da hinter dir, das ist schon dein Opa?«, fragte Fanny.

»Mein was? Wo?« Mika drehte sich verwirrt um. Dabei stieß sie beinahe an die Nasenspitze eines alten Mannes, der sie mit schmalen Augen ansah. Vor Schreck kippte Mika zur Seite. Ihr Handy flog ihr in hohem Bogen aus der Hand.

Bei dem Mann handelte es sich um Herrn Kaan, den Bewohner der Holzlaube. Er war klein, hatte sonnengegerbte Haut und trug einen gebatikten Schal um den Hals.

»Das hier ist keine Telefonzelle – das ist mein Vorgarten«, erklärte er tadelnd.

Mika suchte auf dem Boden nach ihrem Handy.

»Schon gut. Sehen Sie, schon aufgelegt«, sagte sie.

Die Augen des Mannes wurden noch schmaler. Er musterte Mika eindringlich. »Ich kenne dich«, sagte er schließlich.

»Das glaub ich kaum. Und jetzt muss ich dann auch. War mir ein Fest«, erklärte Mika ausweichend. Sie drehte sich um und wollte nur noch eins: nichts wie weg.

Doch der Mann ließ nicht locker. »Hast du nicht was vergessen?«, fragte er und hielt Mikas verbogenes Board hoch.

»Das ist eh nur noch Schrott«, sagte Mika und wollte nach ihrem Kickboard greifen. Doch der Mann zog es wieder zurück.

»Nichts ist so kaputt, dass man es nicht reparieren könnte«, erklärte er.

Mika schaute den schrägen Kauz verwundert an. Lieber nicht diskutieren, beschloss sie. »Okay. Ich muss los«, verabschiedete sie sich rasch. Dann rannte sie Richtung Gutshof. Ihr Kickboard ließ sie zurück. Da Fanny eh schlechter Laune war, würde sie einen neuen Platz mit Netzempfang später suchen.

Am Gutshof angekommen, verlangsamte Mika ihren Schritt und spähte vorsichtig um die Ecke. So ein Glück: Die Luft war rein. Doch da pikte sie etwas in den Hintern. Erschrocken machte Mika einen Satz nach vorne. »Aua!!«

Hinter ihr stand Sam. Er hatte eine Mistgabel in der Hand und sah ziemlich sauer aus. »Mann, wo warst du denn?!«

»Och … frische Luft schnappen, Füße vertreten, Landschaft bewundern …«, erwiderte Mika.

»Sei froh, dass ich dich nicht verpfiffen hab! Wenn ich wegen dir Ärger bekomme, dann …«, schimpfte Sam. Mika hätte am liebsten aufgelacht. Einfach lächerlich, so ein Spielverderber! Warum waren hier nur alle so spießig? Als Mika aber sah, dass Sam wirklich wütend war, lenkte sie ein. »Schon gut. Kommt nicht mehr vor. Ehrlich.«

An Sams Blick erkannte sie, dass er ihr nicht recht glaubte. Deshalb wechselte sie schnell das Thema. »Und, was macht man hier immer so?«, fragte sie und schaute sich auf dem Hof um.

Sam sah Mika spöttisch an: »Naja, erst vielleicht ein bisschen Wellness, dann ein paar Runden auf der Indoor-Kartbahn …«

»Echt? Eine Indoor-Kartbahn?«, freute sich Mika.

Sam verdrehte die Augen und drückte ihr die Mistgabel in die Hand. Sollte dieses Mädchen doch mal sehen, was man »hier so machte«!

Und so sah sich Mika im Rahmen von Sams Beschäftigungsprogramm keine zwei Minuten später stinkende Pferdeäpfel auf eine Schubkarre schippen. Eine anstrengende Arbeit. Schon nach kurzer Zeit tat ihr der Rücken weh. Ein Katzenklo war definitiv leichter zu reinigen.

Ein paar Schritte weiter waren gleich mehrere Pferdemädchen mit sehr viel angenehmerer Arbeit beschäftigt: der Pflege von Weingraf. Ein Mädchen trenste, das andere bürstete. Das dritte Mädchen, Tinka, hob den Huf des Pferdes und kratzte ihn aus. Allerdings schwankte sie bedrohlich unter Weingrafs beträchtlichem Gewicht.

Endlich erschien auch Michelle in voller Reitmontur. »Wenn ich nur wüsste, was er hat. So lahmarschig wie der momentan ist. Bis zu den Classics muss ich ihm das austreiben«, sagte sie zu den Mädchen, gerade als Mika die volle Schubkarre vorbeischob. Sie hielt inne und beobachtete interessiert die Szene.

»Vielleicht hat er ja eine degenerative Suspensory Ligament Desmitis? Oder eine Myositis?«, schlug Tinka vor. Doch sie erntete nur genervte Blicke von Michelle und den anderen Pferdemädchen.

Mit der freien Hand griff Tinka in ihren riesigen Putzkasten und zog eine rote Tube heraus, die sie Michelle reichte. »Hier. Das ist eine australische Wärmesalbe. Hat Papa mir für Archibald gegeben. Davon machst du ihm jeden Abend ein bisschen auf die Fesseln«, erklärte Tinka eifrig. »Nur nicht zu viel, sonst brennt’s. Bei Archi…«

Michelle warf die rote Tube zurück in Tinkas Putzkasten. »Quatsch. Der ist einfach nur bockig«, unterbrach sie Tinka unwirsch.

»Oder er hat einfach nur Angst vor dir«, sagte Mika ruhig.

Mika war von den Mädchen bisher nicht bemerkt worden. Jetzt starrten sie alle ungläubig an.

»Und wer hat dich gefragt?«, fauchte Michelle von oben herab.

Mika schaute Weingraf an, der ihren Blick ruhig erwiderte. »Niemand. Ist nur so ein Gefühl«, sagte sie nachdenklich. Dann packte sie die Schubkarre mit den Pferdeäpfeln und ging weiter.

»Kümmer dich einfach um deinen Mist, okay?«, rief Michelle ihr hinterher. Die Pferdemädchen kicherten. Nur Tinka kicherte nicht. Vielleicht hatte diese Mika ja recht?

Mika hätte Michelle gerne näher erklärt, was sie über Weingraf dachte. Aber als sie mit der leeren Schubkarre zurückkam, war niemand mehr da. Die Mädchen waren bereits auf dem Reitplatz. Sofort ließ sie die Schubkarre stehen und lief zu Ostwinds Box. Doch sie konnte sie nicht öffnen. Die Box war jetzt mit einer schweren Eisenkette gesichert. Vorsichtig spähte Mika hinein. Ihr Blick traf auf Ostwinds dunkle Augen. Der Hengst stand weit hinten an die Wand gepresst.

»Was hast du nur angestellt?«, fragte Mika.

Vorsichtig zwängte sie ihre Hand durch die engen Gitterstäbe. Doch Ostwind warf den Kopf hoch und wieherte bedrohlich. Mika erschrak. Aber sie ließ ihre Hand, wo sie war. Zögernd kam das Pferd näher, Schritt für Schritt, bis seine Stirn ihre Hand berührte. Als Ostwind ins helle Licht trat, wurde deutlich, wie verwahrlost er aussah. Es gab Mika einen tiefen Stich ins Herz. Sein Fell war stumpf und verdreckt, eine verkrustete Wunde zog sich über seinen Hals, und der Boden der Box war voller Mist. Ein jämmerlicher Anblick.

Mika streichelte Ostwind. »Wie siehst du denn aus?«, flüsterte sie voller Mitleid.

»Mika?«, hörte sie plötzlich eine Stimme rufen. Es war Sam.

Erschrocken wich Ostwind zurück und auch Mika zog schnell ihre Hand zurück. Rasch lief sie aus dem Stall. Zum Glück hatte Sam sie nicht bei Ostwind gesehen!

Draußen drückte Sam Mika einen Gartenschlauch in die Hand, damit sie einen großen Bottich mit Wasser füllte. Aber Mika war nicht recht bei der Sache. Auf dem Reitplatz entdeckte sie Michelle auf Weingraf. Was für ein freundliches und gutes Tier, dachte Mika. Warum konnte Michelle ihn nicht mit mehr Respekt behandeln? Sah sie denn nicht, wie sehr er sich bemühte?

Mikas Blick folgte Weingraf, der schnaufend über den Platz galoppierte. Gerade setzte er zum Sprung an. Ob auch sie einmal auf einem Pferd …

»Okay, genug«, gab Sam Anweisung. Doch Mika reagierte nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt immer noch Weingraf und dem Geschehen auf dem Platz. Alles andere um sich herum schien sie vergessen zu haben.

»Mika? Mika?!!«, rief Sam.