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Dancing is my inner strength
Leyla ist noch ein Kind, als ihre Familie aus dem Libanon nach Deutschland flieht. Angekommen, zerbricht ihre Mutter am Verlust der Heimat, und Leyla versucht ihren Schmerz zu zähmen, indem sie tanzt. Als sie nach Berlin zieht, um dort ein eigenes Studio zu gründen, belastet ihre Entscheidung die einst innige Beziehung zu ihrem Bruder Said schwer, der nach dem Tod ihrer Mutter Leylas einzige Bezugsperson war. In Berlin trifft sie Emir wieder, Saids besten Freund. Emir, der glaubte, das große Träume wahr werden können. Und der sie in einer kalten Novembernacht geküsst hat, obwohl das gegen den Freundschaftskodex verstößt. Je näher Leyla und Emir sich erneut kommen, desto mehr wollen sie die verbotenen Gefühle zulassen. Zwischen ihnen jedoch hängen Geheimnisse, die dunkle Bilder für ihre Liebe malen ...
Tropes: Forbidden Love, Brother’s Best Friend, Childhood Lovers
{heartlines} = True Story + New Adult: Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.
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Seitenzahl: 495
Veröffentlichungsjahr: 2025
Leyla ist noch ein Kind, als ihre Familie aus dem Libanon nach Deutschland flieht. Doch hier zerbricht ihre Mutter am Verlust der Heimat, und Leyla versucht ihren Schmerz zu zähmen, indem sie tanzt. Als sie nach Berlin zieht, um dort ein eigenes Studio zu gründen, belastet ihre Entscheidung die einst innige Beziehung zu ihrem Bruder Said schwer. In Berlin trifft sie Emir wieder, Saids besten Freund. Emir, der sie in einer kalten Novembernacht geküsst hat, obwohl das gegen den Freundschaftskodex verstieß. Je näher Leyla und Emir sich erneut kommen, desto mehr wollen sie die verbotenen Gefühle zulassen. Ist ihre Liebe stärker, als die dunklen Geheimnisse, die ans Licht drängen?
Rabia Doğan ist in der Nähe von Köln aufgewachsen, hat Psychologie studiert und arbeitet jetzt als angehende Psychotherapeutin in Berlin. Wenn sie sich nicht mit verhaltenstherapeutischen Texten auseinandersetzt, schlägt ihr Herz für schmerzhafte Geschichten, die vom wahren Leben erzählen. Das war auch der Grund, warum Batuls Leben Rabia so nahe ging und sie zusammen das »Out of Line« realisiert haben.
Nach der Flucht aus dem Libanon und dem Suizid der Mutter finden Batul, ihre Geschwister, vor allem aber der Vater nur schwer zurück ins Leben. Batuls älterem Bruder wird das Sorgerecht für die jüngeren Schwestern zugesprochen und schafft ein sicheres Zuhause. Der Bruder ist es auch, der Batuls Leidenschaft für den modernen Tanz unterstützt. Mit Anfang zwanzig gründet sie ihr eigenes Studio in Chemnitz. Mehr dazu unter @soulstudio_official
Der Roman »Out of Line« based on Batul’s true story thematisiert potenziell triggernde Inhalte. Sollte es daher Themen geben, die ihr vermeiden oder nur vorbereitet lesen möchtet, dann werft bitte einen Blick auf [>>], wo die sensibleren Themen des Romans aufgelistet sind. Bitte denkt jedoch daran, dass die Liste die Handlung des Buches spoilern könnte.
– based on a true story
Weil das Leben die besten Geschichten schreibt.
Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Wir schaffen einen Safe Space für die Begegnung von Autor*innen mit jungen Menschen, die ihre Erlebnisse teilen möchten. Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen, schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern. Wenn auch du als Storygeber*in dabei sein möchtest, dann schicke uns eine E-Mail an
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Wir freuen uns, von dir zu hören!
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Rabia Doğan
Based on Batul’s True Story
Roman
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Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist. Für alle Leser und Leserinnen erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagenhaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt, wodurch Grenzen bewusst verschwimmen.
Originalausgabe 09/2025
Copyright © 2025 by Rabia Doğan
Copyright © 2025 by {Heartlines} Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Redaktion: Michelle Stöger
Umschlaggestaltung: ZERO Media GmbH, München
Umschlagmotiv: © FinePic®
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32455-1V001
www.penguin.de/verlage/heartlines
@penguinlovestories
Für alle älteren Geschwister, die der unsichtbare Kleber vieler Familien sind
Leyla
Mittwoch. 14.23 Uhr. Eigentlich müsste ich im Tanzstudio sein und Unterricht geben. Eigentlich sollte ich mich durch den Verkehr nach Hause kämpfen, mich in der Wohnung in die Küche stellen und nicht wissen, was ich essen möchte und an meinen Kochkünsten verzweifeln. Stattdessen liege ich seit heute Morgen im Bett und lese zum gefühlt hundertsten Mal die E-Mail auf meinem Handy.
Sehr geehrte Frau Abdel,
mit diesem Schreiben möchte ich Ihnen mitteilen, dass wir Ihre Bewerbung mit viel Freude gelesen haben. Sie sind eine unter vielen, die das Fitnessstudio für ihre eigenen Träume anmieten möchte. Wie Sie wissen, muss ich das Studio nach Jahren des Besitzes leider aufgeben und suche nach jemandem, der es so schnell wie möglich übernehmen kann. Ihre Bewerbung und Ihre Leidenschaft fürs Tanzen haben mich berührt. Sie sind so jung, mit so viel Talent und haben bestimmt eine erfolgreiche Zukunft vor sich. Die Ladenfläche wird bei Ihnen in guten Händen sein, da bin ich mir sicher.
Deswegen freue ich mich, Ihnen mitzuteilen, dass ich Ihnen liebend gern das Studio überlassen möchte.
Zum Studio gehört eine Wohnung, die Sie ebenfalls beziehen oder untervermieten dürfen, falls Sie schon eine eigene Wohnung besitzen.
Der Einzug sollte am besten so bald wie möglich stattfinden. Nach Ihrer Zusage würde ich dem Vermieter Bescheid geben, der Ihnen den Vertrag zukommen lassen wird. Alles Weitere können wir danach klären.
Mit besten Grüßen
Michael Müller
Ich starre diese Mail bestimmt mehrere Minuten lang an, während mir die Hitze in meinem kleinen Zimmer zu Kopf zu steigen droht. Die dünnen Leggings und der Sport-BH fühlen sich viel zu dick auf meiner Haut an. Selbst wenn ich nackt im Schnee stünde, würde das nicht viel bringen. Nichts kann mich in diesem Moment von der Wärme befreien, die sich unaufhaltsam in meinem Körper ausbreitet.
Die nichts anderes als Euphorie ist.
Nach langer Zeit habe ich so etwas wie Hoffnung, die durch meine Blutbahn fließt. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, als könnte ich etwas freier atmen. Als könnte meine Lunge ihre Kapazität ausnutzen, um sich vollends auszubreiten und nicht zu verkümmern.
»O mein Gott«, kommt es leise über meine Lippen, weil ich es nicht fassen kann. Ich habe die Bewerbung eines Nachts mit zu viel Mut und aus einem Impuls heraus abgeschickt – und durch Salmas gutes Zureden, das den Abend über kein Ende genommen hat. Zwar habe ich jeden Cent, den ich nicht unbedingt brauchte, auf die hohe Kante gelegt, aber nie gedacht, dass ich bald ein Tanzstudio eröffnen würde. Dass mir die Chance quasi in den Schoß fallen könnte, wenn ich es am wenigstens erwartete.
Ich saß mit meiner besten Freundin auf dem Bett, und wir hatten vor uns hin geträumt. So, wie man das macht, wenn man Anfang zwanzig ist und nicht weiß, was das Leben einem zu bieten hat. Wenn man Angst vor der Zukunft hat und zeitgleich unglaubliche Lust darauf. An dem Tag hatte es wie aus Eimern geregnet, und die Musik hatte sich falsch unter meinen Füßen angefühlt, während ich Tanzunterricht gegeben habe. Ich hatte mir am Morgen den Kaffee über die Jogginghose geschüttet und war zum ersten Mal seit langem viel zu spät zu meinem eigenen Unterricht gekommen. Salma hatte gefragt, ob das alles ein schlechtes Omen sei und wir am besten nicht über unsere Träume reden sollten. Das würde sie nur kaputtmachen, meinte sie. An guten Tagen jedoch könnten sie eher in Erfüllung gehen, und dann wäre darüber zu sprechen in ihren Augen sinnvoller.
So ein Aberglaube hat mich aber noch nie davon abgehalten, mein Ding zu machen. Also hatte ich ihr erzählt, dass ich ein eigenes Tanzstudio in Berlin eröffnen wolle. Vielleicht sogar irgendwann unterstützt von anderen Lehrenden für unterschiedliche Tanzstile, in einem großen Studio, das die verschiedensten Richtungen vereint. Jeder sollte sich wohlfühlen, wenn er durch meine Türen kam. Und viele Schüler und Schülerinnen, so viele, dass ich mir keine Sorgen darum machen musste, ob am Ende des Monats genug Geld für mich übrig war. Ich wollte keinen Cent mehr umdrehen und beim Einkaufen ein beklemmendes Gefühl in der Brust haben müssen, ob ich es wirklich ausgeben wollte oder doch lieber für das potenzielle Studio zurücklegen sollte. Deswegen müssen es von Anfang an schwarze Zahlen sein.
Natürlich war das alles viel zu schön, um wahr zu sein. Wie sollte es auch anders sein? Ich will kein Tech-Start-up gründen, das größtenteils von meinen Eltern finanziert wird, sondern ein Tanzstudio, in dem ich mich wie zu Hause fühle. Dass das von Anfang nicht so glatt laufen kann, wie man sich leichtgläubig in Träumereien an Regentagen zurechtlegt, … das war mir trotz Salmas Aberglaube klar.
Jetzt diesem Traum ein Stückchen näher zu sein … o Gott, was wird mein Bruder Said sagen? Ich muss es ihm erzählen. Am besten sofort. Jetzt gleich. Eigentlich seit heute Morgen.
Aber genau dieses Thema hat schon so oft zu Auseinandersetzungen zwischen uns geführt. Er versteht nicht, warum ich unbedingt aus Halle raus will. Und warum ich den Drang habe, zurück nach Berlin zu ziehen. Der Ort, an dem wir unsere Mutter und danach unseren Onkel verloren haben. Er kann nicht nachvollziehen, dass ich etwas anderes für mein Leben will, das nicht absolutes Vergessen der Vergangenheit und berechenbare Monotonie ist. Ich will mehr als er. Weit weg von hier.
Ich verstehe nicht, wie er Halle nicht als Gefängnis empfinden kann. Nur weil er sich den Käfig selbst ausgesucht hat, heißt das nicht, dass er festsitzen muss. Ich will nicht festsitzen. Ich muss hier raus, und das weiß mein Bruder genauso gut wie ich.
»Leyla«, ruft Said durch die Wohnung.
Er hat heute frei. Normalerweise ist er mit Kochen dran – wobei es andersherum selten ist, weil ich einfach nicht kochen kann. Jetzt, wo ich auch zu Hause bin, will er bestimmt wissen, ob ich etwas Spezielles will. Das Einzige, was ich möchte, ist, ihm von meinem Glück zu erzählen, das er wahrscheinlich nicht als solches sehen wird. Und genau dieser Fakt verursacht mir einen Kloß im Hals, den ich nur vor Auftritten habe, wo mich das Lampenfieber übermannt.
»Leyla!« Diesmal ist die Stimme näher, und ich springe von meinem Bett auf, als würde mich Said beim geheimen Grasrauchen erwischen. Dabei bin ich erwachsen, mein eigener Mensch und kann Entscheidungen selbstständig treffen. Das ist ihm genauso bewusst wie mir. Er ist nicht grundsätzlich gegen ein eigenes Unternehmen. Wann immer ich ihm erzählt habe, dass ich irgendwann auf eigenen Beinen stehen und ein Tanzstudio aufbauen will, fand er die Idee toll. Sogar als wir jung waren, in unserem Hochbett lagen und die Klebesterne an der Decke anstarrten, habe ich ihm im Flüsterton davon vorgeschwärmt. Niemals hat er meine Träume kleingeredet oder mir weisgemacht, ich könnte es nicht schaffen. Nein, er ist einer der Gründe, warum ich immer an mich geglaubt habe. Er hat mir gesagt, dass mir niemand meine Träume nehmen kann, dass das Tanzen schon immer ich war. Ich kenne mich gar nicht ohne. Weiß nicht, wie sich mein Körper anfühlt, wenn er sich nicht von fließenden Bewegungen leiten lässt. Meine Haare, die ich nie zusammenbinden kann, weil sie ein Teil der Choreografie sind. Schon immer war das Tanzen mein Lebenssinn, jede Bewegung hat sich um meinen Körper, um mein Herz geschmiegt. Wenn ich das Gefühl hatte, niemand hat mich verstanden, wusste ich, dass ich Zuflucht und Freiheit in rhythmischen Bewegungen finden würde. Wie meine Mutter es getan hat. Ich habe gesehen, dass eine gequälte Frau Frieden in Musik und Tanz fand und konnte es mir nicht anders für mich vorstellen. Tanzen bedeutet Freiheit.
Nur wenn es darum geht, wo ich diesen Traum ausleben möchte, kriege ich mich mit meinem Bruder in die Haare.
»Also, hör mal«, kommt es mit einem Klopfen von der Tür, ehe sie sich öffnet. »Ich weiß, du machst hier nichts Besonderes. Warum antwortest du mir nicht?«
Said nimmt gefühlt den ganzen Rahmen ein und sieht komisch aus in der viel zu kleinen Schürze, die er sich umgebunden hat.
»Sorry«, flüstere ich und setze mich auf.
Schultern gerade, Augenkontakt, du willst nicht unsicher und schwach wirken in einer Welt, die dich sowieso auf dem Boden sehen möchte, hat unser Onkel immer gesagt, nachdem unsere Mutter gestorben ist und er unser Elternersatz wurde.
Said hebt fragend die Augenbrauen. »Was will die Dame zum Mittag? Ich dachte an eine Bowl mit …«
»Ich habe eine Mietzusage für ein Studio in Berlin bekommen«, platzt es aus mir heraus, ohne dass ich noch überlegen kann, wie ich es ihm behutsam sage.
Mein Puls steigt sofort auf hundertachtzig, meine Handflächen werden feucht, und ich kann nicht mehr schlucken. Als hätte sich alles im Brust- und Halsbereich dazu entschieden, die Funktion einzustellen. Ich muss meine Lunge regelrecht dazu zwingen, Luft aufzunehmen.
Für einen Moment, der sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlt, ist es still zwischen uns. In diesem Zimmer, in dieser Wohnung, in diesem Haus, in dieser Stadt. Jeder in einem Radius von hundert Kilometern hält genau wie ich den Atem an, darauf wartend, was Said zu sagen hat. Seine Miene verändert sich, wirkt ähnlich erstarrt, die Augenbrauen in ihrer fragenden Position eingefroren, als hätten meine Worte magische Kräfte und seien nicht Silben, die tollpatschig aus meinem Mund gekullert sind.
»Was?«, kommt es leise von ihm.
»Ich habe eine Mietzusage für ein Studio in Berlin bekommen«, wiederhole ich. Diesmal leiser, unsicherer. Unser Onkel hätte mehr Courage gefordert. Aber er ist nicht hier, weil er längst kein Teil der Familie mehr ist.
»Wie bitte?«, fragt Said, völlig überfordert von meinen Worten, die nicht klarer sein könnten. »Ein Studio in Berlin? Was für eins? Tanz? Leyla? Geht es dir gut?«
»Ja …« Ich beiße mir auf die Unterlippe und wische meine schweißnassen Hände an den Leggings ab. »Es war eine … es war eine Kurzschlussreaktion, dass ich mich für das leer stehende Fitnessstudio beworben habe. Vor ein paar Wochen. Ehrlich, bis jetzt hatte ich es sogar vergessen. Ein älterer Mann, der es wohl eröffnet hat, ist noch für weitere drei Jahre dort unter Vertrag, muss das Studio aber schnell loswerden und hat einen Nachmieter gesucht. Für die Lage ist es echt günstig. Im Ring in Neukölln, weißt du? Ich kann auf jeden Fall für ein paar Monate die Miete stemmen mit meinem Ersparten, und ich werde nicht …«
»In Berlin?«, unterbricht Said mich monoton. Das kann nur bedeuteten, dass er kurz davor ist abzuschalten. Sich aus der Konversation auszuklinken und solange nicht mehr mit mir zu reden, bis er den ersten Schock und die Wut verarbeitet hat.
»Ja«, antworte ich kleinlaut und kann ihm nicht mehr in die Augen schauen. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass es mir leidtut, dass ich es anders gewollt hätte, aber mein Herz sich einfach nicht mit Halle anfreunden kann. Es ist nicht so, dass ich diese Stadt hasse, aber ich liebe Berlin. Ich liebe Berlin für das, was es mir in den guten Tagen meiner Kindheit gegeben hat, und ich will dorthin zurück.
»Warum ausgerechnet Berlin?«, fragt er und schüttelt den Kopf. »Wir hatten dieses Gespräch so oft, Leyla. So oft. Es ist absolut unklug, dahin zurückzugehen. Das wissen wir doch beide, oder nicht? Wir sind aus gutem Grund aus der Stadt abgehauen. Warum willst du genau dorthin zurück? Hier haben wir uns, dort bist du absolut allein. Komplett auf dich gestellt.«
»Ich … ich …« Weiter komme ich nicht, weil die Tränen anfangen, in meinen Augen zu brennen. Das war schon immer meine erste Reaktion bei Streit: Weinen. Als wüsste ich mir nicht anders helfen. »Ich verstehe das. Ich verstehe das wirklich. Aber ich will dorthin zurück, und da bietet sich gerade eine riesige Chance …« Meine Sätze hören sich wie Fragen um Erlaubnis an. Leise und quietschend versuchen sie, sich an Said vorbeizuquetschen, in der Hoffnung, dass das unangenehme Gespräch ein Ende findet und ich abhauen kann. »Es ist ein Altvertrag von vor dreißig Jahren, der bald ausläuft, Said. Ich darf ihn einfach übernehmen. Und eine Wohnung über dem Studio gehört dazu. Ich muss mich nicht mal dafür auf die Suche machen. Nie wieder bekomme ich so eine Gelegenheit. Bis die Mieterhöhung in drei Jahren kommt, habe ich mir vielleicht schon etwas Stabiles aufgebaut und kann es stemmen … ich …«
»Vielleicht?«, er lacht auf. »Vielleicht ist kein guter Businessplan, das weißt du hoffentlich? Damit kannst du nichts anfangen. Was, wenn nicht? Was machst du dann?«
Ich zucke mit den Schultern. »Halle wird ja nicht von der Weltkarte verschwinden. Schlimmstenfalls, wenn alle Stricke reißen und ich mich als die absolute Versagerin entpuppe, komme ich einfach zurück. Mache es genauso, wie du wolltest. Eröffne hier ein Studio und gebe Ruhe.«
»Ich halte nichts davon.« Said stößt sich vom Türrahmen ab und vergräbt die Hände in der Schürze. »Ich finde, Berlin ist die absolut schlimmste Scheißidee, die du haben kannst. Ich kann das auf keinen Fall unterstützen. Aber ich weiß auch, dass du erwachsen bist und ich dich zu nichts zwingen kann. Also mach, was du nicht lassen kannst.«
Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um, und seine Schritte verschwinden in Richtung Küche. Ich weiß, er wird dort in sich gekehrt das Essen kochen und vor sich hin brodeln. Seine Wut würde er nie nach außen tragen, weil er unseren Onkel immer dafür gehasst hat. Nie würde er schreien oder ausrasten. So ist er nicht. Aber er wird stillschweigend alles an dieser Idee ablehnen, und ich werde es bei jedem Wort spüren können. Jetzt ist es mir aber egal. Jetzt öffne ich wieder die Mail von Michael und lese sie mir immer und immer wieder durch, weil ich nicht glauben kann, dass mich das Glück zum ersten Mal in meinem Leben trifft. Dass ich diejenige bin, die das Fitnessstudio bekommt, obwohl sich unzählige Leute dafür beworben haben müssen. Immerhin ist es Berlin, zwischen Neukölln und Kreuzberg, leicht zu erreichen und in einer Gegend, die vor zehn Jahren noch als unbewohnbar gegolten hätte, aber heute durch neue hippe Cafés und Pilates-Kursräume gentrifiziert wird. Das kann nur bedeuten, dass ich die besten Voraussetzungen habe, um viele Menschen zu erreichen. Ich habe jahrelang davon geträumt, darauf geplant und habe Tausende Seiten in meinen Notizheften gefüllt, um auf diesen Moment vorbereitet zu sein. Sie quellen über mit Ideen, wie das Studio aussehen könnte, was ich alles anbieten könnte und welche Choreografien passend wären.
Trotzdem fühlt es sich an, als würde ich überrollt werden. Ich habe mich zwar für dieses Studio beworben, hätte aber nicht wirklich damit gerechnet, dass es klappen würde. Dass ich wirklich das bekomme, was ich möchte. Dass jemand es gut mit mir meint.
Okay, ich muss Salma anrufen. Ich muss ihr davon erzählen. Wenigstens eine Person, die mich bei meiner kühnen Idee unterstützen wird. Damals hatte ich ihr die wenigen Bilder des Studios auf der Website gezeigt. Immer wieder hat sie mir gesagt, ich solle es versuchen. Ich hatte Angst, dass es eine Verarsche ist. Mehr als ein Nein kannst du ja nicht bekommen, war ihre Meinung. Sie hatte recht. Das hieß nicht, dass ich mich nicht gequält habe, bevor ich die Bewerbung rausschickte. Es hat Mut, ihren Zuspruch und späte Nachtstunden gebraucht, bis ich auf Senden klicken konnte. Ich war mir sicher, dass daraus nichts werden würde. So sicher.
Jetzt hier zu sitzen, zu wissen, dass mein Traum zum Greifen nahe ist, wirft mich völlig aus der Bahn.
Ich muss nicht lange nach Salmas Nummer suchen, weil sie die letzte Person war, die ich angerufen habe. Sie und mein Bruder sind die einzigen Personen, mit denen ich Kontakt habe. Es gibt nicht viele Menschen in meinem Leben. Nach dem Tod unserer Mutter hatten Said und ich nur unseren Onkel und uns. Wir zwei gegen den Rest der Welt, hieß es. Salma hat mich mehrmals in der Schule ansprechen müssen und mich zig Mal zu irgendwelchen Partys eingeladen, damit ich ihr eine Chance gebe. Es hat mehrere Monate gedauert, bis ich genug Vertrauen zu ihr aufgebaut hatte, um ihr von der Situation zu erzählen, in der ich lebe. Und ein paar Jahre, ehe sie auch von meiner Mutter erfuhr.
Es dauert keine zwei Sekunden, bevor sie rangeht. »Hey. Was ist los?«
»Du wirst es nicht glauben«, flüstere ich, damit mein Bruder nichts hört. »Ich habe das Studio in Berlin bekommen! Der Vormieter hat mich als Nachmieterin ausgesucht und mir eine Zusage geschickt!«
Ein paar Sekunden lang ist es still am anderen Ende. So, wie ich Salma kenne, muss sie ihre Gedanken sortieren, bevor sie etwas sagen kann. Damals, in der zehnten Klasse, hatte sie Angst, nicht zum Abitur zugelassen zu werden. Für Minuten hat sie den Atem angehalten, kurz tief Luft geholt und wieder angehalten, während unser Direktor unsere Zeugnisse ausgeteilt hat. Ich habe ihr mehrmals versucht gut zuzureden, habe ihr erklärt, dass sie nicht durchfallen kann, dass sie doch schon einen Platz am Gymnasium hat. Sie hat vehement betont, dass es immer noch sein kann, dass sie durchrasselt, dass sie doch nicht für das Abitur zugelassen wird, dass ihre Zukunftspläne futsch sind. Deswegen weiß ich, dass ich geduldig auf ihre Reaktion warten muss.
»O. Mein. Gott.« Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Wispern. »Was sagst du da? Leyla, im Ernst?«
Ich kann nicht anders, als laut loszulachen. Weil ich es selbst nicht glauben kann. Weil die Situation schwer zu greifen ist. Dass genau mir das passiert. Dass ich das Glück habe, meinen Traum zu verwirklichen. »Ich weiß«, sage ich deswegen nur. »Ich weiß.«
»Heißt das jetzt, du ziehst nach Berlin?«
»Ja«, mein Blick wandert zur Zimmertür. »Ich glaube schon, dass es genau das heißt. Und ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll.«
So weit habe ich nicht gedacht. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dass ich das Studio tatsächlich bekommen würde. Ich meine, ich habe etliche Tausende leise und laute Pläne geschmiedet, wie ich alles angehen würde, sobald ich meinen Traum erreicht habe. Was ich alles davor machen, erledigen und organisieren müsste. Aber ich dachte eben nicht, dass es so früh geschehen würde. Wie denn auch?
Jetzt, in diesem Moment, in meinem Zimmer in Halle fühle ich mich gänzlich unvorbereitet. Als hätte mich diese Entscheidung überrollt und wäre nicht meine eigene gewesen.
»Bist du überhaupt bereit?«
Das ist die Frage, die ich mir selbst stelle. Egal, wie sehr ich es nicht bin, ich muss bereit sein.
»Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Keine Ahnung. Ich wünschte, ich hätte eine bessere Antwort darauf.« Eine, die vielleicht nicht so unsicher klingt, eine, die mehr Freude ausdrückt, weil meine Situation ein Grund zur Freude ist. Die meisten Menschen würden vor Glück in die Luft springen, wenn sie die Chance hätten, einen alten Berliner Mietvertrag für eine Ladenfläche zu einem günstigen Preis zu bekommen. Zumindest für die nächsten drei Jahre.
Aber ich weiß auch, dass mein Bruder, meine einzige Familie, das nicht so sieht. Mir ist klar, wie beschissen er den Gedanken findet, dass ich gehen könnte. Gehen werde. Und das hält meine Freude in Grenzen.
»Aber das ist normal«, sagt Salma, »ich meine, du lässt ein ganzes Leben hinter dir, das du dir mit Müh und Not aufgebaut hast. Das ist nicht einfach. Zurück in die Stadt, in der du so viele schlechte Erfahrungen gemacht hast.«
Das ist vielleicht das Ding. Ich habe so viel Schlimmes dort gesehen, erlebt und kann mir trotzdem nicht vorstellen, woanders hinzuziehen. Berlin ist mein sicherer Hafen, auch wenn nicht alle Menschen in meinem Leben dort sichere Häfen waren. Mein Bruder sieht das noch nicht so, aber sobald ich mich wieder eingelebt habe und er mich besuchen kommt, wird er es verstehen. Er wird einsehen, dass Berlin immer noch zu uns gehört und wir dort eine Zukunft haben können, auch wenn wir Unsagbares erlebt haben. Wir können die schlimmen Erinnerungen mit guten übermalen. Wir müssen nicht mehr hier in Halle wohnen, wo man angestarrt wird, weil man Namen hat, die nur schwer von deutschen Zungen rollen können.
»Und trotzdem weiß ich, dass es gut werden wird.«
»Genau!«
»Kommst du zum Essen, oder nicht?«, ruft Said, sodass ich mich von Salma verabschieden muss, um ihn nicht noch mehr zu verärgern.
»Said ruft mich, falls du ihn nicht schon gehört hast«, sage ich seufzend. »Ich muss Schluss machen.«
»Wir sprechen uns später noch mal!« Salma hört sich an, als wäre sie noch nicht fertig mit dem Thema. »Schließlich müssen wir das Pinterest-Board für das Studio endlich mal anlegen. Du weißt schon, ein Vision-Board. Zum Manifestieren.«
Bei diesen Worten würde ich normalerweise mit den Augen rollen, doch jetzt möchte ich meine beste Freundin einfach drücken, weil sie die einzige Person ist, die mich unterstützt und an mich glaubt. »Ich liebe dich.«
Damit lege ich auf.
Eigentlich habe ich keinen Hunger, aber ich muss bei Said sein, damit er erkennt, dass sich zwischen uns nichts ändern wird.
Stillschweigend gehe ich durch den Flur, der selten Licht abbekommt, weswegen die Zimmerpflanzen, die mein Bruder mühevoll aufgestellt hat, immer wieder eingehen, egal, wie sehr er sie versucht zu pflegen.
Die Küche am Ende des Flurs haben wir damals billig auf Ebay ergattert. Das Holz ist an vielen Stellen abgesplittert, und den Tresen haben wir mehrmals mit Kontaktpapier beklebt, damit er schöner aussieht. Viel hat es nicht gebracht. Allein die großen Dachgeschossfenster, vor denen unterschiedliche Pflanzen hängen, sorgen für Gemütlichkeit. Und natürlich der Esstisch mit drei Stühlen, auf dem immer frische Blumen stehen. Das ist eine Sache, in der Said unserer Mutter ähnelt. Er ist immer darum bemüht, der Wohnung Leben einzuhauchen, damit wir uns beide hier wohlfühlen.
Jetzt steht er neben dem Herd und bereitet zwei Schüsseln vor. Ofengemüse, Reis und Hühnchen, er schichtet alles aufeinander und klatscht eine dicke Portion selbst gemachte Soße drauf, etwas davon spritzt an den Wasserhahn. Ich kann seine Wut spüren, als er mir die blaue Schüssel reicht.
»Du weißt schon, dass ich das nicht mache, um dich zu verärgern, oder?«, frage ich, meinen Blick auf ihn gerichtet.
Fast mechanisch greift er nach seiner eigenen Schüssel und einer Gabel, bevor er sich auf den Stuhl unter dem Fenster setzt. Kein einziges Mal blickte er zu mir auf. »Ich weiß, aber trotzdem verstehe ich nicht, warum du darauf beharrst. Was ist an deinem Leben hier so abgrundtief schlecht, dass du nach Berlin musst? Was bietet dir diese Stadt außer Traumata, Angst und einem beschissenen Leben?«
Ich seufze und setze mich zu ihm. Der Stuhl knarzt unangenehm unter mir. »Unsere Mutter.«
Bei diesen Worten hört er auf, in seinem Essen zu stochern. »Da ist ihr Grab, mehr nicht.« Die Worte in ihrer Bedeutung sollen abwertend, kühl, weit weg klingen, aber das Zittern in seiner Stimme verrät, dass mehr dahintersteckt. Er hat der Stadt den Rücken gekehrt, weil unsere Mutter dort gestorben ist. Er gibt sich extra unbeteiligt an dem Thema, weil es ihn noch immer tief trifft.
Und ich verstehe es.
Ich verstehe es so sehr.
Wenn ich könnte, würde ich auch vor dem Schmerz abhauen. Weil ich das Gefühl habe, dass das der einfachste Weg wäre, um mit ihm umzugehen – ihn einfach zu ignorieren, bis er erträglicher wird. Aber ich glaube nicht, dass er vergeht, wenn man ihn räumlich verlässt. Nicht Berlin hat uns all das zugefügt, sondern das Leben und die Menschen in dieser Stadt.
Aber so war ich nie, ich habe keine Verletzung je ignorieren können, bis sie von selbst verheilte. Ich musste immer daran pulen, Pflaster abreißen und neu dranmachen, bis sie nicht mehr blutete oder wehtat.
»Das ist alles, was wir von ihr haben. Warum sollte ich das nicht in meiner Nähe wissen wollen?«
»Weil es verdammt noch mal nichts bringt«, endlich sieht er mich mit traurigen Augen an. »Du bist dann da, bist in der Stadt, in der wir unsere Mutter zurückgelassen haben, in der unser Onkel uns aufgenommen und schlecht behandelt hat, in der wir alles verloren haben. Und dann? Ändert das irgendetwas an der Realität, in der wir leben?«
Ich lehne mich im Stuhl zurück und spüre die harten Sprossen an meinem Rücken. »Keine Ahnung, was du denkst, aber ich möchte die Gegenwart verändern, nicht die Vergangenheit. Meine jetzige Situation, an der kann ich arbeiten, Said. Was davor passiert ist, muss ich hinnehmen. Und ich nehme es hin, indem ich Berlin nicht verteufle.«
Said schaufelt sich fast protestartig Reis in den Mund. »Wenn du das so siehst, werde ich dich nicht aufhalten. Irgendwann musst du deinen eigenen Weg gehen, Fehler machen und auf die Fresse fliegen.«
Eine kochende Wut steigt in mir auf, weil ich das Gefühl habe, dass er mir nichts zutraut. »Danke, dass du mir erlaubst, Dinge selbst zu entscheiden«, sage ich sarkastisch. Eigentlich wollte ich ihn in diesem Gespräch beruhigen, aber das wird wohl nicht klappen.
Seine Gabel scheppert, als er sie mit Wucht in seine Bowl steckt. Wäre die Situation nicht so angespannt, würde ich darüber lachen, wie kerzengerade der Stil aus dem Reis schaut. »Mann, Leyla, es reicht. Ich will nicht streiten, ich will dich nicht entmutigen. Ich mache mir einfach Sorgen. Das ist quasi mein Job.«
»Du verstehst das als deinen Job«, korrigiere ich ihn. »Ich bin einundzwanzig, also erwachsen und brauche dich als unterstützenden Menschen auf meiner Seite und nicht jemanden, der meine Entscheidungen infrage stellt.«
Er seufzt, seine Schultern sacken zusammen, und der harte Blick in seinen Augen wird weicher. »Ich war und bin immer auf deiner Seite, Leyla.«
Leyla
Der Abschied von dem Tanzstudio in Halle, in dem ich gearbeitet habe, fällt mir besonders schwer, als meine Chefin mir eine Geschenktüte in die Hand drückt. »Falls du dich jemals, aus welchen Gründen auch immer, doch gegen Berlin entscheiden solltest: Hier ist stets ein Platz für dich. Wir nehmen dich immer herzlich auf.«
Bei den Worten schießen mir die ersten Tränen des Tages in die Augen, obwohl ich nicht dachte, noch mehr weinen zu können. Schon gestern beim Kofferpacken mit Salma habe ich Rotz und Wasser geheult. Zwei Taschentuchpackungen und Hunderte Umarmungen später ging es mir etwas besser. Gepackt haben wir nicht viel, weil ich so sehr mit Weinen beschäftigt war. Das musste ich auf heute verschieben.
»Ich schätze das sehr, Birgit.« Damit nehme ich sie in den Arm und atme ihr blumiges Parfüm ein, das sie trägt, seit ich hier als Jugendliche angefangen habe zu tanzen und irgendwann gelehrt habe.
»Pass auf dich auf und geh nicht in dieser riesigen Stadt verloren, das passiert schnell.« Als sie mich leicht von sich schiebt, sind auch ihre Augen glasig. »Dich und dein Talent gibt es kein zweites Mal.«
Sie war so etwas wie meine Mentorin, als ich hier ankam. Ich habe mich so verzweifelt und hoffnungslos gefühlt, sodass das Einzige, was mir Halt gab, das Tanzen war. Ich konnte mich darin fallen lassen, wenn alles zu viel wurde. Es war und ist ein Safe Space für mich, weil ihn mir niemand nehmen kann. Tanz gehört allein mir, besteht aus meinen Bewegungen, meinem Rhythmus und meinem Tempo. Egal, was in der Welt los ist, dort habe ich Kontrolle und die Freiheit, zu entscheiden. So viele Extrastunden habe ich hier verbracht, weil ich mir nicht anders zu helfen wusste. Birgit hat es hingenommen, wahrscheinlich sogar Minus mit mir gemacht, weil ich nicht für jede Stunde, die ich dort bekommen habe, bezahlen konnte. Aber sie hat gesehen, wie sehr ich das brauchte. Dafür werde ich ihr bis an mein Lebensende dankbar sein.
»Ich werde auf mich Acht geben, versprochen.«
Sie nickt, die Augen immer noch feucht. »Okay, los, bevor ich dich weiter aufhalte.«
Ein letztes Mal umarme ich sie, damit ich sie nicht vergesse, merke mir ihren Geruch und wie ihre kurzen Haare meine Nase streicheln, als sie sich von mir löst.
Im Gegensatz zu unserer Wohnung sind die Flure hier hell beleuchtet, und junge Frauen eilen durch sie, um in ihre Kurse zu kommen. Ich jedoch gehe diesmal nicht in einen der Räume, um zu unterrichten, sondern verlasse das Gebäude. Ein letztes Mal und hoffentlich für immer.
Draußen wartet Salma schon auf mich, die sich heute von der Uni frei genommen hatte, um mir mit den restlichen Sachen zu helfen, bevor ich hierhergekommen bin, um mich zu verabschieden.
Said wird mich nach Berlin fahren. Das hat er mir versprochen – ich muss den Umzug nicht allein stemmen, egal, wie sehr er sich dagegen sträubt. Am Ende des Tages sind wir Geschwister und haben gelernt, immer füreinander da zu sein. Das wird sich auch mit Berlin nicht ändern.
»Wie war’s?«, fragt meine beste Freundin, woraufhin ich mir ein Lächeln abringe, weil ich Birgit und das Studio am liebsten einpacken und mitnehmen würde.
»Gut«, antworte ich und wiege meinen Kopf hin und her, »traurig. Der Abschied fällt mir doch schwerer, als ich dachte.«
Salma schiebt die Unterlippe vor. »Das verstehe ich gut. Deine Situation ist ja nicht nur aufregend. Du lässt schließlich ein ganzes Leben hinter dir. Fünf Jahre an einem Ort ist keine kurze Zeit.«
Vielleicht ist es auch das.
Eigentlich bin ich es gewohnt, Leben zurückzulassen, um irgendwo neu anfangen zu müssen. Ich habe den Libanon verlassen, um eine sichere Zukunft zu haben, habe Berlin verlassen, um eine sichere Zukunft zu haben, und jetzt verlasse ich Halle, um mir eine selbstbestimmte Zukunft zu erkämpfen. Alles davor habe ich gemacht, weil ich nicht allein entscheiden durfte. Mir wurde die Aufgabe des Verlassens auferlegt. Jetzt mache ich es aus freien Stücken, und das ist härter als alles andere. Die Konsequenzen, für die ich geradestehen und die ich allein tragen muss, fühlen sich schwer auf meiner Brust an.
»Ich tue das Richtige, aber warum fühlt es sich gerade falsch an?«, frage ich.
»So ist das doch immer mit großen Entscheidungen. Kurz bevor man sie in die Realität umsetzen muss, hauen sie einen noch mal aus den Socken, um klarzumachen, dass sich alles verändern wird. Wie bei den Männern, die drei Stunden vor der Hochzeit kalte Füße bekommen.«
Bei dem Vergleich muss ich laut lachen. Das stimmt. Es ist alles neu und groß. Ich brauche einfach Zeit, um mich mit der neuen Lebensrealität anzufreunden.
»Okay, lass uns los, bevor Said noch wütender wird, weil ich zu spät bin.«
Salma schließt ihr Auto auf, und zusammen steigen wir ein. Zum Glück ist die Fahrt zu unserer Wohnung nicht lang. An sonnigen Tagen kann ich sogar zum Studio gehen.
Dieser Gedanke löst warme Erinnerungen aus, die mich zurück nach Berlin schleudern. In eine Zeit, in der nicht nur Salma und mein Bruder in meinem Leben waren, sondern Menschen, die uns aufgefangen haben. Emir, Saids bester Freund, der mich zu meinen Tanzstunden begleitet hat, weil ich doch die Sonnenallee im Dunklen nicht allein entlanglaufen soll. Insgeheim habe ich immer gehofft, dass er das gesagt hat, um Zeit mit mir verbringen zu können. Ich hatte einen riesigen Crush auf ihn, und ich konnte es ihm nie sagen. Wenn mein Bruder das herausgefunden hätte, wäre er wütend gewesen. Emir war nämlich sein Freund – wir hätten uns ihn nicht teilen können. Außerdem haben sie mit sechzehn von so was Unsinnigem wie Bro-Code gesprochen. Man datet die Geschwister des anderen nicht, weil sie wie Familie sind. Hoffentlich ist das nicht mehr relevant für ihre Zwanziger, weil das eine absolut kindische Einstellung ist.
Meine beste Freundin parkt ihren kleinen Twingo vor unserer Haustür, direkt hinter Saids Auto, der fleißig Taschen in den Kofferraum hievt. Am Ende habe ich viel mehr gepackt, als ich zu Anfang geplant hatte. Aber wann habe ich noch mal die Chance, dass mich jemand mit dem Auto nach Berlin fährt? Ab jetzt heißt es in einen Zug steigen, falls ich zu meinem Bruder möchte oder etwas vergessen habe. Er wird nicht jedes Wochenende vorbeikommen – er traut sich seit dem Tod unserer Mutter nicht mehr nach Berlin.
»Wo bleibst du?«, ruft er mit zusammengezogenen Augenbrauen, doch seine Stimme kommt nur gedämpft bei mir an.
»Los«, Salma zieht den Autoschlüssel aus dem Zündschloss und blickt zu mir, »bevor er mir die Tür eintritt und dich auf seinen Beifahrersitz setzt.«
Nachdem ich mich abgeschnallt habe, drehe ich mich zu ihr. Ihre blauen Augen liegen traurig auf meinen, während sie mit den etlichen Anhängern an ihrem Schlüsselbund spielt. »Danke.«
»Ach, das Fahren war doch nichts …«
»Nein, ich meine für alles«, unterbreche ich sie. »Danke, dass du meine Freundin bist, mich über die Jahre ausgehalten hast und mir nicht von der Seite gewichen bist. Danke, dass du du bist.«
Bei den Worten sacken ihre Schultern zusammen. »Du redest so, als würdest du in den Krieg ziehen, Mann. Berlin ist keine Weltreise. Ich komme dich besuchen. Und du kommst mich besuchen. Wir sind nicht so weit voneinander entfernt, okay?«
Auch mir steigen die Tränen in die Augen – schon wieder. »Okay.«
»Leyla! Bewegst du endlich deinen Hintern hierher, oder sollen wir Salmas Wagen nehmen?!« Diesmal kommen seine Worte glasklar an, obwohl unsere Türen noch immer geschlossen sind.
»Ich muss dann wohl«, sage ich leise, woraufhin Salma nickt.
»Eine letzte nicht wirklich letzte Umarmung, weil ich dich sowieso sofort besuchen werde?«, fragt sie, bevor wir uns in die Arme fallen.
Ich darf nicht allzu lang darin verharren, sonst ruft Said wieder nach mir. Ich bin unglaublich dankbar, dass er mich nicht allein lässt, da kann ich es mir nicht erlauben, dass er noch genervt von mir wird.
Mit schwerem Herzen steige ich aus, während Salma mir und Said zuwinkt. Widerwillig nimmt er die Hände von den Hüften und winkt zurück.
»Dafür, dass du unbedingt diese Stadt hinter dir lassen willst, kriegst du den Arsch echt nicht hoch.«
»Halt die Klappe«, sage ich und schubse ihn halbherzig.
»Sieh im Kofferraum nach, ob alles drin ist?« Er fährt sich durch die Haare und wirft selbst einen Blick auf die zig Koffer, Taschen und Kartons, die ganz bestimmt die Sicht durch die Heckscheibe erschweren.
Ich habe zwei Koffer, zwei Reisetaschen und drei Kartons gepackt, die alle ordentlich aufeinandergestapelt sind. »Sieht gut aus. Falls was fehlt, komme ich vorbei.«
»Ja, besser ist es«, motzt er, »ich werde garantiert nicht noch einmal nach Berlin fahren, nur damit du Bescheid weißt.«
Dass er die Fahrt heute auf sich nimmt, ist schon ein riesiger Schritt für ihn. Deswegen kann ich ihm seine Entscheidung nicht übel nehmen.
»Bist du bereit?«, frage ich.
Said macht den Kofferraum mit einem Knall und einer unleserlichen Miene zu. »Ich sollte eher dir diese Frage stellen. Bist du bereit?«
Ich muss einen Augenblick überlegen, bevor ich nicke, denn kann man je bereit sein? Also so wirklich richtig bereit für eine Veränderung, die man nicht hundertprozentig einschätzen kann? Ich weiß noch nicht so recht, was ich mache. Das Einzige, was klar ist, nachdem ich genauere Kalkulationen angestellt habe, ist, dass ich über die ganzen Jahre genug Geld angespart habe, um die Miete für das Studio für knapp ein Jahr tragen zu können. Ich kann ein Jahr in Berlin überleben, bevor das Geld zur Neige gehen wird und mein Plan für gescheitert erklärt werden muss.
Ich drehe mich ein letztes Mal zu Salma, die immer noch hinter uns geparkt ist, und winke ihr zu. »Ich liebe dich«, schreie ich. Sofort wirft sie mir Luftküsse zu, was mein Bruder mit einem Seufzen kommentiert.
»Und deine beste Freundin lässt du auch hier.«
Salma startet ihren Wagen, aber ich kann meinen Blick nicht von ihr lösen. »Probier gar nicht, mir Schuldgefühle einzureden.«
Said seufzt. »Einen Versuch war es wert.«
Erst nachdem Salma weg ist, steigen wir ins Auto – Said auf den Fahrer- und ich auf den Beifahrersitz. Das Auto riecht nach seinem herben Parfüm, das er sich auch als Duftbaum geholt und an den Rückspiegel gehängt hat.
»Ich finde es großartig von dir, dass du mich heute fahren willst«, sage ich.
Das Auto brummt, Said blickt in beide Spiegel, bevor er den Wagen auf die Straße lenkt. »Du redest so, als hätte ich ’ne PTBS oder so, was Berlin angeht.«
Ich bin zwar keine Psychotherapeutin und kann ihn dementsprechend nicht diagnostizieren, aber in meinem Kopf erfüllt er alle Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung. Allein das Wort Berlin löst bei ihm eine körperliche Reaktion aus. Er ist nie verspannt beim Autofahren, aber jetzt sitzt er kerzengerade am Steuer und hat nicht mal das Radio aufgedreht, obwohl er immer Musik hört.
»Keine PTBS, aber …« Ich überlege, was ich sagen kann, ohne dass er abrupt anhält und anfängt, mit mir zu diskutieren. »Wann bist du das letzte Mal nach Berlin gefahren?«
Einen Moment lang ist es still. Said hält an einer roten Ampel, lässt den Gegenverkehr nach rechts abbiegen. Die Ampel schaltet um, er fährt los, immer noch schweigsam, als würde er sich eine ausgeklügelte Antwort überlegen. »Ach komm, Leyla. Lass uns das Thema wechseln.«
Das ist auch so ein Ding, das er wie unser Onkel macht, bei dem wir aufgewachsen sind, nachdem unsere Mutter starb. Keinen Streit bis zum Schluss streiten. Keine Entschuldigungen, keine Fehlereingeständnisse. Sich streiten, hochgehen, den Streit nicht zulassen, Harmonie vor die Lösung stellen, weil das einfacher ist. Lieber stoppt er, lässt keine weitergehenden Streitgespräche zu, als dass er die unangenehmen Gefühle aushält, die so eine Auseinandersetzung mit sich bringt. Ich weiß nicht, ob es die Angst ist, sich gegenseitig zu verlieren. Vorstellen kann ich es mir.
Ich habe ihm schon oft gesagt, dass wir in Konflikt gehen können. Dass wir uns anschreien können und nicht einer Meinung sein müssen und uns trotzdem bis ans Ende der Welt lieben werden. So funktioniert das Geschwistersein. Ich weiß, dass er meine Entscheidung, nach Berlin zu ziehen, missbilligt. Ihm passt das so gar nicht. Trotzdem mache ich das, weil ich auch weiß, dass ich im schlimmsten aller Fälle auf ihn zurückkommen kann.
Ich weiß das.
Er weiß das.
Nichtsdestotrotz verstehe ich nicht, warum er Streitigkeiten nicht aushalten kann.
»Okay«, gebe ich nach und starre aus dem Fenster. Die Auffahrt zur Autobahn ist leer, Said kann sich problemlos und schnell in den Verkehr einfädeln. Ich hasse Autobahnfahrten, wenn ich ehrlich bin. Umso erleichterter bin, dass er vorgeschlagen hat, mich zu fahren. »Was hast du am Wochenende vor?«
»Nichts Großartiges«, lenkt er schulterzuckend ein. »Werde mich wahrscheinlich mit Freunden treffen, vielleicht auf ein Date gehen oder so. Keine Ahnung. Dich vermissen und in deinem Bett liegen und weinen.«
Der letzte Teil sollte ein Witz sein, das wird mir vor allem klar, als er laut auflacht.
»Ist es so unvorstellbar, dass du mich tatsächlich vermisst?«
»Nein«, sagt er leise, »ich werde dich vermissen. Natürlich werde ich das. In deinem Bett liegen und weinen ist mir dann doch eine Spur zu viel.«
»Das hoffe ich auch für dich. Was für ein beschissener Bruder wärst du, wenn nicht?«
Ich stelle das Radio an. Das Erste, was mir entgegenschallt, ist Popmusik. Das ist mir recht. Ist vielleicht nicht Saids Lieblingsgenre, aber ich habe schon immer Pop für meine Choreografien genutzt.
Bald werde ich mein eigenes Studio haben, in dem meine Tänze beigebracht werden. Wo ich das Sagen und die kreative Kontrolle innehabe. Ich muss mich nicht anpassen, kann das Tanzen so beibringen, wie ich darin Frieden gefunden habe. Mein Stil verbindet klassische Bewegungen aus orientalischen Tanzelementen mit Moves des Modern Dance. Inspiriert vom Bauchtanz ist er ein fließendes Zusammenspiel, das mich nicht besser beschreiben könnte. Es ist eine Mischung aus Tradition und Freiheit. Aus rigiden, schnellen Bewegungen und welchen, die sich sanft um den Körper schmiegen. Ich bin mein eigener Mensch. Meine eigene Tänzerin.
Noch fühlt sich das sehr weit weg an. Als könne das nicht wahr sein. Als würde ich in Berlin ankommen, und jemand würde auf die Fassade des Studios in dicken Lettern Verarscht schreiben. Aber dem ist nicht so. Ich hatte so viel Mailaustausch mit dem Vermieter und dem jetzigen Mieter, von dem ich das Studio und die Wohnung darüber übernehme. Tausendmal haben sie mir bestätigt, dass ich die neue Mieterin bin. Dass das mein Reich wird. Wahrscheinlich werde ich es trotzdem erst glauben, wenn ich die Schüssel in der Hand halte.
Die erste Stunde verläuft ruhig. Said meldet sich selten zu Wort, aber lässt sich auch nichts anmerken. Erst als die ersten Beschilderungen nach Berlin über unseren Köpfen sichtbar werden, verkrampft er sich immer weiter. Zu Anfang sind es seine Finger, die fester und fester das Lenkrad umgreifen, dann seine Unterlippe, auf der er unaufhörlich herumkaut, bevor er das Radio ausmacht, weil ihn das ablenkt. Man kann förmlich sehen, wie er von Sekunde zu Sekunde dünnhäutiger wird. Alle paar Minuten lässt er Kommentare darüber los, warum die halbe Welt bitte nach Berlin will, warum so viele Teslas ein Berlin-Kennzeichen haben, das seien ja alles Arschlöcher, warum sollte man Elon Musk unterstützen, außerdem ist der Tank leer, wann kommt die nächste Tankstelle.
Als diese ausgeschildert wird und wir auf einen Parkplatz abbiege, frage ich vorsichtig: »Soll ich übernehmen?«
»Mir geht es gut, Leyla«, wimmelt er mich ab.
»Ich weiß, dass es dir gut geht«, antworte ich, als er an der richtigen Säule hält, »und das soll auch so bleiben, deswegen frage ich, ob ich übernehmen soll.«
Er schaltet den Motor aus. Mit Schwung öffnet er seine Tür. »Nein, alles gut. Ich hab alles im Griff.«
Das letzte Mal, als wir zusammen versucht haben, nach Berlin zu fahren, hat er sich partout gewehrt. Erst konnte er zeitlich nicht, dann war etwas mit dem Auto. Als ich meinte, dass Mamas Todestag jetzt über zwei Monate her war und wir sie immer noch nicht besucht hatten, wollte er sich aufraffen, aber hat es letztlich doch nicht geschafft. Ich bin mit mehreren Monaten Verspätung allein gefahren.
In meinem Rücken höre ich, wie er den Tank öffnet. Ein Brummen und der stechende Geruch von Benzin füllen das Innere des Autos in wenigen Sekunden. Nur noch eine Stunde, dann bin ich wieder in Berlin. Diesmal für immer. Nicht mehr für Kurztrips, für wenige Stunden, immer nur für den Besuch bei unserer Mutter. Das war nie angenehm, es tat nur weh, aber heute fahren wir aus einem schönen Anlass nach Berlin: Ich fange endlich mein eigenes Leben an.
Das Brummen stoppt, und Said geht zum Bezahlen in den Tankstellenshop. Dort greift er nach Snacks und Getränken, bevor er an die Kasse geht.
Ich kann nicht ganz genau sehen, was passiert, aber er unterhält sich kurz mit dem Kassierer, bevor er fluchtartig das Geschäft verlässt. Er hat einen gejagten Gesichtsausdruck, während er sich an die Chipstüte und Red-Bull-Dosen klammert. Nur stockend kommt er auf das Auto zu, sodass ich mir sicher bin, dass es ihm nicht gut geht.
Mein Herz klopft mir gegen die Brust, als ich das Auto verlasse. Draußen, ohne den Schutz des Wagens, höre ich, wie Said schwer röchelt.
»Was ist passiert?«, frage ich.
Ein weißer Corsa will abfahren, doch ich schmeiße mich quasi davor, um zu Said zu gelangen, der mitten auf der Stelle stehen geblieben ist. Die Einkäufe fallen ihm aus den Händen, und er beugt sich schweratmend vor. Die zwei Dosen rollen über den Boden, aber das interessiert mich herzlich wenig.
»Was ist los?«, frage ich wieder, als ich bei ihm angekommen bin.
Vorsichtig lege ich eine Hand um seinen Oberarm und beuge mich vor, damit ich in sein Gesicht sehen kann. Es ist knallrot, seine Haare hängen ihm wirr in die Stirn, und er atmet lautstark.
»Ich kann das nicht, Leyla«, bringt er schwer hervor, »ich … ich kann das alles doch nicht.«
Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. »Was meinst du?«
Sein Kopf schnellt hoch. »Nach Berlin. Ich kann das einfach nicht. Ich schaffe die Fahrt nicht. Ich liebe dich, aber ich kann nicht in diese gottverdammte Stadt. Es geht einfach nicht.«
»Okay, das ist kein Problem«, versuche ich mit ruhiger Stimme zu sagen, damit er nicht weiter in die Panikspirale verfällt, »ich kann die Fahrt übernehmen. Du kannst die Augen schließen und dich einfach zurücklehnen.«
Er geht in die Hocke, so als könne er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Meine Worte prallen an ihm ab. Ich glaube nicht einmal, dass er mich hören kann. Also richtig hören kann.
»Nein, ich kann das nicht. Ich kann nicht in die Stadt, aus der wir uns retten mussten. Du musst ohne mich gehen. Ich fahre auch per Anhalter oder so zurück. Fuck, ich rufe mir sogar ein Uber. Ist mir scheißegal, aber ich muss zurück.«
Ein Auto bleibt an einer Säule unweit von uns stehen. Der Fahrer steigt aus, anstatt zu tanken, kommt er auf uns zu.
»Ist alles in Ordnung bei euch?«
»Ja«, sage ich und setze ein Lächeln auf. »Ich bekomme das schon hin, aber danke.«
Der Mann muss in seinen Dreißigern sein und wirkt nicht besonders überzeugt von meinen Worten. Verübeln kann ich es ihm nicht – Said sieht auch absolut am Limit aus. So, wie er immer noch nach Luft ringt, könnte man auch denken, dass er eine Asthmaattacke hat.
»Muss er ins Krankenhaus?«, fragt der Mann mit unsicherer Stimme nach.
Bevor ich etwas erwidern kann, reagiert Said mit einem Kopfschütteln. »Nein, nein. Mir geht es gut. Ich … ich setze mich gleich ins Auto. Alles ist gut.«
Mit zerknirschtem Gesichtsausdruck richtet er sich auf und überragt mich somit wieder um einen ganzen Kopf. Seine rechte Hand legt er über sein Herz, während er gequält zu atmen versucht.
»Bist du dir sicher?«, frage ich, woraufhin er nickt.
Der Mann sieht mich verwirrt an, aber ich nicke, damit er uns in Ruhe lässt. Ich möchte genauso wenig, dass er länger bleibt, auch wenn er es nur nett meint.
»Okay«, sagt er und kneift die Lippen zusammen, »aber du fährst?«, fragt er an mich gerichtet.
»Ja, auf jeden Fall.«
Das ist nicht einmal eine Lüge. Wenn ich Said ins Auto bekomme, dann werde ich diejenige sein, die den Rest fährt. Er wird sich ganz bestimmt nicht mehr hinters Steuer setzen. Das sollte er auch nicht. Ich weiß nicht, was genau in dieser Tankstelle passiert ist, aber die Angst, die er normalerweise zu unterdrücken weiß, hat ihn eingeholt.
Der Mann entfernt sich für wenige Sekunden von uns, um die Dinge aufzusammeln, die Said fallen gelassen hat. Er reicht uns die Getränkedosen und die Chipstüte.
»Danke«, sagt Said und umklammert die Dosen, als könnten die Energydrinks ihn am Leben halten.
Die Paprikachips nehme ich in eine Hand, mit der anderen umfasse ich seinen Arm. Vorsichtig schleppe ich ihn über den Asphalt zu unserem Auto. Said braucht einen Ruck, bevor er sich mechanisch in die richtige Richtung bewegt.
»Was genau ist passiert?« Ich glaube, ich wiederhole mich zum zwanzigsten Mal, aber ich werde nicht aufhören zu fragen, bis er antwortet. So harmoniebedürftig wie er ist, will er nicht darüber reden, aber ich möchte Dinge am liebsten jetzt, sofort, schnell klären.
»Ich weiß … ich weiß es nicht.«
Vor der Beifahrerseite bleiben wir stehen. Mein Schal liegt noch dort, sodass ich die Tür aufreiße, um ihn nach hinten zu schmeißen. »Sag es einfach. Ich bin nicht böse auf dich, oder so.«
»Mann, Leyla, ich weiß es wirklich nicht!« Er wird lauter und fährt sich fahrig durch das Haar. »Der Typ an der Kasse hat gefragt, wo es hingeht. Ich habe Berlin gesagt. Und dann hat er darüber geredet, dass er dort Familie hat. Da war es vorbei für mich.«
Diese Worte lösen etwas in mir aus, das er verabscheut. Mitleid. Ich spüre trauriges, klebriges Mitleid für ihn. »Said …«
Bevor ich überhaupt weiterreden kann, macht er eine wegwerfende Handbewegung. »Komm, lass stecken. Ich will das gar nicht hören. Echt nicht. Setz dich einfach hinters Steuer. Bitte.«
Er meint es nicht böse, seine Stimme ist leise. Wahrscheinlich will er einfach aus der Situation. Und das kann ich verstehen. Als wir noch in Berlin lebten, war er für mich verantwortlich. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es uns je richtig schlecht ging. Er hat sich immer um alles gekümmert. Was bedeutet, dass er die tiefsten Tiefpunkte erlebt und allein ertragen hat. Deswegen kann ich ihm diese Reaktion nicht übel nehmen. Er übertreibt nicht, unser Leben war scheiße, und er hat mich immer davor abgeschirmt.
Ohne ein weiteres Wort setze ich mich auf den Fahrersitz, der viel zu weit weg von Gas, Bremse und Kupplung ist. Die Chipstüte lege ich auf die Rückbank und richte die Spiegel so ein, dass ich genug sehe.
Said steht immer noch vor der offenen Beifahrertür. »Gib mir noch ne Minute.«
Ich sage wieder nichts, blicke aus der Windschutzscheibe und zähle in meinem Kopf bis hundertdreiundvierzig, bis er sich endlich ins Auto setzt. Die Tür schließt er mit einem Knall hinter sich und öffnet das zuckerfreie Red Bull, während ich auf die Autobahn auffahre. Etwas, das ich eigentlich hasse. Aber es kommt Said zugute. Ich muss mich so extrem konzentrieren, dass ich ihn nicht mit weiteren Fragen nerven kann. Jedes Auto, das an mir vorbeirast, löst Herzklopfen in mir aus.
»Willst du auch deinen Drink?«, fragt Said.
»Gerade nicht. Danke.« Ich glaube, ich würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn ich während des Autobahnfahrens noch etwas anderes machen würde.
»Es tut mir leid«, fügt er irgendwann mit leiser Stimme hinzu.
Ich würde nichts lieber als den Wagen anhalten und ihn in den Arm nehmen, aber bei hundertvierzig Kilometern pro Stunde ist das unmöglich. Deswegen nehme ich meine Hand vom Schaltknüppel und lege sie kurz auf sein Bein.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
»Es ist Jahre her, und ich benehme mich wie ein fucking Kind.«
Ich verstehe, was in ihm vorgeht, und es tut mir leid für ihn, dass er so von sich denkt. »Es ist normal, dass du dich schrecklich fühlst, wenn wir in die Stadt fahren, in der wir so viel Schlechtes erlebt haben.«
Er schnaubt, während der süße Geruch des Red Bulls das Innere des Autos füllt. »Das sagst du und ziehst dahin. Anscheinend bin ich der Einzige, der ein Problem damit hat.«
Ich sage nichts, damit ich auf die Überholspur wechseln kann, da der Twingo vor uns nicht in die Pötte kommt. »Das hat nichts damit zu tun, dass ich irgendwie erwachsener als du wäre, Said, das weißt du genauso gut wie ich.«
»Womit dann?«
»Du hast für mich und unseren Onkel gesorgt, als du selbst ein Kind warst. Du hast die Vormundschaft für mich eingeklagt, als du gerade achtzehn warst. Du hast während deiner Ausbildung nebenbei am Fließband gearbeitet, weil du uns weit weg von unserem Onkel bringen wolltest.« Manchmal frage ich mich, ob er die Zeit vor Halle so sehr verabscheut, dass er sich nicht einmal an seine Errungenschaften erinnert. »Du hast unglaublich viel geschafft und warst immer erwachsen. Es ist in Ordnung, zu realisieren, dass eine Sache einen berührt. Du bist nicht nur der Fels in der Brandung für mich, sondern ein Mensch. Das zuzugeben, ist nicht beschämend.«
Ist das ein Said-Ding oder ein Männer-Ding? Immer stark sein zu wollen, niemals Schwäche zu zeigen, weil das bedeuten würde … Ja, was genau würde das bedeuten? In meinen Augen wäre mein Bruder nahbarer und nicht so weit von mir entfernt.
»Meine Aufgabe war es, meiner kleinen Schwester beim Umzug zu helfen, und alles, was ich geschafft habe, ist, eine Panikattacke an der Tankstelle zu haben, weil ich nach Jahren immer noch nicht darauf klarkomme, dass unsere Mutter tot ist.«
Die letzten Worte drücken jegliche Atemluft aus meiner Lunge. Normalerweise sprechen wir selten über unsere Mutter. Sie ist das eine Thema, das stillschweigend als gegeben hingenommen, aber nie geöffnet wird. Nach ihrem Tod habe ich so viel geweint, ich war so verletzt, und mein Bruder war natürlich für mich da. Er war der Starke, der, der mich hielt, als ich dachte, die Welt bricht über mir zusammen.
Dass er dabei seinen eigenen realen Schmerz tief vergraben musste, um meinem Platz zu machen, kam mir damals nicht in den Sinn. Jetzt fressen mich Schuldgefühle auf, dass ich ihm niemals die Möglichkeit gegeben habe, auch zu fühlen. Ob er deswegen das Thema nicht anschneiden kann? Weil es wie eine Lawine über ihn hinwegrollen würde?
»Du musst nicht so tun, als wäre ich drei und könnte nicht auf mich aufpassen. Es ist okay, wenn ich mal die Erwachsene bin. Das bedeutet nicht, dass du es nicht mehr bist, sondern dass ich es auch sein kann.« Ich atme tief durch und wechsle wieder auf die mittlere Spur. »Hör auf, dir deinen eigenen Schmerz kleinzureden. Es ist okay, Dinge zu fühlen und noch nicht darüber hinweg zu sein. Sie war unsere Mutter, Alter. Natürlich tut das noch weh.«
Vor allem so, wie sie gegangen ist. Ihr Tod kam für uns beide unerwartet, sie war nicht todkrank, und wir haben am Sterbebett gewartet, bis sie ihren letzten Atemzug tat. Es war plötzlich, schmerzlich und traumatisierend. Jeder hätte das Recht, nach Jahren immer noch so wütend und traurig zu sein, wie wir es sind.
»Vergiss nicht, gleich die Ausfahrt zu nehmen.« Damit lässt er das Thema komplett fallen. Das ist mein Zeichen, nichts mehr dazu zu sagen, weil er sonst auf Abwehr gehen wird. Heute ist der letzte Tag, an dem ich einen Streit heraufbeschwören will, deswegen nicke ich lediglich und fahre auf die rechte Spur.
Jeder geht mit seinem Schmerz anders um, ich kann und werde meinen Bruder nicht dazu zwingen, seinen anzuerkennen und ihn zu fühlen. Ich weiß selbst, dass man die Spannung, die in einem dadurch ausgelöst wird, denkt, nicht aushalten zu können. Es fühlt sich so an, als hätte niemand auf dieser Welt je einen ähnlich schlimmen Schmerz erlebt. Als wäre man die einzige Person, die nicht mehr atmen, nicht mehr klar denken kann.
Aber man gewöhnt sich dran. Wie ein zu eng geschnürtes Korsett, in das man gesteckt wird und schwer Luft bekommt. Irgendwann passen sich die Knochen an die Enge an. Man lernt, flacher zu atmen und gerade zu sitzen, um mehr Platz für die Lunge zu lassen.
Man gewöhnt sich dran. Einfach so. Das macht das Korsett und die Enge nicht leichter, aber man entwickelt Strategien, das Leben damit erträglicher zu machen.
Und vielleicht, ganz vielleicht, ist das das Gute an Schmerz. Egal, wie sehr es wehtut, die Zeit zwingt einen zum Weitermachen, zum Nach-vorne-Schauen.
Ins Korsett-Aushalten und Flach-Atmen.
Leyla
Zusammen stehen wir vor dem Studio, das mal ein Fitnessstudio war, und wir leider noch nicht begehen können, weil der Schlüssel beim Eigentümer liegt und er ihn mir erst morgen vorbeibringen kann. Dafür hat der Vormieter mir zumindest schon den Schlüssel für die Wohnung darüber geschickt. Ich bin nicht die Einzige, die dort künftig leben wird. Es sind mehrere Wohnungen, die von unterschiedlichen Menschen bewohnt werden. Michael erzählte sogar am Telefon, dass viele der Nachbarn das Studio genutzt haben, bis eins in der Nähe eröffnet wurde, das von einem riesigen Konzern geführt wurde. Dadurch konnten die Preise wohl so gedrückt werden, dass es sich für ihn nicht mehr gelohnt hat, das Studio zu behalten. Jetzt ist er aus Berlin irgendwo aufs Land gezogen und gönnt sich Ruhe vom Großstadtleben.
»Stehen wir uns die Beine in den Bauch, oder tragen wir endlich dein Zeug hoch?«, fragt Said, als ich mich immer noch nicht vom Fleck bewege. Ich kann nicht aufhören, die Schaufenster des Studios vor mir anzustarren, die verstaubt und dreckig sind. Davor befindet sich ein Bürgersteig, und es geht direkt auf die Hauptstraße – eigentlich die perfekte Ausgangsposition, da viele Menschen auch zu Fuß direkt daran vorbeigehen werden. Eine kleinere Seitentür am Eingang des Studios entlang erlaubt Einlass in die Wohnungen, die über der Ladenfläche liegen. Genau genommen sind es vier Parteien. An der Klingel oben links ist das Namenschild halbherzig abgerissen und wird bald durch meinen ersetzt.
»Ja, lass uns nach oben gehen«, flüstere ich und kann immer noch nicht fassen, dass ich zurück in Berlin bin. Um genau zu sein in Neukölln, unweit der Pannierstraße.